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“Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht” (Publication, 1996)

Year

1996

Text

Gellner, Christoph. Weisheit, Kunst und Lebenskunst : fernöstliche Religion und Philosophie bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Mainz : Matthias-Grünewald-Verlag, 1996). (Theologie und Literatur ; Bd. 8). Diss. Univ. Tübingen, 1996. (Gel2)

Type

Publication

Contributors (1)

Gellner, Christoph  (Karlsruhe 1959-) : Theologe, Lehrbeauftragter für Theologie und Literatur, Christentum und Weltreligionen Universität Luzern

Mentioned People (2)

Brecht, Bertolt  (Augsburg 1898-1956 Berlin) : Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur

Hesse, Hermann  (Calw 1877-1962 Montagnola) : Schriftsteller

Subjects

Literature : Occident : Germany / References / Sources

Chronology Entries (29)

# Year Text Linked Data
1 1911 Julius Grill. Lao-tsze. Buch vom höchsten Wesen und vom höchsten Gut [ID D11979].
Grill schreibt : Wie die Einleitung und das Verzeichnis der neutestamentlichen Parallelen im Anhang zu den Erläuterungen zeigen wird, stossen wir bai Lao-tzse [Laozi] auf die merkwürdigsten Vorausnahmen der ethischen Grundgedanken Jesu. Tatasche ist es, dass zur Zusammenstellung von Lao-tzse und Jesus eine ganz eigenartige Verwandtschaft der beiden Männer berechtigt, eine in ihrer gleichartigen Gemütslage begründete wundersame Übereinstimmung des philosophischen Geistes im einen mit dem religiösen im andern.

Hermann Hesse schreibt in der Rezension : Dass es in China grosse Philosophen und Ethiker gegeben hat, deren Kenntnis für uns nicht weniger wertvoll ist als die der Griechen, Buddhas und Jesus, das ist noch immer wenig bekannt. Ist doch der grösste Weise in seiner eigenen Heimat nie recht populär geworden und neben Konfuzius immer im Schatten geblieben. Seine Lehre vom Tao, um Urprinzip des Seins, könnte uns als philosophisches System gleichgültig bleiben, enthielte sie nicht eine so persönlich-kräftige, grosse und schöne Ethik… die der christlichen entschieden nähersteht als der indisch-buddhistischen.
  • Document: Grasmück, Oliver. Geschichte und Aktualität der Daoismusrezeption im deutschsprachigen Raum. (Münster : LIT Verlag, 2004). (Religionen in der pluralen Welt ; Bd. 2). S. 41. (GraO1, Publication)
  • Person: Grill, Julius
  • Person: Hesse, Hermann
  • Person: Laozi
2 1914 Hermann Hesse schreibt : Der ganze Osten atmet Religion, wie der Westen Vernunft und Technik atmet. Primitiv und jedem Zufall preisgegeben scheint das Seelenleben des Abendländers, verglichen mit der geschirmten, gepflegten, vertrauensvollen Religiosität des Asiaten… hier zeigt der Vergleich eine Stärke des Ostens, eine Not und Schwäche des Abendlandes.
3 1914 Hesse, Hermann. Erinnerung an Asien. In : März ; Jg. 8 (1914).
Er schreibt : Bei den Chinesen war von allem Anfang an der Eindruck eines Kulturvolkes da, eines Volkes, das in langer Geschichte geworden und gebildet ist und im Bewusstsein der eigenen Kultur nicht nach rückwärts, sondern in eine tätige Zukunft blickt… Den Chinesen gegenüber war mein Gefühl zwar stets eine tiefe Sympathie, aber gemischt mit einer Ahnung von Rivalität, von Gefahr ; mir schien, das Volk von China müssen wir studieren wie einen gleichwertigen Mitbewerber, der uns je nachdem Freund oder Feind werden, jenfalls aber uns unendlich nützen oder schaden kann…
Nach dem Besuch eines chinesischen Theaters schreibt er : Es gibt in Europa kein einziges Opernhaus, in dem Musik und Bewegungen des Bühnenbildes so tadellos, so exakt und harmonisch miteinandergehen wie hier in dieser Bretterbude… Es ist klar, dass kein Import aus Osten uns hier helfen kann, kein Zurückgehen auf Indien oder China, auch kein Zurückflüchten in ein irgendwie formuliertes Kirchenchristentum. Aber es ist ebenso klar, dass Rettung und Fortbestand der europäischen Kultur nur möglich ist durch das Wiederfinden seelischer Lebenskunst und seelischen Gemeinbesitzes. Dass Religion oder deren Ersatz das ist, was uns zutiefst fehlt, das ist mir nie so unerbittlich klar geworden wie unter den Völkern Asiens.

Adrian Hsia : Hesse hat nur die Chinesen Hinterindiens kennen gelernt. Er wusste nichts vom Elend des Volkes und von der Korruption der gebildeten Schichten. Auch wusste er nichts von der Unterdrückung und Ausbeutung der Chinesen durch die Kolonialmächte… Deshalb sah er die Chinesen vielleicht etwas idealisiert…Hesses Sympathie und Bewunderung für die Chinesen haben ihn nach der Rückkehr bewogen, sich die chinesische Philosophie und Literatur weiter zu erschliessen.
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 64-66. (Hes2, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
4 1920 Hermann Hesse schreibt an seinen Vetter Wilhelm Gundert nach Tokyo : Ein latentes, anderes Deutschland zu befördern, das nicht nur Goethe, Hölderlin und Nietzsche innig kennt und liebt, sondern auch Laotse, und das ganz vom instinktiven Wissen seiner Aufgabe durchdrungen ist : Chaos und mütterliches Asien nach Europa hereinzutragen.
5 1920 Bertolt Brecht liest bei Frank Warschauer in Baden-Baden zum ersten Mal Dao de jing von Laozi und schreibt in sein Tagebuch : Warschauer glaubt an Fortschritt und dass ein Lurch eben nicht anders kann als irgendeinmal ein Affe werden. Aber er zeigt mir Laotse, und der stimmt mit mir so sehr überein, dass er immerfort staunt.
  • Document: Felbert, Ulrich von. China und Japan als Impuls und Exempel : fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1986). (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; Bd. 9). S. 70. (Döb3, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
6 1921 Christoph Gellner : Hermann Hesse unterzieht sich psychotherapeutischen Behandlungen bei Carl Gustav Jung. Es ist denn auch dieser Zusammenklang von asiatischer Philosophie und Psychoanalyse, die Sehnsucht nach einer Synthese aus östlicher Entselbstungslehre und abendländischer Aktivität, wovon sich Hesse die Wiedergeburt des europäischen Geistes verspricht… Das was Hesse in der Jugend an der Lehre des Buddha bewundert – diese Vernünftigkeit und Gottlosigkeit, diese unheimliche Exaktheit und dieser Mangel an Theologie, an Gott, an Ergebung – gerade das, was er unter den buddhistischen Priestern auf Ceylon vergeblich gesucht hatte, das empfand er nun als ausgesprochenen Mangel… Im selben Masse, wie es Hesse in der Psyhotherapie gelang, seine eigene traumatische religiöse Sozialisation im pietistischen Protestantismus aufzuarbeiten, im selben Masse vermochte er sich allmählich auch von seiner pessimistisch-resignativen Buddhismusschwärmerei der Vorkriegszeit zu lösen…
7 1921 Klabund. Laotse. Mensch, werde wesentlich. [ID D11984].
Er schreibt im Nachwort : Der östliche Mensch ist der Weise, der Helle, der Heilige, der Wesentliche. Zu werden wie er, zu sein wie er : ruft er uns zu ; denn wir sind müde des funktionellen, des mechanischen, des rationellen Da-seines und Dort-denkens. Der Relativismen des Wissens und der Wissenschaft. Der unfruchtbaren Dialektik. Des geistigen Krieges aller gegen alle. Die Sehnsuch nach einem wahren Frieden der Seele, dem absoluten Sinn in sich und an sich ist deine tiefste Sehnscuht, Mensch !

Kuei-fen Pan-hsu : Klabund überträgt 29 von den 81 Sprüchen des Tao de jing. Er hält die ursprüngliche Reihenfolge nicht ein, sondern ordnet sie nach eigenen Intentionen, die besonders den politischen und ethnischen Bereich in den Vordergrund stellen. Für das chinesische Wort „Dao“ verwendet er durchgegend den Begriff „Sinn“. Den Begriff „De“ überträgt der mit „Sein“. „Sein“ bedeutet für ihn ein vom Dao bzw. vom Sinn erfülltes Leben. Die Begriffe scheint er von Richard Wilhelm übernommen zu haben. Wichtig ist der Untertitel nach Silesius : Klabund sieht Laozi mit dem deutschen Mystiker verwandt. Die daoistische naturphilosophische Anschauung wird mit der Innenschau von Silesius gleichgesetzt, nämlich in der Sich-Versenkung die Grenzen zwischen dem Ich und dem Göttlichen zu überwinden – im Fall des Daoismus, in dem nichtseienden und doch alles umfassenden Dao aufzugehen… Klabund hält sich an die Bedeutung des Originaltextes, ändert oder ergänzt aber Wörter, Sätze, um so einen besseren Klang zu erzielen. Dadurch entsteht an einigen Stellen eine Abweichung der ursprünglichen Bedeutung…
  • Document: Pan-Hsu, Kuei-fen. Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds : eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk. (Frankfurt a.M. : P. Lang,, 1990). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1179). Diss. Univ. Hamburg, 1988. S. 120-121, 129. (Pan2, Publication)
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 47. (Schu5, Publication)
  • Person: Klabund
  • Person: Laozi
8 1922 Hesse, Hermann. Siddhartha : eine indische Dichtung. (Berlin : S. Fischer, 1922).
Hermann Hesse schreibt : Keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre. Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden… aber sagen und lehren kann man sie nicht.

