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“Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke” (Publication, 1986)

Year

1986

Text

Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28)

Type

Publication

Mentioned People (1)

Brecht, Bertolt  (Augsburg 1898-1956 Berlin) : Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur

Subjects

Literature : Occident : China as Topic / Literature : Occident : Germany / Philosophy : China : General / References / Sources

Chronology Entries (14)

# Year Text Linked Data
1 1913 ca. Bertolt Brecht liest die Gedichte von Li Bo in Hauser, Otto. Chinesische Gedichte [ID D4640].
2 1919 Bertolt Brecht schreibt ein Gedicht über seinen Freund Caspar Neher : "Litaipee kann in siebzig Sprachen reden. Siebzig Teufel der Hölle können ihn nicht versuchen. Litaipee kann in siebzig Sprachen beten. In siebzig Sprachen kann Litaipee fluchen".
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 121. (LiuW1, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Neher, Caspar
3 1920 Bertolt Brecht liest Döblin, Alfred. Die drei Sprünge des Wang-lun [ID D12338]. Er lernt darin die taoistische Anschauung von Liezi kennen. Er schreibt später : Es ist eine grosse Kraft drinnen, alle Dinge sind in Bewegung gebracht, die Verhältnisse der Menschen zueinander in unerhörter Schärfe herausgedreht.
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 123. (LiuW1, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
4 1923 Brecht, Bertolt. Im Dickicht der Städte [ID 12672].
Quelle : Wilhelm, Richard. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Brecht schreibt : Es ist ein Kampfstück, östlich-westlich... Ort : die Hinterwelt...
...man soll sich damit begnügen, das Asiatentum des Shlink durch einen schlichten gelben Anstrich anzudeuten, und ihm erlauben, sich zu benehmen, wie ein Asiate, nämlich wie ein Europäer...

Liu Weijian : Brecht spricht davon, dass er einen „neuen Typus Mensch“ gestalten will, „der einen Kampf ohne Feindschaft mit bisher unerhörten, das heisst noch nicht gestellten Methoden“ führt : das taoistische Motiv des Wuwei in der Formulierung „durch Passivsein zu siegen“. Das Wuwei wird dabei konsequent als Aufhebung der Individualität thematisiert. Es dient dazu, „den oberflächlichen Firnis des Individualismus in unserer Zeit“ zu verspotten und eine neue, zeitgemässe Lebensform zu suchen.

Christoph Gellner : Brecht führt vor der exotisch stilisierten Kulisse des verkommenen Chicagoer Chinesenviertels den „unerklärlichen Ringkampf“ zwischen dem reichen, alternden malaischen Holzhändler Shlink und dem jungen, mittellosen Leihbüchereiangestellten George Garga vor Augen… Nichts macht die Verfremdungsabsicht augenfälliger als die Figur des verschlagenen, reisessenden Asiaten Shlink, der seinen Kontrahenten durch die asiatische Kampfform scheinbarer Passivität zu bezwingen sucht. Garga, der die Kampfesweise des Chinesen, durch Passivsein zu siegen, durch Erleiden Macht zu bekommen, allmählich selbst übernimmt und so am Ende überlebt, rückt diese listige Taktik denn auch in eine unübersehbare Nähe zum chinesisch-taoistischen Nichthandeln (Wuwei) und dem Ursymbol altchinesischer Dialektik im Dao de jing.

Adrian Hsia : Brecht wollte, dass Shlink stets mit einem gelben Gesicht auftritt, damit sein rassischer Ursprung dem Publikum ständig vor Augen gehalten wird und er soll sich genau nach seinem Chinesenbild benehmen, nämlich schlau und verstohlen sein. Ausserdem sollen sein Ursprung und seine Sprache – Chinesisch – die Unmöglichkeit des menschlichen Kommunizierens aufzeigen. Der taoistischen Anschauung nach besiegt das Schwache, symbolisiert unter anderem durch das Wasser, das Starke. Auf jeden Fall überlebt das Schwache, während das Starke leicht zerbricht. „Und das Geistige, das sehen Sie, das ist nichts. Es ist nicht wichtig, der Stärkere zu sein, sondern der Lebendige“.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 21. (Yim1, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 124, 130. (LiuW1, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. (HanR1, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 168, 170-171. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
5 1926 Brecht beginnt sich dem Marxismus zu beschäftigen, was dazu führt, dass er seine Lehrstücke schreibt. Für Brecht ist der Marxismus ein vollkommenes System, nur dass Marx und Engels schlechte Lehrmeister sind, während der Konfuzianismus zwar ein fehlerhaftes Denk- und Sozialsystem darstellt, Konfuzius jedoch ein vollkommener Lehrmeister ist.
6 1927 Bei den linken Intellektuellen herrscht um diese Zeit eine grosse Aufmerksamkeit und Begeisterung für die revolutionären Ereignisse in China. Sie nehmen Partei für die Chinesen gegen die Kolonialmächte ; das Agitationsschauspiel Hände weg von China (1927) des Kommunistischen Jugendverband Deutschland ist ein typisches Schauspiel dieser Richtung und Erwin Piscator benutzt bereits Film-Streifen, die Strassenschlachten von Shanghai zeigen, als eine Verfremdungstechnik für das Schauspiel Gewitter über Gottland (1927).
7 1929 Brecht, Bertolt. Geschichten vom Herrn Keuner. In : Brecht, Bertolt. Der Flug der Lindberghs : Radiolehrstück für Knaben und Mädchen. Radiotheorie. Geschichten vom Herrn Keuner. (Berlin : G. Kiepenheur, 1930). (Versuche / Brecht ; 1-3).
Quelle : Wilhelm, Richard. Dschuang Dsi [ID D4447].

