1987
Publication
# | Year | Text | Linked Data |
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1 | 1862-1863 |
Radowitz, Joseph Maria von. Briefe aus Ostasien [ID D3190]. Horst Denkler : Radowitz schreibt die Briefe um sich gegen eine illusorische Berichterstattung zu stellen. Die Wahrheit, die er seinem Ministerium mitzuteilen hat, gipfelt in der imperialistischen Lagebeurteilung. Er schreibt : Aus China kann noch Ungeheures gewonnen und herausgeführt werden, hineingebracht wird dem armen Volks nichts ausser überflüssigen Luxussachen und vernichtenden Passionen. |
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2 | 1926 |
Wilhelm, Richard. Die Seele Chinas. [ID D1593]. Wilhelm schreibt : Ich habe noch das Alte China gesehen, das für die Jahrtausende zu dauren schien. Ich habe seinen Zusammenbruch miterlebt und habe erlebt, wie aus den Trümmern neues Leben blühte. Im Alten wie im Neuen war doch etwas Verwandtes : eben die Seele Chinas, die sich entwickelte, aber die ihre Milde und Ruhe nicht verloren hat und hoffentlisch nie verlieren wird... Ich habe das grosse Glück gehabt, fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in China zu verbringen. Ich habe Land und Volk lieben gelernt wie jeder, der lange dort weilte. Horst Denkler : Wilhelm stellt bei seinen China-Erfahrungen vor allem das Andersartige heraus, das die Chinesen vor der "weissen Gefahr" zu schützen und den Weissen Genesung am chinesischen Wesen verspricht : die Verbundenheit mit Heimaterde, Nation und Kulturtradition, das Bedürfnis nach Harmonie mit der Natur und im zwischenmenschlichen Bereich, das Vertrauen auf eine vernünftig und tolerant angelegte Gesellschaftsordnung, die den einzelnen in die "übergreifenden Organismen" von Familie, Volk und Menschheit einbindet und sein Verhalten durch die festgelegten Norman von Brauch und Sitte, Konvention und Form, Takt und Etikette, Moral und Ethik, Ehre und Anstand, Disziplin und Gehorsam regelt. Fang Weigui : Wilhelm hat sich Mühe gegeben, ein Chinabild im Spektrum der gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten aufzubauen. Das wichtigste Chinabild mit den Stichwörtern Milde und Ruhe hat dem Buch klar und deutlich einen etwas idealisierenden Grundton verliehen, was sich auch durch den Einfluss des Konfuzianismus erlärt. Manche Darstellungen leitet er direkt von den chinesischen Klassikern her. Sein positives Chinabild resultiert auch aus dem Umgang mit chinesischen Gelehrten und seiner Liebe zum chinesischen Volk. Was Wilhelm von den zeitgenössischen Europäern und besonders von den abendländischen Missionaren, denen die ostasiatischen Völker als heidnisch und barbarisch galten, unterscheidet, ist, dass er völlig von Rassenhochmut befreit war, dass es gar keine Heiden gibt, denn ein Heide ist nur etwas, wofür man einen anders gearteten Menschen hält, damit man ihn entweder bekehren oder zur Hölle verdammen kann. Gerwig Epkes : Er versucht eine Erklärung für den Unterschied zwischen Konfuzius und Laozi zu geben und schreibt : Die südliche Richtung der chinesischen Kultur zeigt andere Züge. Wärend der Norden auf Organisation der Menschheit sich konzentriert, ... sucht der Süden den Menschen zu verstehen im allgemeinen Naturzusammenhang. Laotses Sinn ist der Sinn des Himmels. Für ihn ist der Mensch einfach Teil der Natur. Alles was die Natur beherrscht und vergewaltigt, ist von Übel. Rückkehr zur Natur ist das einzige Heil. |
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3 | 1935 |
Lin, Yutang. My country and my people [ID D13801]. Horst Denkler : Angesichts des Ansturms westlicher Ideen und der Zunahme äusseren Drucks ruft Lin Yutang seine Landsleute zur Rückbesinnung auf die eigene Gesellschaftsstruktur auf, wobei er neben die von Richard Wilhelm gepriesenen Tugenden und Errungenschaften die chinesische Kunst rückt, die dem Leben zum Vorbild dienen könne, weil sie das Erbe der Vergangenheit produktiv erarbeitet, Schönheit im Alltag entdeckt und über den Alltag ausbreitet. Gleichzeitig erteilt Lin den nichtchinesischen Lesern die Lehre, auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten des chinesischen Gemeinwesens zu verzichten, den Import westlicher Idealvorstellungen aus Politik und Wirtschaft, Sozialleben und Ästhetik zu unterlassen und die Chinesen mit fremden "Ismen" zu verschonen. |
