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“China als Metapher : Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert” (Publication, 1986)

Year

1986

Text

Lange, Thomas. China als Metapher : Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Lange1)

Type

Publication

Contributors (1)

Lange, Thomas  Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte

Subjects

Literature : Occident : China as Topic / Literature : Occident : Germany : Prose / References / Sources

Chronology Entries (4)

# Year Text Linked Data
1 1939 Brunngraber, Rudolf. Opiumkrieg [ID D13153].
Thomas Lange : Das deutsche Propaganda-Ministerium lässt das Buch gezielt zum Kriegseintritt erscheinen, denn es betrifft die Denunziation des englischen Profitinteresses im Opiumkrieg. Brunngraber spricht vom Sieg der Kriegstechnik über die alte chinesische Kultur. Aus dem historischen Roman wird ein kulturkritischer, politischoppositioneller Roman. Die Zerstörungskraft der europäischen Moderne in ihrer Kombination von Technik und Ökonomie scheint unaufhaltsam.

Gegenstand dieses Romans ist der chinesisch-britische Opiumkrieg, der um 1840 geführt wurde und der unter anderem auch die Abtretung Hongkongs an Großbritannien zur Folge hatte. Doch eigentlich nimmt der Krieg selbst nur einen sehr kleinen Platz in dieser Geschichte ein - zentral hingegen sind die Zustände und Ereignisse, die zum Krieg führen bzw ihn letztlich unabwendbar machten. Die Hauptfigur, der Engvertraute des chinesischen Kaisers und hochrangige chinesische Staatsmann Tschun-Lin Tsesiu, dem es endlich gelingt, den verbotenen und für das Volk so verheerenden Opiumimport zu unterbinden und der in weiterer Folge den drohenden Krieg verhindern möchte, scheitert an den vielschichtigen Intrigen, die am kaiserlichen Hof gegen ihn laufen. Und so ereignet sich ein Krieg, der hätte vermieden werden können, wenn er nicht von so vielen Seiten herbeigewünscht worden wäre. Der Autor betont, daß der Handlungsgang sowie die zitierten Dokumente historisch sind. Somit gelingt ihm in diesem Geschichtsroman auch ein beispielhaftes Bildungswerk. Neben der Aufarbeitung der vielschichtigen politischen Kriegsursachen ist auch die Beiläufigkeit faszinierend, mit der Elemente der chinesischen Verwaltungsorganisation, der Kultur und vor allem ihrer Geisteshaltung (im besonderen der Strategien zur Problembewältigung) geschildert werden, ohne jemals den Handlungslauf zu unterbrechen oder sein Tempo zu reduzieren.
2 1945 Frisch, Max. Bin : oder, die Reise nach Peking [ID D3515].
Adrian Hsia : Der Text erweckt beim Leser den Eindruck, dass die Zeit um zwei Jahrhunderte zurückversetzt wurde. Offensichtlich liegt Beijing im ersten Text mit seinen glänzenden Dächern und Pagoden in einer auf einem Porzellan-Stück gemalten Landschaft zur Zeit eines Johann Georg Hörodt. Es könnte auch dem China-Bild von Eichrodt entstammen, denn in Frischs Beijing wimmelt es von kleinen Menschen mit gelben Spitzhüten und Wasserverkäufern. Diese Seelen stehen still, denn die Zeit soll eine europäische Erfindung sein und im Porzellan-China unbekannt, dessen Einwohner nur davon leben, Tee zu trinken und sich gegenseitig zu verbeugen. Ausserdem ist der dickleibigste der vornehmste Chinese bei Frisch.