Brecht schreibt : Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi [Zhuangzi] verfasste noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt.

Christoph Gellner : Angeregt durch seine intensive Beschäftigung mit altchinesischer Philosophie entsteht eine völlig neuartige Form philosophisch-didaktischer Kurzprosa, eine Sammlung von Denk- und Haltungsbildern, die dem Leser anschauende Erkenntnis vermitteln. Im schöpferischen Zusammenspiel von Alt und Neu, von Tradition und Innovation wird darin erstmals für die Fernostrezeption eine Verschränkung von chinesischer und marxistischer Philosophie greifbar, mit der Brecht in der Tat die Wiedergewinnung einer alten unter Hinzugewinnung einer neuen Dimension von Weisheit intendiert… Brecht lehnt sich sehr stark an altchinesische Formen des Philosophierens an, in denen sich auch tatsächlich Gehalte unserer Zeit behandeln lassen… Brecht ist der erste in der deutschsprachigen Literatur, der Mozis Schriften zur Kenntnis nimmt. In seinem Exemplar Me Ti in der Übersetzung von Alfred Forke [ID D669] gibt es zahlreiche Anstreichungen und Randbemerkungen. Er hat in Keuner keine einzige Gesprächspassage aus dem Me Ti übernommen, Übereinstimmungen und Parallelen sind weniger im Inhaltlich-Thematischen zu suchen als vielmehr auf der Ebene der Darstellungsform. Es ist in erster Linie das didaktische Formmuster, der aphorisch-apothegmatische Rede- und Erzählgestus der Lehre Mozis, die als Denkanregung dient.

Adrian Hsia / Song Yun-yeop : Die Keuner-Geschichten stellen auch das Resultat der Beschäftigung Brechts mit Mozi dar. Yun-yeop Song hat nachgewiesen, das sich sowohl die dialogische Form als auch die Methodik der Belehrung zwischen Mozis Werk und der Keuner-Geschichten so sehr ähneln, dass man von einem kreativen Einfluss sprechen kann. Mozi zeichnete sich von anderen chinesischen Philosophen durch sein logisches Denken aus. Alfred Forke sagt : Mozi habe die Logik in die chinesische Philosophie eingeführt. Die logische Schlussfolgerung als didaktisches Moment und der Nützlichkeitsgedanke als Altruismus bringen Brecht und Mozi zusammen. Beide bedienen sich einer verfremdeten Andeutung, um den Leser aus der gewohnten Routine des Alltagslebens zu erwecken und aufhorchen zu lassen. Es kommt in diesem Moment keine Belehrung, keine Moralpredigt vor, sondern bloss ein Fingerzeig der logischen Gedankenführung, die die Fähigkeit des Unterscheidungsvermögens im Sinne der Nützlichkeit der Gemeinschaft schärft und somit zum logischen Denken zwingt und schult. Dass Mozi als Vorlage dient, zeigen besonders die frühen Keuner-Geschichten, in denen Keuner als Meister auftritt, der Fragen seiner Schüler beantwortet. Die gesellschaftlichen oder sonstigen Misstände sollen durch Verfremdung auffallen und somit in Frage gestellt werden.

Ein wichtiges Thema in den Keuner-Texten, das an die Haltung des Konfuzius erinnert, ist die Art und Weise des Lernens und das emanzipatorische Lehrer-Schüler-Verhältnis… Wahre Liebe bedeutet für Keuner wie für Konfuzius keine Hingabe oder Hinnahme dessen, was einer ist, sondern, von der Seite des Liebenden, eine selbstbewusste und gesellschaftliche Tätigkeit mit dem Ziel, die potentiellen Fähigkeiten des Geliebten zu entdecken und ihnen zur Entfaltung zu verhelfen.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 51, 146. (Yim1, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 193-195, 198-199. (Gel2, Publication)
  • Document: Karlsruher Virtueller Katalog : http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. (KVK, Web)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Forke, Alfred
8 1929-1930 Hanns Eisler schreibt : Die chinesische Philosophie hat Brecht gerade in den Jahren 1929/30 sehr beeinflusst. Ich meine als Denkanregung… Es gab damals eine ausgezeichnete sinologische Gesellschaft, und es kamen Publikationen, vermutlich handelt es sich dabei um die „Chinesischen Blätter“ des Frankfurter China-Instituts von Richard Wilhelm oder um die Wilhelmschen Klassiker-Übertragungen, von denen sich einige Bände auch in Brechts Bibliothek in Ostberlin fanden – Brecht hat das von seinen Freunden bekommen. Das war eine grosse Entdeckung für uns.