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4 | 1980 |
Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800]. (Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]). Qixuan Heuser : Als "China-Roman" mag in dem Buch von Grass wenig direkt von China die Rede sein. Zum einen besteht das Buch aus zwei Geschichten, der Geschichte der Ich-Erzählers und der seiner Filmfiguren. China kommt hauptsächlich in der ersten vor. Zum anderen legt der Erzähler allgemein den Schwerpunkt nicht auf die Darstellung Chinas, sondern auf die Bezugnahme auf China. Letzteres ist gerade die Besonderheit der China-Rezeption bei Grass. Wo die Rede von China aufhört, bleibt die Chinabezogenheit. So werden erzähltechnisch die direkte und die indirekte Chinabezogenheit in zwei Ebenen aufgeteilt : in die Ebene der erzählten Wirklichkeit (während und unmittelbar nach der Chinareise des Ich-Erzählers), auf welcher er seine Gedanken über das Aussterben der Deutschen als Reflexion auf das typische China-Erlebnis mit dem Fahrraddschungel spekulativ entfaltet, und in die Ebene der erzählten Fiktion (Filmhandlung vor, während und nach der Asienreise eines deutschen Lehrerpaares), auf welcher der als Drehbuchautor den Gegensatz zwischen dem deutschen Aussterben und der chinesischen Überbevölkerung – in einer indischen bzw. indonesischen Variation – zum Thema macht. Als Schriftsteller wird der Ich-Erzähler zu Lesungen und Vorträgen nach China eingeladen, das gerade die Kulturrevolution durchgemacht hat. Während und neben dieser beruflichen Tätigkeit gewinnt er durch den Kontakt mit den Chinesen und die eigenen Beobachtungen Einblick in das unlängst der Welt geöffnete Land. Während sich der Erfahrungsaustausch mit den chinesischen Intellektuellen hauptsächlich auf das Kulturleben in China beschränkt, hat er aus den eigenen Beobachtungen heraus ein allgemeines China-Bild skizziert : „Vor allem sind die Radfahrer, die sich in Haltung und Kleidung unendlich wiederholen“. „Beiderseits des Zuges wiederholten sich Reisterrassen. Der Nassfelderanbau. Die ausladenden, systemüberlebenden Strohüte der überall fleissig gebückten Arbeitskräfte. Soviel Nutzen. Alles von Menschenhand“. „Die Chinesen [essen] in aller Welt zum Mondfest jenen Mondkuchen, dessen Süsse uns in Kanton [Guangzhou], Hongkong, Singapore gleich süss ist“ ; „starr, unverrückbar (und doch seit dem Baubeginn vergeblich) [kriecht] die [chinesische] Mauer in immer kühneren Verkürzungen über Bergkämme“. Nur eine Kleinigkeit des aktuellen China-Bildes wird gestreift, indem der Erzähler das chinesische Motto der Vier Modernisierungen auf den aufgehängten Spruchbändern erwähnt, die er kaum übersehen kann. Die Interessen des Beobachtenden für das chinesische Gesellschaftmodell statt für dessen einzelne Menschenschicksale, für das relative Dauerbild statt für das Augenblickliche sind an diesem China-Bild deutlich erkennbar… Eine Parallele zur Situation der deutschen Schriftsteller, „die während des Dritten Reiches ihre Werke in jenem Freigehege veröffentlicht haben, das ihnen die Nazis eingeräumt hatten“, sieht der Erzähler in der Lage der chinesischen Schriftsteller, „die sich zwölf Jahre lang der Kulturrevolution, der ‚Viererbande’ verschrieben hatte… Auch ein anderes Problem der Deutschen, der Konflikt zwischen Kulturschaffenden und den Regierenden, ist den chinesischen Kollegen vertraut. Schliesslich denkt sich der Ich-Erzähler einen Austausch der psychischen Probleme zwischen Chinesen und Deutschen als Folge der Umkehrung der Bevölkerungszahlen der beiden Länder aus. Dabei lässt er die Deutschen ihre „Überlegenheit“ in der Bewältingung der psychischen Probleme einbüssen : „Und hätten wir Deutsche, wenn wir uns anstelle der Chinesen zu einer Milliarde ausgewachsen hätten, dann, weil um jeden vor- und ausserehelichen Lustgewinn gebracht, die