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“"Der Sohn hat die Mutter gefunden..." : die Wahrnehmung des Fremden in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel Chinas” (Publication, 1992)

Year

1992

Text

Epkes, Gerwig. "Der Sohn hat die Mutter gefunden..." : die Wahrnehmung des Fremden in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel Chinas. (Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992). (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft ; Bd. 79). Diss. Univ. Freiburg i.B., 1990. (Epk)

Type

Publication

Subjects

Literature : China - Occident / Literature : Occident : Germany : General / Philosophy : Europe : Germany / References / Sources

Chronology Entries (17)

# Year Text Linked Data
1 1915 Döblin, Alfred. Die drei Sprünge des Wang-lun [ID D12338].
Die Quellen, denen Döblin seine Kenntnisse über die historische Person des Wang-lun und die von diesem geführte Rebellion entnimmt sind folgende Werke :
Sectarianism and religious persecution in China von J.J.M. de Groot [ID D789].
The religious system of China von J.J.M. de Groot [ID D787].
Die Bewohner der Mandschurey von Johann Heinrich Plath [ID D40989].
Die Geschichte des chinesischen Reiches… von Karl Gützlaff [ID D832].
Religion und Kultus der Chinesen von Wilhelm Grube [ID D799].
Zur Pekinger Volkskunde von Wilhelm Grube [ID D797].
Geschichte der chinesischen Literatur von Wilhelm Grube [ID D798].
Laotse. Tao te king übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4445].
Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4447].
Liä Dsi. Das Wahre Buch vom quellenden Urgund übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4446].
Samuel Turner’s Gesandtschaftsreise an den Hof des Teshoo Lama… [ID D1898].
P’u T’o shan von Ernst Boerschmann [ÍD D444].
Aus China von Leopold Katscher [ID D12204].
Die Religion des Buddha von Karl Friedrich Koeppen [ID D12205].
Die Welt als Wille und Vorstellung von Arthur Schopenhauer [ID D11901].

Alfred Döblin hat Die Welt als Wille und Vorstellung sehr gut gekannt und daraus auch Hinweise auf seine Lektüre der Bücher über China für Wang-lun bekommen.

Ma Jia : Döblin ist der erste, der den Stoff des in der chinesischen Geschichte im Jahre 1744 unter Wang Lun stattgefundenen Aufstandes gegen Kaiser Qianlong als literarisches Werk bearbeitet.
Der Roman handelt von der religiösen Sekte des Reinen Wassers (Jin shui jiao) in Shandong, die unter Wang Lun die taoistische Botschaft des Schwachseins und Nicht-Handelns zu ihrem Lebensprinzip erklärt.
Voller Hochachtung widmet er dem chinesischen 'weisen alten Mann' Liä Dsi (Liezi) seinen chinesischen Roman, predigt in dessen Sinne Rückkehr zum natürlichen Leben und entwickelt die daoistische Botschaft des Nicht-Handelns zum Hauptmotiv seines Romans. In dieser Hinsicht ist Wang-lun Produkt einer Zeit der Desorientierung in der eigenen entfremdeten Kulturwelt, ein Bekenntnis Döblins zu einer Distanzierung von der eigenen Kultur und Suche nach einer neuen Identifikationsmöglichkeit in der chinesischen Kultur… China ist bei Döblin eine zwar nicht historisch getreue, aber in sich geschlossene sozialpolitische Realität. Nicht nur die Tatsache, dass die Haupthandlung auf eine geschichtlich nachweisbare Rebellion zurückgeht, verleiht ihm einen realen Zug. Die Lehre des Nicht-Handelns bettet er in die gesellschaftliche Situation Chinas ein, die ebenso konfliktreich ist wie seine eigene. Die daoistische Botschaft verliert im Wang-lun den allgemeinen Charakter, indem sie ausschliesslich zum Lebensprinzip der Ausgestossenen und Gestrandeten wird. In der Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit lässt Döblin die heilige Lehre, mit der die armen Menschen die schöne Hoffnung auf einen Lebensweg verbinden, an der Intoleranz der despotischen Herrschaft scheitern.
Döblin zitiert im Roman wörtlich das Gleichnis von dem Mann, der seinen Schatten fürchtet und sich zu Tode rennt von Zhuangzi. Es ist der Hauptgedanke des Wang-lun.
Das Werk gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der Beschäftigung deutscher Autoren mit der chinesischen Kultur. Seine Einzigartigkeit besteht nicht nur darin, dass ihm, im Unterschied zu den in jener Zeit zahlreich erschienenen Übersetzungen von chinesischen Geschichten, Nachdichtungen von chinesischer Lyrik oder dramatischen Umgestaltungen von chinesischen Motiven, die das Prinzip der Imitation befolgen, ein mehr schöpferisches Prinzip zugrundeliegt. Es ist Döblin - der die chinesische Sprache nicht versteht und nicht einmal in China gewesen ist - gelungen, aus seinen Leseerfahrungen eine fremde Welt in breitem Umfang zu schaffen. Die so entstandene China-Welt basiert nicht auf einzelnen sinnlichen Eindrücken, wie sie die zu seiner Zeit nach China Reisenden bekommen haben, sondern auf einem von Deutschen und Europäern vielseitig wahrgenommenen und vermittelten Gesamtbild Chinas.
Wang-lun ist keine Chinoiserie, ist auch keinem klassischen chinesischen Werk nachgedichtet. Döblin ist es gelungen, die chinesische Philosophie des Taoismus aus dem akademischen Elfenbeinburm zu befreien. Er hat als erster dem Taoismus eine gesellschaftliche Relevanz gegeben, hat die Philosophie des Nicht-Handelns mit politisch-sozialen Wirklichkeiten konfrontiert.
Döblins Wendung nach China bildet eine der ersten Stationen eines langen ununterbrochenen geistigen Suchprozesses. Sie ist ein Versuch, in der Berufung auf die östliche Philosophie das ihn ständig bewegende Problem des Daseins zu lösen und die in der Industriegesellschaft verschärfte geistige Krise zu überwinden… Die Rätselhaftigkeit der Welt, die Unübersichtlichkeit des Wirklichkeitsbildes und der Verlust des Sicherheitgefühls des Menschen in der technischen Zivilisation führen ihn zu Laozi, Zhuangzi und Liezi. Seine Begegnung mit dem Taoismus ist vor allem den Übersetzungen von Richard Wilhelm zu verdanken.
Wang-lun im Vergleich mit dem Shui hu zhuan siehe Döb1, S. 115-160.

Luo Wei : Döblin leistet mit seiner Hinwendung zur chinesischer Philosophie, unter ausdrücklicher Ablehnung der gängigen China-Mode, mit seinem Einrücken der chinesischen Menschenmassen in den Rang von Romanfiguren einen Beitrag zur Herausbildung und Bereicherung eines neuen objektiven Chinabildes im 20. Jahrhundert, das sich sowohl von dem idealisierten der Aufklärer im 18. Jahrhundert als auch von dem negativen des 19. Jahrhunderts unterscheidet.
Mit der Niederschrift findet Döblins erste umfassende Beschäftigung mit dem Konfuzianismus und Taoismus statt, die im Hinblick auf die Beschleunigung der Technisierung und Industrialisierung Deutschlands um die Jahrhundertwende mit all ihren Folgen ausserdem noch durch eine persönliche 'Verlorenheit' und eine verwirrende Atmosphäre der allgemeinen Kulturkrise genährt wurde.
Seine literarische Kritik am Konfuzianismus im Wang-lun gilt nicht der Person Konfuzius und seiner Lehre, sondern an deren Missbrauch und Entstellung durch den feudalistischen Despotismus und der kaiserlichen Macht.
Die Lehre von Laozi und dem Taoismus macht einen tiefen Eindruck auf Döblin, der aus Unbehagen an der eigenen Kultur und an den negativen Aspekten der Industrialisierung in der chinesischen geistigen Welt nach Alternativen sucht.

Liu Weijian : Döblin schreibt : Ich habe niemals daran gedacht, mit mit China zu befassen, der Gedanke etwa, nach China zu fahren, ist mir nicht im Traum eingefallen : ich hatte ein seelisches Grunderlebnis oder eine Grundeinstellung, diese liess ich mit höchster Schonung gewähren und legte ihr vor, unterbreitete ihr, wessen sie zu ihrer Auswirkung bedurfte.
Diese Grundeinstellung findet sich im Roman als tiefes Gefühl wieder und korrespondiert mit dem daoistischen Wuwei, das als grundlegendes Motiv den Roman durchzieht.
Döblin schreibt : Die Welt erobern wollen durch Handeln, misslingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie, wer festhält, verliert sie.
So widmet Döblin die Zueignung dem taoistischen weisen alten Mann Liezi. Zugleich spricht er Laozi, dem Wuwei-Meister, seine besondere Anerkennung aus : Was ging mich, der nicht einmal Europa kennt, China an, von Laotse abgesehen.
Als Kind einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie ist Döblin entbehrungsreich aufgewachsen und fühlt sich den Unterdrückten und Ausgestossenen zugehörig. Er ist empört über die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und empfindet den Staat als Handlanger der Mächtigen. Dieser Eindruck wird zur Zeit der Entstehung von Wang-lun noch durch die imperialistische Aussenpolitik und Aufrüstung für den Krieg Kaiser Wilhelms II. verstärkt. Dieser deutschen Machtpolitik stellt Döblin die daoistische Wuwei-Lehre gegenüber, die sich seiner Ansicht nach durch den Sieg des chinesischen Volkes über die zweitausendjährige Feudalherrschaft ausgezeichnet hatte und die ihm auf deutsche Verhältnisse übertragbar erscheint. In der Vorrede zu Wang-lun unterstreicht er den sozialen Aspekt der Wuwei-Lehre durch ein Zitat Liezis : Dass ich nicht vergesse – Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr. Gewinnen, Erobern ; ein alter Mann sprach : Wir gehen und wissen nicht wohin. Wir bleiben und wissen nicht wo. Wir essen und wissen nicht warum. Das alles ist die starke Lebenskraft von Himmel und Erde. Wer kann da sprechen von Gewinnen, Besitzen. So sieht Döblin in der Wuwei-Lehre ein Perspektive für die Unterdrückten. Sie kommt seiner Vorstellung nach einer gesellschaftlichen Verbesserung entgegen und führt ihn dazu, sich der Niederschrift des Wang-lun zu widmen.
Die Auseinandersetzung Döblins mit dem Buddhismus drückt sich in den Vorstudien zu Wang-lun, den zu Lebzeiten unveröffentlicheten Aufsätzen Der Wille zur Macht als Erkenntnis bei Friedrich Nietzsche (1902) und zu Niezsches Morallehren (1902-1903) aus.

Ingrid Schuster : Döblin hat die Konzeption vom neuen Menschen mit der Lehre vom wu-wei verschmolzen und eine Sonderform des neuen Menschen geschaffen : den chinesischen neuen Menschen… Wang-lun ist religiöser Führer und politischer Revolutionär zugleich ; er versucht, Idee und Tat, religiöse Vision und politische Praxis, Erlösung und Existenz miteinander zu versöhnen. Wang-luns Ziel ist wu-wei, der Zustand der Übereinstimmung mit dem Weltgesetz, der Zustand der Ruhe ohne die Polarität von Freude und Schmerz, Gut und Böse, Glück und Unglück. Der Weg zum Ziel ist : Nicht handeln ; wie das weisse Wasser schwach und folgsam sein…
Döblin schreibt in Wissen und Verändern : Wir haben als Ziel den auch im Natürlichen, im Ökonomischen, Politischen und Geistigen freien Menschen, dessen Verwirklichung wir nicht in die graue Zukunft schieben können. Die Verwirklichung dieses freien Menschen besteht für Döblin in dem Einswerden mit dem tao, das durch wu-wei erreicht wird.