Adrian Hsia : Im Zusammenhang mit seinen Mozi-Studien preist Brecht Konfuzius’ persönliche Haltung, Charakter und Taktiken, verdammte aber seine Lehre. Er bezeichnet ihn als 'Musterknaben', dessen Haltung ungewöhnlich nützlich sei. Er schreibt : Indem man sein Beispiel an die Wand zeichnet, kann man ganze Geschlechter, ja ganze Zeitalter verdammen. Sein Idealbild ist ganz an ein Temperament bestimmter und seltener Art gebunden, und während beinahe alle Taten von Menschen, die gross zu finden die Menschheit sich gestatten kann, von Leuten dieses Temperaments kaum geleistet werden können, sind eine Unmenge von Verbrechen denkbar, die ein Mann begehen könnte, ohne auf die Anerkennung mancher Tugend zu verzichten, die den Konfutse ausgezeichnet hat.
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 195-196. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
9 1930 Bertolt Brecht sieht die Dramen : Tai Yang erwacht von Friedrich Wolf [ID D12892], das von Erwin Piscator inszeniert wird und einen sensationellen Erfolg erlebt und Brülle China ! von Sergej Michajlovic Tret’jakov [ID D12857]. Brülle China beruht auf einer Tatsache, es behandelt ein Ereignis aus Wangxian (Sichuan). Von den überlieferten Notizen und aufgezeichneten Gesprächen aus dieser Zeit, scheint sich Brecht mehr für die innovierende Theatertechnik als für den politischen Inhalt der Inszenierung zu interessieren. Beispielsweise wurde echtes Wasser benutzt und das Kanonenboot war kein gemaltes Bild aus Pappe, um das realistische Gefühlt zu erhöhen. Andrerseits tragen die Europäer Masken und bewegen sich wie Roboter, während die chinesischen Kulis einem natürlichen Rhythmus folgen. Brecht ist von den dramatischen Neuerungen begeistert.
10 1935 Brecht, Bertolt. Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In : Unsere Zeit. (Basel : Verlag der Rote Aufbau, 1935). Jg. 8, H. 2-3 (1935).
Quelle : Wilhelm, Richard. Frühling und Herbst des Lü Bu We. [ID D1594 ; Chun qiu].

Adrian Hsia : Brecht schreibt : Zu allen Zeiten wurde zur Verbreitung der Wahrheit, wenn sie unterdrückt und verhüllt wurde, List angewandt. Konfutse fälschte einen alten, patriotischen Geschichtskalender. Der Geschichtskalender stellt das Werk Frühling und Herbst-Annalen von Sima Qian dar. Dagegen stellt Brecht drei Methoden von Konfuzius fest, die gefälschte geschichtliche Wahrheit wiederherzustellen : Er berichtigt falsche Bezeichnungen, fälscht historische Tatsachen für die höhere Wahrheit und verschweigt die für ihn unbedeutenden Ereignisse. Brecht beschreibt den ersten Punkt genau, der auch am wichtigsten ist. Die Beschreibung ähnelt Sima Qian : Konfutse veränderte nur gewisse Wörter. Wenn es hiess : Der Herrscher von Kun liess den Philosphen Wan töten, setzt Konfutse statt töten ‚ermorden’. Hiess es, der Tyrann sei durch ein Attentat umgekommen, setzt er ‚hingerichtet worden’. Dadurch bricht Konfutse einer neuen Beurteilung der Geschichte Bahn… Die List des Konfutse ist auch heute noch verwendbar. Konfutse ersetzte ungerechtfertigte Beurteilungen nationaler Vorgänge durch gerechtfertigte.

Luo Wei : Brecht würdigt die Schreibweise von Konfuzius als eine besondere „List“ bei der Verbreitung der verhüllten oder unterdrückten Wahrheit. Seine Vorliebe für den chinsischen Philosophen zeigt sich ausserdem darin, dass er ein Rollbild des Konfuzius besass, das ihn während seines Exils überall hin begleitete und immer in seinem Zimmer an der Wand hing. Als er sich in Ostberlin niederlässt, ist das Bild in schlechtem Zustand. Brecht lässt es von einen Bühnenarbeiter des Berliner Ensembles restaurieren und schenkt ihm als Dank ein Exemplar seiner Stücke mit Widmung.

Yim Han-soon : Bei dem Geschichtskalender handelt es sich um Chun qiu Annalen, in dem Konfuzius über die politischen Ereignisse dieser Epoche vom Standpunkt des Zentralherrschers aus Rechtsentscheidungen getroffen haben soll.

Richard Wilhelm : Konfuzius nahm diese Chronik vor, änderte da ein Wort, setzte dort eines zu, stellte ein paar Sätze um, liess manches weg. Und aus der trockenen Chronik wurde ein literarisches Weltgericht.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 157-159. (Yim1, Publication)
  • Document: Luo, Wei. "Fahrten bei geschlossener Tür" : Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2003). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1896). Diss. Beijing-Univ., 2003. S. 49. (Döb2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
11 1936 Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen [ID D12783].
Das früheste Dokument über Me-ti ist Brechts briefliche Anfrage von 1935 an Helene Weigel "Hast Du den Me-ti schon geholt?"
Brecht schreibt : Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben : das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vogelschwärme… - so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt.

