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“Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie” (Publication, 1984)

Year

1984

Text

Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). (Yim1)

Type

Publication

Contributors (1)

Yim, Han-soon  (um 1984) : Seoul National University

Mentioned People (1)

Brecht, Bertolt  (Augsburg 1898-1956 Berlin) : Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur

Subjects

Literature : Occident : China as Topic / Literature : Occident : Germany / References / Sources

Chronology Entries (20)

# Year Text Linked Data
1 1918 Brecht, Bertolt. Baal. (München : Georg Müller, 1920). [Geschrieben 1918, Uraufführung Leipzig 1923].
Liu Weijian : Li Bos unkonventionelle Lebensweise beeindruckt Brecht, so dass er dessen Züge in die Hauptfiguren seiner ersten Dramen einzuarbeiten sucht. Sein Baal ist wie Li Bo eine originelle Künstlernatur und lebt nach seinen inneren Bedürfnissen ; er frisst, tanzt und geniesst das Leben.

Yim Han-soon : Sowohl aus der äusserlichen Erscheinung als auch aus dem Lebenswandel des Buddha ergeben sich Berührungspunkte mit Brechts Glückgott Bu Dai und der Baal-Figur.
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 121. (LiuW1, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
2 1920 Tian Han, Zong Baihua und Guo Moruo tauschen in San ye ji = Kleeblatt [ID D11262] ihre Ansichten und Urteile über Goethe aus. Sie lesen Faust, Die Leiden des jungen Werther, Dichtung und Wahrheit und Die Metamorphosen der Pflanzen.
Tian Han : Wir schrieben diese Briefe nicht mit der Absicht, sie zu publizieren... sie drehen sich um einen Mittelpunkt, um Goethe nämlich... und ähneln Werthers Leiden.
Zong Baihua : Was die Veröffentlichung dieses Buches motivierte : Es soll ein dringendes Sozial- und Moralproblem aufwerfen : das Problem des Konflikts zwischen der freien Liebe und der durch die Eltern bestimmten Ehe.
Guo Moruo : Ich denke, dass wir die Werke von Goethe so viel wie möglich übersetzen und erforschen müssen, dass seine Zeit – die Zeit des Sturm und Drang – unserer Zeit sehr ähnlich ist ! Von ihm können wir viel lernen.
Konfuzius ist der Grösste, den China hervorgebracht hat, das universale chinesische Genie. Mit ihm kann nur einer verglichen werden in Europa, und das ist Goethe.
  • Document: Yang, Wuneng. Goethe in China (1889-1999). (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2000). S. 30. (YanW1, Publication)
  • Person: Goethe, Johann Wolfgang von
  • Person: Guo, Moruo
  • Person: Tian, Han
  • Person: Zong, Baihua
3 1923 Brecht, Bertolt. Im Dickicht der Städte [ID 12672].
Quelle : Wilhelm, Richard. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Brecht schreibt : Es ist ein Kampfstück, östlich-westlich... Ort : die Hinterwelt...
...man soll sich damit begnügen, das Asiatentum des Shlink durch einen schlichten gelben Anstrich anzudeuten, und ihm erlauben, sich zu benehmen, wie ein Asiate, nämlich wie ein Europäer...

Liu Weijian : Brecht spricht davon, dass er einen „neuen Typus Mensch“ gestalten will, „der einen Kampf ohne Feindschaft mit bisher unerhörten, das heisst noch nicht gestellten Methoden“ führt : das taoistische Motiv des Wuwei in der Formulierung „durch Passivsein zu siegen“. Das Wuwei wird dabei konsequent als Aufhebung der Individualität thematisiert. Es dient dazu, „den oberflächlichen Firnis des Individualismus in unserer Zeit“ zu verspotten und eine neue, zeitgemässe Lebensform zu suchen.

Christoph Gellner : Brecht führt vor der exotisch stilisierten Kulisse des verkommenen Chicagoer Chinesenviertels den „unerklärlichen Ringkampf“ zwischen dem reichen, alternden malaischen Holzhändler Shlink und dem jungen, mittellosen Leihbüchereiangestellten George Garga vor Augen… Nichts macht die Verfremdungsabsicht augenfälliger als die Figur des verschlagenen, reisessenden Asiaten Shlink, der seinen Kontrahenten durch die asiatische Kampfform scheinbarer Passivität zu bezwingen sucht. Garga, der die Kampfesweise des Chinesen, durch Passivsein zu siegen, durch Erleiden Macht zu bekommen, allmählich selbst übernimmt und so am Ende überlebt, rückt diese listige Taktik denn auch in eine unübersehbare Nähe zum chinesisch-taoistischen Nichthandeln (Wuwei) und dem Ursymbol altchinesischer Dialektik im Dao de jing.

Adrian Hsia : Brecht wollte, dass Shlink stets mit einem gelben Gesicht auftritt, damit sein rassischer Ursprung dem Publikum ständig vor Augen gehalten wird und er soll sich genau nach seinem Chinesenbild benehmen, nämlich schlau und verstohlen sein. Ausserdem sollen sein Ursprung und seine Sprache – Chinesisch – die Unmöglichkeit des menschlichen Kommunizierens aufzeigen. Der taoistischen Anschauung nach besiegt das Schwache, symbolisiert unter anderem durch das Wasser, das Starke. Auf jeden Fall überlebt das Schwache, während das Starke leicht zerbricht. „Und das Geistige, das sehen Sie, das ist nichts. Es ist nicht wichtig, der Stärkere zu sein, sondern der Lebendige“.
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 124, 130. (LiuW1, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. (HanR1, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 168, 170-171. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
4 1925 1925 Brecht, Bertolt. Die höflichen Chinesen. In : Berliner Börsen-Courier (1925) / Brecht, Bertolt. Werke ; Bd. 19. Prosa ; 4 (1925).
Quelle : Wilhelm, Richard. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Brecht schreibt : Weniger bekannt in unserer Zeit ist es, wie sehr ein der Allgemeinheit geleisteter Dienst der Entschuldigung bedarf. So ehrten die höflichen Chinesen ihren grossen Weisen Laotse [Laozi], mehr als meines Wissens irgend ein andres Volk seinen Lehrer, durch die Erfindung folgender Geschichte.
"Laotse hatte von Jugend auf die Chinesen in der Kunst zu leben unterrichtet und verliess als Greis das Land, weil die immer stärker werdende Unvernunft der Leute dem Weisen das Leben erschwerte. Vor die Wahl gestellt, die Unvernunft der Leute zu ertragen oder etwas dagegen zu tun, verliess er das Land. Da trat ihm an der Grenze des Landes ein Zollwächter entgegen und bat ihn, seine Lehren für ihn, den Zollwächter, aufzuschreiben, und Laotse, aus Furcht, unhöflich zu erscheinen, willfahrte ihm. Er schrieb die Erfahrungen seines Lebnes in einem dünnen Buche für den höflichen Zollwächter auf und verliess erst, als es geschrieben war, das Land seiner Geburt".
Mit dieser Geschichte entschuldigen die Chinesen das Zustandekommen des Buches Taoteking [Dao de jing], nach dessen Lehren sie bis heute leben.

Yim Han-soon : Brecht greift das Klischee – die Chinesen sind höflich – auf, um es jedoch zu konkretisieren. Eine Spannung zwischen Parodie und Anerkennung ist spürbar, überwiegend ist aber die letztere… Was er in seiner Laotse-Geschichte von der Überlieferung übernimmt, ist ein legendäres, aber noch möglich erscheinendes zwischenmenschliches Verhalten von Geben und Nehmen... Es scheint jedoch feststellbar, das Brecht in der Beziehung zwischen dem alten Weisen und dem Zollwächter eine Alternative zur „trostlosen“, „unendlichen Vereinzelung des Menschen“ in der bürgerlichen Welt erblickt… In dem Laotse-Motiv sind folgende Momente angezeigt, die für Brechts Verhältnis zur chinesischen Philosophie allgemein bestimmend und zugleich für sein Denken und Werk relevant sind : Die Auffassung der Philosophie als einer antimetaphysischen Verhaltenslehre ; die chinesische Philosophie als Ausgangs- bzw. Bezugspunkt für die Kritik am klassischen Philosophiebegriff ; die Beziehung zwischen Laotse und dem Zollwächter als Sinnbild für ein produktives Lehrer-Schüler-Verhältnis, das auch in Brechts Traditionsbegriff reflektiert ist ; der historische Hintergrund des alten China als ein Gesellschaftszustand, in dem die Menschen unterdrückt und vertrieben wurden ; inhaltliche und funktionale Gehalte der chinesischen Philosophie als Stoff und Material… Die eigentliche Bedeutung der chinesischen Philosophie hat Brecht in der Laotse-Geschichte ausdrücklich formuliert : Es handelt sich um eine „Kunst zu leben“, eine Lehre des Verhaltens, die in den Alltag des Niederen Volkes einzugreifen vermag.

