Brecht, Bertolt. Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration. In : Schweizer Zeitung am Sonntag (Basel 23.4.1939). [Geschrieben 1938].
Quelle. Laotse. Tao te king [ID D4445].
Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte :
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er immer abends rauchte
Und das Büchlein, das er immer las.
Weissbrot nach dem Augenmass.
Freute sich des Tals noch einmal und vergass es
Als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt :
"Kostbarkeiten zu verzollen ?" – "Keine".
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach : "Er hat gelehrt".
Und so war auch das geklärt.
Doch der Mann, in einer heitren Regung
Fragte noch : "Hat er was rausgekriegt ?"
Sprach der Knabe : "Dass das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt".
Dass er nicht das letzte Tageslicht verlöre
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie : "He, du ! Halt an !
Was ist das mit diesem Wasser, Alter ?"
Hielt der Alte : "Interessiert es dich ?"
Sprach der Mann : "Ich bin zur Zollverwalter
Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich !
Schreib mir’s auf ! Diktier es diesem Kinde !
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch : ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort ?"
Über seine Schulter sag der Alte
Auf den Mann : Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelt : "Auch du ?"
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut : "Die etwas fragen
Die verdienen Anwort". Sprach der Knabe : "Es wird auch schon kalt".
"Gut, ein kleiner Aufenthalt".
Und von seinem Ochsen stieg der Weise
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s soweit.
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt : kann man höflicher sein ?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen
Wessen Name auf dem Buch prangt !
Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt :
Er hat sie ihm abverlangt.
Liu Weijian : In diesem Gedicht zeigt Brecht, wie der taoistische Weise zuerst vor der übermächtigen bösen Macht zurückweicht. Dieses Zurückweichen beruht auf der Einsicht, dass das Kräfteverhältnis zwischen dem Guten und dem Bösen ungleich ist und daher ein direktes Entgegentreten gegen das Böse sinnlos wäre. Aber diese nachgiebige Haltung ist keineswegs fatalistisch, sondern sützt sich auf die taoistische Taktitk, die sich im Glauben an die Unbesiegbarkeit des weichen Wassers äussert.
Adrian Hsia : Das weiche Wasser überwindet den festen Felsen und das Harte ist in letzter Analyse das Zerbrechliche. Zur Zeit des Exils von Brecht und der wachsenden Stärke des Dritten Reiches stellt Laozi ein Zeichen der Hoffnung dar, dass das tausendjährige Reich doch keine Dauer haben wird. Da das Wasser niemals still ist, symbolisiert es ein Kontinuum gegen das auch ein felsenstarkes Drittes Reich letzten Endes machtlos ist. Ausserdem entspricht das weiche Wasser dem Konzept des Wuwei : Das Wasser fliesst dahin ohne Streben und überwindet doch alles harte, es ist ziellos und erreicht immer sein Ziel. Das Wasser fliesst immer weiter. Brecht folgt diesem Gedankengang, seine Dramen haben einen offenen Schluss.
Tan Yuan : Die Legende nimmt eine besondere Stellung unter Brechts Exilgedichten ein. Nicht seine eigene Exilerfahrung, sondern die Emigration eines vor über 2000 Jahren lebenden Chinesen wird dargestellt und mit seiner eigenen Erfahrung verknüpft. Für Brecht ist es wichtig, die Emigration zu einer neuen "Legende" zu machen. Laotse freut sich auf den Weg in die Emigration. Nicht Laotse, sondern der Knabe erklärt die zentrale Lehre im Dao de jing : "Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als das Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Dass Schwaches das Starke besiegt, weiss jedermann auf Erden".
Laotse zeigt in der zweiten Hälfte seinen Pessimismus und seine Zweifel an der Durchführbarkeit seiner Lehre, doch die Antwort des Knaben ist etwas Tröstendes für den Exilanten und zugleich eine "Verheissung" in der finsteren Zeit.
Christoph Gellner : Nicht um Kritik an taoistischer Weltflucht durch Abtötung des Denkens, meditative Versenkung und Rückkehr zur Natur, auch nicht um die ironische Persifilierung der schon sprichwörtlichen Höflichkeit der Chinesen ist es Brecht zu tun. Im Vordergrund dieses lyrischen Textes steht vielmehr die gesellschaftspraktische Anwendbarkeit des Taoismus, die Brecht in Anlehnung an das 78. Kapitel des Dao de jing in der subversiven Erfahrungsregel verdichtet sieht, "dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besieht / Du verstehst, das Harte unterliegt".
Literature : Occident : China as Topic
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Literature : Occident : Germany
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Philosophy : China : Daoism