Liu Weijian : Wenn das Tao verlorengegangen ist, kommt die Gesellschaft in Unordnung. Um der Unordnung entgegenzuwirken und sie unter Kontrolle zu bringen, versuchen die Menschen, Tugenden zu propagieren. Diese Auffassung von Tugenden ist ein Punkt, an den Brecht anknüpft.
Brecht schreibt : Es gibt wenige Beschäftigungen, sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechen halten, man muss für das Gute kämpfen…
Wie die Tugenden sind auch die Gesetze bei Laozi keine Beweise einer hochstehenden Sittlichkeit. In ihnen spiegeln sich vielmehr die schlechten Verhältnisse wieder, die sie nötig machen. Brecht glaubt ebenfalls, dass die Entstehung der Gesetze die soziale Ungerechtigkeit reflektiert, weil sie sonst überflüssig werden.
Er schreibt : Ohne Ungerechtigkeit zu spüren, wird man auch keinen besonderen Gerechtigkeitssinn entwickeln…
Brecht diskutiert über die taoistische Eigenliebe und die Ansicht von Yang Zhu. Dabei unterscheidet er Eigenliebe von Egoismus. Brechts Egoismusbegriff entspricht den taoistischen Begriffen von der Selbstsucht und der unersättlichen Natur. Wie Laozi und Yang Zhu kritisiert Brecht einerseits egoistische Selbstsucht und bejaht andererseits die Eigenliebe. Er meint, dass der Mangel an Eigenliebe dem Menschen selbst Elend bringt. Er geht nicht wie Yang Zhu davon aus, nur sich selbst zu schützen, sondern davon, zuerst die Gesellschaft zu verändern, um einen harmonischen Zustand zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Gemeinschaft zu realisieren. Das zeigt sich sowohl in seiner Ansicht über die Bekämpfung des Egoismus wie auch in seiner Meinung zur Verwirklichung der Eigenliebe.
Er schreibt : Yang-tschu [Yang Zhu] lehrte : Wenn man sagt : der Egoismus ist schlecht, so denkt man an einen Zustand des Staates, in dem er sich schlecht auswirkt. Ich nenne einen solchen Zustand des Staates schlecht. Wenn man keinen Egoismus haben will, dann muss man nicht gegen ihn reden, sondern einen Zustand schaffen, wo er unnötig ist.

Gerwig Epkes : Ende 1920er Jahre : Bertolt Brecht hat sich mit Mozi befasst : Hanns Eisler schreibt, dass ihm Brecht das Buch Forke, Alfred. Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke [IDD 669] gezeigt hat. Brecht übernimmt die Darstellungsweise des Mozi und diskutiert dessen Aussagen vor westlichem Hintergrund.

Christoph Gellner : Das Buch Me-ti, ganz im „chinesischen Stil geschrieben“, ist zweifellos ein Höhepunkt von Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie während des Exils. Obwohl die Sammlung von annähernd 300 Aphorismen, Sentenzen und Miniaturparabeln wie die meisten seiner Prosa- und Romanprojekte Fragment geblieben ist, gelten die Schubladentexte des Me-ti als ein ethisch-ästhetisch zentraler Werkkomplex. Handelt es sich doch um das einzige, erst aus dem Nachlass veröffentlichte Werk, in dem sich Brecht näher und konkreter über die Inhalte seines utopischen Denkens geäussert hat. Nicht von ungefähr steht die Vision einer solidarischen Zukunftsgesellschaft, in der heroische Tugendanstrengungen als erzwungene Leistungen entbehrlich sind, im Zentrum. Als Formmuster griff Brecht dabei wiederum auf eine höchst unzeitgemässe Literaturtraditon zurück, in der Dichtung, wie im alten China, noch nicht von Wissenschaft und Philosophie, von Moral-, Weisheits- und Verhaltenslehre abgesondert war. Das Ergebnis ist eine für Brecht typische Mischung aus alter und neuer Weisheit… Vorwiegend handelt es sich um aktuelle europäische Fragestellungen und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die durch den aphoristisch-sophtegmatischen Weisheitsgestus altchinesischer Philosophie kunstvoll ein falsches Alter gewinnen. So bezieht sich einer der zentralen Themenkomplexe auf die in den dreissiger Jahren unter den exilierten Linken aufgebrochenen Differenzen hinsichtlich des Aufbaus des Sozialismus (der „Grossen Ordnung“) in der Sowjetunion und der Verwandlung der marxistischen Dialektik in eine von der Moskauer Parteibürokratie verwaltete Rechtfertigungsideologie des Sowjetkommunismus. In chinesischem Gewande versammelt sind die „Klassiker“ des Marxismus Hegel (Meister Hü-jeh), Marx (Ka-meh), Engels (Meister Eh-fu), Rosa Luxemburg (Sa), Karl Korsch (Ka-osch) sowie Lenin (Mi-en-leh), Trotzki (To-tsi) und Stalin (Ni-en). Brecht sieht sich selbst in Gestalt des Me-ti…
„Ein Staat, so lehrt Me-ti, muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist. Je grösser dann der Nutzen des Einzelnen wird, desto grösser ist der Gemeinnutz“. Mozi thematisiert die Ethik als Teil der Staatslehre in engstem Zusammenhang von Politik und Ökonomie, während die abstrakte, individuelle Ethik bei ihm keine besondere Behandlung erfährt…
Me-ti wiederholt nicht einfach die alten Weisheiten, er radikalisiert vielmehr dessen materialistischen Ansätze und anklingende sozialistische Ideen unter dezidiert marxistischem Vorzeichen.
„Es gibt wenige Beschäftigungen sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechungen halten, man muss für das Gute kämpfen“.