Er schreibt an Felix Braun : Der Weg des Heraklius ist auch mir vertraut, ich spinne schon lang an etwas Ähnlichem, an etwas in indischem Kleid, das von Brahman und Buddha ausgeht und bei Tao endet.

Er schreibt an Stefan Zweig, nachdem er dessen Legende Die Augen des ewigen Bruders gelesen hat : Schon als ich Ihre Legende vom gerechten Richter las, schien mir dies meinem Siddhartha ein wenig verwandt zu sein. Mein Heiliger ist indisch gekleidet, seine Weisheit steht aber näher bei Lao Tse [Laozi] als bei Gotama. Laotse ist ja jetzt in unserem guten armen Deutschland sehr Mode, aber fast alle finden ihn doch eigentlich paradox, während sein Denken gerade nicht paroadox, sondern streng bipolar, zweipolig ist, also eine Dimension mehr hat. An seinem Brunnen trinke ich oft.

Liu Weijian : Für Hesse stellt die Einheit der Polarität einen Weg zur Selbstverwirklichung des Menschen dar. Er befreit sich von der christlich-bürgerlichen Ethik und will seinen eigenen, von der taoistischen Einheit der Polarität geprägten Werten suchen. Er ist überzeugt, dass er die tatsächliche Erlösung allein durch die beharrliche Suche nach dem Selbst erlangen kann : Der Weg der Erlösung führt nicht nach links und nicht nach rechts, er führt ins eigene Herz, und dort allein ist Gott, und dort allein ist Friede.
Hesse schreibt in einem Brief (1923) darüber : Nicht bloss drei Jahre voll Arbeit und schwerem Erleben, sondern auch mehr als zwanzig Jahre einer inneren, vielfältigen Beschäftigung mit ostasiatisches Weisheit.

Adrian Hsia : Nicht zufällig wählt Hesse das strömende Wasser als die unpersönliche Verkörperung des Tao. Denn der Fluss ist Inbegriff aller Wandlung… Die Vermutung liegt nahe, dass Hesse in seinem Siddhartha nicht nur die Lehren, sondern auch die Person des Lao Tse [Laozi] dargestellt hat. Diese Vermutung wird zusätzlich bestätigt durch Hesses Äusserung, Siddhartha ende im Tao.

Liu Weijian : Die Erlösungslehre verspricht Siddhartha das Nivana nur im Jenseits, während er einen Ausweg im vielfältigen, beweglichen Diesseits sucht. So kann ihn Buddhas Heilversprechten nicht befriedigen. Ausserdem kann er Buddhas Ablehnung des Bösen als Voraussetzung zum Nirvana nicht akzeptieren… Er steht Laozi näher, dem nicht der Erwerb des Wissens anderer, sondern die Selbsterkenntnis Lebensweisheit bedeutet : Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selber kennt, ist weise. Hesse greift diese Idee auf und stellt sie weiterhin in Zusammenhang mit einem einheitlichen Weltbild… Siddhartha muss das weltliche äussere Leben auskosten, um dann zum inneren Wesen des Ich zurückzukehren… Siddharthas Liebe zu den Menschen und sein Hineinversetzen in die Dinge verrät Hesses Einsicht in die daoistische Dialektik. Er lässt Siddhartha zur Erkenntnis kommen, dass Weich stärker ist als Hart, Wasser stärker als Fels, Liebe stärker als Gewalt… So wird der Gedanke, dass der Mensch über die die zwei Erfahrungsbereiche Yang und Yin, der Welt des Geistigen und der Welt des Irdischen, hinausgeht und sich in einem dritten Bereich, dem des Tao, findet…
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 237-248. (Hes2, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 6-73. (LiuW1, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
9 1922 Hermann Hesse schreibt an einen seiner Leser : So werden Sie vermutlich ganz von selber mit der Zeit sich dem Gedanken der Einheit nähern, werden Laotse [Laozi] oder Buddha und andere Weise und Heilige finden und werden dann auch die Bibel, namentlich das Neue Testament ganz anders lesen als früher.
10 1923 Brecht, Bertolt. Im Dickicht der Städte [ID 12672].
Quelle : Wilhelm, Richard. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Brecht schreibt : Es ist ein Kampfstück, östlich-westlich... Ort : die Hinterwelt...
...man soll sich damit begnügen, das Asiatentum des Shlink durch einen schlichten gelben Anstrich anzudeuten, und ihm erlauben, sich zu benehmen, wie ein Asiate, nämlich wie ein Europäer...

Liu Weijian : Brecht spricht davon, dass er einen „neuen Typus Mensch“ gestalten will, „der einen Kampf ohne Feindschaft mit bisher unerhörten, das heisst noch nicht gestellten Methoden“ führt : das taoistische Motiv des Wuwei in der Formulierung „durch Passivsein zu siegen“. Das Wuwei wird dabei konsequent als Aufhebung der Individualität thematisiert. Es dient dazu, „den oberflächlichen Firnis des Individualismus in unserer Zeit“ zu verspotten und eine neue, zeitgemässe Lebensform zu suchen.

Christoph Gellner : Brecht führt vor der exotisch stilisierten Kulisse des verkommenen Chicagoer Chinesenviertels den „unerklärlichen Ringkampf“ zwischen dem reichen, alternden malaischen Holzhändler Shlink und dem jungen, mittellosen Leihbüchereiangestellten George Garga vor Augen… Nichts macht die Verfremdungsabsicht augenfälliger als die Figur des verschlagenen, reisessenden Asiaten Shlink, der seinen Kontrahenten durch die asiatische Kampfform scheinbarer Passivität zu bezwingen sucht. Garga, der die Kampfesweise des Chinesen, durch Passivsein zu siegen, durch Erleiden Macht zu bekommen, allmählich selbst übernimmt und so am Ende überlebt, rückt diese listige Taktik denn auch in eine unübersehbare Nähe zum chinesisch-taoistischen Nichthandeln (Wuwei) und dem Ursymbol altchinesischer Dialektik im Dao de jing.

Adrian Hsia : Brecht wollte, dass Shlink stets mit einem gelben Gesicht auftritt, damit sein rassischer Ursprung dem Publikum ständig vor Augen gehalten wird und er soll sich genau nach seinem Chinesenbild benehmen, nämlich schlau und verstohlen sein. Ausserdem sollen sein Ursprung und seine Sprache – Chinesisch – die Unmöglichkeit des menschlichen Kommunizierens aufzeigen. Der taoistischen Anschauung nach besiegt das Schwache, symbolisiert unter anderem durch das Wasser, das Starke. Auf jeden Fall überlebt das Schwache, während das Starke leicht zerbricht. „Und das Geistige, das sehen Sie, das ist nichts. Es ist nicht wichtig, der Stärkere zu sein, sondern der Lebendige“.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 21. (Yim1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 124, 130. (LiuW1, Publication)
  • Document: Han, Ruixin. Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1993). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1421). Diss. Univ. München, 1993. (HanR1, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
11 1924 Aufführung von Tretiakov, Sergei. Brülle, China ! in Jena. Erstmals wird auf einer deutschen Bühne die unterdrückten chinesischen Volksmassen im Kampf gegen die europäischen Kolonialmächte gezeigt.
12 1926 Hermann Hesse schreibt : Auf die vom Krieg aufgewühlte studierende Jugend Deutschlands, hat, nächst Dostojewski, in den letzten Jahren gewiss kein anderer Geist so stark gewirkt wie Laotse [Laozi].
13 1928 Während des Kölner Rundfunkgesprächs mit Herbert Ihering und Fritz Sternberg, kann Bertolt Brecht seine Versuche mit dem epischen Theater in eine historische Kontinuität zur asiatischen Theatertradition stellen : Die Anfänge des Naturalismus, der die grossen bürgerlichen Romane der Franzosen und Russen für die Bühne adaptierte, waren die Anfänge des epischen Theaters in Europa. Andere Kulturkreise, China und Indien, hatten diese fortgeschrittenere Form schon vor zweitausend Jahren.
14 1929 Brecht, Bertolt. Geschichten vom Herrn Keuner. In : Brecht, Bertolt. Der Flug der Lindberghs : Radiolehrstück für Knaben und Mädchen. Radiotheorie. Geschichten vom Herrn Keuner. (Berlin : G. Kiepenheur, 1930). (Versuche / Brecht ; 1-3).
Quelle : Wilhelm, Richard. Dschuang Dsi [ID D4447].

Brecht schreibt : Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi [Zhuangzi] verfasste noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt.