Thomas Lange : Frisch macht die Sehnsucht nach einer Gegenwirklichkeit zum Thema seines Buches, allerdings ist diese nun ganz unpolitisch gemeint. Ausbruch aus dem Alltag, Abstreifen der sozialen Rolle sind die dominierenden Themen. Er schreibt : „In Peking, denke ich, können all solche Dinge nicht vorkommen, die jeder von uns kennt, so dass sie ihm in der Galle lieben. Hier ist es alles anders“. Diese Andersartigkeit meint, und da kommen wieder bekannte Motive ins Spiel : Musse, Frieden, Höflichkeit, Schönheit. Das chinesische Ambiente wird nur durch dekorative Gegenstände voziert : Bambus, Büffel, Pfirsichblüte, Seide. Das Kollektivklischee von den „Ameisen“ dreht Frisch einfach um : „Ich weiss nicht, wessen Sklaven wir sind. Wir leben wie die Ameisen, drüben im Abendland… Wir nennen es die Wochentage. Das heisst, jeder Tag hat seine Nummer, und am siebten Tage läuten die Glocken ; dann muss man spazieren und ausruhen, damit man wieder von vorne beginnen kann“.
Charakteristischerweise kann die Sehnsucht aber kein Ende, kann ihr Ziel nicht finden. Das Fremde entpuppt sich schliesslich als schon bekanntes Eigenes, das chinesische Haus in Peking ist vom Erzähler selbst konstruiert.

Chen Huimin : Es wird in Bin nur gezeigt, was in einem sich zerrissen fühlenden Schweizer Bürger vorgeht, was er wünscht, sucht und erwartet. Der Leser wird (nicht nur) daran gehindert, sich wie in einem chinesischen Haus zu fühlen, sondern er denkt distanziert über das auf diese verfremdende Weise Gesagte nach.
Geht Frisch hier auf die eine Traditionslinie des geistigen, positiven Chinabildes ein, so nimmt er die negativ-despotische Variante als Grundlage seiner Farce „Die chinesische Mauer“. In Übernahme von Brechts Verfremdungs- Dramaturgie (und mit Anklängen an dessen dramatische Tui-Satire) will Frisch vor der Willkür politischer Macht, vor der Gefahr eines Atomkrieges warnen. Wie in Brechts Drama die „chinesischen“ Tugenden von Geduld und Entsagung als nützliche Ideologie entlarvt werden, so ist für Frisch der Kaiser Hwang-ti [Huangdi] das Urbild eines Tyrannen. Der simple Verfremdungsmechanismus wird aus chinesischer Perspektive so beschrieben : „So wie ein Europäer, der blonde Haare, blaue Augen und eine grosse Nase hat, unter den Chinesen im chinesischen Milieu ganz auffällig wirkt, sind die chinesischen Elemente dem europäischen Zuschauer auch fremd, auffällig, merkwürdig. Für die Europäer sind die Figuren das Fremde, aber was sie zeigen, ihr Handeln ist das Eigene.
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 52. (Hsia12, Publication)
  • Person: Frisch, Max
3 1980 Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800].
(Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]).