Adrian Hsia : Brecht beginnt in den 1920er Jahren Material für das Buch Me-ti zusammenzutragen. Im Wesentlichen spielt die Handlung in einem märchenhaften China, das von einigen schein-chinesischen Namen dekoriert wird, um aber aktuelle Ereignisse in der Sowjetunion und Deutschland darzustellen. Brecht selbst sagt, dass er eine Anzahl von relevanten zeitgenössischen Geschehnissen ausgewählt habe, um diese den grundlegenden Anschauungen des chinesischen Philosophen gegenüberzustellen bzw. mit ihnen zu vergleichen. Der Zweck der Gegenüberstellung ist, eine uralte Quelle des Sozialismus zu finden und die chinesischen Weisheiten und Verhaltensregeln für die moderne Gesellschaft nutzbar zu machen, denn Brecht war der Meinung, dass Marx und Engels zwar grosse Theorien geschaffen hätten, doch hätten sie das vernachlässigt, womit sich chinesische Philosophen fast ausschliesslich befasst haben, nämlich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, den Verhaltensweisen des täglichen Lebens. Aus dieser Sicht her gesehen, stellt Me-ti eine Kombination der Anschauungen von Marx und Engels, Brecht selbst, Mozi und nicht zuletzt auch von Konfuzius dar. Auch Laozi kann man in Me-ti finden. Laozi ist der Meinung, dass Tugenden nur unter einer schlechten Regierung notwendig seien. Ähnliches sagt auch Yang Zhu, der den Egoismus im Sinne der Selbstliebe befürwortet. Brecht übernimmt die Ansichten Laozis und Yang Chus.

Ye Fang-xian : Brecht führt mehrmals die Unmoral auf den elenden Zustand der Gesellschaft zurück. Im Hinblick auf die Gesellschaftskritik, besonders auf die Beziehung zwischen der Moral und den ökonomischen Verhältnissen, kann man auf viele Ähnlichkeiten zwischen Mozi und Brecht hinweisen. Trotzdem darf man nicht behaupten, dass ihre Gedanken übereinstimmen. Einen wesentlichen Unterschied zeigen ihre Auffassungen von Liebe. Mozi siehe keinen Konflikt zwischen Nächstenliebe und Eigenliebe. Er glaubt in der allumfassenden gegenseitigen Liebe ein Mittel zur Herstellung der idealen Wohlstandsgesellschaft ohne Konflikt und Armut. Brecht verwandelt das göttliche Gebot der Nächstenliebe in eine idealistische Moral und kehrt zugleich die Götter aus dem biblischen Motiv in die Verteidiger einer schlechten Gesellschaftsordnung und schliesslich in Angeklagte… Obwohl Brechts Hauptinteresse sich auf die Natur der kapitalistischen Gesellschaft richtet, wird Shen Te als ein Mensch dargestellt, der von Natur aus gut ist… Der Gegensatz zwischen der guten Natur Shen Tes und den schlechten Verhältnissen der Gesellschaft ist die Grundlinie des Parabelstücks… Was für die Reichen gute Natur ist, ist für die Armen böse. In diesem Sinne stimmt Brechts Darstellung mit dem Marxismus überein.
Wenn sich Brecht mit der Lehre Mengzis beschäftigt hat, hat er sie in den Mund der Götter gesetzt und sie damit in Frage gestellt. Obwohl ihre Ansatzpunkte ähnlich sind : der Mensch sei von Natur aus gut, sind ihre Weltanschauungen oppositionell… Bei Mengzi soll die chaotische Welt durch die vom Gott bestimmten Menschen mit guter Natur gerettet werden… Die Zitate aus den chinesischen Schriften sind in diesem Werk besonders augenfällig. Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie und seine Behandlung der westlichen kulturellen Tradition sind untrennbar integriert.