Der chinesische Traditionalismus spielt in Brechts Beziehung zu China eine grosse Rolle. Er spricht nicht nur von der Lehre des Weisen – der Kunst zu leben – sondern auch von der Dauerhaftigkeit und Fortführbarkeit der Lehre : Die Chinesen leben bis heute danach. Die alte Lehre bleibt lebendig, weil sie eine Lebenskunst und eine Lehre der gegenseitigen Anerkennung und Bereicherung ist. Der zweite Themenkomplex in Brechts Denken und Werk ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis.
Brechts Verhältnis zur chinesischen Philosophie kennzeichnet sich durch die Auffassung der Philosophie als Verhaltenslehre und als Ausgangs- und Bezugspunkt für die Kritik an der klassischen Philosophie.
In dieser Ballade hat Brecht das schiefe Verhältnis von Erzähler und Erzähltem zugunsten des letzteren ausgeglichen, indem er vor allem die konkrete Lehre von Laozi an einem Wasserbild vorführt, und zwar gerade in der gewichtigen 5. Strophe. Der Spruch von Laozi selbst, dass das weiche Wasser das harte überwinde, hat in Brechts Version zwei Konditionalen erhalten, die im Original fehlen : 'Mit Bewegung' und 'mit der Zeit'.
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. (HanR1, Publication)
  • Document: Karlsruher Virtueller Katalog : http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. (KVK, Web)
  • Document: Yim, Han-soon. Das Wasserbild des Taoteking bei Brecht : zur Entwicklung eines Lehrmodells in Korea : http://brecht.german.or.kr/. (Bre32, Web)
  • Person: Brecht, Bertolt
5 1929-1941 Brecht, Bertolt. Notizen zur Philosophie. In : Gesammelte Werke. Bd. 20 (1967). [Zusammenstellung].
Brecht schreibt : Der Begriff der Philosophie hat zu allen Zeiten und bei allen Völkern eine praktische Seite gehabt. Ausser bestimmten Theorien oder auf solche gerichtete Denktätigkeiten wurden immer auch bestimmte Handlungsweisen und Verhaltungsarten (in Form von Gesten oder Antworten) philosophische genannt. Auch wurden bestimmte Menschen Philosophen genannt, die sich keineswegs mit der Erzeugung von „Philosophien“ befassten, sondern eben nur durch ihr Verhalten diesen Ehrentitel erwarben.

Yim Han-soon : Hier werden die chinesischen Philosophen zwar nicht namentlich erwähnt, der Wortlaut deckt sich aber bis in die Einzelheiten mit den charakteristischen Merkmalen ihrer Philosophie.
Die chinesischen Motive und Themen sind für Brecht in erster Linie Stoff und Material, weniger aber Objekte einer historisch-kritischen Auseinandersetzung.
Für den Autor gilt im allgemeinen, dass sich ihm Sinngehalte des chinesischen Denkens nur in dem Masse erschliessen, als sich dabei seine eigene Welt, nicht aber China oder die chinesische Vergangenheit, aufklärt. Er erfasst selektiv den emanzipativen Gehalt der chinesischen Philosophie, indem der sie zerlegt, transformiert und auf sich und seine Situation projiziert. Wichtige Berührungspunkte sind in der Beschaffenheit und im historischen Hintergrund der altchinesischen Gedankenwelt vorgegeben. So taucht die Thematik der Güte und Nächstenliebe im Guten Menschen von Sezuan und im Kaukasischen Kreidekreis in einem Spannungsfeld zwischen Christentum und chinesischer Auffassung der menschlichen Natur auf ; "Fluss der Dinge", Stärke der Schwachen, Kritik an Moralbegriffen usw. sind die taoistischen Motive, die Brecht in Verbindung mit der materialistischen Dialektik für die Untedrückten und der produktiven Gesellschaftskritik verwendet… Er führt die Chinesen oft als Zeugen an, um sich mit ihnen gegen seine eigene Tradition zu wenden.
6 1929 Brecht, Bertolt. Geschichten vom Herrn Keuner. In : Brecht, Bertolt. Der Flug der Lindberghs : Radiolehrstück für Knaben und Mädchen. Radiotheorie. Geschichten vom Herrn Keuner. (Berlin : G. Kiepenheur, 1930). (Versuche / Brecht ; 1-3).
Quelle : Wilhelm, Richard. Dschuang Dsi [ID D4447].

Brecht schreibt : Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi [Zhuangzi] verfasste noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt.

Christoph Gellner : Angeregt durch seine intensive Beschäftigung mit altchinesischer Philosophie entsteht eine völlig neuartige Form philosophisch-didaktischer Kurzprosa, eine Sammlung von Denk- und Haltungsbildern, die dem Leser anschauende Erkenntnis vermitteln. Im schöpferischen Zusammenspiel von Alt und Neu, von Tradition und Innovation wird darin erstmals für die Fernostrezeption eine Verschränkung von chinesischer und marxistischer Philosophie greifbar, mit der Brecht in der Tat die Wiedergewinnung einer alten unter Hinzugewinnung einer neuen Dimension von Weisheit intendiert… Brecht lehnt sich sehr stark an altchinesische Formen des Philosophierens an, in denen sich auch tatsächlich Gehalte unserer Zeit behandeln lassen… Brecht ist der erste in der deutschsprachigen Literatur, der Mozis Schriften zur Kenntnis nimmt. In seinem Exemplar Me Ti in der Übersetzung von Alfred Forke [ID D669] gibt es zahlreiche Anstreichungen und Randbemerkungen. Er hat in Keuner keine einzige Gesprächspassage aus dem Me Ti übernommen, Übereinstimmungen und Parallelen sind weniger im Inhaltlich-Thematischen zu suchen als vielmehr auf der Ebene der Darstellungsform. Es ist in erster Linie das didaktische Formmuster, der aphorisch-apothegmatische Rede- und Erzählgestus der Lehre Mozis, die als Denkanregung dient.

Adrian Hsia / Song Yun-yeop : Die Keuner-Geschichten stellen auch das Resultat der Beschäftigung Brechts mit Mozi dar. Yun-yeop Song hat nachgewiesen, das sich sowohl die dialogische Form als auch die Methodik der Belehrung zwischen Mozis Werk und der Keuner-Geschichten so sehr ähneln, dass man von einem kreativen Einfluss sprechen kann. Mozi zeichnete sich von anderen chinesischen Philosophen durch sein logisches Denken aus. Alfred Forke sagt : Mozi habe die Logik in die chinesische Philosophie eingeführt. Die logische Schlussfolgerung als didaktisches Moment und der Nützlichkeitsgedanke als Altruismus bringen Brecht und Mozi zusammen. Beide bedienen sich einer verfremdeten Andeutung, um den Leser aus der gewohnten Routine des Alltagslebens zu erwecken und aufhorchen zu lassen. Es kommt in diesem Moment keine Belehrung, keine Moralpredigt vor, sondern bloss ein Fingerzeig der logischen Gedankenführung, die die Fähigkeit des Unterscheidungsvermögens im Sinne der Nützlichkeit der Gemeinschaft schärft und somit zum logischen Denken zwingt und schult. Dass Mozi als Vorlage dient, zeigen besonders die frühen Keuner-Geschichten, in denen Keuner als Meister auftritt, der Fragen seiner Schüler beantwortet. Die gesellschaftlichen oder sonstigen Misstände sollen durch Verfremdung auffallen und somit in Frage gestellt werden.