Tan Yuan : Der Zauber von Wang-lun zeigt die Andersartigkeit der chinesischen Welt und ein Bild der chinesischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts : Arme Dörfer, staubige Landstrassen, nordchinesisches Gebirge, brausende Flüsse, einsame Einsiedlerhütten, chaotische Provinzstädte, majestätische Hauptstadt, prächtige Paläste, buddhistische Klöster, düstere Gefängnisse. Es treten auf : Bauern, Handwerker, Kaufleute, Bettler, Diebe, Räuber, Dirnen, Zauberer, Soldaten, Beamte, Generäle, Kaiser, Lama, Mönche, Taoisten und Literaten. Die Chinoiserie ist berückend : Es gibt prunkvolle Darstellung des Kaiserhofes, detaillierte Schilderungen der exotischen Sitten, Bräuche, Rituale und Lebensgewohnheiten. Die Metaphorik ist faszinieren : Mit den ungewöhnlichen Assoziationen und Vergleichen verleiht Döblin der chinesischen Gefühlswelt einen sinnlich erfahrbaren Charakter und eröffnet den Lesern einen neuen Raum für ihre Phantasie. Döblin charakterisiert den Kaiser Khien-lung [Qianlong] als Staatsoberhaupt und Führer der Staatsreligion Konfuzianismus. Dass der Kaiser der 'Himmelssohn' ist, wird nur in Khien-lungs Selbstäusserung erwähnt : Ich bin als Sohn des Himmels geboren und werde auf dem Drachenthron sterben.
Wang-lun kommt nach seiner Flucht in die Nan-ku-Berge erstmals mit der taoistischen Lehre in Berührung. Er hört zuerst von 'den niedrigen Leuten' die Sprüche aus dem Dao de jing : "In den niedrigen Leuten schwang der alte Geist des Volkes ; mehr als in den Literaten strömte in den Gestrandeten, viel Erfahrenen das tiefe Grundgefühl : Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie ; wer festhält, verliert sie". Wang-luns Bekehrung zum Wu-wei basiert auf seinem Nachdenken über den elenden Zustand der 'armen ausgestossenen Menschen'. Er sieht, dass jemand zuerst handeln muss, damit das Wu-wei verwirklicht werden kann. Als er sieht, dass die Bandenmitglieder der 'Gebrochenen Melone' bald den Regierungstruppen zum Opfer fallen werden, vergiftet er den Brunnen in der Stadt, so dass die Truppen nur noch die toten Mitglieder finden. Es ist für ihn die einzige Möglichkeit, den gewaltigen Kampf zu vermeiden und die Gewaltlosigkeit der 'wahrhaft Schwachen' durchzuhalten. Mit der Vergiftung macht er sich zum Mörder und handelt der Wu-wei-Lehre zuwider. Aber er verwirklicht den Spruch im Dao de jing, indem er allen 'Schmutz' auf sich nimmt und das Unglück trägt. Döblin weist darauf hin, dass jemand die Verantwortung übernehme und sich für das Nichthandeln der Brüder opfern muss.
Im Roman zitiert Döblin zudem eine Fabel von Zhuangzi, um die Hektik des Menschen in Frage zu stellen : "Es war einmal ein Mann, der fürchtete sich vor seinem Schatten und hasste seine Fussspuren. Und um beiden zu entgehen, ergriff der die Flucht. Aber je öfter er den Fuss hob, umso häufiger liess er Spuren zurück. Und so schnell er auch lief, löste sich der Schatten nicht von seinem Körper. Da wähnte er, er säume noch zu sehr ; begann schneller zu laufen, ohne Rast, bis seine Kraft erschöpft war und er starb. Er hatte nicht gewusst, dass er nur an einem schattigen Ort zu weilen brauchte, um seinen Schatten los zu sein. Dass er sich nur ruhig zu verhalten brauchte, um keine Fussspuren zu hinterlassen".

Gerwig Epkes : China ist für Döblin ein Weg zur Rechtfertigung seiner Schriftstellerei. Durch die Beschäftigung mit dem fremden Land vermeidet er unbewusst, sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzten. Damit klammert er Schuld- und Angstgefühle aus, die sein strenges Über-Ich von ihm fordern würde. Er idealisiert China. Später wird ihm selbst bewusst, dass China ihm als 'Vehikel' zur Lösung persönlicher Probleme diente.

Otto Jensen schreibt 1922 : Dies Buch ist nicht nur ein Roman. Wie jedes grosse Kunstwerk ist es ein Zeitbild. Es ist ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines Volkses, das steigende Bedeutung in der Weltpolitik unserer Tage erlangt. Wir müssen die alte Kultur der Chinesen kennen, um die Wandlungen im Fernen Osten zu begreifen.

Lion Feuchtwanger schreibt 1916 : Und während allerorten geschäftige Kärrner an der Arbeit sind, Grenzwälle aufzuwerfen zwischen Nation und Nation, legt hier ein Dichter eine Bresche in die chinesische Mauer, die das geistige Europa von der östlichen Welt schied... die tiefste Weisheit des Ostens, die uns bisher höchstens in sentimental-transzendentalen, akademisch theosophischen Abhandlungen europäisch frisiert, verwässert und verflüchtigt entgegendämmerte, ist in diesem Prosa-Epos rein, naiv, unsentimental, mit überzeugender Gegenständlichkeit gestaltet... Der Sinn des Buches ist die weiche, süsse Weisheit des Wu-Wei, des Nichtwiderstrebens. Das Epos sei ungefähr die Erfüllung dessen, was Goethe träumte, als er den Westöstlichen Diwan konzipierte : östliches Fühlen und Denken, in eine vollendete westliche Kunstform gezwungen. Nebel zerreissen, eine neue ungeahnte Welt ist da, Menschen und Dinge stehen da, ungeheuer fremd und seltsam, aber sie sind da, greifbar, wirklich, vom Ungläubigsten nicht wegzuleugnen. Sind da und überzeugen mit ihren abertausend neuen, unbekannten, ungeahnten Erscheinungen, Weisheiten, Lüsten, Schmerzen, Träumen, Erkenntnissen, Verzichten.
  • Document: Felbert, Ulrich von. China und Japan als Impuls und Exempel : fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1986). (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; Bd. 9). S. 46. (Döb3, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 93-99. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ma, Jia. Döblin und China : Untersuchung zu Döblins Rezeption des chinesischen Denkens und seiner literarischen Darstellung Chinas in "Drei Sprünge des Wang-lun". (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur : Bd. 1394). Diss. Univ. Karlsruhe, 1992. S. 30-31, 35-36, 69, 99-100, 115-160. (Döb1, Publication)
  • Document: Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation : zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. Walter Gebhard (Hg.). (München : Iudicium, 2000). S. 85. (Geb1, Publication)
  • Document: Luo, Wei. "Fahrten bei geschlossener Tür" : Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2003). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1896). Diss. Beijing-Univ., 2003. S. 16, 39, 51, 54-59. (Döb2, Publication)
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 89-90. (Schu5, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 84-111, 128. (Tan10, Publication)
  • Person: Döblin, Alfred
  • Person: Feuchtwanger, Lion
  • Person: Jensen, Otto
  • Person: Wilhelm II.
2 1915 Klabund. Li Tai Pe : Nachdichtungen [ID D2998].
Quellen : Hervey de Saint-Denys, Léon. Poésies de l'époque des Thang [ID D2216]. Gautier, Judith. Le livre de jade [ID D12659]. Harlez, Charles Joseph de. La poésie chinoise [ID D12693]. Pfizmaier, August. Das Li-sao und die neun Gesänge [ID D4776]. Strauss, Victor von. Schi-king [ID D4648]. Forke, Alfred. Blüthen chinesischer Dichtung [ID D664]. Grube, Wilhelm. Geschichte der chinesischen Literatur [ID D798]. Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik [ID D11976]. Hauser, Otto. Li-tai-po [ID D4640] und Die chinesische Dichtung [ID D12694].

Klabund schreibt an Walther Heinrich Unus : Mit Litaipe [Li Bo] bin ich mir noch nicht einig. Vielleicht mache ich eine grosse Ausgabe (1000 unbekannte Gedichte, direkt aus dem Chinesischen übersetzt mit einem hiesigen Chinakenner). Vielleicht. Statt dessen fertigt Klabund 40 Gedichte als Nachdichtungen an, 12 davon übernimmt er aus Dumpfe Trommeln [ID D11994].

Han Ruixin : Vergleicht man Klabunds Nachdichtungen mit den chinesischen Originaltexten, so weisen sie zumeist starke Abweichungen auf : Ersatz chinesischer Ausdrücke durch andere, Umformulierungen, Hinzufügungen, Auslassungen, Umbau. Obwohl seine Nachdichtungen nicht wörtlich mit den Originaltexten übereinstimmen, geben sie doch deren Aussagen und Sinngehalt manchmal hervorragend wieder. Andrerseits gibt es auch Nachdichtungen, die in der Aussage mit den Originaltexten nichts mehr gemein haben und ganz als Neuschöpfungen anzusehen sind.

Dscheng, Fang-hsiung : Klabund hat alle deutschen Nachdichter auf dem Gebiet chinesischer Lyrik in Stil und Gehalt übertoffen. Dscheng weist nach, dass Klabund sich ausführlich mit China beschäftigt und dabei ernsthafte Kenntnisse erworben habe. Die Begeisterung für Li Tai Po liege in der wesensverwandten Gestalt begründet : Li Tai-bo, der wandelnde Poet, von Volk und Kaiser hoch geachtet, habe eine Parallele zu Klabund ; nicht von ungefähr sei Klabund eine Kombinationn aus Klabautermann und Vagabund.

Heinz Grothe : Aus dieser östlichen Welt holt Klabund sich seine besten Lyrika und dichtet sie neu. So sagt man. Aber es ist nicht so. Klabund übertrug nicht nach Originalen. Er „erfand“ diese Verse und sie scheinen uns wie Blumen aus dem übbigen Garten chinesischer Dichtkunst ans Tageslicht gezaubert. Die Welt der Ahnenverehrung, die Menschen, die die Geister fürchten, die ihnen ihre Leben und Gesundheit bedrohen, lässt Klabund in seiner Art erstehen. Nichts von der Ferne und Tiefe östlichen Geheimnisses, umsomehr Romantik. Woraus wiederum zu schliessen ist, dass ein anderer Zusammenhang sein muss, als nur vom Vorbild zum Nachdichter. Klabunds eigene Traurigkeit klingt aus diesen Strophen. Herrliche Liebesgedichte, hämmernde Kriegsverse, trunkene Lieder Litaipes, Strophen von stärkster Resignation.

Kuei-fen Pan-hsu : Die Vorlagen von Hervey Saint-Denys und Judith Gautier spielen vor allem eine grosse Rolle. Es zeigt sich, wenn das Original in der Vorlage falsch übersetzt worden ist, kann Klabunds Übertragung bei aller Intuition nicht den Sinn des chinesischen Gedichtes treffen… Die Veränderung dieser Gedichte ist zum Teil auch durch Klabunds Vorstellung von der chinesischen Welt bestimmt, sowie von Klabunds eigener geistiger Haltung und dem zeitgenössischen Geschmack.

Wolfgang Bauer : Nur Hans Bethge und Klabund bietet die Berührung mit dem Chinesischen gerade den notwendigen Halt für die Entfaltung ihres Talents, das durch ein allzu grosses Mehr an Information wohl erstickt worden wäre. Ihre zahlreichen Nachdichtungen… können zweifellos als eigenständige Kunstleistungen betrachtet werden.

Helwig Schmidt-Glintzer : Die starke Betonung der Trunkenheit, die Klabund in Lai Taibais Trinkliedern gesehen hat, ist nichts Fremdes. Sie wurzelt in dem dionysischen Kult der Philosophie Nietzsches, die wiederum auf die indische Philosophie zurückzuführen ist. Sie hat jedoch auch in der chinesischen Tradition eigenständige, vergleichbare Wurzeln in der Rausch- und Drogendichtung vergangener Jahrhunderte.
  • Document: Pan-Hsu, Kuei-fen. Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds : eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. (Frankfurt a.M. : P. Lang,, 1990). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1179). Diss. Univ. Hamburg, 1988. S. 94, 100, 106. (Pan2, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 299. (FanW1, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. S. 142, 150, 154-155. (HanR1, Publication)
  • Person: Klabund
  • Person: Li, Bo
  • Person: Unus, Walther Heinrich
3 1915 Klabund. Dumpfe Trommeln und berauschtes Gong : Nachdichtungen chinesischer Kriegslyrik [ID D11994].