Yim Han-soon : Die Reduktion des philosophischen Denkens auf die Meditation bemängelt Brecht mit dem Bild des Wassers, das er wahrscheinlich dem Zhuangzi entnommen hat.
In bezug auf die „Verurteilung der Konfuzianer“ von Mo Di setzt sich Brecht mit dem Grundsatz der Institution Familie auseinander, indem er die Familienidee von Konfuzius den Argumenten Mo Dis für die „einigende Liebe“ im Sinne eines sozialistischen Organisationsprinzips entgegenstellt. Das chinesische Motiv dient freilich nur zur Verkleidung einer kommunistischen Idee : Die traditionelle Funktion der Famlie soll von einem sozialistischen Kollektiv übernommen werden.
Der eigentliche Standort der Auseinandersetzung zwischen Kung und Me-ti ist nicht das chinesische Altertum, sondern das widersprüchliche Familienleben des Bürgertums. Kung und Me-ti leben im Zeitalter des Klassenkampfes, in dem das Familienleben in herkömmlicher Form unmöglich geworden ist.
Ohne die anarchistische Grundhaltung Yang Zhus zu teilen, übernimmt Brecht von ihm die Ansicht, dass Uneigennützigkeit, Mangel an Eigenliebe, sowohl den Mitmenschen als auch den betreffenden einzelnen schädlich sei. Yang Zhus Egoismus bedeutet Enthaltsamkeit und Rückkehr von der Gesellschaft zu einem selbstgenügsamen Privatleben, während Brecht die Eigenliebe gerade zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivität und zum materiellen Genuss des einzelnen befürwortet. Er schreibt : „Wie soll man den Egoismus bekämpfen ? Ein Staat muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist“.
Von den verwendeten chinesischen Elementen her betrachtet, ist Me-ti ein Sammelwerk, in dem das selektiv-positive Verhältnis Brechts zur chinesischen Philosophie deutlich zum Vorschein kommt. Er übernimmt grundsätzlich diejenigen Ansätze, die im positiven Sinne nutzbar und aktualisierbar sind.
  • Document: Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen : Fragment. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Uwe Johnson. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1965). (Prosa / Bertolt Brecht ; 5). [Geschrieben 1934-1937] ; [Mozi]. (Bre19, Publication)
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). 43, 82-84, 248-249, 255. (Yim1, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 148-149, 152-153, 156-158. (LiuW1, Publication)
  • Document: Epkes, Gerwig. "Der Sohn hat die Mutter gefunden..." : die Wahrnehmung des Fremden in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel Chinas. (Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992). (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft ; Bd. 79). Diss. Univ. Freiburg i.B., 1990. S. 144-145. (Epk, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 162-174. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 218-219, 222-225. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Weigel, Helene
  • Person: Yang, Zhu
12 1939 Brecht, Bertolt. Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. In : Schweizer Zeitung am Sonntag (Basel 23.4.1939). [Geschrieben 1938].
Quelle. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte :
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
Und das Büchlein, das er immer las.
Weissbrot nach dem Augenmass.
Freute sich des Tals noch einmal und vergass es
Als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt :
"Kostbarkeiten zu verzollen ?" – "Keine".
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach : "Er hat gelehrt".
Und so war auch das geklärt.
Doch der Mann, in einer heitren Regung
Fragte noch : "Hat er was rausgekriegt ?"
Sprach der Knabe : "Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt".
Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie : "He, du ! Halt an !
Was ist das mit diesem Wasser, Alter ?"
Hielt der Alte : "Interessiert es dich ?"
Sprach der Mann : "Ich bin zur Zollverwalter
Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich !
Schreib mir’s auf ! Diktier es diesem Kinde !
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch : ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort ?"
Über seine Schulter sag der Alte
Auf den Mann : Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelt : "Auch du ?"
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut : "Die etwas fragen
Die verdienen Anwort". Sprach der Knabe : "Es wird auch schon kalt".
"Gut, ein kleiner Aufenthalt".
Und von seinem Ochsen stieg der Weise
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s soweit.
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt : kann man höflicher sein ?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Wessen Name auf dem Buch prangt !
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt :
Er hat sie ihm abverlangt.

Liu Weijian : In diesem Gedicht zeigt Brecht, wie der taoistische Weise zuerst vor der übermächtigen bösen Macht zurückweicht. Dieses Zurückweichen beruht auf der Einsicht, dass das Kräfteverhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen ungleich ist und daher ein direktes Entgegentreten gegen das Böse sinnlos wäre. Aber diese nachgiebige Haltung ist keineswegs fatalistisch, sondern sützt sich auf die taoistische Taktitk, die sich im Glauben an die Unbesiegbarkeit des weichen Wassers äussert.

Adrian Hsia : Das weiche Wasser überwindet den festen Felsen und das Harte ist in letzter Analyse das Zerbrechliche. Zur Zeit des Exils von Brecht und der wachsenden Stärke des Dritten Reiches stellt Laozi ein Zeichen der Hoffnung dar, dass das tausendjährige Reich doch keine Dauer haben wird. Da das Wasser niemals still ist, symbolisiert es ein Kontinuum gegen das auch ein felsenstarkes Drittes Reich letzten Endes machtlos ist. Ausserdem entspricht das weiche Wasser dem Konzept des Wuwei : Das Wasser fliesst dahin ohne Streben und überwindet doch alles harte, es ist ziellos und erreicht immer sein Ziel. Das Wasser fliesst immer weiter. Brecht folgt diesem Gedankengang, seine Dramen haben einen offenen Schluss.

Tan Yuan : Die Legende nimmt eine besondere Stellung unter Brechts Exilgedichten ein. Nicht seine eigene Exilerfahrung, sondern die Emigration eines vor über 2000 Jahren lebenden Chinesen wird dargestellt und mit seiner eigenen Erfahrung verknüpft. Für Brecht ist es wichtig, die Emigration zu einer neuen "Legende" zu machen. Laotse freut sich auf den Weg in die Emigration. Nicht Laotse, sondern der Knabe erklärt die zentrale Lehre im Dao de jing : "Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt, weiss jedermann auf Erden".
Laotse zeigt in der zweiten Hälfte seinen Pessimismus und seine Zweifel an der Durchführbarkeit seiner Lehre, doch die Antwort des Knaben ist etwas Tröstendes für den Exilanten und zugleich eine "Verheissung" in der finsteren Zeit.