nicht erkennbaren, von niemand behandelten, auf keiner Couch analysierten Komplexe und Neurosen der Chinesen, während sich, stellvertretend für uns, das auf achtzig und immer weniger Millionen schrumpfende chinesische Volk, vom Aussterben bedroht und vom Lustgewinn übersättigt, mit unseren deutschartigen Komplexen und Neurosen rumzuplagen hätte, also eine wachsende Zahl von Psyhiatern, von Analytikern und Therapeuten ernähren müsste. Der Ich-Erzähler geht sachlich dem Bevölkerungsproblem Chinas nach, vor allem der grossen chinesischen, von der ganzen Welt mit Distanz und Sorge und nicht ohne Vorwürfe verfolgte Kampagne der Ein-Kind-Familie. Etwas völlig Unverständliches ist für ihn das Verbot des vor- und ausserehelichen Sexulalverkehrs in China… Der Ich-Erzähler übt Kritik an der deutschen journalistischen China-Rezeption : „Stern- und Spiegel-Reporter zählen Mächen in Röcken, Dauerwellenköpfe, Lippenstiftspuren und ähnliche Attribute westlicher Liberalität, fotografieren sie ab, vertexten sie und lassen ihre vorgefasste Meinung zur falschen Information gerinnen. Wäre es nicht genauer und deshalb gerechter, das chinesische Volk und seine Gesellschaftsordnung am Zustand jener Staaten der Dritten Welt zu messen, die sich dem westlichen Liberalismus in Gestalt seines Wirtschaftssystems ausgesetzt haben und deren traurige Rekorde Landflucht und Verslumung, Raubbau und Verkarstung, Unterernährung und Hunger, Luxus und Elend, staatliche Willkür und, alles überragend : Korruption heissen ?“ Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen. Bodo Plachta : Das Lehrerehepaar Dörte und Herm Peters wählt unter den Reiseangeboten so lange aus, bis es ein Asien-Programm gefunden hat, das ihm seine „objektive Urteilskraft“ garantiert und es nicht zu „üblichen Touristen“ macht. Thomas Lange : Der romanhafte Reisebericht sucht immer wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie überraschend darin, dass dort wie hier die Mächtigen sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, „die unruhig sesshaften Nestbeschmutzer“, äussern. „Das war nicht fremd oder zu weit weg. |
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5 | 1980 |
Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]. Muschg sagt im Interview mit Rolf Kieser : Selbstverständlich ist es kein Buch über China, was ich versuche, sondern ein Buch über China-Reisende. Qixuan Heuser : Eine schweizerische Delegation wird offiziell nach China eingeladen. Die Zusammensetzung der Delegation dient dem Ziel, "China aus der Sicht von Experten kennenzulernen, die ausgetretenen Pfade zu meiden". Die Begegnung mit der chinesischen Welt wird eher in der Beobachtung des einzelnen konkreten menschlichen Verhaltens als in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen dargestellt. China wird auch nicht aus der Sichtweise einer Person, sondern aus den Sichtweisen von acht Personen betrachtet, obwohl das Ganze aus der Perspektive des persönlichen Beobachters, des Ich-Erzählers, erzählt wird. Als Spezialisten in verschiedenen Bereichen haben die Reiseteilnehmer verschiedene Interessen an China mitgebracht, die eindeutig mit ihren verschiedenen Berufen zusammenhängen. Der Biologe Gallus bewundert vor allem das chinesische Leben, in dem das Gesetz der Natur noch eine wichtige Rolle spielt. Was er sonst noch von China bewundert, ist Mao, "der nicht nur China zum ersten Mal in seiner Geschichte von Mangel und Hunger befreit, sondern seinem Land auch die gültigen Werte zu bewahren gewusst habe, obschon in umgestalteter Form". Gaby, die Gattin des Handelskammer-Direktors vertritt das rein touristische Interesse an China. Der Buchhändler Jules erhofft sich offensichtlich, in China etwas Radikales und Revolutionäres zu erleben. Den Entwicklungshelfer Martin interessiert, "wie der neue Kurs sich manifestiere, den die chinesische Führung nach Maos Tod, die Kampagne gegen die Viererbande benützend, eingeschlagen habe". Der Delegationsleiter Agronomieprofessor Stappung interessiert sich nur für die chinesischen Landwirtschaft und ignoriert China. Was ihn