Quellen : Hervey de Saint-Denys, Léon. Poésies de l'époque des Thang [ID D2216]. Gautier, Judith. Le livre de jade [ID D12659]. Harlez, Charles Joseph de. La poésie chinoise [ID D12693]. Pfizmaier, August. Das Li-sao und die neun Gesänge [ID D4776]. Strauss, Victor von. Schi-king [ID D4648]. Forke, Alfred. Blüthen chinesischer Dichtung [ID D664]. Grube, Wilhelm. Geschichte der chinesischen Literatur [ID D798]. Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik [ID D11976]. Hauser, Otto. Li-tai-po [ID D4640] und Die chinesische Dichtung [ID D12694].

Folgende Dichter sind darin enthalten : Li Bo (12) und Du Fu (9), Shi jing (3), Qu Yuan (1), Konfuzius (1), Wang Changling (1) sowie drei Gedichte aus angeblich unbekannter Herkunft.

Er schreibt an den Insel-Verlag : Es handelt sich bei den Nachdichtungen um Nachdichtungen in Reimen – eine Behandlunsweise, die für das Verständnis des Chinesischen in den Gedichten wesentlich erscheint : die chinesische Lyrik als Lyrik reimt sich immer.

Im Nachwort beschreibt Klabund die Wesensmerkmale der chinesischen Sprache und Lyrik.
Er schreibt : Die vorliegenden chinesischen Gedichte sind durchaus keine Übersetzungen. Sondern Nachdichtungen. Aus dem Geist heraus. Intuition. Wiederaufbau. (Manche Säulen des kleinen Tempels mussten versetzt oder umgestellt werden)…
Die chinesische Kriegslyrik überrascht durch die Kraft ihrer Anschauung und die Unerbittlichkeit ihrer Resignation, die sie von der meist hymnisch oder episch gearteten Kriegsdichtung aller übrigen Völker scharf unterscheidet…
In seinem Sohn allein erscheint der Mensch verewigt. In der Familie ist er unsterblich. Darum heisst Krieg für den Chinesen : fern von der Heimat sterben… unbestattet im Mondlicht verwesen… die Knochen nicht von frommer Kinder Hand gesammelt… kein Ahne sein… sterben…

Dscheng, Fang-hsiung : Klabund geht einher mit seiner geänderten Einstellung zum Kriege : Klabund, zutiefst überzeugt von der chinesischen Abneigung gegen Krieg und Gewalt, distanziert sich von … seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung und wandelt sich – noch zur Zeit der deutschen Kriegserfolge – zum Pazifisten. Seine chinesische Kriegslyrik beschäftigt sich daher… vor allem mit der Verurteilung der Gewalt oder der Klage einer Geliebten um den im Kriege weilenden Gatten.

Kuei-fen Pan-hsu : Der exotische Kriegsschauplatz dient dazu, den Blick des Autors von Europa un der Gegenwart abzuwenden. Er führt ihn nicht zu einem endgültigen Gesinnungswandel. Dieser Gedichtband kann später nur als ein schwacher Vorwand dienen. Klabund verteidigt sich, dass er anfangs an den vorgetäuschten Idealismus der deutschen Regierung geblaubt, bald aber den Irrtum erkannt habe, als er im Frühling 1915 die chinesische Kriegslyrik, die Sprache der Menschlichkeit gedichtet hat.
  • Document: Pan-Hsu, Kuei-fen. Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds : eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. (Frankfurt a.M. : P. Lang,, 1990). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1179). Diss. Univ. Hamburg, 1988. S. 75, 88. (Pan2, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. S. 135-138, 150. (HanR1, Publication)
  • Person: Confucius
  • Person: Du, Fu
  • Person: Li, Bo
  • Person: Qu, Yuan
  • Person: Wang, Changling
4 1918 Klabund. Irene oder die Gesinnung : ein Gesang [ID D12696].
Anton Zink geht auf die Lehre von Laozi und Zhuangzi ein. Die eigentliche Erlösungshoffnung in diesem Gesang sei an die Güte des Geistes geknüpft. Die Güte sei immer, so interpretiere Klabund, dem Gewalthaften gegenübergestellt worden. Dabei muss betont werden, dass die erstere niemals als Kraftloses, Schwächliches verstanden werden darf, sondern im Gegenteil als die Stärkere angesehen werden muss. Es ist dies die Lehre der chinesischen Weisheit in ihrer taoistischen Ausprägung. Klabund übernimmt das Gedankengut des Ostens voll und ganz in das abendländische Denken… Dabei treten die Ausformungen des Persischen, Indischen, Japanischen usw. gegenüber der Lehre Chinas und hier vor allem der des Laotse [Laozi] vom Tao, weit in den Hintergrund… Dort wo er speziell von der chinesischen Welt spricht… hat er nicht so sehr die konfuzianische Richtung im Auge. Es gehe Klabund weniger um die Darlegung eines abstrakten geistigen Gebäudes, sondern um einen Aufruf an die Menschen dieser zerrissenen Zeit zu gütig - gewaltlosem – verhaltenem Dasein.
  • Document: Zink, Anton. Polarität und Einheit bei Klabund : Versuch einer Deutung. (Freiburg i.B. : MS, 1957). Diss. Univ. Freiburg i.B., 1957. S. 108-116. (Zink1, Publication)
  • Person: Klabund
5 1919 Klabund. Dreiklang : ein Gedichtwerk. (Berlin : Reiss, 1919).
Quellen : Windischmann, Carl Joseph H. Die Philosophie im Fortgang der Weltschichte [ID D17338]. Darin erwähnt wird Le livre des récompenses von Abel-Rémusat [ID D1937] mit teilweiser Übersetzung. Dao de jing von Laozi in den Übersetzungen von Viktor von Strauss [ID D4587] und Richard Wilhelm [ID D4445].

Klabund schreibt : I-hi-wei : Dies ist die heilige Dreieinigkeit : Gottvater, Sohn und heiliger Geist. Drei auch sind der Göttermenschen, der Menschengötter, der Menschen, welche Gott geworden sind : Der Inder Buddha, Der Jude Christus ; Der Chinese Laotse [Laozi]. Laotse aber ist der erste unter ihnen. In Laotse sah er zum ersten Mal : Sich. Ich rufe ihn mit seinem Namen - Ich singe ihn mit seinem Dreiklang - Dass er mich höre und erhöre - Sinn meiner Seele, Seele meines Lebens.

Kuei-fen Pan-Hsu : Dreiklang ist das Ergebnis von Klabunds Auseinandersetzung mit dem Dao de jing von Laozi. Der Begriff „Dreiklang“ kommt durch ein Missverständnis Klabunds von I-hi-wei aus dem Dao de jing. Richard Wilhelm hat die drei Wörter yi, xi, wei im 14. Spruch übertragen als gleich, fein, klein. Strauss stützt sich auf Abel-Rémusat. Klabund sieht in den sogenannten musikalischen Klängen die wichtigste Grundlage des Daoismus. Auf die Verbindung von yi, xi, wei und Jehowa (nach Abel-Rémusat) hat er in seiner Übertragung des Dao de jing um der Authenzität eines philosophischen Werkes willen verzichtet. In Dreiklang, das er als eigenes Werk beansprucht, macht er davon Gebrauch… Klabunds Verständnis von yi, xi und wie ist weit von dem des chinesischen Originals entfernt… Mit Dreiklang stellt Klabund nicht nur die Verbindung zwischen den östlichen Lehren und dem Christentum her, er koordiniert auch die theologischen und kosmologischen Elemente zu einer harmonischen Einheit mit dem Menschendasein… Im Zusammenhang mit dem Dreiklang führt er auch den Begriff Tai-kie [Taiji] ein. Er erklärt, Tai-kie sei das Geheimnis aller Dinge und stellt es dem Ja-nein gleich. Das Ja-nein bedeutet für ihn etwas, das alles umfasst, auf alles wirkt.
  • Document: Pan-Hsu, Kuei-fen. Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds : eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. (Frankfurt a.M. : P. Lang,, 1990). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1179). Diss. Univ. Hamburg, 1988. S. 241-242, 249, 251. (Pan2, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 36. (LiuW1, Publication)
  • Person: Klabund
  • Person: Laozi
6 1919 Klabund. Tao : eine Auswahl aus den Sprüchen des Lao Tse [ID D12698].
Gerwig Epkes : Klabund beginnt Auszüge aus dem Dao de jing nachzudichten. Er sucht diejenigen heraus, welche seiner Meinung nach die falschen Ziele der Gesellschaft zum Inhalt haben, sowie die Kritik am Krieg, die Lebenssituation der Schwachen und Weisen, das Übersinnliche, das Mütterliche und die Unsterblichkeit. Diese Themen sind für Klabunds Leben selbst bestimmend. Es ist deutlich geworden, dass in den Gestalten, Gleichnissen, Gedichten und Nachdichtungen eine narzisstische Persönlichkeit spricht, und dass China selbst ein Identifikationsobjekt zur Stabilisierung des Ichs für Klabund ist. Es ist auch deutlich geworden, dass Klabund China idealisiert und in der daoistischen Philosophie Hilfe für sein Leben gefunden zu haben glaubt.
7 1925 Hermann Hesse schreibt eine Rezension über die Übersetzung des I ging [Yi jing] von Richard Wilhelm [ID D1589] :
Es ist in diesem Buch… ein System von Gleichnissen für die ganze Welt aufgebaut, welchem acht Eigenschaften oder Bilder zugrunde liegen, deren zwei erste der Himmel und die Erde, der Vater und die Mutter, das Starke und das Hingebende sind. Diese acht Eigenschaften sind je durch ein einfaches Zeichen ausgedrück, sie treten in Kombinationen zueinander und ergeben dann 64 Möglichkeiten, auf diesen beruht das Orakel… Dieses Buch der Wandlungen liegt seit einem halben Jahre in meinem Schlafzimmer, und nie habe ich auf einmal mehr als eine Seite gelesen… Dort steht alles geschrieben, was gedacht und was gelebt werden kann.

Hesse schreibt : Ich werde nicht vergessen, wie erstaunt und märchenhaft entzückt ich dieses Buch (Gespräche des Konfuzius) in mich aufnahm, wie fremd und zugleich wie wichtig, wie vorgeahnt, wie erwünscht und herrlich mir das alles entgegenschlug.
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 109-110. (Hes2, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
  • Person: Wilhelm, Richard
8 1925 Klabund. Der Kreidekreis [ID D12520].
Uraufführung im Stadttheater Meissen, dann in Frankfurt.
Quellen : Julien, Stanislas. Hoei-lan-ki [ID D4646] ; Fonsecas, Wollheim da. Der Kreidekreis [ID D12699] ; Wilhelm Grube bespricht das Stück in Geschichte der chinesischen Literatur [ID D798] und macht auszugsweise Übersetzungen ins Deutsche.

Klabund schreibt : Es ist drei Jahre her, dass eines Abends in der „Wilden Bühne“ Elisabeth Bergner auf mich zu kam : „Wir haben ein Schauspielertheater gegründet : wollen Sie ein Stück für uns, für mich schreiben?... Kennen Sie den Kreidekreis?“. Natürlich kannte ich (alter Chinese) den Kreidekreis : In der (ausgezeichneten) Übersetzung Stanislav Juliens, in der (weniger guten) Reclamschen Ausgabe (Fonsecas). Dass die Figur der Haitang eine Rolle für Elisabeth Bergner ergeben könnte wie kaum eine zweite, leuchtete mir blitzartig ein.
Es galt, ein chinesisches Märchenspiel zu ersinnen. Keine strenge Chinoiserie. Es sollte sein, wie wenn jemand von China träumt.

Dscheng Fang-hsiung : Max Reinhardt macht die Inszenierung. Klabund habe zwar die Fabel weitgehend beibehalten, ebenfalls die Spielform, jedoch einige Figuren ausgewechselt, Ortsnamen und Personen und Einzelheiten erfunden.

Klabund schreibt in Die literarische Welt vom 13.11.1925 den Artikel Klabund gegen die Berliner Kritik seines Kreidekreises : Der Kreidekreis ist bereits an etwa 100 Bühnen gespielt worden. Ich habe etwa 1000 (uff) Kritiken gelesen. Vielleicht darf ich mir einmal gestatten, meine Herren Kritiker zu kritisieren – selbstverständlich mit der mir gebührenden Zurückhaltung und der mir als Chinesen innewohnenden Höflichkeit des Herzens. Sie reden soviel davon, dass wir kein Drama haben – haben wir eine Kritik ?