Ein wichtiges Thema in den Keuner-Texten, das an die Haltung des Konfuzius erinnert, ist die Art und Weise des Lernens und das emanzipatorische Lehrer-Schüler-Verhältnis… Wahre Liebe bedeutet für Keuner wie für Konfuzius keine Hingabe oder Hinnahme dessen, was einer ist, sondern, von der Seite des Liebenden, eine selbstbewusste und gesellschaftliche Tätigkeit mit dem Ziel, die potentiellen Fähigkeiten des Geliebten zu entdecken und ihnen zur Entfaltung zu verhelfen.
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 193-195, 198-199. (Gel2, Publication)
  • Document: Karlsruher Virtueller Katalog : http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. (KVK, Web)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Forke, Alfred
7 1930 Brecht, Bertolt. Die Massnahme. In : Brecht, Bertolt. Der Jasager und Der Neinsager : Schulopern ; Die Massnahme : Lehrstück. (Berlin : G. Kiepenheuer, 1931). (Versuche / Brecht ; 11-12). [Geschrieben 1930].

Liu Weijian : Im Stück Die Massnahme führt Brecht das Wuwei-Motiv des Badener Lehrstücks fort.

Christoph Gellner : Brecht stellt an einem extrem zugespitzen Modellfall Fragen der Strategie, der Taktik und der revolutionären Moral im Klassenkampf zur Diskussion. Dabei kommt es ihm weniger auf die naturalistische Widerspiegelung realer Vorkommnisse im zeitgenössischen China als vielmehr auf die modellhafte Vereinfachung komplexer ethisch-politischer Grundwidersprüche und Verhaltensmuster an, die Zuschauer wie Mitspielende in einen aktivierenden Lern- und Erkenntnisprozess zu verwickeln. Es ist das erste Mal, dass der Name Mao Zedong in der deutschsprachigen Literatur vorkommt. Die Vorgänge spielen in einem chiffrenhaften China, das schon vorausweist auf das parabelhafte Sezuan des Guten Menschen oder das imaginäre Parabel-China des Tui-Romans, jenes Land der Mitte, das auf keiner Karte verzeichnet ist… Vier aus Moskau in die nordostchinesische Provinz Liaoning entsandte kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt von einem Massenchor, der innerhalb des Stückes die kommunistische Partei vertritt. Um der proletarischen Revolution in der Mandschurei zum Durchbruch zu verhelfen, haben die vier in der Stadt Mukden illegale Propaganda getrieben und dabei einen ihrer Mitkämpfer, den jungen Genossen, erschiessen müssen.

Yeh Fang-xian : Es gibt Meinungsunterschiede über den historischen Hintergrund des Stückes. Die einen sehen die Massnahme ausschliesslich als Parabelstück für die deutsche Situation, die andern untersuchen die chinesische Revolution im Zusammenhang mit der internationalen kommunistischen Bewegung und vertreten die Meinung, dass Brecht die historische Situation in China genau getroffen habe.

Franz Xaver Kroetz : Es ist problematisch, dass Brecht auf Masken zurückgreift, die sich die Europäer überziehen, um Chinesen zu werden. Die Masken meinen Information über China, das Beherrschen der chinesischen Sprache, das Wissen um die Lage des chinesischen Proletariats, um die Macht und Schwächen der Herrschenden. Ich glaube, die Masken sind eine zu vordergründige Darstellung des ‚Hineinschlüpfens’ in ein anderes Volk und können den Inhalt nicht vermitteln.

Ulrich von Felbert : In der Maske erkennt Brecht die Möglichkeit, Mimik und Gestik voneinander zu trennen und dadurch den Demonstrationscharakter des Spiels zu verdeutlichen. Gleichzeitig lassen sich durch die Verwendung von Masken Verwandlungen symbolisierend verfremden.

Yim Han-soon : Das moderne China wird lediglich durch verelendete Kulis angedeutet.
  • Document: Felbert, Ulrich von. China und Japan als Impuls und Exempel : fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1986). (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; Bd. 9). S. 75, 78. (Döb3, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 133. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 139. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 188. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
8 1930 Brecht, Bertolt. Das asiatische Vorbild. In : Brecht, Bertolt. Gesammelte Werke. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1967). Bd. 15.
Brecht schreibt : Es ist dem heute Schreibenden beinahe unmöglich, die Assoziationen des Lesers genügend zu kontrollieren. Sehr schwierig ist es etwa schon, jene pompöse und exotische Fassade zu demolieren, die bei dem Wort „asiatisch“ vor dem „geistigen Auge“ nicht nur eines mittleren Lesers auftauchen mag. Dabei ist der Begriff „exotisch“ in der Epoche des schrankenlosen Imperialismus schon überholt – unsere Kaufleute empfinden japanische Geschäftshäuser längst nicht mehr so wie unsere Reiseschriftsteller und Regisseure : als mythische Schlupfwinkel mit Klapptüren und Gongs.
9 1930 Bertolt Brecht schreibt über Konfuzius : Dieser Konfutse war ein Musterknabe. Indem man sein Beispiel an die Wand zeichnet, kann man ganze Geschlechter, ja ganze Zeitalter verdammen. Sein Idealbild ist ganz an ein Temperament bestimmter und seltener Art gebunden, und während beinahe alle Taten von Menschen, die gross zu finden die Menschheit sich gestatten kann, von Leuten dieses Temperaments kaum geleistet werden können, sind eine Unmenge von Verbrechen denkbar, die ein Mann begehen könnte, ohne auf die Anerkennung mancher Tugend zu verzichten, die den Konfutse ausgezeichnet hat. Die Haltung des Konfutse ist sehr leicht im Äusserlichen kopierbar und dann ungewöhnlich nützlich…
Weit grösser ist der Erfolg, den das Volk bei diesem Lehrer, oder, weniger boshaft gesagt, mit ihm hatte. Wieviel konnte es von ihm brauchen, als es seine Haltung nachahmte ? Seine Urteil, längst vergangene Lebensform betreffend, wären längst ungerecht geworden, hätte man sie wiederholt, aber seine Haltung war die der Gerechtigkeit.