Qixuan Heuser : Als "China-Roman" mag in dem Buch von Grass wenig direkt von China die Rede sein. Zum einen besteht das Buch aus zwei Geschichten, der Geschichte der Ich-Erzählers und der seiner Filmfiguren. China kommt hauptsächlich in der ersten vor. Zum anderen legt der Erzähler allgemein den Schwerpunkt nicht auf die Darstellung Chinas, sondern auf die Bezugnahme auf China. Letzteres ist gerade die Besonderheit der China-Rezeption bei Grass. Wo die Rede von China aufhört, bleibt die Chinabezogenheit. So werden erzähltechnisch die direkte und die indirekte Chinabezogenheit in zwei Ebenen aufgeteilt : in die Ebene der erzählten Wirklichkeit (während und unmittelbar nach der Chinareise des Ich-Erzählers), auf welcher er seine Gedanken über das Aussterben der Deutschen als Reflexion auf das typische China-Erlebnis mit dem Fahrraddschungel spekulativ entfaltet, und in die Ebene der erzählten Fiktion (Filmhandlung vor, während und nach der Asienreise eines deutschen Lehrerpaares), auf welcher der als Drehbuchautor den Gegensatz zwischen dem deutschen Aussterben und der chinesischen Überbevölkerung – in einer indischen bzw. indonesischen Variation – zum Thema macht.
Als Schriftsteller wird der Ich-Erzähler zu Lesungen und Vorträgen nach China eingeladen, das gerade die Kulturrevolution durchgemacht hat. Während und neben dieser beruflichen Tätigkeit gewinnt er durch den Kontakt mit den Chinesen und die eigenen Beobachtungen Einblick in das unlängst der Welt geöffnete Land. Während sich der Erfahrungsaustausch mit den chinesischen Intellektuellen hauptsächlich auf das Kulturleben in China beschränkt, hat er aus den eigenen Beobachtungen heraus ein allgemeines China-Bild skizziert : „Vor allem sind die Radfahrer, die sich in Haltung und Kleidung unendlich wiederholen“. „Beiderseits des Zuges wiederholten sich Reisterrassen. Der Nassfelderanbau. Die ausladenden, systemüberlebenden Strohüte der überall fleissig gebückten Arbeitskräfte. Soviel Nutzen. Alles von Menschenhand“. „Die Chinesen [essen] in aller Welt zum Mondfest jenen Mondkuchen, dessen Süsse uns in Kanton [Guangzhou], Hongkong, Singapore gleich süss ist“ ; „starr, unverrückbar (und doch seit dem Baubeginn vergeblich) [kriecht] die [chinesische] Mauer in immer kühneren Verkürzungen über Bergkämme“.
Nur eine Kleinigkeit des aktuellen China-Bildes wird gestreift, indem der Erzähler das chinesische Motto der Vier Modernisierungen auf den aufgehängten Spruchbändern erwähnt, die er kaum übersehen kann. Die Interessen des Beobachtenden für das chinesische Gesellschaftmodell statt für dessen einzelne Menschenschicksale, für das relative Dauerbild statt für das Augenblickliche sind an diesem China-Bild deutlich erkennbar…
Eine Parallele zur Situation der deutschen Schriftsteller, „die während des Dritten Reiches ihre Werke in jenem Freigehege veröffentlicht haben, das ihnen die Nazis eingeräumt hatten“, sieht der Erzähler in der Lage der chinesischen Schriftsteller, „die sich zwölf Jahre lang der Kulturrevolution, der ‚Viererbande’ verschrieben hatte… Auch ein anderes Problem der Deutschen, der Konflikt zwischen Kulturschaffenden und den Regierenden, ist den chinesischen Kollegen vertraut.
Schliesslich denkt sich der Ich-Erzähler einen Austausch der psychischen Probleme zwischen Chinesen und Deutschen als Folge der Umkehrung der Bevölkerungszahlen der beiden Länder aus. Dabei lässt er die Deutschen ihre „Überlegenheit“ in der Bewältingung der psychischen Probleme einbüssen : „Und hätten wir Deutsche, wenn wir uns anstelle der Chinesen zu einer Milliarde ausgewachsen hätten, dann, weil um jeden vor- und ausserehelichen Lustgewinn gebracht, die nicht erkennbaren, von niemand behandelten, auf keiner Couch analysierten Komplexe und Neurosen der Chinesen, während sich, stellvertretend für uns, das auf achtzig und immer weniger Millionen schrumpfende chinesische Volk, vom Aussterben bedroht und vom Lustgewinn übersättigt, mit unseren deutschartigen Komplexen und Neurosen rumzuplagen hätte, also eine wachsende Zahl von Psyhiatern, von Analytikern und Therapeuten ernähren müsste.
Der Ich-Erzähler geht sachlich dem Bevölkerungsproblem Chinas nach, vor allem der grossen chinesischen, von der ganzen Welt mit Distanz und Sorge und nicht ohne Vorwürfe verfolgte Kampagne der Ein-Kind-Familie. Etwas völlig Unverständliches ist für ihn das Verbot des vor- und ausserehelichen Sexulalverkehrs in China…
Der Ich-Erzähler übt Kritik an der deutschen journalistischen China-Rezeption : „Stern- und Spiegel-Reporter zählen Mächen in Röcken, Dauerwellenköpfe, Lippenstiftspuren und ähnliche Attribute westlicher Liberalität, fotografieren sie ab, vertexten sie und lassen ihre vorgefasste Meinung zur falschen Information gerinnen. Wäre es nicht genauer und deshalb gerechter, das chinesische Volk und seine Gesellschaftsordnung am Zustand jener Staaten der Dritten Welt zu messen, die sich dem westlichen Liberalismus in Gestalt seines Wirtschaftssystems ausgesetzt haben und deren traurige Rekorde Landflucht und Verslumung, Raubbau und Verkarstung, Unterernährung und Hunger, Luxus und Elend, staatliche Willkür und, alles überragend : Korruption heissen ?“

Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen.