Herbert Ihering schreibt in seiner Theaterkritik : Klabund ging zum chinesischen Drama, um abgenutzte europäische Sentiments, um Kastengegensätze, um politische Aktualitäten zu finden und noch einmal zu betonen. Der Publikumserfolg des Stückes liegt in der bourgeoisen Gefühlsüberschwemmung und in der exotischen Formgebung. Ein Literatenstück, was den Stil, ein Spiesserstück, was den Kern betrifft.

Chen Chuan : Die Bearbeitung des Kreidekreis enthält zwar noch vieles Unchinesische, aber der Dichter hat uns doch die Möglichkeit aufgewiesen, ein echt chinesisches Drama bei einigen Veränderungen dem deutschen Theater zugänglich zu machen. Auch ihm ist noch nicht Vollendetes gelungen, auch bei ihm vermischen sich noch deutlich chinesische Elemente mit europäischen, auch bei ihm überschneiden sich noch chinesische Weltanschauung mit europäischem Lebensgefühl.

Ma Jia : Auf der Realitätsflucht macht Klabund seine geistige Pilgerfahrt zu Lao Zi [Laozi] in dem Glauben, mit dessen Lehre der Dekandenz der westlichen Kultur entgegenwirken zu können. Für den "Revolutionär der Seele" ist China, ähnlich wie für [Hermann] Hesse, in erster Linie eine geistige Gegenwelt. Der gesellschaftlichen Situation Chinas und der sozialen Wirkung der daoistischen Lehre schenkt er wenig Beachtung. Begeistert entdeckt er in der daoistischen Weisheit ein Heilrezept für die erkrankte Seele seiner Landsleute und hofft, durch Veränderung der Menschen eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Zustände herbeizuführen. Dass Klabund China von der realen gesellschaftlichen Situation löst und die daoistische Botschaft als Möglichkeit, den realen politischen, gesellschaftlichen Konflikten auszuweichen, betrachtet, zeigt sich in seinem erfolgreichen Theaterstück Der Kreidekreis.

Kuei-fan Pan-hsu : Die Fabel des Originals ist bei Klabund unverändert erhalten. Doch ist sein Stück im Grunde genommen nicht chinesisch. Dabei liegt die Abweichung des Dramas von der chinesischen Welt nicht nur darin, dass sich Klabund weitgehend vom Original löst, sondern vor allem darin, dass er seine eigene Kenntnis über China entsprechend seiner Konzeption in das Stück einarbeitet… Er vermittelt chinesisches Selbstverständnis, konfuzianische Verhaltensweisen und Elemente der chinesischen Volksreligion ; er bemüht sich im Stück um eine Widerspiegelung des Lebens in China, indem er chinesische Lyrik einflicht und mit Sprichwörtern chinesische Vorstellungswelt nahebringt. Allerdings ist die von Klabund gezeichnete chinesische Welt zum grossen Teil eine Illusion, die wenig mit den tatsächlichen Gegebenheiten gemein hat… Was das Stück anziehend macht, ist die lyrische Sprache. Klabund verwendet chinesische Bilder, Vergleiche und Symbole… Die Abweichung des Stückes liegt darin, dass Klabund die Personencharaktere umgestaltet : Haitang, der Richter Bao, Herr Ma und Zhang Lin… Ein weiterer einflussreicher Faktor, der die Gestaltung des Kreidekreis bestimmt, ist der Publikumsgeschmack. Das Publikum empfindet die "Zartheit" des Stückes als den "lang erwarteten Kontrast zu den extremen Texten der neuen Autoren".

Ye Fang-xian : Anders als im chinesischen Drama zeigt der Kreidekreis nicht eine menschliche Weisheit, sondern eine mystische Kraft, derer Quelle die Liebe ist. Der konkrete historische Hintergrund ist total verschwunden. Was vom chinesischen Original übrig bleibt, sind nur einzelne Szenen und das Muttermotiv. Alfred Forke hat Klabunds Abweichung vom chinesischen Original kritisiert.
  • Document: Chen, Chuan. Die chinesische schöne Literatur im deutschen Schrifttum. (Kiel : Christian-Albrecht-Universität, 1933). Diss. Christian-Albrecht-Univ. Kiel, 1933. = Zhong de wen xue yan jiu. (Shanghai : Shang wu yin shu guan, 1936). S. 53. (Che2, Publication)
  • Document: Pan-Hsu, Kuei-fen. Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds : eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. (Frankfurt a.M. : P. Lang,, 1990). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1179). Diss. Univ. Hamburg, 1988. S. 150-161. (Pan2, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 282-283, 287. (FanW1, Publication)
  • Document: Ma, Jia. Döblin und China : Untersuchung zu Döblins Rezeption des chinesischen Denkens und seiner literarischen Darstellung Chinas in "Drei Sprünge des Wang-lun". (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur : Bd. 1394). Diss. Univ. Karlsruhe, 1992. S. 24. (Döb1, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. S. 97. (HanR1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 190-191. (Hes80, Publication)
  • Person: Klabund
9 1926 Hermann Hesse schreibt : Unsern modernen abendländischen Kulturidealen ist das Chinesische so entgegengesetzt, dass wir uns freuen sollten, auf der anderen Hälfte der Erdkugel einen so festen und ehrwürdigen Gegenpol zu besitzen.
10 1926 Wilhelm, Richard. Die Seele Chinas. [ID D1593].
Wilhelm schreibt : Ich habe noch das Alte China gesehen, das für die Jahrtausende zu dauren schien. Ich habe seinen Zusammenbruch miterlebt und habe erlebt, wie aus den Trümmern neues Leben blühte. Im Alten wie im Neuen war doch etwas Verwandtes : eben die Seele Chinas, die sich entwickelte, aber die ihre Milde und Ruhe nicht verloren hat und hoffentlisch nie verlieren wird... Ich habe das grosse Glück gehabt, fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in China zu verbringen. Ich habe Land und Volk lieben gelernt wie jeder, der lange dort weilte.

Horst Denkler : Wilhelm stellt bei seinen China-Erfahrungen vor allem das Andersartige heraus, das die Chinesen vor der "weissen Gefahr" zu schützen und den Weissen Genesung am chinesischen Wesen verspricht : die Verbundenheit mit Heimaterde, Nation und Kulturtradition, das Bedürfnis nach Harmonie mit der Natur und im zwischenmenschlichen Bereich, das Vertrauen auf eine vernünftig und tolerant angelegte Gesellschaftsordnung, die den einzelnen in die "übergreifenden Organismen" von Familie, Volk und Menschheit einbindet und sein Verhalten durch die festgelegten Norman von Brauch und Sitte, Konvention und Form, Takt und Etikette, Moral und Ethik, Ehre und Anstand, Disziplin und Gehorsam regelt.

Fang Weigui : Wilhelm hat sich Mühe gegeben, ein Chinabild im Spektrum der gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten aufzubauen. Das wichtigste Chinabild mit den Stichwörtern Milde und Ruhe hat dem Buch klar und deutlich einen etwas idealisierenden Grundton verliehen, was sich auch durch den Einfluss des Konfuzianismus erlärt. Manche Darstellungen leitet er direkt von den chinesischen Klassikern her. Sein positives Chinabild resultiert auch aus dem Umgang mit chinesischen Gelehrten und seiner Liebe zum chinesischen Volk. Was Wilhelm von den zeitgenössischen Europäern und besonders von den abendländischen Missionaren, denen die ostasiatischen Völker als heidnisch und barbarisch galten, unterscheidet, ist, dass er völlig von Rassenhochmut befreit war, dass es gar keine Heiden gibt, denn ein Heide ist nur etwas, wofür man einen anders gearteten Menschen hält, damit man ihn entweder bekehren oder zur Hölle verdammen kann.

Gerwig Epkes : Er versucht eine Erklärung für den Unterschied zwischen Konfuzius und Laozi zu geben und schreibt : Die südliche Richtung der chinesischen Kultur zeigt andere Züge. Wärend der Norden auf Organisation der Menschheit sich konzentriert, ... sucht der Süden den Menschen zu verstehen im allgemeinen Naturzusammenhang. Laotses Sinn ist der Sinn des Himmels. Für ihn ist der Mensch einfach Teil der Natur. Alles was die Natur beherrscht und vergewaltigt, ist von Übel. Rückkehr zur Natur ist das einzige Heil.
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 314, 330-331. (FanW1, Publication)
  • Person: Wilhelm, Richard
11 1929 Hesse, Hermann. Eine Bibliothek der Weltliteratur. (Leipzig : P. Reclam, 1929).
Herman Hesse schreibt : Und nun begann eine chinesische Bücherreihe zu erscheinen, die ich für eines der wichtigsten Ereignisse im jetzigen deutschen Geistesleben halte : Richard Wilhelms Übersetzungen der chinesischen Klassiker… nicht aus dritter und vierter Hand, sondern unmittelbar, übersetzt von einem Deutschen, der sein halbes Leben in China glebt und im geistigen Leben unglaublich zu Hause war, der nicht nur chinesisch, sondern auch deutsch konnte, und der die Bedeutung der chinesischen Geistigkeit für das ganze Europa an sich erlebt hatte.
Er schreibt : An diesen Chinesenbüchern nun habe ich seit anderhalb Jahrzehnten meine immer zunehmende Freude, eines von ihnen liegt meistens neben meinem Bett. Was jenen Indern gefehlt hatte : die Lebensnähe, die Harmonie einer edlen, zu den höchsten sittlichen Forderungen entschlossenen Geistigkeit mit dem Spiel und Reiz des sinnlichen und alltäglichen Lebens – das weise Hin und Her zwischen hoher Vergeistigung und naivem Lebensbehagen, das alles war hier in Fülle vorhanden. Wenn Indien in der Askese und im mönchischen Weltentsagen Hohes und Rührendes erreicht hatte, so hatte das alte China nicht minder Wunderbares erreicht in der Zucht einer Geistigkeit, für welche Natur und Geist, Religion und Alltag nicht feindliche, sondern freundliche Gegensätze bedeuten und beide zu ihren Rechten kommen.
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 52-53. (Hes2, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
12 1929 Klabund. Literaturgeschichte : die deutsche und die fremde Dichtung von den Anfängen bis zur Gegenwart. [ID D12629].
Er schreibt : In neuerer Zeit haben sich die Chinesen emanzipiert, aber auch vielfach nach Westen gerichtet. Sie schreiben französisch und englisch... Auch in den Ländern des fernen Ostens sind heute starke Kräfte am Werk, die das Weltbild seelisch und politisch umgestalten wollen.
13 1935 Canetti, Elias. Die Blendung [ID D14046].
Quelle : Bücher von Richard Wilhelm aus der Sammlung Die Religion und Philosophie Chinas.
Er schreibt : "Es war jener Mong Tse, den er über alles liebte. "Dummkopf !" schrie er sich an, "Barbar ! Analphabet ! ", hob ihn zärtlich auf und ging rasch zur Tür. Bevor er sie erreicht hatte, fiel im etwas Wichtiges ein. Er kehrte zurück und schob die Leiter, die an der Wand gegenüber hing, möglichst leise an die Unfallstelle heran. Den Mong Tse legte er mit beiden Händen auf den Teppich zu Füssen der Leiter nieder.“
[Mong Tse gilt als Klassiker] "und zwar hauptsächlich durch den Einfluss des grossen Kommentators Tschu Hsi, welcher in den gesammelten ommentaren die Gespräche des Konfuzius und die des Mencius vereinigte. Seitdem gehört der Mencius zu den vier heiligen Büchern und ist das klassische Werk, welches die chinesischen Knaben zuerst zu lesen pflegen... Die beliebtesten Themata zu den Staatsprüfungen pflegten früher dem Mencius entnommen zu werden, und die moderne Ethik und Politik schliesst sich ihm fast wörtlich an. "
... "er belebte die Bibliothek mit erlesenen Freunden. Am liebsten neigte er zu alten Chinesen. Er hiess sie dem Band und der Wand, welcher sie zugehörten, entsteigen, winkte sie heran, bot ihnen Platz, begrüsste, bedrohte sie, je nachdem, legte ihnen ihre eigenen Worte in den Mund und focht seine Meinung so lange durch, bis sie schwiegen."
"Im Jahre 213 vor Christi Geburt wurde auf Befehl des chinesischen Kaisers Shi-Hoang-Ti, eines brutalen Usurpators, der es gewagt hat, sich den Titel 'Der Erste, Erhabene, Göttliche' beizulegen, sämtliche Bücher Chinas verbrannt. Dieser rohe und abergläubische Verbrecher war selbst viel zu ungebildet, um die Bedeutung von Büchern, auf Grund deren sein Gewaltregiment bestritten wurde, richtig einzuschätzen. Aber sein erster Minister Li-Si, slebst ein Kind seiner Bücher, ein verächtlicher Renegat also, wusste ihn in einer geschickten Eingabe zu dieser ni erhörten Massnahme zu veranlassen. Auch auf blosse Gespräche über das klassische Liederbuch und das klassische Geschichtswerk der Chinesen stand der Tod. Die mündliche Tradition sollte zugleich mit der schriftlichen ausgerottet werden."
"Die wirklich grossen Denker sind vom Unwert der Frau überzeugt. Such in den Gesprächen des Konfuzius, wo du tausend Meinungen und Urteile über alle Dinge des täglichen Lebens findest, einen Satz, der die Frauen betrifft ! Du findest keinen ! Der Meister des Schweigens übergeht sie mit Schweigen."
"Kien kniete in Gedanken nieder und betete in seiner Not zum Gotte der Zukunft : der Vergangenheit. Er hatte das Beten längst verlernst ; aber vor diesem Gotte fand er es wieder... Der Bibelgott sei im Grunde ein trauriger Analphabet. Manche bescheidenen Chinesengötter seien um vieles belesener."
"Kien befand sich wieder, wie jene Nacht, bevor er einschlief, in China... Er sah einer Popularisierung seiner Wissenschaft ins Auge, ohne sofort auszuspucken... Wenn es einem Gelang, diese[m] Stück Menschentum zu schenken, so hatte man etwas geleistet... Jahre würden vergehen, bis er das Chinesische beherrschte. Aber die Vertrautheit mit Trägern und Gedanken des chinesischen Kulturkreises sollte ihm früher zuteil werden. Um sein Interesse dafür zu wecken, musste man an die Verhältnisse des Alltags anknüpfen. Unter dem Titel 'Mong Tse und wir' liesse sich eine hübsche Betrachtung zusammenstellen."
"Zitate aus chinesischen Schriftstellern vermeidet er. Man könnte ihn unterbrechen und Fragen nach Mong Tse stellen. Im Grunde macht es ihm Vergnügen, von einfachen Tatsachen einfach und allgemeinverständlich zu sprechen. Seiner Erzählung eignet die Schärfe und Nüchternheit, die er den chinesischen Klassikern verdankt."
"Einer solchen Bestie gebührt kein ehrliches Begräbnis. Da sie jetzt verlässlich tot ist, will ich sie nicht beschimpfen. Die blaue Gefahr ist gebannt. Nur Dummköpfe haben sich vor einer gelben gefürchtet. China ist das Land der Länder, das heiligtse Land."
"Wenn Leute krank und am Tode sind, dann gleichen sie sehr den Irren, sagt Wang-Chung, ein scharfer Kopf, er lebte im ersten Jahrhundert dieser Zeitrechnung, von 27 bis 98 im China der späten Han, und wusste mehr von Schlaf, Irrsinn und Tod als ihr mit eurer angeblich exakten Wissenschaft. Heile deinen Kranken von seiner Frau ! Solange er sie hat, ist er irrsinnig und am Tode – nach Wang-Chung zwei verwandte Zustände. Entferne die Frau, wenn du kannst !"