Christoph Gellner : Angeregt durch seine intensive Beschäftigung mit altchinesischer Philosophie entsteht eine völlig neuartige Form philosophisch-didaktischer Kurzprosa, eine Sammlung von Denk- und Haltungsbildern, die dem Leser anschauende Erkenntnis vermitteln. Im schöpferischen Zusammenspiel von Alt und Neu, von Tradition und Innovation wird darin erstmals für die Fernostrezeption eine Verschränkung von chinesischer und marxistischer Philosophie greifbar, mit der Brecht in der Tat die Wiedergewinnung einer alten unter Hinzugewinnung einer neuen Dimension von Weisheit intendiert… Brecht lehnt sich sehr stark an altchinesische Formen des Philosophierens an, in denen sich auch tatsächlich Gehalte unserer Zeit behandeln lassen… Brecht ist der erste in der deutschsprachigen Literatur, der Mozis Schriften zur Kenntnis nimmt. In seinem Exemplar Me Ti in der Übersetzung von Alfred Forke [ID D669] gibt es zahlreiche Anstreichungen und Randbemerkungen. Er hat in Keuner keine einzige Gesprächspassage aus dem Me Ti übernommen, Übereinstimmungen und Parallelen sind weniger im Inhaltlich-Thematischen zu suchen als vielmehr auf der Ebene der Darstellungsform. Es ist in erster Linie das didaktische Formmuster, der aphorisch-apothegmatische Rede- und Erzählgestus der Lehre Mozis, die als Denkanregung dient.

Adrian Hsia / Song Yun-yeop : Die Keuner-Geschichten stellen auch das Resultat der Beschäftigung Brechts mit Mozi dar. Yun-yeop Song hat nachgewiesen, das sich sowohl die dialogische Form als auch die Methodik der Belehrung zwischen Mozis Werk und der Keuner-Geschichten so sehr ähneln, dass man von einem kreativen Einfluss sprechen kann. Mozi zeichnete sich von anderen chinesischen Philosophen durch sein logisches Denken aus. Alfred Forke sagt : Mozi habe die Logik in die chinesische Philosophie eingeführt. Die logische Schlussfolgerung als didaktisches Moment und der Nützlichkeitsgedanke als Altruismus bringen Brecht und Mozi zusammen. Beide bedienen sich einer verfremdeten Andeutung, um den Leser aus der gewohnten Routine des Alltagslebens zu erwecken und aufhorchen zu lassen. Es kommt in diesem Moment keine Belehrung, keine Moralpredigt vor, sondern bloss ein Fingerzeig der logischen Gedankenführung, die die Fähigkeit des Unterscheidungsvermögens im Sinne der Nützlichkeit der Gemeinschaft schärft und somit zum logischen Denken zwingt und schult. Dass Mozi als Vorlage dient, zeigen besonders die frühen Keuner-Geschichten, in denen Keuner als Meister auftritt, der Fragen seiner Schüler beantwortet. Die gesellschaftlichen oder sonstigen Misstände sollen durch Verfremdung auffallen und somit in Frage gestellt werden.

Ein wichtiges Thema in den Keuner-Texten, das an die Haltung des Konfuzius erinnert, ist die Art und Weise des Lernens und das emanzipatorische Lehrer-Schüler-Verhältnis… Wahre Liebe bedeutet für Keuner wie für Konfuzius keine Hingabe oder Hinnahme dessen, was einer ist, sondern, von der Seite des Liebenden, eine selbstbewusste und gesellschaftliche Tätigkeit mit dem Ziel, die potentiellen Fähigkeiten des Geliebten zu entdecken und ihnen zur Entfaltung zu verhelfen.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 51, 146. (Yim1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Karlsruher Virtueller Katalog : http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. (KVK, Web)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Forke, Alfred
15 1929 Bertolt Brecht schreibt über Konfuzius : Die Geschichte des Kung futse zeigt, wie gering der Erfolg der erfolgreichsten Lehrer der Menschheit war. Er beabsichtigte, die Staatsform seiner Zeit zu einer ewigen zu machen durch die allgemeine Hebung der Sittlichkeit. Aber die Sittlichkeit verfiel, solange diese Staatsform dauerte, und es war ein Glück, dass sie nicht ewig dauerte. Vieles versprach er sich von der Ausübung der Musik. Aber seine Ausführungen darüber behielt das Volk länger als die Musik. In bezug auf die Religion war er in seinen Äusserungen vorsichtiger und sagte wenig, und dieses Schweigen war schuld daran, dass der Aberglauben bei seinen Anhängern mehr wuchert als sonstwo. Seine Urteile, längst vergangene Lebensformen betreffend, wären längst ungerecht geworden, hätte man sie wiederholt, aber seine Haltung war die der Gerechtigkeit.
16 1929-1930 Hanns Eisler schreibt : Die chinesische Philosophie hat Brecht gerade in den Jahren 1929/30 sehr beeinflusst. Ich meine als Denkanregung… Es gab damals eine ausgezeichnete sinologische Gesellschaft, und es kamen Publikationen, vermutlich handelt es sich dabei um die „Chinesischen Blätter“ des Frankfurter China-Instituts von Richard Wilhelm oder um die Wilhelmschen Klassiker-Übertragungen, von denen sich einige Bände auch in Brechts Bibliothek in Ostberlin fanden – Brecht hat das von seinen Freunden bekommen. Das war eine grosse Entdeckung für uns.

Adrian Hsia : Im Zusammenhang mit seinen Mozi-Studien preist Brecht Konfuzius’ persönliche Haltung, Charakter und Taktiken, verdammte aber seine Lehre. Er bezeichnet ihn als 'Musterknaben', dessen Haltung ungewöhnlich nützlich sei. Er schreibt : Indem man sein Beispiel an die Wand zeichnet, kann man ganze Geschlechter, ja ganze Zeitalter verdammen. Sein Idealbild ist ganz an ein Temperament bestimmter und seltener Art gebunden, und während beinahe alle Taten von Menschen, die gross zu finden die Menschheit sich gestatten kann, von Leuten dieses Temperaments kaum geleistet werden können, sind eine Unmenge von Verbrechen denkbar, die ein Mann begehen könnte, ohne auf die Anerkennung mancher Tugend zu verzichten, die den Konfutse ausgezeichnet hat.
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
17 1930 Brecht, Bertolt. Die Massnahme. In : Brecht, Bertolt. Der Jasager und Der Neinsager : Schulopern ; Die Massnahme : Lehrstück. (Berlin : G. Kiepenheuer, 1931). (Versuche / Brecht ; 11-12). [Geschrieben 1930].

Liu Weijian : Im Stück Die Massnahme führt Brecht das Wuwei-Motiv des Badener Lehrstücks fort.

Christoph Gellner : Brecht stellt an einem extrem zugespitzen Modellfall Fragen der Strategie, der Taktik und der revolutionären Moral im Klassenkampf zur Diskussion. Dabei kommt es ihm weniger auf die naturalistische Widerspiegelung realer Vorkommnisse im zeitgenössischen China als vielmehr auf die modellhafte Vereinfachung komplexer ethisch-politischer Grundwidersprüche und Verhaltensmuster an, die Zuschauer wie Mitspielende in einen aktivierenden Lern- und Erkenntnisprozess zu verwickeln. Es ist das erste Mal, dass der Name Mao Zedong in der deutschsprachigen Literatur vorkommt. Die Vorgänge spielen in einem chiffrenhaften China, das schon vorausweist auf das parabelhafte Sezuan des Guten Menschen oder das imaginäre Parabel-China des Tui-Romans, jenes Land der Mitte, das auf keiner Karte verzeichnet ist… Vier aus Moskau in die nordostchinesische Provinz Liaoning entsandte kommunistische Agitatoren stehen vor einem Parteigericht, dargestellt von einem Massenchor, der innerhalb des Stückes die kommunistische Partei vertritt. Um der proletarischen Revolution in der Mandschurei zum Durchbruch zu verhelfen, haben die vier in der Stadt Mukden illegale Propaganda getrieben und dabei einen ihrer Mitkämpfer, den jungen Genossen, erschiessen müssen.

Yeh Fang-xian : Es gibt Meinungsunterschiede über den historischen Hintergrund des Stückes. Die einen sehen die Massnahme ausschliesslich als Parabelstück für die deutsche Situation, die andern untersuchen die chinesische Revolution im Zusammenhang mit der internationalen kommunistischen Bewegung und vertreten die Meinung, dass Brecht die historische Situation in China genau getroffen habe.

Franz Xaver Kroetz : Es ist problematisch, dass Brecht auf Masken zurückgreift, die sich die Europäer überziehen, um Chinesen zu werden. Die Masken meinen Information über China, das Beherrschen der chinesischen Sprache, das Wissen um die Lage des chinesischen Proletariats, um die Macht und Schwächen der Herrschenden. Ich glaube, die Masken sind eine zu vordergründige Darstellung des ‚Hineinschlüpfens’ in ein anderes Volk und können den Inhalt nicht vermitteln.

Ulrich von Felbert : In der Maske erkennt Brecht die Möglichkeit, Mimik und Gestik voneinander zu trennen und dadurch den Demonstrationscharakter des Spiels zu verdeutlichen. Gleichzeitig lassen sich durch die Verwendung von Masken Verwandlungen symbolisierend verfremden.