Yim Han-soon : Brechts Verhältnis zu Konfuzius und seiner Haltung könnte folgendermassen charakterisiert werden : Was Konfuzius zu einem Weisen macht, ist nicht seine Weisheit, sondern seine Haltung. Erst und nur durch die Haltung gilt er als Philosoph. Seine Haltung kann heute noch mit Nutzen nachgeahmt oder angewandt werden ; nicht mehr verwendbar sind seine Urteil, weil sie eine überholte Gesellschaftsform betreffen. Es ist wünschenswert, dass man aus dieser Haltung Taten macht. Zunächst muss man aber die heutigen Lebensbedingungen so verändern, dass es mögich wird.
10 1931 Brecht, Bertolt. Der Tui-Roman. In : Brecht, Bertolt. Turandot : oder, Der Kongress der Weisswächer. Der Tui-Roman (Fragment). (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1967). (Stücke ; 14).
Brecht schreibt : Die chimesische Revolution.
„Als Chima, das Land der Mitte, das auf keiner Karte verzeichnet ist, vier Jahre lang mit 37 Völkern im Krieg verharrt hatte, zeigte es zum Schrecken seiner Regierung Zeichen von Entmutigung. Bevor die Armeen, die alle auf feindlichem Boden kämpften, zu weichen und die Bevölkerung sich in einem Aufruhr zu erheben begann, hatten die Überlebenden ihre Toten schon in Papier begraben und Gras gegessen. Das Volk war eines der geduldigsten, über das je eine Regierung verfügt hatte, und auch sein Aufruhr war noch sanftmütig. Er entstand aus Ordnungsliebe. Die Soldaten mussten zurückgebracht werden, und die Offiziere waren wohl fähig, das heißt in den Schulen geschult, sie in Feindesland, aber weder durch Bücher noch durch Übungen darauf vorbereitet, sie in die Heimat zu führen. Einige Soldaten liefen tagelang herum, um Armbinden aufzutreiben, die sie als Ordner und Revolutionäre kennzeichnen sollten und, gründlich, wie sie waren, fanden sie solche ... “
„Es war die allgemeine Meinung, dass man die Ordnung, die überall ausbrach, als die Herrschenden ihren Krieg, den sie mit großem Gewinn, aber weniger äußerem Erfolg geführt hatten, aufgeben und verloren geben mussten, nur dem Bestehen einer revolutionären Partei verdankte, die sich sogleich an die Spitze der Bewegung des Volkes setzte. Diese Partei, die sich die Partei des gleichberechtigten Volkes nannte, da ihre Parole forderte, das Volk solle mit den Herrschenden gleichberechtigt sein, konnte in diesen allgemein als gefährlich angesehenen Tagen ihre historische Aufgabe nur deshalb erfüllen, weil sie schon seit langem bestand, ein hohes Alter erreicht hatte und aus dem politischen Leben schon gar nicht mehr wegzudenken war, und weil sie sehr groß war. Ohne diese Eigenschaften hätte sie kaum verhindern können, dass etwas geschah. Als die Front ins Wanken geriet, setzten sich einige der Tuis der revolutionären Partei in den Zug und fuhren in das Quartier der Generäle, um durch Reden die sinkende Moral der Truppen wieder zu heben. Sie wurden zu einem großen Haus geführt, das in einem Park lag, und es wurde ihnen gesagt, die Generäle säßen eben beim Essen und würden sie nach dem Kaffee empfangen. Sie standen ein paar Stunden vor dem Haus, in Gespräche vertieft. Da es regnete und sie, um nicht einen unmilitärischen Eindruck zu machen, ihre Regenschirme daheimgelassen hatten, wurden sie ziemlich durchnässt und froren. Sie befürchteten schon, man könne sie vergessen haben, als eine halbe Kompanie Soldaten, von denen einige rote Armbinden trugen, in den Hof kamen, ihnen mitteilten, die Revolution sei ausgebrochen und sie auf die Schultern hoben und als Führer begrüßten.Sie beruhigten sich schnell und es gelang ihnen, am Abend des übernächsten Tages doch noch bei einem Adjutanten eines der Generäle vorgelassen zu werden. Er versicherte ihnen, dass man den aufrührerischen Soldaten nichts in den Weg legen würde, wenn die Ordnung gewahrt bleibe.
Beinahe noch größeres Glück hatte die revolutionäre Partei in der Hauptstadt. Zu ihrer Überraschung fand sie, ohne lange suchen zu müssen, noch einen Prinzen, einen nahen Verwandten des Kaisers, der sich eben in jenen Tagen als Revolutionär entpuppte, den bisher nur seine hohe Stellung von der Äußerung seiner wahren Gefühle zurückgehalten hatte und der jetzt forderte, der Kaiser müsse ab- danken. Die Führer der revolutionären Partei hatten zunächst einige Bedenken, da ein solcher Fall nicht vorgesehen war, aber der Prinz handelte. Die Umgebung des Kaisers hielt die Nachricht von der Forderung des revolutionären Prinzen vor dem hohen Herrn einige Tage zurück, aber dann bekam er doch Wind von der Sache und fuhr, bevor man ihn besänftigen konnte, über die Grenze zu fürstlichen Verwandten.“

Brecht schreibt in einer Notiz zum Tui-Roman in bezug auf Mong Dsi [Mengzi] [ID D4448] : mong ko : in einer regierung müssen die philosophen geehrt und angesehen werden. am besten ist, sie regieren mit, damit ist meistens das volk einverstanden. sind sie nicht angesehen und regieren sie nicht mit, machen sie stunk.

Christoph Gellner : Der Tui-Roman, ein als chinesisch verfremdeter Schlüsselroman über die Weimarer Republik und ihre Intellektuellen spielt in einem Parabel-China (Chima). Er knüpft an die Tradition der fingierten orientalisierenden Satiren der Aufklärung an und ist folglich eine politische Parabel in chinesischem Gewand…
Die Weisheit des Volkes und das revolutionäre China Mao Zedongs bilden den Hintergrund der Komödie Turandot, mit der er erneut auf die Orientexotik und Theaterchinoiserie des 18. Jahrhunderts zurückgreift. Nicht zuletzt im Blick auf den zeitgenössischen Tuismus im eigenen Lande geschrieben, stellt dieses Alterswerk, das zu Brechts Lebzeiten unaufgeführt blieb, die einzige in sich abgeschlossene Bearbeitung des umfangreichen Tui-Stoffes dar… Analog zu den Ereignissen in der Weimarer Republik, die zur Machtgergreifung Hitlers führt, wird eine Geschichte aus China erzählt. Die öffentliche Meinung dort wird von professionellen Lügnern, den Tuis gemacht, die vom Handel mit brauchbaren Meinungen leben und so das Denken als schmutziges Geschäft betreiben. Ihr Leitspruch ist „Wissen ist Macht“… Kai-ho (Mao Zedong) gehörte ursprünglich auch zur Kaste der Tuis. Er gab den lügnerischen Meinungshandel jedoch zugunsten einer aufklärerischen Unterweisung der entrechteten Volksmassen auf und wird daraufhin aus dem Tui-Orden ausgestossen. Mit seiner revolutionären Bauernbewegung kämpft er für die gerechte Verteilung des Bodens, dem grundlegenden Produktionsmittel der Agrargesellschaft, um China endlich zu einem bewohnbaren Land zu machen.

Yim Han-soon : Da Brecht trotz der aktuellen Probleme einen chinesischen Kaiserhof als Schauplatz gewählt hat, fühlt man sich veranlasst, in der Fabel Berührungspunkte mit China zu suchen. Die Personen- und Ortsnamen sind schinesisch, auf der Bühne sieht man Papierfenster und ein Rollbild, man spielt Brettspiele. Die Kostüme sind Mischungen, basierend auf den chinesischen, und die Tuis tragen Hüte der tibetanischen und europäisch priesterlichen Art.
Yim Han-soon : Die Chinoiserie wird durch die unmittelbare Aktualität der in die Fabel eingegangenen Vorgänge zusätzlich gelockert. Die Chinoiserie sollte die aktuellen Vorgänge verfremden. Die chinesische Kulisse soll die Überholtheit der bürgerlichen Welt zum Vorschein bringen.
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 219, 254, 257. (Gel2, Publication)
  • Document: Die chinesische Revolution : http://www.sozialismus-jetzt.de/LinX-2006-21/Brecht.html. (Bre69, Web)
  • Person: Brecht, Bertolt
11 1935 Brecht, Bertolt. Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In : Unsere Zeit. (Basel : Verlag der Rote Aufbau, 1935). Jg. 8, H. 2-3 (1935).
Quelle : Wilhelm, Richard. Frühling und Herbst des Lü Bu We. [ID D1594 ; Chun qiu].

Adrian Hsia : Brecht schreibt : Zu allen Zeiten wurde zur Verbreitung der Wahrheit, wenn sie unterdrückt und verhüllt wurde, List angewandt. Konfutse fälschte einen alten, patriotischen Geschichtskalender. Der Geschichtskalender stellt das Werk Frühling und Herbst-Annalen von Sima Qian dar. Dagegen stellt Brecht drei Methoden von Konfuzius fest, die gefälschte geschichtliche Wahrheit wiederherzustellen : Er berichtigt falsche Bezeichnungen, fälscht historische Tatsachen für die höhere Wahrheit und verschweigt die für ihn unbedeutenden Ereignisse. Brecht beschreibt den ersten Punkt genau, der auch am wichtigsten ist. Die Beschreibung ähnelt Sima Qian : Konfutse veränderte nur gewisse Wörter. Wenn es hiess : Der Herrscher von Kun liess den Philosphen Wan töten, setzt Konfutse statt töten ‚ermorden’. Hiess es, der Tyrann sei durch ein Attentat umgekommen, setzt er ‚hingerichtet worden’. Dadurch bricht Konfutse einer neuen Beurteilung der Geschichte Bahn… Die List des Konfutse ist auch heute noch verwendbar. Konfutse ersetzte ungerechtfertigte Beurteilungen nationaler Vorgänge durch gerechtfertigte.