Christoph Gellner : Nicht um Kritik an taoistischer Weltflucht durch Abtötung des Denkens, meditative Versenkung und Rückkehr zur Natur, auch nicht um die ironische Persifilierung der schon sprichwörtlichen Höflichkeit der Chinesen ist es Brecht zu tun. Im Vordergrund dieses lyrischen Textes steht vielmehr die gesellschaftspraktische Anwendbarkeit des Taoismus, die Brecht in Anlehnung an das 78. Kapitel des Dao de jing in der subversiven Erfahrungsregel verdichtet sieht, "dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besieht / Du verstehst, das Harte unterliegt".
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 138-139. (LiuW1, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 215. (Gel2, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 153-173. (Tan10, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
13 1939 Brecht, Bertolt. Mutter Courage und ihre Kinder [ID D12784].
Adrian Hsia : Brecht übernimmt einen Gedanken von Zhuangzi fast wörtlich : Das ist wie mit die Bäum, die graden, luftigen werden abgehaun für Dachbalken, und die krummen dürfen sich ihres Lebens freun. Katrin stirbt trotz ihrer körperlichen Unvollkommenheit eines vorzeitigen Todes, weil sie sich mausert, sich brauchbar macht – sie wollte die Stadt vor dem Angriff warnen.
14 1942 Brecht, Bertolt. Der gute Mensch von Sezuan [ID D12785].
Brecht schreibt : Alle Folklore habe ich sorgfältig vermieden. Andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische Weissbrote essenden Gelben einen Witz zu machen… Zur Diskussion steht : Soll man nur die sozialen Anachronismen beibehalten ? Die den Göttern (und der Moral) auf den Leib rückende Industrie, die Invasion europäischer Gebräuche, damit bewegte man sich noch auf realem Boden. Aber weder Industrie noch Europäertum wird den Reis mit dem Brot ersetzen. Hier hat man dann das Chinesische als reine Verkleidung und als löchrige Verkleidung !
Die Studien in amerikanischer Umgangssprache machen mir Vergnügen. Dasselbe gilt von den Studien in chinesischen Sitten, die ich gleichzeitig begonnen habe. Die chinesischen Sitten studiere ich nicht bei den Chinesen selber, von denen es hier wie in New York genügend Exemplare gäbe, sondern aus einem kleinen Buch, von dem ich natürlich nicht weiss, ob es sehr verlässlich ist.
Er schreibt 1940 : Li Gung (die spätere Shen Te) musste ein Mensch sein, damit sie ein guter Mensch sein konnte. Sie ist also nicht stereotyp gut… und Lao Gu (der spätere Shui Ta) ist nicht stereotyp böse usw. scheint nun halbwegs gelungen, das grosse Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem ‚du sollst zu andern gut sein’ das ‚du sollst zu dir selbst gut sein’ musste sich zugleich abheben von der Fabel und sie doch beherrschen.

Liu Weijian : Brecht baut in diesem Stück das Gleichnis von Zhuangzi ein : "In Sung ist ein Platz namens Dornheim. Dort gedeihen Katalpen, Zypressen und Maulbeerbäume. Die Bäume nun, die ein oder zwei Spannen im Umfang haben, die werden abgehauen von den Leuten, die Stäbe für ihre Hundekäfige wollen. Die drei, vier Fuss Umfang haben, werden abgehauen von den vornehmen und reichen Familien, die Bretter suchen für ihre Särge. Die mit sieben, acht Fuss Umfang werden abgehauen von denen, die nach Balken suchen für ihre Luxusvillen. So erreichen sie alle nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde durch Säge und Axt. Das ist das Leiden der Brauchbarkeit".
Die "Leiden der Brauchbarkeit" illustriert Brecht vor allem mit der Figur Shen Te, die von den drei Göttern, die auf der Suche nach einem guten Menschen auf die Erde kommen, als Vorbild der Tugenden gepriesen wird… Laozi glaubt, dass die Gesetze nicht nur die sozialen Probleme bestätigen, sondern auch falsches Verhalten herausfordern. So verschafft Brecht seiner Laozi angenäherten Meinung Ausdruck, dass die Gesetze nicht nur die Ungerechtigkeit der Gesellschaft reflektieren, sondern auch das unmenschliche Verhalten verursachen.

Antony Tatlow : Das Stück hat eigentlich mit dem chinesischen Theater nichts oder nicht viel zu tun. Gleichzeitig sind jedoch die Motive sehr chinesisch. Mengzi zum Beispiel, tritt für das Recht des einzelnen auf sein Glück ein und behauptet, dass der Mensch dazu gezwungen werden muss, Böses zu tun. Brecht hat Mengzi gelesen und er hat starken Eindruck auf ihn gemacht. Betrachtet man das Stück vom chinesischen Gesichtspunkt aus, geht sofort auf, wie europäisch es ist.

Yeh Fang-xian : Zahlreiche Pläne und Korrekturen zeigen, dass Brecht grosse Schwierigkeiten gehabt hat, die europäischen Zustände in den chinesischen Hintergrund zu intergrieren. 1940 hat er im Arbeitsjournal geschrieben : wir grübeln noch über der frage : brot und milch oder reis und tee für die Sezuanparabel. Natürlich, es gibt in diesem sezuan schon flieger und noch götter. Alle folklore habe ich sorgfältig vermieden. andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische weissbrote essenden gelben einen witz zu machen… hier hat man dann das chinesische als reine verkleidung und als löchrige verkleidung.
Das Thema des Stückes handelt von dem Konflikt zwischen den moralischen Vorschriften und dem bösen Verhalten der Menschen, von dem schlechten Zustand der Welt, in der niemand ein guter Mensch bleiben kann. Das Thema wird durch ein Experiment mit drei Göttern eingeführt und durch die Spaltung der Hauptfigur Shen Te entfaltet… Brecht kehrt die alte Geschichte um, damit die bürgerliche Moral verspottet wird. Dabei verstärkt die exotische, chinesische Umgebung die Verfremdungseffekte. Die Frage, ob die Welt bleiben kann oder verändert werden muss, hängt also vom Erfolg der Mission der Götter ab… Die Armut wird der Moral gegenüber gestellt. Wo die grosse Armut herrscht, können die moralischen Vorschriften nicht mehr gehalten werden.