Yim Han-soon : Das moderne China wird lediglich durch verelendete Kulis angedeutet.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 21. (Yim1, Publication)
  • Document: Felbert, Ulrich von. China und Japan als Impuls und Exempel : fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1986). (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; Bd. 9). S. 75, 78. (Döb3, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 133. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 139. (Hes80, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
18 1931 Brecht, Bertolt. Der Tui-Roman. In : Brecht, Bertolt. Turandot : oder, Der Kongress der Weisswächer. Der Tui-Roman (Fragment). (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1967). (Stücke ; 14).
Brecht schreibt : Die chimesische Revolution.
„Als Chima, das Land der Mitte, das auf keiner Karte verzeichnet ist, vier Jahre lang mit 37 Völkern im Krieg verharrt hatte, zeigte es zum Schrecken seiner Regierung Zeichen von Entmutigung. Bevor die Armeen, die alle auf feindlichem Boden kämpften, zu weichen und die Bevölkerung sich in einem Aufruhr zu erheben begann, hatten die Überlebenden ihre Toten schon in Papier begraben und Gras gegessen. Das Volk war eines der geduldigsten, über das je eine Regierung verfügt hatte, und auch sein Aufruhr war noch sanftmütig. Er entstand aus Ordnungsliebe. Die Soldaten mussten zurückgebracht werden, und die Offiziere waren wohl fähig, das heißt in den Schulen geschult, sie in Feindesland, aber weder durch Bücher noch durch Übungen darauf vorbereitet, sie in die Heimat zu führen. Einige Soldaten liefen tagelang herum, um Armbinden aufzutreiben, die sie als Ordner und Revolutionäre kennzeichnen sollten und, gründlich, wie sie waren, fanden sie solche ... “
„Es war die allgemeine Meinung, dass man die Ordnung, die überall ausbrach, als die Herrschenden ihren Krieg, den sie mit großem Gewinn, aber weniger äußerem Erfolg geführt hatten, aufgeben und verloren geben mussten, nur dem Bestehen einer revolutionären Partei verdankte, die sich sogleich an die Spitze der Bewegung des Volkes setzte. Diese Partei, die sich die Partei des gleichberechtigten Volkes nannte, da ihre Parole forderte, das Volk solle mit den Herrschenden gleichberechtigt sein, konnte in diesen allgemein als gefährlich angesehenen Tagen ihre historische Aufgabe nur deshalb erfüllen, weil sie schon seit langem bestand, ein hohes Alter erreicht hatte und aus dem politischen Leben schon gar nicht mehr wegzudenken war, und weil sie sehr groß war. Ohne diese Eigenschaften hätte sie kaum verhindern können, dass etwas geschah. Als die Front ins Wanken geriet, setzten sich einige der Tuis der revolutionären Partei in den Zug und fuhren in das Quartier der Generäle, um durch Reden die sinkende Moral der Truppen wieder zu heben. Sie wurden zu einem großen Haus geführt, das in einem Park lag, und es wurde ihnen gesagt, die Generäle säßen eben beim Essen und würden sie nach dem Kaffee empfangen. Sie standen ein paar Stunden vor dem Haus, in Gespräche vertieft. Da es regnete und sie, um nicht einen unmilitärischen Eindruck zu machen, ihre Regenschirme daheimgelassen hatten, wurden sie ziemlich durchnässt und froren. Sie befürchteten schon, man könne sie vergessen haben, als eine halbe Kompanie Soldaten, von denen einige rote Armbinden trugen, in den Hof kamen, ihnen mitteilten, die Revolution sei ausgebrochen und sie auf die Schultern hoben und als Führer begrüßten.Sie beruhigten sich schnell und es gelang ihnen, am Abend des übernächsten Tages doch noch bei einem Adjutanten eines der Generäle vorgelassen zu werden. Er versicherte ihnen, dass man den aufrührerischen Soldaten nichts in den Weg legen würde, wenn die Ordnung gewahrt bleibe.
Beinahe noch größeres Glück hatte die revolutionäre Partei in der Hauptstadt. Zu ihrer Überraschung fand sie, ohne lange suchen zu müssen, noch einen Prinzen, einen nahen Verwandten des Kaisers, der sich eben in jenen Tagen als Revolutionär entpuppte, den bisher nur seine hohe Stellung von der Äußerung seiner wahren Gefühle zurückgehalten hatte und der jetzt forderte, der Kaiser müsse ab- danken. Die Führer der revolutionären Partei hatten zunächst einige Bedenken, da ein solcher Fall nicht vorgesehen war, aber der Prinz handelte. Die Umgebung des Kaisers hielt die Nachricht von der Forderung des revolutionären Prinzen vor dem hohen Herrn einige Tage zurück, aber dann bekam er doch Wind von der Sache und fuhr, bevor man ihn besänftigen konnte, über die Grenze zu fürstlichen Verwandten.“

Brecht schreibt in einer Notiz zum Tui-Roman in bezug auf Mong Dsi [Mengzi] [ID D4448] : mong ko : in einer regierung müssen die philosophen geehrt und angesehen werden. am besten ist, sie regieren mit, damit ist meistens das volk einverstanden. sind sie nicht angesehen und regieren sie nicht mit, machen sie stunk.

Christoph Gellner : Der Tui-Roman, ein als chinesisch verfremdeter Schlüsselroman über die Weimarer Republik und ihre Intellektuellen spielt in einem Parabel-China (Chima). Er knüpft an die Tradition der fingierten orientalisierenden Satiren der Aufklärung an und ist folglich eine politische Parabel in chinesischem Gewand…
Die Weisheit des Volkes und das revolutionäre China Mao Zedongs bilden den Hintergrund der Komödie Turandot, mit der er erneut auf die Orientexotik und Theaterchinoiserie des 18. Jahrhunderts zurückgreift. Nicht zuletzt im Blick auf den zeitgenössischen Tuismus im eigenen Lande geschrieben, stellt dieses Alterswerk, das zu Brechts Lebzeiten unaufgeführt blieb, die einzige in sich abgeschlossene Bearbeitung des umfangreichen Tui-Stoffes dar… Analog zu den Ereignissen in der Weimarer Republik, die zur Machtgergreifung Hitlers führt, wird eine Geschichte aus China erzählt. Die öffentliche Meinung dort wird von professionellen Lügnern, den Tuis gemacht, die vom Handel mit brauchbaren Meinungen leben und so das Denken als schmutziges Geschäft betreiben. Ihr Leitspruch ist „Wissen ist Macht“… Kai-ho (Mao Zedong) gehörte ursprünglich auch zur Kaste der Tuis. Er gab den lügnerischen Meinungshandel jedoch zugunsten einer aufklärerischen Unterweisung der entrechteten Volksmassen auf und wird daraufhin aus dem Tui-Orden ausgestossen. Mit seiner revolutionären Bauernbewegung kämpft er für die gerechte Verteilung des Bodens, dem grundlegenden Produktionsmittel der Agrargesellschaft, um China endlich zu einem bewohnbaren Land zu machen.

Yim Han-soon : Da Brecht trotz der aktuellen Probleme einen chinesischen Kaiserhof als Schauplatz gewählt hat, fühlt man sich veranlasst, in der Fabel Berührungspunkte mit China zu suchen. Die Personen- und Ortsnamen sind schinesisch, auf der Bühne sieht man Papierfenster und ein Rollbild, man spielt Brettspiele. Die Kostüme sind Mischungen, basierend auf den chinesischen, und die Tuis tragen Hüte der tibetanischen und europäisch priesterlichen Art.
Yim Han-soon : Die Chinoiserie wird durch die unmittelbare Aktualität der in die Fabel eingegangenen Vorgänge zusätzlich gelockert. Die Chinoiserie sollte die aktuellen Vorgänge verfremden. Die chinesische Kulisse soll die Überholtheit der bürgerlichen Welt zum Vorschein bringen.
19 1936 Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen [ID D12783].
Das früheste Dokument über Me-ti ist Brechts briefliche Anfrage von 1935 an Helene Weigel "Hast Du den Me-ti schon geholt?"
Brecht schreibt : Sich im Gleichgewicht halten, sich anpassen ohne sich aufzugeben : das kann ein Zweck des Philosophierens sein. Wie ein Wasser sich stille hält, damit es vollkommen den Himmel spiegelt, Wolken und überhängende Zweige, auch bewegte Vogelschwärme… - so kann ein Mensch seine Lage suchen, in der er die Welt spiegelt, sich ihr zeigt und mit ihr auskommt.