Peter Kien, ein berühmter Sinologe, lebt zurückgezogen in seiner 25'000 Bände umfassenden Bibliothek. Er wird von seiner habgierigen Haushälterin Therese zur Ehe verführt und heiratet sie, damit seine Bücher gepflegt werden. Im Kampf um sein Vermögen, wird er von ihr aus seiner Wohnung vertrieben und sieht sich unvermittelt mit dem alltäglichen Leben der Aussenwelt konfrontiert. Sein Bruder Georges, ein Psychiater führt ihn in seine Bibliothek zurück, doch er verfällt zunehmend dem Wahnsinn und verbrennt sich mitten in seinen Büchern.

Canetti legte folgende stenographierte Notiz in die Hanser-Ausgabe von 1963 :
Vielleicht sollte ich zum besseren Verständnis dieses dritten Kapitels der Blendung ein paar Sätze voraus schicken. Im ersten Kapitel hat man den Sinologen Peter Kien bei seinem täglichen Museumsspaziergang kennen gelernt. Er ist überaus menschenscheu und schweigsam. Aber ganz gegen seine Gewohnheit hat er mit einem Jungen, den er vor einer Buchhandlung stehen und die Titel der Bücher entziffern sah, ein Gespräch angeknüpft. Es stellt sich heraus, dass der Junge schon allerhand weiss. Er heisst Franz Metzger und wohnt im selben Hause wie Kien, was dieser nicht bemerkt hatte. Kien, von seiner Wissbegierde …, sagt ihm : "Du darfst einmal in meine Bibliothek kommen. Sag der Wirtschafterin, dass ich es erlaubt habe. Ich zeig dir Bilder aus Indien und China. Aber erst wenn ich einmal Zeit habe, nächste Woche". Sobald er wieder bei der Arbeit sitzt, vergisst Kien den Jungen und das Versprechen, das er ihm gegeben hat. Die Gedanken des Menschen, mit denen das Kapitel, das ich nun lese, beginnt, sind natürlich als die Kiens und nicht des Verfassers zu lesen. Konfuzius, ein Ehestifter-
Christoph Eggenberger : Köstlich liest sich die Präzisierung, es seien die Gedanken Kiens nicht diejenigen des Verfassers. Dieser Hinweis ist in seiner Überdeutlichkeit auffällig, liest sich wie eine Rechtfertigung, als müsse sich Canetti vor Kiens Gedanken schützen, zumindest aber betonen, dass nicht er diese Gedanken hege. Ein absurdes Spiel, es charakterisiert den Schriftsteller aufs trefflichste.
Es folgt die Ansprache an die Bücher, sie werden gewarnt : "… 213 v.Chr. liess Kaiser Shi-Hoang-Ti … sämtliche Bücher Chinas verbrennen" und : "Ich weiss, was der Feind mit den Verschiebungen plant: er will die Kontrolle über unsere Bestände erschweren". Schließlich ruft Kien die Bücher zum Heiligen Krieg auf. Die Bücher werden zu lebendigen Wesen, zumindest aber zu einem Publikum für den Professor. Er spricht zu ihnen. Er versucht sich mit ihrer Hilfe vor dem Feind, das ist Therese, zu schützen. "Du, mein Volk, die Kraft, die Grösse, die Weisheit der Jahrtausende" die Bücher spenden Beifall, jedes Buch in seiner Sprache, in seinem Ton. Gleichzeitig schützt er auch sie, stellt sie mit dem Rücken zur Wand. "Jeder einzelne Band wurde herausgenommen und mit dem Rücken zur Wand gestellt". Canetti scheint damit nicht auf die alte Usanz anzuspielen, die Bücher mit dem Schnitt nach vorne aufzustellen, wo sie betitelt wurden. "Die Wände sahen plötzlich anders aus. Früher waren sie braun, jetzt sind sie weiss." Kien lebt in der Vergangenheit, "in katholischer Priester wird von jeder ägyptischen Mumie übertroffen…Gott ist die Vergangenheit". "Kien befand sich wieder, wie jede Nacht, bevor er einschlief, in China".

Li Shixun : Die Erklärung über die Massenbewegung findet Elias Canetti bei Mengzi. Mengzi habe das Wesen der Masse so präzise wie kein anderer Philosoph erfasst.

Canetti schreibt : Menschen wie Figuren hing ich um ihrer Namen willen an, und Enttäuschung über ihr Verhalten hat mich zu den umständlichsten Bemühungen veranlasst, sie zu verändern und mit ihren Namen in Einklang bringen.

Chen Yun : Der Name einer Person ist für Canetti sehr wichtig. Das erinnert mich an den chinesischen Spruch „Aussen und Innen sind eins“.
Canetti beschäftigt sich auch mit der Literatur und Geschichte Chinas. Er hat umfassende Kenntnisse der chinesischen Geschichte, kennt wichtige historische Ereignisse und viele bekannte historische Personen… Durch die ganze Abhandlung des Romans zieht China : Kien der Sinologe ist, der chinesische Bücher liest und sich an der chinesischen Philosophie, an Konfuzius, Mengzi und Buddha orientiert… Die Situation, in der sich Kien und Konfuzius befinden, ist ähnlich, denn es herrscht überall Unordnung. Aber Kien, der sich um Leiden und Not der menschlichen Zivilisation sorgt, indem er für seine Bücher lebt und um sie kämpft, hat leider im Kampf gegen seine Umwelt und die Gesellschaft verloren und versucht daraus zu entfliehen. Dieses Resultat widerspricht der Richtung des Konfuzius. Das heisst, Konfuzius und Kien vertreten zwei verschiedene Weltanschauungen, nämlich In-die-Welt-Kommen und Aus-der-Welt-Entfliehen.

Wu Ning : Chinesische Stoffe und Motive finden sich besonders in den Kapiteln „Spaziergang“ : Mozi ; „Konfuzius, ein Ehestifter“ und „Mobilmachung“ : Konfuzius ; „Umwege“ : Mozi ; „Listenreicher Odysseus“ : Liezi und Wang Zhong ; „Blendende Möbel“ und „Umwege“ : Mozi. Die chinesischen Philosophen hat Canetti in der Übersetzung von Richard Wilhelm gelesen. Das Kapitel „Die Erstarrung“ ist eine freie Bearbeitung einer chinesischen Geistergeschichte aus P'u, Sung-ling. Seltsame Geschichten aus dem Liao chai [ID D4393].

Canetti-Forscher denken, dass August Pfizmaier das Vorbild für die Figur des Professor Peter Kien gewesen sein könnte, der wie Kien in Bescheidenheit und Zurückgezogenheit in Wien gelebt hat. Canetti hat auch eine Geschichte über Pfizmaier gekannt. Er schreibt 1969 : August Pfizmaier, der Wiener Gelehrte, in seine Übersetzung des Manyoschu vertieft, ahnt ein Jahr lang nichts vom Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870-71. Er erfährt es aus einer japanischen Zeitung, die mit grosser Verspätung bei ihm in Wien anlangt.
Gerd Kaminski schreibt über Pfizmaier : Ohne eine Berufsstellung, die ihn in Beziehung mit der Aussenwelt gebracht hätte, lebte Pfizmaier in völliger Abgeschiedenheit, ohne Kenntnis dessen, was um ihn vorging. Sein Verkehr beschränkte sich auf die Bücher, welche ihm zukamen, seine Welt war die Studierstube, die er seit Jahren nicht mehr verlassen hat. Zum Glück fand sich eine treue Hand, die bis zu seinem Lebensende für ihn besorgt war.

Canetti findet in Mengzi, seinem Lieblingsphilosoph, einen Gleichgesinnten, der vor der Gefahr der Masse mit folgenden Worten gewarnt hat : Sie handeln und wissen nicht, was sie tun ; sie haben ihre Gewohnheiten und wissen nicht, warum ; sie wandeln ihr ganzes Leben und kennnen doch nicht ihren Weg ; so sind sie, die Leute der Masse. Kien denkt : Der Charakter und nicht das Staubtuch macht den Menschen, man nehme sich immer und ausnahmslos vor den Leuten der Masse in acht. [Mengzi, Buch VII].