ausser Arbeitsdisziplin kennzeichnet, ist seine Rücksichtslosigkeit gegenüber den chinesischen Gastgebern und den mitreisenden Landsleuten. Den Chinesen gegenüber verhält er sich wie ein "Kolonialherr". China kennenzulernen heisst für ihn, gut informiert zu sein, wie z.B. über die Zahlen des Produktionszuwachses. Dem Schriftsteller Samuel gibt die Chinareise Anregungen zum Nachdenken, Philosophieren und Spekulieren. Auf der Grossen Mauer geht Samuel die symbolische Bedeutung durch den Kopf. Sie ist die Trennung zwischen dem Reich der Mitte und dem Rest der Welt, zwischen Drinnen und Draussen, Despotie und Freiheit, Osten und Westen. Er widmet seine Begeisterung dem China eines Idylls und er möchte China und die Chinesen verstehen lernen. Der Psychologe, der Ich-Erzähler verhält sich weder als Bewunderer noch als Kritiker von China. Ihm ist die Begegnung einer Denkweise europäischer Ausprägung mit der chinesischen Realität ständig bewusst, wobei er China zwangsläufig durch den Vergleich mit den europäischen Verhältnissen zu verstehen versucht. So wie er keinen Zugang zum Leben der Arbeiter findet, verstehen die Chinesen nichts von dem Beruf des Psychotherapeuten. Durch die Gaby-Szene kommt der Ich-Erzähler noch auf einen anderen Unterschied zwischen Chinesen und Europäern. Die Agressivität zwischen Gaby und Paul als der Ausbruch der Spannung in der Gruppe demonstriert die Unfähigkeit der Europäer, Gruppen zu bilden. Die Individualisierung als eine Folge der westlichen Zivilisation beherrscht die Lebens- und Denkweise der Menschen. Das Individuum ist der Mittelpunkt seines Handelns. Dazu sieht er in China ein Gegenbild. Die Gruppe spielt in der chinesischen gesellschaftlichen Struktur eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler sucht in China nach Problemen, wobei er sich nur Probleme vorstellen kann, die er vom eigenen europäischen Kulturkreis her kennt, wie z.B. Depressionen, Homosexualität. Dass diese Wörter für die unwissenden Chinesen einer Aufklärung bedürfen, lassen ihn verzweifeln. Der Ich-Erzähler distanziert sich von der Rolle des beurteilenden Experten, er reagiert nicht nur passiv auf China, sondern er probiert, sich und die eigenen Landsleute auch umgekehrt aus der chinesischen Sicht zu sehen. Er hält sich und den Landsleuten nicht nur China als Spiegel entgegen, in welchem er diese anders sehen kann, sondern er versucht auch die subjektive Erklärung der wahrgenommenen chinesischen Realität zu relativieren, um beim Bewusstsein zu bleiben, dass man beim Beurteilen der anderen Verhältnisse ganz andere gesellschaftliche Normen berücksichtigen soll. Folgerichtig kommt zwischen die spontanen Eindrücke und deren willkürliche Lenkung immer wieder der eigene Zweifel an dem eigenen Verständnis des Wahrgenommenen überhaupt. Deshalb betont er : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht. Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger". Dieses Bewusstsein der eigenen Grenze gebietet ihm, in den Gedankenäusserungen über China überall Vorsicht und Rücksicht walten zu lassen, vor allem Vorsicht vor den Fehlinterpretationen und Rücksicht auf das Anderssein. In einem Interview mit Rolf Kieser sagt Muschg : "China und Japan machen es einem viel leichter, ein Buch zu schreiben, weil dort die Staffage, die Kulisse, das Befremdende mitspielt und dem Stoff zugute kommt, ihm einen Reiz hinzufügt, den man nicht erfinden kann". Gao Yunfei : Obwohl der Roman auf einem chinesischen Hintergrund spielt, oder gerade weil der Roman auf dem fremden Boden spielt, wird das Problem des "unzureichenden Kontakes der Figuren zu sich selbst und zueinander" hervorgehoben. Die Begegnung mit der Fremde wird den China-Reisenden zum Prüfstein für ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Die chinesische Reiseorganisation sorgt für eine glatte Abwicklung des Besuchsprogramms. Die China-Reisenden streiten sich, lassen sich jedoch von den Chinesen vom Süden nach Norden, von Landkommunen in die Industrie, von Sehenswürdigkeiten zu Kulturabenden durch China führen. In der letzten Station, wenige