Liu Weijian : Wenn das Tao verlorengegangen ist, kommt die Gesellschaft in Unordnung. Um der Unordnung entgegenzuwirken und sie unter Kontrolle zu bringen, versuchen die Menschen, Tugenden zu propagieren. Diese Auffassung von Tugenden ist ein Punkt, an den Brecht anknüpft.
Brecht schreibt : Es gibt wenige Beschäftigungen, sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechen halten, man muss für das Gute kämpfen…
Wie die Tugenden sind auch die Gesetze bei Laozi keine Beweise einer hochstehenden Sittlichkeit. In ihnen spiegeln sich vielmehr die schlechten Verhältnisse wieder, die sie nötig machen. Brecht glaubt ebenfalls, dass die Entstehung der Gesetze die soziale Ungerechtigkeit reflektiert, weil sie sonst überflüssig werden.
Er schreibt : Ohne Ungerechtigkeit zu spüren, wird man auch keinen besonderen Gerechtigkeitssinn entwickeln…
Brecht diskutiert über die taoistische Eigenliebe und die Ansicht von Yang Zhu. Dabei unterscheidet er Eigenliebe von Egoismus. Brechts Egoismusbegriff entspricht den taoistischen Begriffen von der Selbstsucht und der unersättlichen Natur. Wie Laozi und Yang Zhu kritisiert Brecht einerseits egoistische Selbstsucht und bejaht andererseits die Eigenliebe. Er meint, dass der Mangel an Eigenliebe dem Menschen selbst Elend bringt. Er geht nicht wie Yang Zhu davon aus, nur sich selbst zu schützen, sondern davon, zuerst die Gesellschaft zu verändern, um einen harmonischen Zustand zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Gemeinschaft zu realisieren. Das zeigt sich sowohl in seiner Ansicht über die Bekämpfung des Egoismus wie auch in seiner Meinung zur Verwirklichung der Eigenliebe.
Er schreibt : Yang-tschu [Yang Zhu] lehrte : Wenn man sagt : der Egoismus ist schlecht, so denkt man an einen Zustand des Staates, in dem er sich schlecht auswirkt. Ich nenne einen solchen Zustand des Staates schlecht. Wenn man keinen Egoismus haben will, dann muss man nicht gegen ihn reden, sondern einen Zustand schaffen, wo er unnötig ist.

Gerwig Epkes : Ende 1920er Jahre : Bertolt Brecht hat sich mit Mozi befasst : Hanns Eisler schreibt, dass ihm Brecht das Buch Forke, Alfred. Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophische Werke [IDD 669] gezeigt hat. Brecht übernimmt die Darstellungsweise des Mozi und diskutiert dessen Aussagen vor westlichem Hintergrund.

Christoph Gellner : Das Buch Me-ti, ganz im „chinesischen Stil geschrieben“, ist zweifellos ein Höhepunkt von Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie während des Exils. Obwohl die Sammlung von annähernd 300 Aphorismen, Sentenzen und Miniaturparabeln wie die meisten seiner Prosa- und Romanprojekte Fragment geblieben ist, gelten die Schubladentexte des Me-ti als ein ethisch-ästhetisch zentraler Werkkomplex. Handelt es sich doch um das einzige, erst aus dem Nachlass veröffentlichte Werk, in dem sich Brecht näher und konkreter über die Inhalte seines utopischen Denkens geäussert hat. Nicht von ungefähr steht die Vision einer solidarischen Zukunftsgesellschaft, in der heroische Tugendanstrengungen als erzwungene Leistungen entbehrlich sind, im Zentrum. Als Formmuster griff Brecht dabei wiederum auf eine höchst unzeitgemässe Literaturtraditon zurück, in der Dichtung, wie im alten China, noch nicht von Wissenschaft und Philosophie, von Moral-, Weisheits- und Verhaltenslehre abgesondert war. Das Ergebnis ist eine für Brecht typische Mischung aus alter und neuer Weisheit… Vorwiegend handelt es sich um aktuelle europäische Fragestellungen und Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, die durch den aphoristisch-sophtegmatischen Weisheitsgestus altchinesischer Philosophie kunstvoll ein falsches Alter gewinnen. So bezieht sich einer der zentralen Themenkomplexe auf die in den dreissiger Jahren unter den exilierten Linken aufgebrochenen Differenzen hinsichtlich des Aufbaus des Sozialismus (der „Grossen Ordnung“) in der Sowjetunion und der Verwandlung der marxistischen Dialektik in eine von der Moskauer Parteibürokratie verwaltete Rechtfertigungsideologie des Sowjetkommunismus. In chinesischem Gewande versammelt sind die „Klassiker“ des Marxismus Hegel (Meister Hü-jeh), Marx (Ka-meh), Engels (Meister Eh-fu), Rosa Luxemburg (Sa), Karl Korsch (Ka-osch) sowie Lenin (Mi-en-leh), Trotzki (To-tsi) und Stalin (Ni-en). Brecht sieht sich selbst in Gestalt des Me-ti…
„Ein Staat, so lehrt Me-ti, muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist. Je grösser dann der Nutzen des Einzelnen wird, desto grösser ist der Gemeinnutz“. Mozi thematisiert die Ethik als Teil der Staatslehre in engstem Zusammenhang von Politik und Ökonomie, während die abstrakte, individuelle Ethik bei ihm keine besondere Behandlung erfährt…
Me-ti wiederholt nicht einfach die alten Weisheiten, er radikalisiert vielmehr dessen materialistischen Ansätze und anklingende sozialistische Ideen unter dezidiert marxistischem Vorzeichen.
„Es gibt wenige Beschäftigungen sagt Me-ti, welche die Moral eines Menschen so beschädigen wie die Beschäftigung mit Moral. Ich höre sagen : Man muss wahrheitsliebend sein, man muss seine Versprechungen halten, man muss für das Gute kämpfen“.

Adrian Hsia : Brecht beginnt in den 1920er Jahren Material für das Buch Me-ti zusammenzutragen. Im Wesentlichen spielt die Handlung in einem märchenhaften China, das von einigen schein-chinesischen Namen dekoriert wird, um aber aktuelle Ereignisse in der Sowjetunion und Deutschland darzustellen. Brecht selbst sagt, dass er eine Anzahl von relevanten zeitgenössischen Geschehnissen ausgewählt habe, um diese den grundlegenden Anschauungen des chinesischen Philosophen gegenüberzustellen bzw. mit ihnen zu vergleichen. Der Zweck der Gegenüberstellung ist, eine uralte Quelle des Sozialismus zu finden und die chinesischen Weisheiten und Verhaltensregeln für die moderne Gesellschaft nutzbar zu machen, denn Brecht war der Meinung, dass Marx und Engels zwar grosse Theorien geschaffen hätten, doch hätten sie das vernachlässigt, womit sich chinesische Philosophen fast ausschliesslich befasst haben, nämlich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, den Verhaltensweisen des täglichen Lebens. Aus dieser Sicht her gesehen, stellt Me-ti eine Kombination der Anschauungen von Marx und Engels, Brecht selbst, Mozi und nicht zuletzt auch von Konfuzius dar. Auch Laozi kann man in Me-ti finden. Laozi ist der Meinung, dass Tugenden nur unter einer schlechten Regierung notwendig seien. Ähnliches sagt auch Yang Zhu, der den Egoismus im Sinne der Selbstliebe befürwortet. Brecht übernimmt die Ansichten Laozis und Yang Chus.

Ye Fang-xian : Brecht führt mehrmals die Unmoral auf den elenden Zustand der Gesellschaft zurück. Im Hinblick auf die Gesellschaftskritik, besonders auf die Beziehung zwischen der Moral und den ökonomischen Verhältnissen, kann man auf viele Ähnlichkeiten zwischen Mozi und Brecht hinweisen. Trotzdem darf man nicht behaupten, dass ihre Gedanken übereinstimmen. Einen wesentlichen Unterschied zeigen ihre Auffassungen von Liebe. Mozi siehe keinen Konflikt zwischen Nächstenliebe und Eigenliebe. Er glaubt in der allumfassenden gegenseitigen Liebe ein Mittel zur Herstellung der idealen Wohlstandsgesellschaft ohne Konflikt und Armut. Brecht verwandelt das göttliche Gebot der Nächstenliebe in eine idealistische Moral und kehrt zugleich die Götter aus dem biblischen Motiv in die Verteidiger einer schlechten Gesellschaftsordnung und schliesslich in Angeklagte… Obwohl Brechts Hauptinteresse sich auf die Natur der kapitalistischen Gesellschaft richtet, wird Shen Te als ein Mensch dargestellt, der von Natur aus gut ist… Der Gegensatz zwischen der guten Natur Shen Tes und den schlechten Verhältnissen der Gesellschaft ist die Grundlinie des Parabelstücks… Was für die Reichen gute Natur ist, ist für die Armen böse. In diesem Sinne stimmt Brechts Darstellung mit dem Marxismus überein.
Wenn sich Brecht mit der Lehre Mengzis beschäftigt hat, hat er sie in den Mund der Götter gesetzt und sie damit in Frage gestellt. Obwohl ihre Ansatzpunkte ähnlich sind : der Mensch sei von Natur aus gut, sind ihre Weltanschauungen oppositionell… Bei Mengzi soll die chaotische Welt durch die vom Gott bestimmten Menschen mit guter Natur gerettet werden… Die Zitate aus den chinesischen Schriften sind in diesem Werk besonders augenfällig. Brechts Auseinandersetzung mit chinesischer Philosophie und seine Behandlung der westlichen kulturellen Tradition sind untrennbar integriert.