Luo Wei : Brecht würdigt die Schreibweise von Konfuzius als eine besondere „List“ bei der Verbreitung der verhüllten oder unterdrückten Wahrheit. Seine Vorliebe für den chinsischen Philosophen zeigt sich ausserdem darin, dass er ein Rollbild des Konfuzius besass, das ihn während seines Exils überall hin begleitete und immer in seinem Zimmer an der Wand hing. Als er sich in Ostberlin niederlässt, ist das Bild in schlechtem Zustand. Brecht lässt es von einen Bühnenarbeiter des Berliner Ensembles restaurieren und schenkt ihm als Dank ein Exemplar seiner Stücke mit Widmung.

Yim Han-soon : Bei dem Geschichtskalender handelt es sich um Chun qiu Annalen, in dem Konfuzius über die politischen Ereignisse dieser Epoche vom Standpunkt des Zentralherrschers aus Rechtsentscheidungen getroffen haben soll.

Richard Wilhelm : Konfuzius nahm diese Chronik vor, änderte da ein Wort, setzte dort eines zu, stellte ein paar Sätze um, liess manches weg. Und aus der trockenen Chronik wurde ein literarisches Weltgericht.
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Luo, Wei. "Fahrten bei geschlossener Tür" : Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2003). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1896). Diss. Beijing-Univ., 2003. S. 49. (Döb2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
12 1935 Brecht, Bertolt. Lied des Stückeschreibers. In : Schriften zum Theater. Bd. 5 (1963).
Brecht schreibt : Um zeigen zu können, was ich sehe, lese ich nach die Darstellungen anderer Völker und Zeitalter… Ich studierte die Chinesen, welche die Familien darstellen.
13 1936 Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen [ID D12783].
Das früheste Dokument über Me-ti ist Brechts briefliche Anfrage von 1935 an Helene Weigel "Hast Du den Me-ti schon geholt?"
Brecht schreibt : Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben : das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vogelschwärme… - so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt.

Liu Weijian : Wenn das Tao verlorengegangen ist, kommt die Gesellschaft in Unordnung. Um der Unordnung entgegenzuwirken und sie unter Kontrolle zu bringen, versuchen die Menschen, Tugenden zu propagieren. Diese Auffassung von Tugenden ist ein Punkt, an den Brecht anknüpft.
Brecht schreibt : Es gibt wenige Beschäftigungen, sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechen halten, man muss für das Gute kämpfen…
Wie die Tugenden sind auch die Gesetze bei Laozi keine Beweise einer hochstehenden Sittlichkeit. In ihnen spiegeln sich vielmehr die schlechten Verhältnisse wieder, die sie nötig machen. Brecht glaubt ebenfalls, dass die Entstehung der Gesetze die soziale Ungerechtigkeit reflektiert, weil sie sonst überflüssig werden.
Er schreibt : Ohne Ungerechtigkeit zu spüren, wird man auch keinen besonderen Gerechtigkeitssinn entwickeln…
Brecht diskutiert über die taoistische Eigenliebe und die Ansicht von Yang Zhu. Dabei unterscheidet er Eigenliebe von Egoismus. Brechts Egoismusbegriff entspricht den taoistischen Begriffen von der Selbstsucht und der unersättlichen Natur. Wie Laozi und Yang Zhu kritisiert Brecht einerseits egoistische Selbstsucht und bejaht andererseits die Eigenliebe. Er meint, dass der Mangel an Eigenliebe dem Menschen selbst Elend bringt. Er geht nicht wie Yang Zhu davon aus, nur sich selbst zu schützen, sondern davon, zuerst die Gesellschaft zu verändern, um einen harmonischen Zustand zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Gemeinschaft zu realisieren. Das zeigt sich sowohl in seiner Ansicht über die Bekämpfung des Egoismus wie auch in seiner Meinung zur Verwirklichung der Eigenliebe.
Er schreibt : Yang-tschu [Yang Zhu] lehrte : Wenn man sagt : der Egoismus ist schlecht, so denkt man an einen Zustand des Staates, in dem er sich schlecht auswirkt. Ich nenne einen solchen Zustand des Staates schlecht. Wenn man keinen Egoismus haben will, dann muss man nicht gegen ihn reden, sondern einen Zustand schaffen, wo er unnötig ist.

Gerwig Epkes : Ende 1920er Jahre : Bertolt Brecht hat sich mit Mozi befasst : Hanns Eisler schreibt, dass ihm Brecht das Buch Forke, Alfred. Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke [IDD 669] gezeigt hat. Brecht übernimmt die Darstellungsweise des Mozi und diskutiert dessen Aussagen vor westlichem Hintergrund.

Christoph Gellner : Das Buch Me-ti, ganz im „chinesischen Stil geschrieben“, ist zweifellos ein Höhepunkt von Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie während des Exils. Obwohl die Sammlung von annähernd 300 Aphorismen, Sentenzen und Miniaturparabeln wie die meisten seiner Prosa- und Romanprojekte Fragment geblieben ist, gelten die Schubladentexte des Me-ti als ein ethisch-ästhetisch zentraler Werkkomplex. Handelt es sich doch um das einzige, erst aus dem Nachlass veröffentlichte Werk, in dem sich Brecht näher und konkreter über die Inhalte seines utopischen Denkens geäussert hat. Nicht von ungefähr steht die Vision einer solidarischen Zukunftsgesellschaft, in der heroische Tugendanstrengungen als erzwungene Leistungen entbehrlich sind, im Zentrum. Als Formmuster griff Brecht dabei wiederum auf eine höchst unzeitgemässe Literaturtraditon zurück, in der Dichtung, wie im alten China, noch nicht von Wissenschaft und Philosophie, von Moral-, Weisheits- und Verhaltenslehre abgesondert war. Das Ergebnis ist eine für Brecht typische Mischung aus alter und neuer Weisheit… Vorwiegend handelt es sich um aktuelle europäische Fragestellungen und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die durch den aphoristisch-sophtegmatischen Weisheitsgestus altchinesischer Philosophie kunstvoll ein falsches Alter gewinnen. So bezieht sich einer der zentralen Themenkomplexe auf die in den dreissiger Jahren unter den exilierten Linken aufgebrochenen Differenzen hinsichtlich des Aufbaus des Sozialismus (der „Grossen Ordnung“) in der Sowjetunion und der Verwandlung der marxistischen Dialektik in eine von der Moskauer Parteibürokratie verwaltete Rechtfertigungsideologie des Sowjetkommunismus. In chinesischem Gewande versammelt sind die „Klassiker“ des Marxismus Hegel (Meister Hü-jeh), Marx (Ka-meh), Engels (Meister Eh-fu), Rosa Luxemburg (Sa), Karl Korsch (Ka-osch) sowie Lenin (Mi-en-leh), Trotzki (To-tsi) und Stalin (Ni-en). Brecht sieht sich selbst in Gestalt des Me-ti…
„Ein Staat, so lehrt Me-ti, muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist. Je grösser dann der Nutzen des Einzelnen wird, desto grösser ist der Gemeinnutz“. Mozi thematisiert die Ethik als Teil der Staatslehre in engstem Zusammenhang von Politik und Ökonomie, während die abstrakte, individuelle Ethik bei ihm keine besondere Behandlung erfährt…
Me-ti wiederholt nicht einfach die alten Weisheiten, er radikalisiert vielmehr dessen materialistischen Ansätze und anklingende sozialistische Ideen unter dezidiert marxistischem Vorzeichen.
„Es gibt wenige Beschäftigungen sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechungen halten, man muss für das Gute kämpfen“.