Aussagen die Canetti mit wenigen Änderungen aus dem Lun yu von Richard Wilhelm [ID D1581] übernommen hat : Mit fünfzehn Jahren stand mein Wille aufs Lernen, mit dreissig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr – aber erst mit sechzig war mein Ohr aufgetan… Betrachte der Menschen Art zu sein, beobachte die Beweggründe ihres Handelns, prüfe das, woran sie Befriedigung finden. Wie kann ein Mensch sich verbergen !... Fehlen, ohne sich zu bessern, das nennt man Fehlen. Hast du einen Fehler begangen, so schäme dich nicht, ihn gutzumachen… Das Rechte sehen und es nicht tun, ist Mangel an Mut.
Nachdem Kien von Therese beraubt und aus der Wohnung geworfen wird, wird er zum Frauenhasser. Er greift auf seine „alten Chinesen“ zurück, auf Konfuzius : Such in den Gesprächen des Konfuzius, wo du tausend Meinungen und Urteile über alle Dinge des täglichen Lebens findest, einen Satz, der die Frauen betrifft ! Du findest keinen !
Dies ist eine falsche Aussage von Kien, denn im Lun yu gibt es einige Aussagen über Frauen.
Der schweigsame Kien ist in seinem Wesen keineswegs mit Konfuzius gleichzusetzen. Das „Schweigen“ des Konfuzius ist ein auf das höchste Ziel seiner Tätigkeit, die Sittlichkeit, ausgerichtetes Schweigen, das grossen Wert auf Handeln legt. Kiens Stummheit hingegen ist Ausdruck eines auf Grössenwahn, Frauenhass und Massenverachtung aufgebautes Dasein.
Das Feuer ist ein Leitmotiv in der Blendung. Von allen Vorzeichen, die Canetti im Roman einsetzt, um die Tragödie Kiens anzudeuten, ist die Bücherverbrennung von 213 auf Befehl von Kaiser Shihuangdi in der Geschichte Chinas, das aufschlussreichste.

Zhang Chunjie : Peter Kien führt aus zwei Gründen ein Gespräch mit Konfuzius. Zum einen hat er die Gewohnheit, mit Bücher Debatten zu führen, zum andern führt er das Gespräch aufgrund einer Unsicherheit, seine Haushälterin Therese, eine eigentlich für ihn ungebildete und nicht lesefähige Person, zu beurteilen. Er zweifelt an seinem bisherigen Urteil. An seiner früheren Meinung gegenüber Therese, der Menschenmasse lässt sich unter diesen Umständen nicht mehr festhalten, und damit ist seine Lebenshaltung grundsätzlich in Frage gestellt.
Die Diskrepanz zwischen den vier Zitaten, die Canetti aus dem Lun yu übernommen hat, und dem Originaltext, wird vom ersten bis zum vierten immer grösser. Der Missbrauch der Konfuzius-Zitate zeugt geradezu von der Pseudowissenschaftlichkeit Peter Kiens.

Alexander Kosenina : Dass Kien gerade Konfuzius und nicht etwa Mengzi als Anwalt für seinen "Heiligen Krieg" beruft, ist sicher kein Zufall. Sein verehrter Mengzi wäre nämlich nicht in Frage gekommen, da er den Krieg verurteilte und in der Vergangenheit keine gerechten Kriege entdecken konnte. Auch Konfuzius ist kein ausgesprochener Freund des Militärs, weiss aber doch um dessen Notwendigkeit. Für eine gute Regierung setzt er es ebenso voraus wie genügend Nahrung und das Vertrauen des Volkes zu seinem Herrscher. Im Zweifelsfalle hält er gleichwohl die Streitmacht am ehesten für verzichtbar, gefolgt von der Verpflegung, als das wichtigste Fundament des Staates verbleibt das Verauen. Ein weiterer Grund für Kiens Wahl ist in seiner vorausgeschickten 'narratio' von der Bücherverbrennung zu suchen. Sie wurde von einer staatstreuen Gruppe sogenannter Legalisten unterstützt, die sich gegen die Tradition des Konfuzianismus richtete. Kiens Losung soll also Konfuzius' und seine Lehre gegen die legalistische Zersetzung stärken. Noch ein dritter Umstand motiviert Kien zur Wahl seines geistigen Kriegsherrn, nämlich sein Feindbild. Seine Kriegserklärung gilt Therese, einer Frau. In Konfuzius glaubt er einen geistigen Verbündeten für seine Frauenverachtung gefunden zu haben. Seinem Bruder Georges erklärt er : "Die wirklich grossen Denker sind vom Unwert der Frau überzeugt. Such in den Gesprächen des Konfuzius [Lun yu], wo du tausend Meinungen und Urteile über alle Dinge des täglichen Lebens findest, einen Satz, der die Frauen betrifft ! Du findest keinen ! Der Meister des Schweigens übergeht sie mit Schweigen". Mit dieser Behauptung irrt sich Kien. Im Lun yu finden sich wenige Aussagen über Frauen, allerdings ganz im abwertenden Sinne Kiens : "Mit Weibern und Knechten ist doch am schwersten auszukommen ! Tritt man ihnen zu nahe, so werden sie unbescheiden. Hält man sie fern, so werden sie unzufrieden".
  • Document: Neue Forschungen chinesischer Germanisten in Deutschland. Na Ding (Hrsg.). (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1346). S. 63. (Din11, Publication)
  • Document: Kosenina, Alexander. "Buchstabenschnüffeleien" eines Sinologen : China-Motive in Elias Canettis Gelehrtensatire "Die Blendung". In : Orbis litterarum ; Bd. 53 (1998).
    http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1600-0730.1998.tb00109.x/pdf. S. 242-243. (Can40, Publication)
  • Document: Wu, Ning. Canetti und China : Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation. (Stuttgart : Heinz, 2000). (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Nr. 384. Salzburger Beiträge ; Nr. 38). Diss. Univ. Salzburg, 1995. S. 22-23, 27-28, 32-33, 51-52, 59-60, 66, 75. (WuN1, Publication)
  • Document: Chen, Yun. Canetti und die chinesische Kultur. (Düsseldorf : Universität Düsseldorf, 2003). Diss. Univ. Düsseldorf, 2003. S. 24, 128-129, 150. (ChenY1, Publication)
  • Document: Zhang, Chunjie. Das Exotische als Scheinwelt : die China-Rezeption in 'Die Blendung' von Elias Canetti. In : Literaturstrasse ; Bd. 5 (2004). (Can3, Publication)
  • Document: Eggenberger, Christoph. Die Bibliothek des Elias Canetti : Schein und Wirklichkeit. In : Bibliotheken in der Literatur. Biblios ; Nr. 2 (2005). (EggE1, Publication)
  • Person: Canetti, Elias
  • Person: Pfizmaier, August
14 1936 Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen [ID D12783].
Das früheste Dokument über Me-ti ist Brechts briefliche Anfrage von 1935 an Helene Weigel "Hast Du den Me-ti schon geholt?"
Brecht schreibt : Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben : das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vogelschwärme… - so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt.

Liu Weijian : Wenn das Tao verlorengegangen ist, kommt die Gesellschaft in Unordnung. Um der Unordnung entgegenzuwirken und sie unter Kontrolle zu bringen, versuchen die Menschen, Tugenden zu propagieren. Diese Auffassung von Tugenden ist ein Punkt, an den Brecht anknüpft.
Brecht schreibt : Es gibt wenige Beschäftigungen, sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechen halten, man muss für das Gute kämpfen…
Wie die Tugenden sind auch die Gesetze bei Laozi keine Beweise einer hochstehenden Sittlichkeit. In ihnen spiegeln sich vielmehr die schlechten Verhältnisse wieder, die sie nötig machen. Brecht glaubt ebenfalls, dass die Entstehung der Gesetze die soziale Ungerechtigkeit reflektiert, weil sie sonst überflüssig werden.
Er schreibt : Ohne Ungerechtigkeit zu spüren, wird man auch keinen besonderen Gerechtigkeitssinn entwickeln…
Brecht diskutiert über die taoistische Eigenliebe und die Ansicht von Yang Zhu. Dabei unterscheidet er Eigenliebe von Egoismus. Brechts Egoismusbegriff entspricht den taoistischen Begriffen von der Selbstsucht und der unersättlichen Natur. Wie Laozi und Yang Zhu kritisiert Brecht einerseits egoistische Selbstsucht und bejaht andererseits die Eigenliebe. Er meint, dass der Mangel an Eigenliebe dem Menschen selbst Elend bringt. Er geht nicht wie Yang Zhu davon aus, nur sich selbst zu schützen, sondern davon, zuerst die Gesellschaft zu verändern, um einen harmonischen Zustand zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Gemeinschaft zu realisieren. Das zeigt sich sowohl in seiner Ansicht über die Bekämpfung des Egoismus wie auch in seiner Meinung zur Verwirklichung der Eigenliebe.
Er schreibt : Yang-tschu [Yang Zhu] lehrte : Wenn man sagt : der Egoismus ist schlecht, so denkt man an einen Zustand des Staates, in dem er sich schlecht auswirkt. Ich nenne einen solchen Zustand des Staates schlecht. Wenn man keinen Egoismus haben will, dann muss man nicht gegen ihn reden, sondern einen Zustand schaffen, wo er unnötig ist.

Gerwig Epkes : Ende 1920er Jahre : Bertolt Brecht hat sich mit Mozi befasst : Hanns Eisler schreibt, dass ihm Brecht das Buch Forke, Alfred. Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke [IDD 669] gezeigt hat. Brecht übernimmt die Darstellungsweise des Mozi und diskutiert dessen Aussagen vor westlichem Hintergrund.

Christoph Gellner : Das Buch Me-ti, ganz im „chinesischen Stil geschrieben“, ist zweifellos ein Höhepunkt von Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie während des Exils. Obwohl die Sammlung von annähernd 300 Aphorismen, Sentenzen und Miniaturparabeln wie die meisten seiner Prosa- und Romanprojekte Fragment geblieben ist, gelten die Schubladentexte des Me-ti als ein ethisch-ästhetisch zentraler Werkkomplex. Handelt es sich doch um das einzige, erst aus dem Nachlass veröffentlichte Werk, in dem sich Brecht näher und konkreter über die Inhalte seines utopischen Denkens geäussert hat. Nicht von ungefähr steht die Vision einer solidarischen Zukunftsgesellschaft, in der heroische Tugendanstrengungen als erzwungene Leistungen entbehrlich sind, im Zentrum. Als Formmuster griff Brecht dabei wiederum auf eine höchst unzeitgemässe Literaturtraditon zurück, in der Dichtung, wie im alten China, noch nicht von Wissenschaft und Philosophie, von Moral-, Weisheits- und Verhaltenslehre abgesondert war. Das Ergebnis ist eine für Brecht typische Mischung aus alter und neuer Weisheit… Vorwiegend handelt es sich um aktuelle europäische Fragestellungen und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die durch den aphoristisch-sophtegmatischen Weisheitsgestus altchinesischer Philosophie kunstvoll ein falsches Alter gewinnen. So bezieht sich einer der zentralen Themenkomplexe auf die in den dreissiger Jahren unter den exilierten Linken aufgebrochenen Differenzen hinsichtlich des Aufbaus des Sozialismus (der „Grossen Ordnung“) in der Sowjetunion und der Verwandlung der marxistischen Dialektik in eine von der Moskauer Parteibürokratie verwaltete Rechtfertigungsideologie des Sowjetkommunismus. In chinesischem Gewande versammelt sind die „Klassiker“ des Marxismus Hegel (Meister Hü-jeh), Marx (Ka-meh), Engels (Meister Eh-fu), Rosa Luxemburg (Sa), Karl Korsch (Ka-osch) sowie Lenin (Mi-en-leh), Trotzki (To-tsi) und Stalin (Ni-en). Brecht sieht sich selbst in Gestalt des Me-ti…
„Ein Staat, so lehrt Me-ti, muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist. Je grösser dann der Nutzen des Einzelnen wird, desto grösser ist der Gemeinnutz“. Mozi thematisiert die Ethik als Teil der Staatslehre in engstem Zusammenhang von Politik und Ökonomie, während die abstrakte, individuelle Ethik bei ihm keine besondere Behandlung erfährt…
Me-ti wiederholt nicht einfach die alten Weisheiten, er radikalisiert vielmehr dessen materialistischen Ansätze und anklingende sozialistische Ideen unter dezidiert marxistischem Vorzeichen.
„Es gibt wenige Beschäftigungen sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechungen halten, man muss für das Gute kämpfen“.