Yim Han-soon : Die Reduktion des philosophischen Denkens auf die Meditation bemängelt Brecht mit dem Bild des Wassers, das er wahrscheinlich dem Zhuangzi entnommen hat.
In bezug auf die „Verurteilung der Konfuzianer“ von Mo Di setzt sich Brecht mit dem Grundsatz der Institution Familie auseinander, indem er die Familienidee von Konfuzius den Argumenten Mo Dis für die „einigende Liebe“ im Sinne eines sozialistischen Organisationsprinzips entgegenstellt. Das chinesische Motiv dient freilich nur zur Verkleidung einer kommunistischen Idee : Die traditionelle Funktion der Famlie soll von einem sozialistischen Kollektiv übernommen werden.
Der eigentliche Standort der Auseinandersetzung zwischen Kung und Me-ti ist nicht das chinesische Altertum, sondern das widersprüchliche Familienleben des Bürgertums. Kung und Me-ti leben im Zeitalter des Klassenkampfes, in dem das Familienleben in herkömmlicher Form unmöglich geworden ist.
Ohne die anarchistische Grundhaltung Yang Zhus zu teilen, übernimmt Brecht von ihm die Ansicht, dass Uneigennützigkeit, Mangel an Eigenliebe, sowohl den Mitmenschen als auch den betreffenden einzelnen schädlich sei. Yang Zhus Egoismus bedeutet Enthaltsamkeit und Rückkehr von der Gesellschaft zu einem selbstgenügsamen Privatleben, während Brecht die Eigenliebe gerade zur Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivität und zum materiellen Genuss des einzelnen befürwortet. Er schreibt : „Wie soll man den Egoismus bekämpfen ? Ein Staat muss so eingerichtet sein, dass zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem Nutzen der Allgemeinheit kein Unterschied ist“.
Von den verwendeten chinesischen Elementen her betrachtet, ist Me-ti ein Sammelwerk, in dem das selektiv-positive Verhältnis Brechts zur chinesischen Philosophie deutlich zum Vorschein kommt. Er übernimmt grundsätzlich diejenigen Ansätze, die im positiven Sinne nutzbar und aktualisierbar sind.
  • Document: Brecht, Bertolt. Me-ti : Buch der Wendungen : Fragment. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Uwe Johnson. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1965). (Prosa / Bertolt Brecht ; 5). [Geschrieben 1934-1937] ; [Mozi]. (Bre19, Publication)
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). 43, 82-84, 248-249, 255. (Yim1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 148-149, 152-153, 156-158. (LiuW1, Publication)
  • Document: Epkes, Gerwig. "Der Sohn hat die Mutter gefunden..." : die Wahrnehmung des Fremden in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel Chinas. (Würzburg : Königshausen und Neumann, 1992). (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft ; Bd. 79). Diss. Univ. Freiburg i.B., 1990. S. 144-145. (Epk, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 162-174. (Hes80, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Weigel, Helene
  • Person: Yang, Zhu
20 1937 Hermann Hesse schreibt in einem Brief an Otto Basler : Ich glaube, die Gnade, oder das Tao oder wie man es nennen will, umgibt uns immerzu, einmal bei Buddha, einmal in der Bibel, einmal bei Lao Tse [Laozi] oder Dschuang Dsi [Zhuangzi]… sie ist das Licht und ist Gott selbst, und wo wir einen Augenblick offenstehen, geht sie in uns ein, in jedes Kind wie in jeden Weisen.
21 1939 Brecht, Bertolt. Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. In : Schweizer Zeitung am Sonntag (Basel 23.4.1939). [Geschrieben 1938].
Quelle. Laotse. Tao te king [ID D4445].

Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte :
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
Und das Büchlein, das er immer las.
Weissbrot nach dem Augenmass.
Freute sich des Tals noch einmal und vergass es
Als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt :
"Kostbarkeiten zu verzollen ?" – "Keine".
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach : "Er hat gelehrt".
Und so war auch das geklärt.
Doch der Mann, in einer heitren Regung
Fragte noch : "Hat er was rausgekriegt ?"
Sprach der Knabe : "Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt".
Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie : "He, du ! Halt an !
Was ist das mit diesem Wasser, Alter ?"
Hielt der Alte : "Interessiert es dich ?"
Sprach der Mann : "Ich bin zur Zollverwalter
Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich !
Schreib mir’s auf ! Diktier es diesem Kinde !
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch : ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort ?"
Über seine Schulter sag der Alte
Auf den Mann : Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelt : "Auch du ?"
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut : "Die etwas fragen
Die verdienen Anwort". Sprach der Knabe : "Es wird auch schon kalt".
"Gut, ein kleiner Aufenthalt".
Und von seinem Ochsen stieg der Weise
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s soweit.
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt : kann man höflicher sein ?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Wessen Name auf dem Buch prangt !
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt :
Er hat sie ihm abverlangt.

Liu Weijian : In diesem Gedicht zeigt Brecht, wie der taoistische Weise zuerst vor der übermächtigen bösen Macht zurückweicht. Dieses Zurückweichen beruht auf der Einsicht, dass das Kräfteverhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen ungleich ist und daher ein direktes Entgegentreten gegen das Böse sinnlos wäre. Aber diese nachgiebige Haltung ist keineswegs fatalistisch, sondern sützt sich auf die taoistische Taktitk, die sich im Glauben an die Unbesiegbarkeit des weichen Wassers äussert.

Adrian Hsia : Das weiche Wasser überwindet den festen Felsen und das Harte ist in letzter Analyse das Zerbrechliche. Zur Zeit des Exils von Brecht und der wachsenden Stärke des Dritten Reiches stellt Laozi ein Zeichen der Hoffnung dar, dass das tausendjährige Reich doch keine Dauer haben wird. Da das Wasser niemals still ist, symbolisiert es ein Kontinuum gegen das auch ein felsenstarkes Drittes Reich letzten Endes machtlos ist. Ausserdem entspricht das weiche Wasser dem Konzept des Wuwei : Das Wasser fliesst dahin ohne Streben und überwindet doch alles harte, es ist ziellos und erreicht immer sein Ziel. Das Wasser fliesst immer weiter. Brecht folgt diesem Gedankengang, seine Dramen haben einen offenen Schluss.

Tan Yuan : Die Legende nimmt eine besondere Stellung unter Brechts Exilgedichten ein. Nicht seine eigene Exilerfahrung, sondern die Emigration eines vor über 2000 Jahren lebenden Chinesen wird dargestellt und mit seiner eigenen Erfahrung verknüpft. Für Brecht ist es wichtig, die Emigration zu einer neuen "Legende" zu machen. Laotse freut sich auf den Weg in die Emigration. Nicht Laotse, sondern der Knabe erklärt die zentrale Lehre im Dao de jing : "Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt, weiss jedermann auf Erden".
Laotse zeigt in der zweiten Hälfte seinen Pessimismus und seine Zweifel an der Durchführbarkeit seiner Lehre, doch die Antwort des Knaben ist etwas Tröstendes für den Exilanten und zugleich eine "Verheissung" in der finsteren Zeit.

Christoph Gellner : Nicht um Kritik an taoistischer Weltflucht durch Abtötung des Denkens, meditative Versenkung und Rückkehr zur Natur, auch nicht um die ironische Persifilierung der schon sprichwörtlichen Höflichkeit der Chinesen ist es Brecht zu tun. Im Vordergrund dieses lyrischen Textes steht vielmehr die gesellschaftspraktische Anwendbarkeit des Taoismus, die Brecht in Anlehnung an das 78. Kapitel des Dao de jing in der subversiven Erfahrungsregel verdichtet sieht, "dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besieht / Du verstehst, das Harte unterliegt".
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 138-139. (LiuW1, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 153-173. (Tan10, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
22 1940-1941 Brecht, Bertolt. Leben des Konfutse. In : Brecht, Bertolt. Gesammelte Werke. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1967). Bd. 7 : Stücke ; 7).
Entstanden 1940-1941 im finnischen Exil.
Quellen : Waley, Arthur. The Analects of Confucius [ID D8879]. Crow, Carl. Master Kung [ID D3398].

Brecht schreibt im Arbeitsjournal : ein stück dürfte sich nicht um die zutaten späterer, zivilisierter zeiten kümmern ; es müsste unbekümmert und frisch das kämpferische und halbbarbarisches des gründers der zivilisation zeigen. es besteht ein unterschied darin, ob der goldene mittelweg begangen oder gebaut wird. und es besteht ein unterschied zwischen einer benehmens- und einer zeremonielehre… ich dachte daran, ein für kinder spielbares stück zu schreiben, und am besten scheint mir Das Leben des Konfutse geeignet. es muss eine bedeutende figur sein, dazu eine, welche eine humoristische darstellung aushält.