Adrian Hsia : Brecht beginnt in den 1920er Jahren Material für das Buch Me-ti zusammenzutragen. Im Wesentlichen spielt die Handlung in einem märchenhaften China, das von einigen schein-chinesischen Namen dekoriert wird, um aber aktuelle Ereignisse in der Sowjetunion und Deutschland darzustellen. Brecht selbst sagt, dass er eine Anzahl von relevanten zeitgenössischen Geschehnissen ausgewählt habe, um diese den grundlegenden Anschauungen des chinesischen Philosophen gegenüberzustellen bzw. mit ihnen zu vergleichen. Der Zweck der Gegenüberstellung ist, eine uralte Quelle des Sozialismus zu finden und die chinesischen Weisheiten und Verhaltensregeln für die moderne Gesellschaft nutzbar zu machen, denn Brecht war der Meinung, dass Marx und Engels zwar grosse Theorien geschaffen hätten, doch hätten sie das vernachlässigt, womit sich chinesische Philosophen fast ausschliesslich befasst haben, nämlich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, den Verhaltensweisen des täglichen Lebens. Aus dieser Sicht her gesehen, stellt Me-ti eine Kombination der Anschauungen von Marx und Engels, Brecht selbst, Mozi und nicht zuletzt auch von Konfuzius dar. Auch Laozi kann man in Me-ti finden. Laozi ist der Meinung, dass Tugenden nur unter einer schlechten Regierung notwendig seien. Ähnliches sagt auch Yang Zhu, der den Egoismus im Sinne der Selbstliebe befürwortet. Brecht übernimmt die Ansichten Laozis und Yang Chus.

Ye Fang-xian : Brecht führt mehrmals die Unmoral auf den elenden Zustand der Gesellschaft zurück. Im Hinblick auf die Gesellschaftskritik, besonders auf die Beziehung zwischen der Moral und den ökonomischen Verhältnissen, kann man auf viele Ähnlichkeiten zwischen Mozi und Brecht hinweisen. Trotzdem darf man nicht behaupten, dass ihre Gedanken übereinstimmen. Einen wesentlichen Unterschied zeigen ihre Auffassungen von Liebe. Mozi siehe keinen Konflikt zwischen Nächstenliebe und Eigenliebe. Er glaubt in der allumfassenden gegenseitigen Liebe ein Mittel zur Herstellung der idealen Wohlstandsgesellschaft ohne Konflikt und Armut. Brecht verwandelt das göttliche Gebot der Nächstenliebe in eine idealistische Moral und kehrt zugleich die Götter aus dem biblischen Motiv in die Verteidiger einer schlechten Gesellschaftsordnung und schliesslich in Angeklagte… Obwohl Brechts Hauptinteresse sich auf die Natur der kapitalistischen Gesellschaft richtet, wird Shen Te als ein Mensch dargestellt, der von Natur aus gut ist… Der Gegensatz zwischen der guten Natur Shen Tes und den schlechten Verhältnissen der Gesellschaft ist die Grundlinie des Parabelstücks… Was für die Reichen gute Natur ist, ist für die Armen böse. In diesem Sinne stimmt Brechts Darstellung mit dem Marxismus überein.
Wenn sich Brecht mit der Lehre Mengzis beschäftigt hat, hat er sie in den Mund der Götter gesetzt und sie damit in Frage gestellt. Obwohl ihre Ansatzpunkte ähnlich sind : der Mensch sei von Natur aus gut, sind ihre Weltanschauungen oppositionell… Bei Mengzi soll die chaotische Welt durch die vom Gott bestimmten Menschen mit guter Natur gerettet werden… Die Zitate aus den chinesischen Schriften sind in diesem Werk besonders augenfällig. Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie und seine Behandlung der westlichen kulturellen Tradition sind untrennbar integriert.

Yim Han-soon : Die Reduktion des philosophischen Denkens auf die Meditation bemängelt Brecht mit dem Bild des Wassers, das er wahrscheinlich dem Zhuangzi entnommen hat.
In bezug auf die „Verurteilung der Konfuzianer“ von Mo Di setzt sich Brecht mit dem Grundsatz der Institution Familie auseinander, indem er die Familienidee von Konfuzius den Argumenten Mo Dis für die „einigende Liebe“ im Sinne eines sozialistischen Organisationsprinzips entgegenstellt. Das chinesische Motiv dient freilich nur zur Verkleidung einer kommunistischen Idee : Die traditionelle Funktion der Famlie soll von einem sozialistischen Kollektiv übernommen werden.
Der eigentliche Standort der Auseinandersetzung zwischen Kung und Me-ti ist nicht das chinesische Altertum, sondern das widersprüchliche Familienleben des Bürgertums. Kung und Me-ti leben im Zeitalter des Klassenkampfes, in dem das Familienleben in herkömmlicher Form unmöglich geworden ist.
Ohne die anarchistische Grundhaltung Yang Zhus zu teilen, übernimmt Brecht von ihm die Ansicht, dass Uneigennützigkeit, Mangel an Eigenliebe, sowohl den Mitmenschen als auch den betreffenden einzelnen schädlich sei. Yang Zhus Egoismus bedeutet Enthaltsamkeit und Rückkehr von der Gesellschaft zu einem selbstgenügsamen Privatleben, während Brecht die Eigenliebe gerade zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivität und zum materiellen Genuss des einzelnen befürwortet. Er schreibt : „Wie soll man den Egoismus bekämpfen ? Ein Staat muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist“.
Von den verwendeten chinesischen Elementen her betrachtet, ist Me-ti ein Sammelwerk, in dem das selektiv-positive Verhältnis Brechts zur chinesischen Philosophie deutlich zum Vorschein kommt. Er übernimmt grundsätzlich diejenigen Ansätze, die im positiven Sinne nutzbar und aktualisierbar sind.
  • Document: Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen : Fragment. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Uwe Johnson. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1965). (Prosa / Bertolt Brecht ; 5). [Geschrieben 1934-1937] ; [Mozi]. (Bre19, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 148-149, 152-153, 156-158. (LiuW1, Publication)
  • Document: Epkes, Gerwig. "Der Sohn hat die Mutter gefunden..." : die Wahrnehmung des Fremden in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel Chinas. (Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992). (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft ; Bd. 79). Diss. Univ. Freiburg i.B., 1990. S. 144-145. (Epk, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 162-174. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 218-219, 222-225. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Weigel, Helene
  • Person: Yang, Zhu
14 1939 Bertolt Brecht erhält The Analects of Confucius von Arthur Waley [ID D8879] von Fredrick Martner. In einem Brief an Martner schreibt Brecht : Ich ringe mit mir gelegentlich, ob ich Ihnen nicht den „Confucius“ zurückschicken soll. Ich weiss, dass Sie ihn mir geschenkt haben, aber er ist wirklich interessant, und Sie sollten ihn lesen. Glücklicherweise siege ich bisher bei diesem Ringen und schicke das Buch nicht weg.
15 1939 Brecht, Bertolt. Über Plagiate.
Brecht schreibt : Ein wenig borgen bei einem oder einigen anderen zeigt Bescheidenheit ; welch eine Ungeselligkeit, sich ganz allein vorwärts bewegen zu wollen !... Jemand, der den Wert eines guten Ausdrucks kennt, wird ihn lieber übernehmen, als dasselbe noch einmal anders auszudrücken (wenn es wirklich dasselbe ist) und dadurch einen neuen Ausdruck zu schaffen, der entweder hinter dem alten zurückbleibt oder ihn beschämt.

Yim Han-soon : Brechts Berufung auf Zhuangzi legt nahe, dass er im Traditionsbewusstsein der Chinesen ein verwertbares Moment erblickt hat.
16 1940-1941 Brecht, Bertolt. Leben des Konfutse. In : Brecht, Bertolt. Gesammelte Werke. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1967). Bd. 7 : Stücke ; 7).
Entstanden 1940-1941 im finnischen Exil.
Quellen : Waley, Arthur. The Analects of Confucius [ID D8879]. Crow, Carl. Master Kung [ID D3398].