Bodo Plachta : Das Lehrerehepaar Dörte und Herm Peters wählt unter den Reiseangeboten so lange aus, bis es ein Asien-Programm gefunden hat, das ihm seine „objektive Urteilskraft“ garantiert und es nicht zu „üblichen Touristen“ macht.

Thomas Lange : Der romanhafte Reisebericht sucht immer wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie überraschend darin, dass dort wie hier die Mächtigen sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, „die unruhig sesshaften Nestbeschmutzer“, äussern. „Das war nicht fremd oder zu weit weg.
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Mein Bild in deinem Auge : Exotismus und Moderne : Deutschland - China im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Kubin. (Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995). S. 166-167. (KW6, Publication)
  • Document: Heuser, Qixuan. Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen. (Freiburg, Schweiz : Universität Freiburg, 1996). Diss. Univ. Freiburg, 1996. S. 10-22. (Heus1, Publication)
  • Person: Grass, Günter
4 1980 Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435].
Muschg sagt im Interview mit Rolf Kieser : Selbstverständlich ist es kein Buch über China, was ich versuche, sondern ein Buch über China-Reisende.
Qixuan Heuser : Eine schweizerische Delegation wird offiziell nach China eingeladen. Die Zusammensetzung der Delegation dient dem Ziel, "China aus der Sicht von Experten kennenzulernen, die ausgetretenen Pfade zu meiden". Die Begegnung mit der chinesischen Welt wird eher in der Beobachtung des einzelnen konkreten menschlichen Verhaltens als in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen dargestellt. China wird auch nicht aus der Sichtweise einer Person, sondern aus den Sichtweisen von acht Personen betrachtet, obwohl das Ganze aus der Perspektive des persönlichen Beobachters, des Ich-Erzählers, erzählt wird.
Als Spezialisten in verschiedenen Bereichen haben die Reiseteilnehmer verschiedene Interessen an China mitgebracht, die eindeutig mit ihren verschiedenen Berufen zusammenhängen.
Der Biologe Gallus bewundert vor allem das chinesische Leben, in dem das Gesetz der Natur noch eine wichtige Rolle spielt. Was er sonst noch von China bewundert, ist Mao, "der nicht nur China zum ersten Mal in seiner Geschichte von Mangel und Hunger befreit, sondern seinem Land auch die gültigen Werte zu bewahren gewusst habe, obschon in umgestalteter Form".
Gaby, die Gattin des Handelskammer-Direktors vertritt das rein touristische Interesse an China.
Der Buchhändler Jules erhofft sich offensichtlich, in China etwas Radikales und Revolutionäres zu erleben.
Den Entwicklungshelfer Martin interessiert, "wie der neue Kurs sich manifestiere, den die chinesische Führung nach Maos Tod, die Kampagne gegen die Viererbande benützend, eingeschlagen habe".
Der Delegationsleiter Agronomieprofessor Stappung interessiert sich nur für die chinesischen Landwirtschaft und ignoriert China. Was ihn ausser Arbeitsdisziplin kennzeichnet, ist seine Rücksichtslosigkeit gegenüber den chinesischen Gastgebern und den mitreisenden Landsleuten. Den Chinesen gegenüber verhält er sich wie ein "Kolonialherr". China kennenzulernen heisst für ihn, gut informiert zu sein, wie z.B. über die Zahlen des Produktionszuwachses.
Dem Schriftsteller Samuel gibt die Chinareise Anregungen zum Nachdenken, Philosophieren und Spekulieren. Auf der Grossen Mauer geht Samuel die symbolische Bedeutung durch den Kopf. Sie ist die Trennung zwischen dem Reich der Mitte und dem Rest der Welt, zwischen Drinnen und Draussen, Despotie und Freiheit, Osten und Westen. Er widmet seine Begeisterung dem China eines Idylls und er möchte China und die Chinesen verstehen lernen.
Der Psychologe, der Ich-Erzähler verhält sich weder als Bewunderer noch als Kritiker von China. Ihm ist die Begegnung einer Denkweise europäischer Ausprägung mit der chinesischen Realität ständig bewusst, wobei er China zwangsläufig durch den Vergleich mit den europäischen Verhältnissen zu verstehen versucht. So wie er keinen Zugang zum Leben der Arbeiter findet, verstehen die Chinesen nichts von dem Beruf des Psychotherapeuten.
Durch die Gaby-Szene kommt der Ich-Erzähler noch auf einen anderen Unterschied zwischen Chinesen und Europäern. Die Agressivität zwischen Gaby und Paul als der Ausbruch der Spannung in der Gruppe demonstriert die Unfähigkeit der Europäer, Gruppen zu bilden. Die Individualisierung als eine Folge der westlichen Zivilisation beherrscht die Lebens- und Denkweise der Menschen. Das Individuum ist der Mittelpunkt seines Handelns. Dazu sieht er in China ein Gegenbild. Die Gruppe spielt in der chinesischen gesellschaftlichen Struktur eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler sucht in China nach Problemen, wobei er sich nur Probleme vorstellen kann, die er vom eigenen europäischen Kulturkreis her kennt, wie z.B. Depressionen, Homosexualität. Dass diese Wörter für die unwissenden Chinesen einer Aufklärung bedürfen, lassen ihn verzweifeln. Der Ich-Erzähler distanziert sich von der Rolle des beurteilenden Experten, er reagiert nicht nur passiv auf China, sondern er probiert, sich und die eigenen Landsleute auch umgekehrt aus der chinesischen Sicht zu sehen. Er hält sich und den Landsleuten nicht nur China als Spiegel entgegen, in welchem er diese anders sehen kann, sondern er versucht auch die subjektive Erklärung der wahrgenommenen chinesischen Realität zu relativieren, um beim Bewusstsein zu bleiben, dass man beim Beurteilen der anderen Verhältnisse ganz andere gesellschaftliche Normen berücksichtigen soll. Folgerichtig kommt zwischen die spontanen Eindrücke und deren willkürliche Lenkung immer wieder der eigene Zweifel an dem eigenen Verständnis des Wahrgenommenen überhaupt. Deshalb betont er : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht. Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger".
Dieses Bewusstsein der eigenen Grenze gebietet ihm, in den Gedankenäusserungen über China überall Vorsicht und Rücksicht walten zu lassen, vor allem Vorsicht vor den Fehlinterpretationen und Rücksicht auf das Anderssein.
In einem Interview mit Rolf Kieser sagt Muschg : "China und Japan machen es einem viel leichter, ein Buch zu schreiben, weil dort die Staffage, die Kulisse, das Befremdende mitspielt und dem Stoff zugute kommt, ihm einen Reiz hinzufügt, den man nicht erfinden kann".