Christoph Gellner : Dieses Fragment gebliebene Schulstück für Kinder zeigt, was Brecht an der Konfuzius-Figur interessierte : Die Demonstration des Widerspruchs, dass dieser grosse Verhaltenslehrer in einer weltgeschichtlichen Epoche der Aufklärung so etwas wie eine humanistische Wende im alten China in Gang setzte, dabei jedoch die materiellen Grundlagen des sittlichen Verhaltens unverändert liess. In Brechts Augen mussten seine Reformen zwangsläufig scheitern, weil er die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse der Moral ausser Acht liess und so faktisch, unter dem Deckmantel von Humanität und Volksbildung, der Aufrechterhaltung einer schlechten, ausbeuterischen Herrschaft diente. In Brechts Lehrstück zieht Konfuzius daher am Ende einsam und unverstanden durch das Land, überzeugt, dass sein Leben ein Fehlschlag gewesen sei, während der Konfuzianismus im Dienst der herrschenden Feudalordnung seinen Siegeszug antritt. „Zur Staatsreligion erhoben, geniesst der grosse Lehrer, der zu Lebzeiten nie ein Mann des Establishments gewesen war, jetzt göttliche Ehrungen.“

Yim Han-soon : In diesem Stückprojekt handelt es sich weniger um eine historisch begründete Interpretation der Person und Lehre des Konfuzius als um die künstlerische Gestaltung einer Persönlichkeit von weltgeschichtlichem Format. Brecht hat sich dennoch darum bemüht, sich an den äusseren Verlauf der chinesischen Geschichte und an die persönlichen Daten des Konfuzius zu halten…
War Brecht früher von der Schlichtheit der Lehrgespräche im Lun yu beeindruckt, so scheint er auch jetzt nicht gerade die Benehmenslehre Kungs zu verwerfen, sondern den Zustand, der diese Lehre bloss zu einer Zeremonienlehre werden lässt. Auch der Kampfgeist des Lehrers sollte zur Geltung gebracht werden. Wenn auch im Zweifel an der historischen Authentizität seiner Deutung, wollte Brecht die Komik zum Vorschein bringen, die sich aus der Spannung zwischen dem überholten Ideal des politisch-gesellschaftlich engagierten Philosophen und der im Umbruch begriffenen Realität zwischen dem Ernst und der Wirkungslosigkeit des „Reformators“ ergibt.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 174, 181-185. (Yim1, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
23 1941 Eine Eintragung von Bertolt Brecht im Arbeitsjournal bezeichnet die für Me-ti grundlegende Definition des Sozialismus als einer grossen Ordnung als grossen Irrtum, der ihn daran gehindert habe, die Lehrstückchen vom ‚bösen baal dem asozialen’ fertigzustellen. "Er ist hingegen viel praktischer als grosse Produktion zu definieren. Produktion muss natürlich im weitesten Sinn genommen werden, und der Kampf gilt der Befreiung der Produktivität aller Menschen von allen Fesseln".
24 1942 Brecht, Bertolt. Der gute Mensch von Sezuan [ID D12785].
Brecht schreibt : Alle Folklore habe ich sorgfältig vermieden. Andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische Weissbrote essenden Gelben einen Witz zu machen… Zur Diskussion steht : Soll man nur die sozialen Anachronismen beibehalten ? Die den Göttern (und der Moral) auf den Leib rückende Industrie, die Invasion europäischer Gebräuche, damit bewegte man sich noch auf realem Boden. Aber weder Industrie noch Europäertum wird den Reis mit dem Brot ersetzen. Hier hat man dann das Chinesische als reine Verkleidung und als löchrige Verkleidung !
Die Studien in amerikanischer Umgangssprache machen mir Vergnügen. Dasselbe gilt von den Studien in chinesischen Sitten, die ich gleichzeitig begonnen habe. Die chinesischen Sitten studiere ich nicht bei den Chinesen selber, von denen es hier wie in New York genügend Exemplare gäbe, sondern aus einem kleinen Buch, von dem ich natürlich nicht weiss, ob es sehr verlässlich ist.
Er schreibt 1940 : Li Gung (die spätere Shen Te) musste ein Mensch sein, damit sie ein guter Mensch sein konnte. Sie ist also nicht stereotyp gut… und Lao Gu (der spätere Shui Ta) ist nicht stereotyp böse usw. scheint nun halbwegs gelungen, das grosse Experiment der Götter, dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot der Selbstliebe hinzuzufügen, dem ‚du sollst zu andern gut sein’ das ‚du sollst zu dir selbst gut sein’ musste sich zugleich abheben von der Fabel und sie doch beherrschen.

Liu Weijian : Brecht baut in diesem Stück das Gleichnis von Zhuangzi ein : "In Sung ist ein Platz namens Dornheim. Dort gedeihen Katalpen, Zypressen und Maulbeerbäume. Die Bäume nun, die ein oder zwei Spannen im Umfang haben, die werden abgehauen von den Leuten, die Stäbe für ihre Hundekäfige wollen. Die drei, vier Fuss Umfang haben, werden abgehauen von den vornehmen und reichen Familien, die Bretter suchen für ihre Särge. Die mit sieben, acht Fuss Umfang werden abgehauen von denen, die nach Balken suchen für ihre Luxusvillen. So erreichen sie alle nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde durch Säge und Axt. Das ist das Leiden der Brauchbarkeit".
Die "Leiden der Brauchbarkeit" illustriert Brecht vor allem mit der Figur Shen Te, die von den drei Göttern, die auf der Suche nach einem guten Menschen auf die Erde kommen, als Vorbild der Tugenden gepriesen wird… Laozi glaubt, dass die Gesetze nicht nur die sozialen Probleme bestätigen, sondern auch falsches Verhalten herausfordern. So verschafft Brecht seiner Laozi angenäherten Meinung Ausdruck, dass die Gesetze nicht nur die Ungerechtigkeit der Gesellschaft reflektieren, sondern auch das unmenschliche Verhalten verursachen.

Antony Tatlow : Das Stück hat eigentlich mit dem chinesischen Theater nichts oder nicht viel zu tun. Gleichzeitig sind jedoch die Motive sehr chinesisch. Mengzi zum Beispiel, tritt für das Recht des einzelnen auf sein Glück ein und behauptet, dass der Mensch dazu gezwungen werden muss, Böses zu tun. Brecht hat Mengzi gelesen und er hat starken Eindruck auf ihn gemacht. Betrachtet man das Stück vom chinesischen Gesichtspunkt aus, geht sofort auf, wie europäisch es ist.

Yeh Fang-xian : Zahlreiche Pläne und Korrekturen zeigen, dass Brecht grosse Schwierigkeiten gehabt hat, die europäischen Zustände in den chinesischen Hintergrund zu intergrieren. 1940 hat er im Arbeitsjournal geschrieben : wir grübeln noch über der frage : brot und milch oder reis und tee für die Sezuanparabel. Natürlich, es gibt in diesem sezuan schon flieger und noch götter. Alle folklore habe ich sorgfältig vermieden. andrerseits ist nicht beabsichtigt, aus den französische weissbrote essenden gelben einen witz zu machen… hier hat man dann das chinesische als reine verkleidung und als löchrige verkleidung.
Das Thema des Stückes handelt von dem Konflikt zwischen den moralischen Vorschriften und dem bösen Verhalten der Menschen, von dem schlechten Zustand der Welt, in der niemand ein guter Mensch bleiben kann. Das Thema wird durch ein Experiment mit drei Göttern eingeführt und durch die Spaltung der Hauptfigur Shen Te entfaltet… Brecht kehrt die alte Geschichte um, damit die bürgerliche Moral verspottet wird. Dabei verstärkt die exotische, chinesische Umgebung die Verfremdungseffekte. Die Frage, ob die Welt bleiben kann oder verändert werden muss, hängt also vom Erfolg der Mission der Götter ab… Die Armut wird der Moral gegenüber gestellt. Wo die grosse Armut herrscht, können die moralischen Vorschriften nicht mehr gehalten werden.

Adrian Hsia : Brecht erkennt mit Mozi, dass die zwischenmenschliche Beziehung mit der materiellen Grundlage der Gesellschaft in ursächlichem Zusammenhang steht. An sich herrscht der Idealzustand im Staat, in dem Tugenden nicht nötig sind. Brecht schreibt : Freiheitsliebe, Gerechtigkeitssinn, Tapferkeit, Unbestechlichkeit, Aufopferung, Disziplin, all das ist nötig, um ein Land so umzuformen, dass um zu leben keine besonderen Tugenden mehr nötig sind. Man kann sagen, dass es ja gerade die elenden Zustände sind, welche solche Extraanstrengungen nötig machen… Brechts besitzt des Werk des Mengzi. Brecht und Mengzi stimmen darüber überein, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt. Shen Te verwandelt sich immer häufiger durch den Zwang ihrer Umwelt in Shui Ta.
Brecht verwendet das Gleichnis des "Leidens der Brauchbarkeit" von Zhuangzi um die christliche Nächstenliebe Shen Tes zu verfremden. Dadurch wird die Unmöglichkeit der Nächstenliebe im gegebenen Gesellschaftssystem aufgezeigt.

Yuan Tan : Das Stück entsteht zwischen 1939 und 1941 in vier verschiedenen Ländern und fällt in die unruhigste Zeit Brechts.
Im Vorspiel erzählt Wang, ein obdachloser Wasserverkäufer in Sezuan, von der grossen Armut in der Stadt. Nur noch die Götter könnten den Leuten in der aussichtslosen Situation helfen. Shen Te ist eigentlich "der beste Mensch" in Sezuan. Sie erweist sich als gut, weil sie zu Anderen immer hilfsbereit und weil sie nützlich ist. Sie möchte auch gut sein und Gutes tun, weil die gute Tat den Täter selbst angenehm macht. Aber gerade wegen dieser Nützlichkeit und Güte wird sie von den "Nachbarn ohne Herz" ausgenutzt, so dass ihre eigene Existenz bedroht wird.
In unserm Lande
Braucht der Nützliche Glück. Nur
Wenn er starke Helfer findet
Kann er sich nützlich erweisen.
Die Guten
Können sich nicht helfen, und die Götter sind machtlos.
Shen Tes Monolog und Zuangzis Gleichnis stimmen im Hauptpunkt überein : Der Nützliche leidet wegen seiner Nützlichkeit. Aber es gibt auch einen Unterschied. Zhuangzi zeigt nur Fassungslosigkeit und Pessimismus gegenüber der verkommenen Welt. Er sieht keine Lösung für das Leiden der Brauchbarkeit. Brecht bestätigt zwar die Fassungslosigkeit der Guten und Götter gegenüber dem gesellschaftlichen Zustand, findet aber für Shen Te eine Lösung : Mit Glück und starkem Helfer kann sich der Nützliche gerfolgreich als das erweisen, was er seiner Natur nach ist. Der böse Vetter Shui Ta ist der starke Helfer und ihr einziger Freund. Shen Tes doppeltes Rollenspiel wird vor allem durch eine Maske verdeutlicht. Während Zhuangzi die Aufbewahrung des Lebens und die Anpassung an die Welt betont, stellt Brecht die Ordnung der Welt in Frage. Für den Widerspruch, dass der gute Mensch "zu gut" für diese Welt ist und nicht gut bleiben kann, findet sich nur eine Erklärung, wie Shen Te vor den Göttern klagt : "Etwas muss falsch sein an eurer Welt". Wo Zhuangzi von der Anpassungsmöglichkeit des Menschen spricht, verweist Brecht auf die Verbesserungsmöglichkeit der Welt an.