Tage vor der Abreise, stirbt der Delegationsleiter Hugo Stappung. Hier beginnt die Geschichte und wird in Rückblenden aufgezeichnet. Bevor die China-Reisenden direkt mit China, dem äusseren, kulturräumlichen Fremden konfrontiert werden, sind sie dem eigenen Fremden gegenübergestellt. Muschg lässt seine Figuren für sich sprechen, indem er sie mit immer neuen Situationen konfrontiert. Der Tod hat alle Figuren in Bewegung gesetzt. Die Beziehungen der Überlebenden zueinander, zu den Chinesen, und nicht zuletzt zum Toten, werden in Frage gestellt. Es entsteht eine allgemeine Entfremdung, die Kommunikation und Verständigung der Menschen miteinander wird unmöglich. Ein Gespräch, eine scheinbar naive Frage oder eine harmlose Bemerkung eines Chinesen machen die China-Reisenden schon nachdenklich über das Eigene und umgekehrt stossen eine Erklärung, eine ernste Frage der China-Reisendan an die Chinesen auf Unverständnis. Stappung, der unfähig zur Kommunikation ist, meint er sei der Einzige der Reisegruppe, der China versteht. Er ist immer auf der Jagd nach Zahlen für seine Bücher über China und meint aus "Erfahrung", "dass man mit den Chinesen deutlich und bestimmt sein müsse". Der Schriftsteller Samuel beschäftigt sich mit einem mehr abstrakten Chinabild. Das China von Gallus ist für ihn ein Paradies, er verklärt alles in China oder krempelt das Fremde nach eingenem Muster um. Er ist und bleibt ein Verehrer von Mao Zedong. Der Buchhändler Jules geht davon aus, dass China einfach nichts Falsches machen kann. Sein Lob am neuen China ist von der chinesischen Realität weit entfernt. Gallus und Jules sehen auch keine Notwendigkeit, ihre Bilder von China zu ändern, sie glauben noch eher an ihre Bestätigung und wollen nicht aus dem schönen Chinatraum erwachen. Martin ist auf der Suche nach der Wahrheit nach China gekommen. Er will wissen, wie es während der Kulturrevolution ausgesehen hat und wie die heutige Situation aussieht. Die China-Reise von Bernhard, dem Erzähler und Gaby war ursprünglich eher die Flucht aus einer unglücklichen Ehe. Anders als Bernhard, der mit kühlem Kopf und grosser Aufmerksamkeit alles beobachtet und kommentiert, hat Gaby von Anfang an kein Interesse für China. China ist nur soweit für sie interessant, weil es "weit genug weg von ihrem Mann ist". Der Roman ist eine Beschäftigung mit dem Eigenen in der Konfrontation mit der Fremde. Das Fremde dient als Kontrastmittel zum Erhellen des Eigenen, als Anregung zur Selbsterfahrung. Das Fremde wird ein Spiegel des Eigenen : Die eigene Menschlichkeit wird in der Interaktion mit der Fremde getestet ; die Selbsterfahrung wird auf dem Hintergrund des Fremden projiziert ; der erste Schritt zur Selbsterläuterung wird mit Hilfe der Fremde getan. Muschg hat ein lebendiges, glaubwürdiges Bild des heutigen China vermittelt. Adrian Hsia : Muschg lässt China sich selbst darstellen, aus der Sicht einer offiziellen oder offiziösen Delegation, die das Land bereist. Darin liegt die Stärke und vielleicht auch die Schwäche dieses Romans. Von grossem Interesse sind die Mitglieder der Delegation, die Charaktere des Romans, die in ihrem Bezug zu China dargestellt werden. Fast alle repräsentativen europäischen Perspektiven China gegenüber sind in den Charakteren vertreten… Alle finden ihre Ansichten über China während ihres China-Aufenthalts bestätigt. Muschg stellt die Chinesen als normale Menschen dar und die von einigen Charakteren vorgenommene Projektion des unheimlichen und undurchsichtigen Chinesentums wird als Vorurteil entlarvt. Ausserdem erweist sich eine Verständigung mit den Chinesen trotz der Sprachschwierigkeiten sogar bei einer kurzen Reise als möglich. Thomas Lange : Der Roman betrifft die europäisch-chinesische Konfrontation. Was Eurpäer über China mutmassen, sind immer auch Vermutungen über die Europäer. China tritt als das „andere“ dem Besucher fast tautologisch entgegen. Ein Gespräch auf der Grossen Mauer : „Hier China. Dort drüben alles andere. Das Reich der Mitte. Und der Rest der Welt : Randgebiet… Es gibt nur einen Grund, drinnnen zu bleiben, einen