Gao Yunfei : Obwohl der Roman auf einem chinesischen Hintergrund spielt, oder gerade weil der Roman auf dem fremden Boden spielt, wird das Problem des "unzureichenden Kontakes der Figuren zu sich selbst und zueinander" hervorgehoben. Die Begegnung mit der Fremde wird den China-Reisenden zum Prüfstein für ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Die chinesische Reiseorganisation sorgt für eine glatte Abwicklung des Besuchsprogramms. Die China-Reisenden streiten sich, lassen sich jedoch von den Chinesen vom Süden nach Norden, von Landkommunen in die Industrie, von Sehenswürdigkeiten zu Kulturabenden durch China führen. In der letzten Station, wenige Tage vor der Abreise, stirbt der Delegationsleiter Hugo Stappung. Hier beginnt die Geschichte und wird in Rückblenden aufgezeichnet.
Bevor die China-Reisenden direkt mit China, dem äusseren, kulturräumlichen Fremden konfrontiert werden, sind sie dem eigenen Fremden gegenübergestellt. Muschg lässt seine Figuren für sich sprechen, indem er sie mit immer neuen Situationen konfrontiert. Der Tod hat alle Figuren in Bewegung gesetzt. Die Beziehungen der Überlebenden zueinander, zu den Chinesen, und nicht zuletzt zum Toten, werden in Frage gestellt. Es entsteht eine allgemeine Entfremdung, die Kommunikation und Verständigung der Menschen miteinander wird unmöglich. Ein Gespräch, eine scheinbar naive Frage oder eine harmlose Bemerkung eines Chinesen machen die China-Reisenden schon nachdenklich über das Eigene und umgekehrt stossen eine Erklärung, eine ernste Frage der China-Reisendan an die Chinesen auf Unverständnis.
Stappung, der unfähig zur Kommunikation ist, meint er sei der Einzige der Reisegruppe, der China versteht. Er ist immer auf der Jagd nach Zahlen für seine Bücher über China und meint aus "Erfahrung", "dass man mit den Chinesen deutlich und bestimmt sein müsse". Der Schriftsteller Samuel beschäftigt sich mit einem mehr abstrakten Chinabild. Das China von Gallus ist für ihn ein Paradies, er verklärt alles in China oder krempelt das Fremde nach eingenem Muster um. Er ist und bleibt ein Verehrer von Mao Zedong. Der Buchhändler Jules geht davon aus, dass China einfach nichts Falsches machen kann. Sein Lob am neuen China ist von der chinesischen Realität weit entfernt. Gallus und Jules sehen auch keine Notwendigkeit, ihre Bilder von China zu ändern, sie glauben noch eher an ihre Bestätigung und wollen nicht aus dem schönen Chinatraum erwachen. Martin ist auf der Suche nach der Wahrheit nach China gekommen. Er will wissen, wie es während der Kulturrevolution ausgesehen hat und wie die heutige Situation aussieht. Die China-Reise von Bernhard, dem Erzähler und Gaby war ursprünglich eher die Flucht aus einer unglücklichen Ehe. Anders als Bernhard, der mit kühlem Kopf und grosser Aufmerksamkeit alles beobachtet und kommentiert, hat Gaby von Anfang an kein Interesse für China. China ist nur soweit für sie interessant, weil es "weit genug weg von ihrem Mann ist".
Der Roman ist eine Beschäftigung mit dem Eigenen in der Konfrontation mit der Fremde. Das Fremde dient als Kontrastmittel zum Erhellen des Eigenen, als Anregung zur Selbsterfahrung. Das Fremde wird ein Spiegel des Eigenen : Die eigene Menschlichkeit wird in der Interaktion mit der Fremde getestet ; die Selbsterfahrung wird auf dem Hintergrund des Fremden projiziert ; der erste Schritt zur Selbsterläuterung wird mit Hilfe der Fremde getan. Muschg hat ein lebendiges, glaubwürdiges Bild des heutigen China vermittelt.