Adrian Hsia : Brecht erkennt mit Mozi, dass die zwischenmenschliche Beziehung mit der materiellen Grundlage der Gesellschaft in ursächlichem Zusammenhang steht. An sich herrscht der Idealzustand im Staat, in dem Tugenden nicht nötig sind. Brecht schreibt : Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit, Unbestechlichkeit, Aufopferung, Disziplin, all das ist nötig, um ein Land so umzuformen, dass um zu leben keine besonderen Tugenden mehr nötig sind. Man kann sagen, dass es ja gerade die elenden Zustände sind, welche solche Extraanstrengungen nötig machen… Brechts besitzt des Werk des Mengzi. Brecht und Mengzi stimmen darüber überein, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Shen Te verwandelt sich immer häufiger durch den Zwang ihrer Umwelt in Shui Ta.
Brecht verwendet das Gleichnis des "Leidens der Brauchbarkeit" von Zhuangzi um die christliche Nächstenliebe Shen Tes zu verfremden. Dadurch wird die Unmöglichkeit der Nächstenliebe im gegebenen Gesellschaftssystem aufgezeigt.

Yuan Tan : Das Stück entsteht zwischen 1939 und 1941 in vier verschiedenen Ländern und fällt in die unruhigste Zeit Brechts.
Im Vorspiel erzählt Wang, ein obdachloser Wasserverkäufer in Sezuan, von der grossen Armut in der Stadt. Nur noch die Götter könnten den Leuten in der aussichtslosen Situation helfen. Shen Te ist eigentlich "der beste Mensch" in Sezuan. Sie erweist sich als gut, weil sie zu Anderen immer hilfsbereit und weil sie nützlich ist. Sie möchte auch gut sein und Gutes tun, weil die gute Tat den Täter selbst angenehm macht. Aber gerade wegen dieser Nützlichkeit und Güte wird sie von den "Nachbarn ohne Herz" ausgenutzt, so dass ihre eigene Existenz bedroht wird.
In unserm Lande
Braucht der Nützliche Glück. Nur
Wenn er starke Helfer findet
Kann er sich nützlich erweisen.
Die Guten
Können sich nicht helfen, und die Götter sind machtlos.
Shen Tes Monolog und Zuangzis Gleichnis stimmen im Hauptpunkt überein : Der Nützliche leidet wegen seiner Nützlichkeit. Aber es gibt auch einen Unterschied. Zhuangzi zeigt nur Fassungslosigkeit und Pessimismus gegenüber der verkommenen Welt. Er sieht keine Lösung für das Leiden der Brauchbarkeit. Brecht bestätigt zwar die Fassungslosigkeit der Guten und Götter gegenüber dem gesellschaftlichen Zustand, findet aber für Shen Te eine Lösung : Mit Glück und starkem Helfer kann sich der Nützliche gerfolgreich als das erweisen, was er seiner Natur nach ist. Der böse Vetter Shui Ta ist der starke Helfer und ihr einziger Freund. Shen Tes doppeltes Rollenspiel wird vor allem durch eine Maske verdeutlicht. Während Zhuangzi die Aufbewahrung des Lebens und die Anpassung an die Welt betont, stellt Brecht die Ordnung der Welt in Frage. Für den Widerspruch, dass der gute Mensch "zu gut" für diese Welt ist und nicht gut bleiben kann, findet sich nur eine Erklärung, wie Shen Te vor den Göttern klagt : "Etwas muss falsch sein an eurer Welt". Wo Zhuangzi von der Anpassungsmöglichkeit des Menschen spricht, verweist Brecht auf die Verbesserungsmöglichkeit der Welt an.

Christoph Gellner : In der Neufassung (1953), die Brecht unter dem Eindruck der siegreichen kommunistischen Revolution in China geschrieben hat, ist ganz ausdrücklich vom Umbau der Gesellschaft als Voraussetzung einer grundlegenden Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens die Rede.

Ingrid Schuster : Ein neuer Mensch in chinesischem Kleid findet sich in Der gute Mensch von Sezuan. Der Konflikt zwischen Hingabe und Selbsterhaltung wird in diesem Drama auch äusserlich - durch die doppelte Identität der Heldin Shen Te - deutlich gemacht. Als Shui Ta ist sie männlich-aktiv, greift in die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Stadt ein, gründet eine Fabrik. Doch dieser Weg führt in die Unmenschlichkeit. Als Shen Te ist sie weiblich-hingebend und tut allen Menschen Gutes. Dadurch bringt sie sich jedoch um ihre Existenzgrundlage.

Yim Han-soon : Das Gleichnis ist für Brecht ein treffendes Beispiel für die These, dass sich die Ordnung und die Unordnung „an ein und demselben Platz“ aufhielten. Aus seiner Sicht ist Zhuangzi wohl wie Hegel ein Humorist und Dialektiker, allerdings ein resignierter. Brecht schreibt „Dschuang-tsi zeigt in den Leiden der Brauchbarkeit, dass die Unnützesten die Glücklichsten sind“.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 21-23, 107. (Yim1, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 150-151. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 137-138, 145-146, 153-154. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 229-230, 234, 236. (Gel2, Publication)
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 48. (Schu5, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 200, 214. (Tan10, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)