Brecht schreibt im Arbeitsjournal : ein stück dürfte sich nicht um die zutaten späterer, zivilisierter zeiten kümmern ; es müsste unbekümmert und frisch das kämpferische und halbbarbarisches des gründers der zivilisation zeigen. es besteht ein unterschied darin, ob der goldene mittelweg begangen oder gebaut wird. und es besteht ein unterschied zwischen einer benehmens- und einer zeremonielehre… ich dachte daran, ein für kinder spielbares stück zu schreiben, und am besten scheint mir Das Leben des Konfutse geeignet. es muss eine bedeutende figur sein, dazu eine, welche eine humoristische darstellung aushält.

Christoph Gellner : Dieses Fragment gebliebene Schulstück für Kinder zeigt, was Brecht an der Konfuzius-Figur interessierte : Die Demonstration des Widerspruchs, dass dieser grosse Verhaltenslehrer in einer weltgeschichtlichen Epoche der Aufklärung so etwas wie eine humanistische Wende im alten China in Gang setzte, dabei jedoch die materiellen Grundlagen des sittlichen Verhaltens unverändert liess. In Brechts Augen mussten seine Reformen zwangsläufig scheitern, weil er die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Moral ausser Acht liess und so faktisch, unter dem Deckmantel von Humanität und Volksbildung, der Aufrechterhaltung einer schlechten, ausbeuterischen Herrschaft diente. In Brechts Lehrstück zieht Konfuzius daher am Ende einsam und unverstanden durch das Land, überzeugt, dass sein Leben ein Fehlschlag gewesen sei, während der Konfuzianismus im Dienst der herrschenden Feudalordnung seinen Siegeszug antritt. „Zur Staatsreligion erhoben, geniesst der grosse Lehrer, der zu Lebzeiten nie ein Mann des Establishments gewesen war, jetzt göttliche Ehrungen.“

Yim Han-soon : In diesem Stückprojekt handelt es sich weniger um eine historisch begründete Interpretation der Person und Lehre des Konfuzius als um die künstlerische Gestaltung einer Persönlichkeit von weltgeschichtlichem Format. Brecht hat sich dennoch darum bemüht, sich an den äusseren Verlauf der chinesischen Geschichte und an die persönlichen Daten des Konfuzius zu halten…
War Brecht früher von der Schlichtheit der Lehrgespräche im Lun yu beeindruckt, so scheint er auch jetzt nicht gerade die Benehmenslehre Kungs zu verwerfen, sondern den Zustand, der diese Lehre bloss zu einer Zeremonienlehre werden lässt. Auch der Kampfgeist des Lehrers sollte zur Geltung gebracht werden. Wenn auch im Zweifel an der historischen Authentizität seiner Deutung, wollte Brecht die Komik zum Vorschein bringen, die sich aus der Spannung zwischen dem überholten Ideal des politisch-gesellschaftlich engagierten Philosophen und der im Umbruch begriffenen Realität zwischen dem Ernst und der Wirkungslosigkeit des „Reformators“ ergibt.
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 202. (Gel2, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
17 1940 Bertolt Brecht schreibt im Arbeitsjournal : ich lese über das leben des Konfutse. Was das für ein lustiges stück wäre ! der zwanzigjährige ist pacht- und steuereintreiber des fürsten. aus seiner einzigen grösseren stellung, die der goethes in weimar gleicht, wird er verdrängt durch kurtisanen und pferde, die der fürst bekommt. man denkt an den wimarer hund. dann zieht er 20-30 jahre herum, einen fürsten zu finden, der ihn reformen machen liesse. man lacht überall über ihn. er stirbt überzeugt, dass sein leben ein fehlschlag und durchfall gewesen sei. – man müsste all dies humoristisch behandeln und dazwischen, unvermittelt, seine lehre bringen, soweit sie noch weise erscheint. allein die szene, in der er die geschichte lus verfasst, sich an die wahrheit haltend, würde das stück verlohnen.

Yim Han-soon : Die geistige Verwandtschaft zwischen Konfuzius und Goethe mit ihren falschen Idealen und asozialen Einflüssen hat Brecht nachhaltig beeindruckt. Während seiner Lektüre der Konfuzius-Biographie von Carl Crow [ID D3398] entdeckt er ausserdem noch aufschlussreiche Vergleichspunkte in ihrer politischen Tätigkeit, die er bald in einem Stück zu bearbeiten gedenkt… Die Verbindung von Konfuzius und Goethe bleibt eine vorübergehende Überlegung. Der Plan ist missglückt einerseits durch die unterschiedliche Haltung des Autors zu den beiden Persönlichkeiten und andrerseits wegen der Beschaffenheit des Stoffes. Während Brechts Ansicht über Goethes Persönlichkeit beinahe durchweg negativ geblieben ist, hat sich Brechts Verhältnis zu Konfuzius zwischen Lob und Tadel zwiespältig entwickelt, wobei in bestimmten Punkten die positiven Eindrücke überwiegen.
18 1942 Bertolt Brecht schreibt an Karin Michaelis, die ihn und Helene Weigel 1933 aufgenommen hatte : Unsere Literaturgeschichte zählt nicht so viele exilierte Schriftsteller auf wie etwa die chinesische ; wir müssen uns damit entschuldigen, dass unsere Literatur noch sehr jung ist und noch nicht kultiviert genug. Die chinesischen Lyriker und Philosophen pflegten, wie ich höre, ins Exil zu gehen wie die unseren in die Akademie. Viele flohen mehrere Male, aber es scheint Ehrensache gewesen zu sein, so zu schreiben, dass man wenigstens einmal den Staub seines Geburtslandes von den Füssen schütteln musste.
19 1942 Brecht, Bertolt. Der gute Mensch von Sezuan [ID D12785].
Brecht schreibt : Alle Folklore habe ich sorgfältig vermieden. Andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische Weissbrote essenden Gelben einen Witz zu machen… Zur Diskussion steht : Soll man nur die sozialen Anachronismen beibehalten ? Die den Göttern (und der Moral) auf den Leib rückende Industrie, die Invasion europäischer Gebräuche, damit bewegte man sich noch auf realem Boden. Aber weder Industrie noch Europäertum wird den Reis mit dem Brot ersetzen. Hier hat man dann das Chinesische als reine Verkleidung und als löchrige Verkleidung !
Die Studien in amerikanischer Umgangssprache machen mir Vergnügen. Dasselbe gilt von den Studien in chinesischen Sitten, die ich gleichzeitig begonnen habe. Die chinesischen Sitten studiere ich nicht bei den Chinesen selber, von denen es hier wie in New York genügend Exemplare gäbe, sondern aus einem kleinen Buch, von dem ich natürlich nicht weiss, ob es sehr verlässlich ist.
Er schreibt 1940 : Li Gung (die spätere Shen Te) musste ein Mensch sein, damit sie ein guter Mensch sein konnte. Sie ist also nicht stereotyp gut… und Lao Gu (der spätere Shui Ta) ist nicht stereotyp böse usw. scheint nun halbwegs gelungen, das grosse Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem ‚du sollst zu andern gut sein’ das ‚du sollst zu dir selbst gut sein’ musste sich zugleich abheben von der Fabel und sie doch beherrschen.

Liu Weijian : Brecht baut in diesem Stück das Gleichnis von Zhuangzi ein : "In Sung ist ein Platz namens Dornheim. Dort gedeihen Katalpen, Zypressen und Maulbeerbäume. Die Bäume nun, die ein oder zwei Spannen im Umfang haben, die werden abgehauen von den Leuten, die Stäbe für ihre Hundekäfige wollen. Die drei, vier Fuss Umfang haben, werden abgehauen von den vornehmen und reichen Familien, die Bretter suchen für ihre Särge. Die mit sieben, acht Fuss Umfang werden abgehauen von denen, die nach Balken suchen für ihre Luxusvillen. So erreichen sie alle nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde durch Säge und Axt. Das ist das Leiden der Brauchbarkeit".
Die "Leiden der Brauchbarkeit" illustriert Brecht vor allem mit der Figur Shen Te, die von den drei Göttern, die auf der Suche nach einem guten Menschen auf die Erde kommen, als Vorbild der Tugenden gepriesen wird… Laozi glaubt, dass die Gesetze nicht nur die sozialen Probleme bestätigen, sondern auch falsches Verhalten herausfordern. So verschafft Brecht seiner Laozi angenäherten Meinung Ausdruck, dass die Gesetze nicht nur die Ungerechtigkeit der Gesellschaft reflektieren, sondern auch das unmenschliche Verhalten verursachen.