Christoph Gellner : In der Neufassung (1953), die Brecht unter dem Eindruck der siegreichen kommunistischen Revolution in China geschrieben hat, ist ganz ausdrücklich vom Umbau der Gesellschaft als Voraussetzung einer grundlegenden Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens die Rede.

Ingrid Schuster : Ein neuer Mensch in chinesischem Kleid findet sich in Der gute Mensch von Sezuan. Der Konflikt zwischen Hingabe und Selbsterhaltung wird in diesem Drama auch äusserlich - durch die doppelte Identität der Heldin Shen Te - deutlich gemacht. Als Shui Ta ist sie männlich-aktiv, greift in die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Stadt ein, gründet eine Fabrik. Doch dieser Weg führt in die Unmenschlichkeit. Als Shen Te ist sie weiblich-hingebend und tut allen Menschen Gutes. Dadurch bringt sie sich jedoch um ihre Existenzgrundlage.

Yim Han-soon : Das Gleichnis ist für Brecht ein treffendes Beispiel für die These, dass sich die Ordnung und die Unordnung „an ein und demselben Platz“ aufhielten. Aus seiner Sicht ist Zhuangzi wohl wie Hegel ein Humorist und Dialektiker, allerdings ein resignierter. Brecht schreibt „Dschuang-tsi zeigt in den Leiden der Brauchbarkeit, dass die Unnützesten die Glücklichsten sind“.
  • Document: Yim, Han-soon. Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur chinesischen Philosophie. (Bonn : Institut für Koreanische Kultur, 1984). (Schriftenreihe ; Bd. 1). S. 21-23, 107. (Yim1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Bertolt Brechts Rezeption des Konfuzianismus, Taoismus und Mohismus im Spiegel seiner Werke. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Bre28, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 150-151. (LiuW1, Publication)
  • Document: Ye, Fang-xian. China-Rezeption bei Hermann Hesse und Bertolt Brecht. (Irvine : University of California, 1994). Diss. Univ. of California, Irvine, 1994). S. 137-138, 145-146, 153-154. (Hes80, Publication)
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 48. (Schu5, Publication)
  • Document: Tan, Yuan. Der Chinese in der deutschen Literatur : unter besonderer Berücksichtigung chinesischer Figuren in den Werken von Schiller, Döblin und Brecht. (Göttingen : Cuvillier, 2007). Diss. Univ. Göttingen, 2006. S. 200, 214. (Tan10, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
25 1945 Hesse, Hermann. Lieblingslektüre. In : Neue Züricher Zeitung Nr. 585 (1945).
Hesse schreibt : Kung Fu Tse [Konfuzius], der grosse Gegenspieler des Lao Tse [Laozi], der Systematiker und Moralist, der Gesetzgeber und Bewahrer der Sitte, der einzige etwas Feierliche unter den Weisen der alten Zeit, wird zum Beispiel gelegentlich so charakterisiert : "Ist das nicht der, der weiss, dass es nicht geht, und es doch tut ?" Das ist von einer Gelassenheit, einem Humor und einer Schlichtheit, für die ich in keiner Literatur ein ähnliches Beispiel weiss…

Er schreibt : Aber dass es eine wunderbare chinesische Literatur und eine chinesische Spezialität von Menschentum und Menschengeist gebe, die mir nicht nur lieb und teuer werden, sondern weit darüber hinaus eine geistige Zuflucht und zweite Heimat werden könnte, davon hatte ich über meine dreissigstes Jahr hinaus nichts geahnt. Aber dann geschah das Unverwartete, dass ich, der ich bis dahin vom literarischen China nichts gekannt als das Schi king in Rückerts Nachdichtung, durch die Übertragungen Richard Wilhelms und anderer mit etwas bekannt wurde, ohne das ich gar nicht mehr zu leben wüsste : das chinesisch-taoistische Ideal des Weisen und Guten.

Ich suchte in dieser indischen Welt etwas, was dort nicht zu finden war, eine Art von Weisheit, deren Möglichkeiten und deren Vorhandenseinmüssen ich ahnte, die ich aber nirgends im Wort verwirklicht antraf. Christoph Gellner : Bei aller Indien- und Buddhismusschwärmerei bleibt für Hesse stets ein Rest von Unbefriedigtsein und Enttäuschung dabei.
  • Document: Hsia, Adrian. Hermann Hesse und China : Darstellung, Materialien und Interpretation. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1974). [2nd enl. ed. (1981) ; 3rd ed., with an add. chapter (2002)]. S. 115. (Hes2, Publication)
  • Document: Yu, Tianxin. Hesse und Goethe und China - eine interkulturelle Konstllation. (Hannover : Universität Hannover, 1998). Diss. Univ. Hannover, 1998). S. 69. (Goe103, Publication)
  • Person: Hesse, Hermann
26 1948 Brecht, Bertolt. Gedanken bei einem Flug über die Grosse Mauer. In : Chinesische Gedichte (1950) [ID D12807].
Unter dem Einfluss eines Gedichtes von Mao Zedong schreibt Bertolt Brecht : Durch alle diese Wochen hindurch, halte ich im Hinterkopf den Sieg der chinesischen Kommunisten, der das Gesicht der Welt vollständig verändert. Dies ist mir ständig gegenwärtig und beschäftigt mich alle paar Stunden.

Christoph Gellner : Die revolutionären Umwälzungen im fernen China inspirieren Brecht zu einer Nachdichtung des später sehr berühmt gewordenen Gedichtes „Schnee“ von Mao Zedong. Statt wie Mao ein Heldenlied vom ‚neuen’ und ‚wahren’ Menschen anzustimmen, warnt Brecht vor der noch immer zu fürchtenden Herrschsucht und dem Machstreben der ‚grossen Herren’.

Sigfrid Hoefert. Brechts Nachdichtung von Mao Tse-tungs „Schnee“. In : Neophilologus ; Bd. 53, H. 1 (1969).
Sigfried Hoefert : Brecht schreibt in den Anmerkungen zu seinen „Chinesischen Gedichten“, dass das Gedicht eine wortgetreue Übersetzung von Wu-an und Fritz Jensen aus China siegt [ID D3984] sei. Eine solche Vorlage ist jedoch nicht vorhanden. Jensen hat 1955 in einem Sammelband die Nachdichtung „Chinesische Ode“ veröffentlicht. Sie weist eine so grosse Ähnlichkeit mit Brechts Text auf, dass man folgern kann, Brecht hat von dieser Version abgeschrieben.
27 1955 Bertolt Brecht sagt an einer Diskussion mit Leipziger Studenten : Ob das epische Theater das Theater der Zukunft sein wird, weiss ich nicht. Es gibt meines Wissens keine genaue Beschreibung der Zukunft. Auf keinen Fall ist das epische Theater eine Übergangserscheinung, denn vollkommene Beziehungen zwischen Menschen können nie eintreten, weder im Kommunismus noch in den darauf folgenden Phasen. Sonst müsste man jede Entwicklung leugnen.

Christoph Gellner : Dies entspricht aufs genaueste der These Mao Zedongs von der Permanenz der Widersprüche, auch in einer sozialistischen Gesellschaft, die der orthodoxen marxistischen Vorstellung eines zukünftig konkliktfreien, harmonischen Gleichklangs im Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens diamentral entgegensteht.

Hans Mayer : Nicht ohne Grund liest Brecht in seiner letzten Lebenszeit voller Zustimmung die Betrachtungen Mao Zedongs über das Weiterbestehen antagonistischer Strukturen : auch nach Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft.
  • Document: Mayer, Hans. Brecht in der Geschichte : drei Versuche. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1971). (Bibliothek Suhrkamp ; Bd. 284). (Bre33, Publication)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Mao, Zedong
28 1956 Aufführung von Brecht, Bertolt. Der gute Mensch von Sezuan [ID D12785] in Rostock. Die Tagespresse schreibt : Das Klima an den Bühnen unseres Landes ist dem Brecht-Stil nicht sonderlich günstig. Dieser Weg führt, so interessant und verlockend er auch immer sein mag, in eine Sackgasse.
29 1961 Eines der letzten Gedichte aus Hermann Hesses Alterslyrik beruht auf Hsüeh-tou. Bi-yän-lu… [ID D835] und entspricht der ethisch-ästhetischen Maxime des alten Zen-Meisters. Hesse hat das Gedicht Wilhelm Gundert gewidmet.

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)