Adrian Hsia : Brecht beginnt in den 1920er Jahren Material für das Buch Me-ti zusammenzutragen. Im Wesentlichen spielt die Handlung in einem märchenhaften China, das von einigen schein-chinesischen Namen dekoriert wird, um aber aktuelle Ereignisse in der Sowjetunion und Deutschland darzustellen. Brecht selbst sagt, dass er eine Anzahl von relevanten zeitgenössischen Geschehnissen ausgewählt habe, um diese den grundlegenden Anschauungen des chinesischen Philosophen gegenüberzustellen bzw. mit ihnen zu vergleichen. Der Zweck der Gegenüberstellung ist, eine uralte Quelle des Sozialismus zu finden und die chinesischen Weisheiten und Verhaltensregeln für die moderne Gesellschaft nutzbar zu machen, denn Brecht war der Meinung, dass Marx und Engels zwar grosse Theorien geschaffen hätten, doch hätten sie das vernachlässigt, womit sich chinesische Philosophen fast ausschliesslich befasst haben, nämlich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, den Verhaltensweisen des täglichen Lebens. Aus dieser Sicht her gesehen, stellt Me-ti eine Kombination der Anschauungen von Marx und Engels, Brecht selbst, Mozi und nicht zuletzt auch von Konfuzius dar. Auch Laozi kann man in Me-ti finden. Laozi ist der Meinung, dass Tugenden nur unter einer schlechten Regierung notwendig seien. Ähnliches sagt auch Yang Zhu, der den Egoismus im Sinne der Selbstliebe befürwortet. Brecht übernimmt die Ansichten Laozis und Yang Chus.

Ye Fang-xian : Brecht führt mehrmals die Unmoral auf den elenden Zustand der Gesellschaft zurück. Im Hinblick auf die Gesellschaftskritik, besonders auf die Beziehung zwischen der Moral und den ökonomischen Verhältnissen, kann man auf viele Ähnlichkeiten zwischen Mozi und Brecht hinweisen. Trotzdem darf man nicht behaupten, dass ihre Gedanken übereinstimmen. Einen wesentlichen Unterschied zeigen ihre Auffassungen von Liebe. Mozi siehe keinen Konflikt zwischen Nächstenliebe und Eigenliebe. Er glaubt in der allumfassenden gegenseitigen Liebe ein Mittel zur Herstellung der idealen Wohlstandsgesellschaft ohne Konflikt und Armut. Brecht verwandelt das göttliche Gebot der Nächstenliebe in eine idealistische Moral und kehrt zugleich die Götter aus dem biblischen Motiv in die Verteidiger einer schlechten Gesellschaftsordnung und schliesslich in Angeklagte… Obwohl Brechts Hauptinteresse sich auf die Natur der kapitalistischen Gesellschaft richtet, wird Shen Te als ein Mensch dargestellt, der von Natur aus gut ist… Der Gegensatz zwischen der guten Natur Shen Tes und den schlechten Verhältnissen der Gesellschaft ist die Grundlinie des Parabelstücks… Was für die Reichen gute Natur ist, ist für die Armen böse. In diesem Sinne stimmt Brechts Darstellung mit dem Marxismus überein.
Wenn sich Brecht mit der Lehre Mengzis beschäftigt hat, hat er sie in den Mund der Götter gesetzt und sie damit in Frage gestellt. Obwohl ihre Ansatzpunkte ähnlich sind : der Mensch sei von Natur aus gut, sind ihre Weltanschauungen oppositionell… Bei Mengzi soll die chaotische Welt durch die vom Gott bestimmten Menschen mit guter Natur gerettet werden… Die Zitate aus den chinesischen Schriften sind in diesem Werk besonders augenfällig. Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie und seine Behandlung der westlichen kulturellen Tradition sind untrennbar integriert.

Yim Han-soon : Die Reduktion des philosophischen Denkens auf die Meditation bemängelt Brecht mit dem Bild des Wassers, das er wahrscheinlich dem Zhuangzi entnommen hat.
In bezug auf die „Verurteilung der Konfuzianer“ von Mo Di setzt sich Brecht mit dem Grundsatz der Institution Familie auseinander, indem er die Familienidee von Konfuzius den Argumenten Mo Dis für die „einigende Liebe“ im Sinne eines sozialistischen Organisationsprinzips entgegenstellt. Das chinesische Motiv dient freilich nur zur Verkleidung einer kommunistischen Idee : Die traditionelle Funktion der Famlie soll von einem sozialistischen Kollektiv übernommen werden.
Der eigentliche Standort der Auseinandersetzung zwischen Kung und Me-ti ist nicht das chinesische Altertum, sondern das widersprüchliche Familienleben des Bürgertums. Kung und Me-ti leben im Zeitalter des Klassenkampfes, in dem das Familienleben in herkömmlicher Form unmöglich geworden ist.
Ohne die anarchistische Grundhaltung Yang Zhus zu teilen, übernimmt Brecht von ihm die Ansicht, dass Uneigennützigkeit, Mangel an Eigenliebe, sowohl den Mitmenschen als auch den betreffenden einzelnen schädlich sei. Yang Zhus Egoismus bedeutet Enthaltsamkeit und Rückkehr von der Gesellschaft zu einem selbstgenügsamen Privatleben, während Brecht die Eigenliebe gerade zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivität und zum materiellen Genuss des einzelnen befürwortet. Er schreibt : „Wie soll man den Egoismus bekämpfen ? Ein Staat muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist“.
Von den verwendeten chinesischen Elementen her betrachtet, ist Me-ti ein Sammelwerk, in dem das selektiv-positive Verhältnis Brechts zur chinesischen Philosophie deutlich zum Vorschein kommt. Er übernimmt grundsätzlich diejenigen Ansätze, die im positiven Sinne nutzbar und aktualisierbar sind.
  • Document: Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen : Fragment. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Uwe Johnson. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1965). (Prosa / Bertolt Brecht ; 5). [Geschrieben 1934-1937] ; [Mozi]. (Bre19, Publication)
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). 43, 82-84, 248-249, 255. (Yim1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 148-149, 152-153, 156-158. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 162-174. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 218-219, 222-225. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Weigel, Helene
  • Person: Yang, Zhu
15 1943 Hesse, Hermann. Das Glasperlenspiel. (Zürich : Fretz & Wasmusth, 1943).
Adrian Hsia : Das Sinnliche des Glasperlenspiels ist die Ideographie. Aber was ist der Geist der abendländischen und chinesischen Musik, der eins der wichtigsten Bestandteile des Glasperlenspiels ausmacht ? Die klassische Musik gibt dem Glasperlenspiel die tragische, aber zugleich tapfere und heitere Würde : Die Tragik des Menschengeschicks muss mit einem Trotzdem, mit dem Todesmut und mit einen Klang von übermenschlichem Lachen bejaht werden. Die chinesische Musik dagegen verbindet das Glasperlenspiel mit dem Ursprung des Seins. Im alten China soll die Musik in Tao wurzeln, das Yin und Yang enthält, die alles erzeugt haben. Zugleich sei die Musik auch die Seele des Volkes. Wenn die Musik den oberen Gesetzen des Tao folge, so sei sie vollkommen, und demzufolge herrsche auch Harmonie in der Welt, im Kosmos und unter den Menschen ; auch die Leidenschaft befinde sich auf der Bahn zur Selbstvervollkommnung und zu Tao, das Rechte dominiere. Denn nach Konfuzius stellt die Musik die höchste Stufe der Sittlichkeit dar. Wer das rechte Wesen der Musik erfasst, der erkennt auch den Weg zu Tao, dem Weltsinn…
Die Meditation ist zwar der letzte Bestandteil, der in das Glasperlenspiel aufgenommen wurde, doch ist sie zusammen mit der Musik die Hauptsache des Ganzen geworden. Sie verleiht dem Glasperlenspiel die Wendung zum Religiösen und gibt ihm eine 'Seele'…Die Meditation ist nach wie vor eine Atemübung, verbunden mit der Konzentration auf eine bestimmte Vorstellung. Die Versenkung ist für das Glasperlenspiel notwendig, weil sie nicht nur die Ideogramme vor Entartung bewahrt, sondern auch der Weg aus der Vielfalt zur Einheit, zu Tao, der Urquelle alles Seins und Werdens ist… Das Glasperlenspiel wird erst durch Knechts intensives Studium der chinesischen Klassikers, besonders des Buches Yi jing ermöglicht… Die Analogie zwischen dem Glasperlenspiel und dem System des Yi jing, aus dem auch das Schema des Hausbaus abgeleitet wurde, ist offensichtlich. Beide bedienen sich einer Ideographie, und beide wurzeln in der Idee der Einheit und Harmonie… Es bestehen grundlegende Unterschiede zwischen dem System des Yi jing und dem des Glasperlenspiels. Der entscheidende Unterschied ist, dass die Wandlungen, die das uralte chinesische System des Yi jing ausdruckt, dem Tao unterworfen sind, während das Glasperlenspiel nicht mehr den Geist an sich darstellen will, sondern zum Abstraktum des Geistes geworden ist.
Nach Beendigung des Glasperlenspiels, steigt Konfuzius höher in der Achtung Hesses.

Liu Weijian : Für das Leben eines Glasperlenspielers ist die Musik ein wichtiger Bestandteil. Die Entstehung und Bedeutung dieser Musik versucht Hesse durch Zitate aus Frühling und Herbst des Lü Bu Wei [ID D1694] im taoistischen Sinne zu erklären… Der Gedanke, dass die Musik Ausdruck der Harmonie der Polarität von Yin und Yang ist und dass deren Verlust der Harmonie auf soziale Disharmonie hinweist, lässt sich auch auf Zhuangzi zurückzuführen… Die Vereinigung von Yin und Yang ist bei Knecht nicht nur eine persönlich angestrebte Synthese, er versucht sie auch in der Welt zu verwirklichen. Als meisterhafter Glasperlenspieler begnügt er sich nicht damit, nur eine Synthese des Geistes herzustellen, er fühlt sich zugleich vor die Aufgabe gestellt, eine Einheit von Welt und Geits, von Yin und Yang durch den Dienst an der Menschheit zu realisieren und dabei sein Selbst zu vervollkommnen.

Gerwig Epkes : Das Glasperlenspiel ist Hesses Verarbeitung des Yi jing. Um ein Lebensglück zu erlangen, muss der Spieler ein Verhalten zeigen, welches an Hesses Reaktionsbildung auf seinen Vaterhass erinnert. Statt Ich-Erweiterung und Entscheidungskompetenz soll er Selbstverzicht üben. So ist Hesses Glasperlenspiel ein Fluchtweg aus der Dialektik von Schuld und Sühne.
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 114. (Hes2, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 83-91. (LiuW1, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
16 1960 Canetti, Elias. Masse und Macht [ID D14047].

Canetti schreibt : Alle Absichten des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas von der Sucht, zu überleben. Man will nicht nur immer da sein, man will da sein, wenn andere nicht mehr da sind. Jeder will der Älteste werden und es wissen, und wenn er selbst nicht mehr da ist, soll man es von seinem Namen wissen. Die niedrigste Form des Überlebens ist die des Tötens… Am folgenreichsten ist die Ausbildung des Ahnenkultes bei den Chinesen. Um zu verstehen, was ein Ahne bei ihnen ist, muss man auf ihre Seelenvorstellung ein wenig eingehen. Sie [die Chinesen] glauben, dass jeder Mensch im Besitze von zwei Seelen sei. Die eine, po, entstand durch das Sperma und war also seit dem Augenblick der Zeugung vorhanden ; ihr wurde das Gedächtnis zugerechnet. Die andere Seele, hun, entstand durch die Luft, die nach der Geburt eingeatmet wurde, und bildete sich dann allmählich. Sie hatte die Gestalt des Körpers, den sie belebte, aber sie war unsichtbar. Die Intelligenz, die ihr zugehörte, wuchs mit ihr, es war die überlegene Seele. Nach dem Tode stieg diese Atemseele zum Himmel auf, während die Spermaseele bei der Leiche im Grabe blieb…
Über das Ergebnis seiner Beschäftigung mit dem Lun yu schreibt Canetti : Es ist, von allen Zivilisationen, der einzige ernsthafte Versuch, der mir bekannt ist, die Lüsternheit des Überlebens aufzulösen. Als solchen wird man den Konfuzianismus in seinem Ursprung, all seinen späteren Entartungen zum Trotz, wenigstens in diesem Aspekt, sehr vorurteillos bedenken müssen.
Gerwig Epkes : Canetti ist nicht in der Lage, sich differenziert mit China auseinanderzusetzen. So setzt er z.B. Konfuzius, Konfuzianismus und die chinesische Zivilisation gleich. Er unterstellt den Chnesen ein Triumpfgefühl beim Anblick der Toten und eine Lüsternheit des Überlebens. Er untersucht nicht ihre spezifische gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung. Er rühmt das Lun yu wegen dessen Lebensfeindlichkeit, was seiner eigenen Sicht entspricht. Dabei gehen ihm weitere Einsichten in China verloren. Zudem rückt er den Reichtum der chinesischen Philosophie in ein schiefes Licht. Er verdrängt Tatsachen, die seine eigene idealisierende Wahrnehmung stören.