Antony Tatlow : Das Stück hat eigentlich mit dem chinesischen Theater nichts oder nicht viel zu tun. Gleichzeitig sind jedoch die Motive sehr chinesisch. Mengzi zum Beispiel, tritt für das Recht des einzelnen auf sein Glück ein und behauptet, dass der Mensch dazu gezwungen werden muss, Böses zu tun. Brecht hat Mengzi gelesen und er hat starken Eindruck auf ihn gemacht. Betrachtet man das Stück vom chinesischen Gesichtspunkt aus, geht sofort auf, wie europäisch es ist.

Yeh Fang-xian : Zahlreiche Pläne und Korrekturen zeigen, dass Brecht grosse Schwierigkeiten gehabt hat, die europäischen Zustände in den chinesischen Hintergrund zu intergrieren. 1940 hat er im Arbeitsjournal geschrieben : wir grübeln noch über der frage : brot und milch oder reis und tee für die Sezuanparabel. Natürlich, es gibt in diesem sezuan schon flieger und noch götter. Alle folklore habe ich sorgfältig vermieden. andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische weissbrote essenden gelben einen witz zu machen… hier hat man dann das chinesische als reine verkleidung und als löchrige verkleidung.
Das Thema des Stückes handelt von dem Konflikt zwischen den moralischen Vorschriften und dem bösen Verhalten der Menschen, von dem schlechten Zustand der Welt, in der niemand ein guter Mensch bleiben kann. Das Thema wird durch ein Experiment mit drei Göttern eingeführt und durch die Spaltung der Hauptfigur Shen Te entfaltet… Brecht kehrt die alte Geschichte um, damit die bürgerliche Moral verspottet wird. Dabei verstärkt die exotische, chinesische Umgebung die Verfremdungseffekte. Die Frage, ob die Welt bleiben kann oder verändert werden muss, hängt also vom Erfolg der Mission der Götter ab… Die Armut wird der Moral gegenüber gestellt. Wo die grosse Armut herrscht, können die moralischen Vorschriften nicht mehr gehalten werden.

Adrian Hsia : Brecht erkennt mit Mozi, dass die zwischenmenschliche Beziehung mit der materiellen Grundlage der Gesellschaft in ursächlichem Zusammenhang steht. An sich herrscht der Idealzustand im Staat, in dem Tugenden nicht nötig sind. Brecht schreibt : Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit, Unbestechlichkeit, Aufopferung, Disziplin, all das ist nötig, um ein Land so umzuformen, dass um zu leben keine besonderen Tugenden mehr nötig sind. Man kann sagen, dass es ja gerade die elenden Zustände sind, welche solche Extraanstrengungen nötig machen… Brechts besitzt des Werk des Mengzi. Brecht und Mengzi stimmen darüber überein, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Shen Te verwandelt sich immer häufiger durch den Zwang ihrer Umwelt in Shui Ta.
Brecht verwendet das Gleichnis des "Leidens der Brauchbarkeit" von Zhuangzi um die christliche Nächstenliebe Shen Tes zu verfremden. Dadurch wird die Unmöglichkeit der Nächstenliebe im gegebenen Gesellschaftssystem aufgezeigt.

Yuan Tan : Das Stück entsteht zwischen 1939 und 1941 in vier verschiedenen Ländern und fällt in die unruhigste Zeit Brechts.
Im Vorspiel erzählt Wang, ein obdachloser Wasserverkäufer in Sezuan, von der grossen Armut in der Stadt. Nur noch die Götter könnten den Leuten in der aussichtslosen Situation helfen. Shen Te ist eigentlich "der beste Mensch" in Sezuan. Sie erweist sich als gut, weil sie zu Anderen immer hilfsbereit und weil sie nützlich ist. Sie möchte auch gut sein und Gutes tun, weil die gute Tat den Täter selbst angenehm macht. Aber gerade wegen dieser Nützlichkeit und Güte wird sie von den "Nachbarn ohne Herz" ausgenutzt, so dass ihre eigene Existenz bedroht wird.
In unserm Lande
Braucht der Nützliche Glück. Nur
Wenn er starke Helfer findet
Kann er sich nützlich erweisen.
Die Guten
Können sich nicht helfen, und die Götter sind machtlos.
Shen Tes Monolog und Zuangzis Gleichnis stimmen im Hauptpunkt überein : Der Nützliche leidet wegen seiner Nützlichkeit. Aber es gibt auch einen Unterschied. Zhuangzi zeigt nur Fassungslosigkeit und Pessimismus gegenüber der verkommenen Welt. Er sieht keine Lösung für das Leiden der Brauchbarkeit. Brecht bestätigt zwar die Fassungslosigkeit der Guten und Götter gegenüber dem gesellschaftlichen Zustand, findet aber für Shen Te eine Lösung : Mit Glück und starkem Helfer kann sich der Nützliche gerfolgreich als das erweisen, was er seiner Natur nach ist. Der böse Vetter Shui Ta ist der starke Helfer und ihr einziger Freund. Shen Tes doppeltes Rollenspiel wird vor allem durch eine Maske verdeutlicht. Während Zhuangzi die Aufbewahrung des Lebens und die Anpassung an die Welt betont, stellt Brecht die Ordnung der Welt in Frage. Für den Widerspruch, dass der gute Mensch "zu gut" für diese Welt ist und nicht gut bleiben kann, findet sich nur eine Erklärung, wie Shen Te vor den Göttern klagt : "Etwas muss falsch sein an eurer Welt". Wo Zhuangzi von der Anpassungsmöglichkeit des Menschen spricht, verweist Brecht auf die Verbesserungsmöglichkeit der Welt an.

Christoph Gellner : In der Neufassung (1953), die Brecht unter dem Eindruck der siegreichen kommunistischen Revolution in China geschrieben hat, ist ganz ausdrücklich vom Umbau der Gesellschaft als Voraussetzung einer grundlegenden Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens die Rede.

Ingrid Schuster : Ein neuer Mensch in chinesischem Kleid findet sich in Der gute Mensch von Sezuan. Der Konflikt zwischen Hingabe und Selbsterhaltung wird in diesem Drama auch äusserlich - durch die doppelte Identität der Heldin Shen Te - deutlich gemacht. Als Shui Ta ist sie männlich-aktiv, greift in die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Stadt ein, gründet eine Fabrik. Doch dieser Weg führt in die Unmenschlichkeit. Als Shen Te ist sie weiblich-hingebend und tut allen Menschen Gutes. Dadurch bringt sie sich jedoch um ihre Existenzgrundlage.

Yim Han-soon : Das Gleichnis ist für Brecht ein treffendes Beispiel für die These, dass sich die Ordnung und die Unordnung „an ein und demselben Platz“ aufhielten. Aus seiner Sicht ist Zhuangzi wohl wie Hegel ein Humorist und Dialektiker, allerdings ein resignierter. Brecht schreibt „Dschuang-tsi zeigt in den Leiden der Brauchbarkeit, dass die Unnützesten die Glücklichsten sind“.
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 150-151. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 137-138, 145-146, 153-154. (Hes80, Publication)
  • Document: Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. S. 229-230, 234, 236. (Gel2, Publication)
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 48. (Schu5, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 200, 214. (Tan10, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
20 1952 Klaus Völker berichtet über Bertolt Brechts Verbundenheit mit China unter der Führung von Mao Zedong, dass Brecht im Sommer 1952 deprimiert über das Kleinbürgertum in der DDR und die Remilitarisierung in Westdeutschland war und mit Freunden über die Möglichkeit eines chinesischen Exils gesprochen habe.

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)