einzigen. – Nämlich ? Wenn man Chinese ist, sagt Samuel. Bodo Plachta : Odyssee eines Kongressteilnehmers zwischen Flugplatz, Hotel und deutscher Botschaft in Beijing, ohne dass er sein Reiseziel, die Teilnahme an einem Konfuzius-Kongress erreicht. Er meint : „Überdies verbot sich eine novellistische Behandlung meines Lebens in Peking ja schon deshalb von selber, weil ich genaugenommen ausser einem Blick aus dem Fenster nichts von Peking gesehen hatte, was einer ausschmückenden Beschreibung wert gewesen wäre, und auch die Fahrt durch die nächtliche Hauptstadt hätte bestenfalls für ein paar beiläufige Bemerkungen zur Illustration des atmosphärischen Hintergrunds getaugt“. Krügers Erzählung dokumentiert die Stationen einer Flucht, deren Ungewolltheit vom Ich-Erzähler zwar mehrfach beteuert wird, deren Inszenierung aber unter einer von Obsessionen und Wahnvorstellungen zusammenbrechende Dramaturgie zur banalen Parodie auf vergleichbare literarische Vorwürfe zu verkommen droht. Der eigentliche Anlass der Reise, die Einladung der chinesischen Akademie zu einem Vortrag auf einem internationalen Konfuzius-Kongress, setzt einen Prozess von tatsächlichen und phantasierten Ereignissen und Verwicklungen in Gang, der anfangs noch eine Lösung aus den heimatlichen sozialen Bindungen verspricht. Die läuternde Wirkung der Ferne aber wird überschätzt, im Endeffekt werden die sozialen und kommunikativen Defizite des Ich-Erzählers noch vergrössert, er selbst mehr und mehr isoliert, so dass er seine Umgebung schliesslich als „Folterkrammer“ und „Zwinger“ wahrnimmt… In der Erzählung werden nur zwei genau lokalisierbare Örtlichkeiten erwähnt, die exemplarisch das landläufige China-Bild repräsentieren : zum einen der Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Fahrradgewirr, Lampenmasten und Lautsprecherkränzen, bunten Fahnen sowie dem Bild Mao Zedongs am Eingangstor zur Verbotenen Stadt, und zum anderen die Gräber der Ming-Dynastie. Dieses kulissenhafte China-Bild setzt sich fort in den ebenso plakativen Gegenüberstellungen vom „modernen China“ und dem „wahren China“… Die Pekinger Erlebnisse werden durch ein Tagebuch und durch Notizbücher dokumentiert : „Es lag ein Nachmittag hinter mir, dessen letztes Drittel ich darauf verwendet hatte, all die chinesischen Ungereimtheiten in meinem Tagebuch, alle offenen, später zu klärenden Fragen in das grüne, alle theoretischen Exkurs in das schwarze Notizbuch einzutragen… während das Tagbuch dazu herhalten musste, einen schematischen Grundriss der Ereignisse in Peking in zeitlicher Folge aufzunehmen, der es mir später einmal ermöglichen sollte, die Dinge aus meiner Sicht zu rekonstruieren, falls dies – etwa vor Gericht – gewünscht würde“. Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]. (Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800]). Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen. |
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6 | 1982 |
Wickert, Erwin. China von innen gesehen [ID D3874]. Horst Denkler : Wickert unterstreicht, dass das altüberkommene wie das gegenwärtig geltende chinesische Wertesystem soziales Verantwortungsbewusstsein und soziale Integrationsbereitschaft über die abendländischen Grundwerte persönlicher Freiheit, subjektiver Selbstverwirklichung und privaten Glücks stelle ; und er empfiehlt den von "extremem Liberalismus" und "allgemeiner Permissivität" gepackten Deutschen, von den Chinesen zu lernen. Er schreibt : Mit vielen dieser alten, traditionellen Vorstellungen denken die Chinesen moderner als wir und sind für die Zukunft besser gerüstet : Denn in einer enger werdenden und sich immer mehr verflechtenden Welt ist eine Begrenzung der individuellen Freiheiten und eine Rückbesinnung auf die sozialen Pflichten unvermeidlich. |
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# | Year | Bibliographical Data | Type / Abbreviation | Linked Data |
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1 | 2000- | Asien-Orient-Institut Universität Zürich | Organisation / AOI |
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