Chen Yun : Canetti beschäftigte sich mit dem Ahnenkult der Chinesen.

Wu Ning : Canetti schreibt von Opferzeremonien und Gedenkriten mancher Völkergruppen, bei denen man aus einem anderen Glauben, einer anderen Tradition mit dem Tod umgeht. Dort ist man der Ansicht, dass die Toten noch immer Macht über die Hinterbliebenen ausüben würden.

Ning Ying : Im alten China äusserten verschiedene Schulen ihre eigenen Meinungen über die Massen und den Machthaber. Konfuzius und Mengzi teilen die Menschen in zwei Kategorien : Die Edlen und die Nichtswürdigen. Bei Canetti wird die Masse entder als ‚ein blutgieriger Tiger’ oder als ‚ein roter Kater’ oder ‚ein halber Mensch’ bezeichnet. In China behandelt man das Problem der Masse und Macht meistens aus dem politischen und sozialen Aspekt, während Canetti es mehr aus der philosophischen, anthropologischen und psychologischen Sicht betrachtet.
  • Document: Fernöstliche Brückenschläge : zu deutsch-chinesischen Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Adrian Hsia und Sigfrid Hoefert. (Bern : P. Lang, 1992). (Euro-sinica ; Bd. 3). S. 159-160. (Hsia3, Publication)
  • Document: Wu, Ning. Canetti und China : Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation. (Stuttgart : Heinz, 2000). (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Nr. 384. Salzburger Beiträge ; Nr. 38). Diss. Univ. Salzburg, 1995. S. 128. (WuN1, Publication)
  • Document: Chen, Yun. Canetti und die chinesische Kultur. (Düsseldorf : Universität Düsseldorf, 2003). Diss. Univ. Düsseldorf, 2003. S. 127-128. (ChenY1, Publication)
17 1975 Canetti, Elias. Das Gewissen der Worte : Essays [ID D14042].
Canetti, Elias. Konfuzius in seinen Gesprächen (1971). In : Das Gewissen der Worte.
Canetti schreibt : "Die 'Gespräche' des Konfuzius sind das älteste vollkommene geistige Porträt eines Menschen. Man empfindet es als ein modernes Buch, nicht nur alles, was es enthält, auch alles, was in ihm fehlt, ist wichtig… Ich kenne keinen Weisen, der den Tod so ernst nahm wie Konfuzius. Auf Fragen nach dem Tod verweigert er die Antwort. 'Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen'. Er sagt nicht, dass nachher nichts ist, er kann es nicht wissen. Aber man hat den Eindruck, dass ihm gar nicht daran läge, es in Erfahrung zu bringen, selbst wenn das möglich wäre. [Lun yu]. Aller Wert wird damit auf das Leben selbst verlegt, was man dem Leben an Ernst und Glanz genommen hat, indem man einen guten, vielleicht den besten Teil seiner Kraft hinter den Tod verlegte, wird ihm wieder zurückerstattet. So bleibt das Leben ganz, was es ist, und auch der Tod bleibt intakt, sie sind nicht austauschbar, nicht vergleichbar, sie mischen sich nicht, sie bleiben verschieden…

Die Reinheit und der menschliche Stolz dieser Gesinnung ist sehr wohl vereinbar mit jener emphatischen Steigerung des Gedenkens an die Toten, wie sie sich im Li-ki [Li ji], dem Buch der Riten der Chinesen findet. Das Glaubwürdigste, was ich über die Annäherung an die Toten je gelesen habe, über das Gefühl ihrer Gegenwart an den Tagen, die zu ihrem Gedächtnis bestimmt sind, findet sich in diesem Buch der Riten… Es ist ganz im Sinne des Konfuzius, es ist, obwohl in dieser Form erst später aufgezeichnet, das, was man bei der Lektüre seiner Gespräche schon immer empfindet. In einer Verbindung von Zartheit und Zähigkeit, die sich anderswo schwerlich findet, bemüht er sich, das Gefühl der Verehrung für gewisse Tote zu steigern… Es ist ein sehr kompletter Mensch, den man da kennenlernt, aber nicht irgendein Mensch. Es ist ein Mensch, der auf seine Vorbildlichkeit bedacht ist und mit ihrer Hilfe auf andere einwirken will…
Wer drei Jahre für seinen Vater trauert, den Lauf seiner gewohnten Tätigkeit so vollkommen und so lang unterbricht, kann keine Freude am Überleben fühlen, jede Genugtuung am Überleben, selbst wenn sie noch möglich wäre, wird durch den Gang der Verpflichtungen zur Trauer von Grund auf ausgemerzt.

Die Abneigung des Konfuzius gegen Beredsamkeit : das Gewicht der gewählten Worte. Er fürchtete ihr Schwächung durch leichten und glatten Gebrauch. Die Zögerung, die Überlegung, die Zeit vor dem Wort ist alles, aber auch die Zeit danach. Es ist etwas im Rhythmus der isolierten Frage und Antwort, das ihren Wert erhöht. Das rasche Wort der Sophisten, das eifrige Ballspiel des Wortes ist ihm verhasst…"

Wu Ning : Canetti bekommt bei seiner Auseinandersetzung mit dem Tod Unterstützung von der chinesischen klassischen Philosophie. Er stellt fest, dass dem Umgang der Chinesen mit den Toten ein völlig anderer Glaube bzw. ein ganz unterschiedlicher Kulturhintergrund zugrundeliegt ; dort bezeigt man sein Andenken an die Verstorbenen durch Fasten und Meditieren und erfüllt so seine Verpflichtungen gegenüber den Toten ; die Gedenkakte und Zeremonien sind durch archaische, bindende Sitten und Rituale geregelt. Er erkennt, dass die uralte Tradition mit der profanen Lehre des Konfuzius durchaus im Einvernehmen steht…
Die Beziehung zwischen Vater und Sohn gehört zu den fünf wichtigsten sozialen Beziehungen der Menschen im konfuzianischen System. Die weiteren sind Mann zu Frau, älterer zu jüngerem Bruder, Fürst zum Diener und Freund zu Freund. Ihre Regelung ist in den Riten des Li ji zu lesen.

Ning Ying : Canetti nimmt folgende Lehren von Konfuzius an : Erstens : Das Verhältnis zur Macht : „Er wird so zum Meister des Nein-Sagens und versteht sich ganz zu bewahren. Er ist kein Asket, et nimmt Anteil an allen Aspekten dieses Lebens und zieht sich nie wirklich aus ihm zurück“. Zweitens : Das Verhältnis zum Menschen : „Konfuzius erlaubt keinem Menschen, Werkzeug zu sein. Damit hängt seine Abneigung gegen Spezialistentum zusammen“. Drittens : Das Verhältnis zum Tod.

Gerwig Epkes : Die Ansichten und Gebote des Lun yu treffen in Canetti auf eine verwandte Seele, denn auch er will durch Verbote die Beziehungen regeln. So sieht er den Ahnenkult als etwas Sinnvolles an. Beruht der Ahnenkult an und für sich auf einer Verdrängung des Todes, so bestreitet Canetti dies. Canetti fällt der Widerspruch zu sich selbst nicht auf : Würdigt er eine Seite zuvor die scharfe Trennung, die Konfuzius zwischen Leben und Tod ziehe, so lobt er mit seiner Bewertung des Ahnenkultes das Gegenteil, nämlich die Aufhebung der Trennung zwischen Leben und Tod.

Li Shixun : Canetti beurteilt Konfuzius positiv, während der Konfuzianisms zu dieser Zeit in China wieder heftig kritisiert wird.

Canetti, Elias. Der andere Prozess. In : Das Gewissen der Worte.
Canetti schreibt, dass Franz Kafka nicht nur unter dem grossen Einfluss des Taoismus und Buddhismus steht, sondern auch ein Dichter ist, der in Europa den Charakter der chinesischen Literaturform am besten gemeistert hat : Kafka gehört mit manchen seiner Erzählungen in die chinesische Literatur. Chinesische Themen sind von der europäischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert oft aufgegriffen worden. Doch der einzige, seinem Wesen nach chinesische Dichter, den der Westen aufzuweisen hat, ist Kafka.
In Übereinstimmung mit Arthur Waley stellt Canetti fest, dass Kafka mit manchen seiner Erzählungen der chinesischen Literatur anzurechnen sei, da Kafka unter dem taoistischen Animismus und der buddhistischen Seelenwanderungsidee nicht nur das Reale ins Irreale uneingeschränkt zu transzendieren vermag, sondern auch die freien Verwandlunsmöglichkeiten, den uneingeschränkten Wechsel von Mensch und Tier unternehmen oder fabelhafte und phantastische Wesen verschiedenster Art, Menschen, die mit übernatürlichen Kräften begabt sind, darstellen kann.

Canetti schreibt weiter über Franz Kafka : Am erstaunlichsten ist ein anderes Mittel, über das er so souverän verfügt wie nur die Chinesen : Die Verwandlung ins Kleine. Da er Gewalt verabscheute, sich aber auch die Kraft nicht zutraute, die zu ihrer Bestreitung vonnöten ist, vergrösserte er den Abstand zwischen dem stärkeren und sich, indem er im Hinblick auf das starke immer kleiner wurde.
Ning Ying : Vergleicht man den Begriff der Verwandlung im Taoismus, so lässt sich Folgendes sagen : Im alten China glaubte man, dass der Mensch und der Himmel, das Ich und das Ding eine Einheit bildeten, denn die Verwandlung führte nicht zu einer Spaltung des Ichs. Die Verwandlung in Canettis Kafka-Forschung dagegen, ist ein Mittel der Gedemütigten, die dadurch versuchen, der Macht zu entgehen.
Der Begriff der Verwandlung hat tiefe Bedeutung für Canetti. Er sieht sie vor allem unter dem Aspekt der poetischen Anthropologie und der Sozialpsychologie. Mit Hilfe der Verwandlung will er nach einem Weg suchen, um die Menschheit vor der Bedrohung zu retten. Seiner Meinung nach liegen der Ursprung und das Ziel des Menschen in seiner Fähigkeit zur Verwandlung
  • Document: Lee, Joo-dong. Taoistische Weltanschauung im Werke Franz Kafkas. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1985). (Würzburger Hochschulschriften zur neueren deutschen Literaturgeschichte ; 8). Diss. Julius-Maximilians-Univ. zu Würzburg, 1985. S. 30, 121. (Lee10, Publication)
  • Document: Fernöstliche Brückenschläge : zu deutsch-chinesischen Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Adrian Hsia und Sigfrid Hoefert. (Bern : P. Lang, 1992). (Euro-sinica ; Bd. 3). S. 153, 158. (Hsia3, Publication)
  • Document: Neue Forschungen chinesischer Germanisten in Deutschland. Na Ding (Hrsg.). (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1346). S. 64. (Din11, Publication)
  • Document: Wu, Ning. Canetti und China : Quellen, Materialien, Darstellung und Interpretation. (Stuttgart : Heinz, 2000). (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Nr. 384. Salzburger Beiträge ; Nr. 38). Diss. Univ. Salzburg, 1995. S. 64, 102-103, 123-124, 133. (WuN1, Publication)
  • Document: Chen, Yun. Canetti und die chinesische Kultur. (Düsseldorf : Universität Düsseldorf, 2003). Diss. Univ. Düsseldorf, 2003. S. 125-127. (ChenY1, Publication)
  • Person: Canetti, Elias
  • Person: Kafka, Franz

Sources (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1919 Klabund. Tao : eine Auswahl aus den Sprüchen des Lao Tse. In : Vivoc voco ; (1919). [Laozi]. [Später publiziert in Laotse. Sprüche [ID D11984]. Publication / Klab22

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)