Adrian Hsia : Muschg lässt China sich selbst darstellen, aus der Sicht einer offiziellen oder offiziösen Delegation, die das Land bereist. Darin liegt die Stärke und vielleicht auch die Schwäche dieses Romans. Von grossem Interesse sind die Mitglieder der Delegation, die Charaktere des Romans, die in ihrem Bezug zu China dargestellt werden. Fast alle repräsentativen europäischen Perspektiven China gegenüber sind in den Charakteren vertreten… Alle finden ihre Ansichten über China während ihres China-Aufenthalts bestätigt. Muschg stellt die Chinesen als normale Menschen dar und die von einigen Charakteren vorgenommene Projektion des unheimlichen und undurchsichtigen Chinesentums wird als Vorurteil entlarvt. Ausserdem erweist sich eine Verständigung mit den Chinesen trotz der Sprachschwierigkeiten sogar bei einer kurzen Reise als möglich.

Thomas Lange : Der Roman betrifft die europäisch-chinesische Konfrontation. Was Eurpäer über China mutmassen, sind immer auch Vermutungen über die Europäer. China tritt als das „andere“ dem Besucher fast tautologisch entgegen. Ein Gespräch auf der Grossen Mauer : „Hier China. Dort drüben alles andere. Das Reich der Mitte. Und der Rest der Welt : Randgebiet… Es gibt nur einen Grund, drinnnen zu bleiben, einen einzigen. – Nämlich ? Wenn man Chinese ist, sagt Samuel.

Bodo Plachta : Odyssee eines Kongressteilnehmers zwischen Flugplatz, Hotel und deutscher Botschaft in Beijing, ohne dass er sein Reiseziel, die Teilnahme an einem Konfuzius-Kongress erreicht. Er meint : „Überdies verbot sich eine novellistische Behandlung meines Lebens in Peking ja schon deshalb von selber, weil ich genaugenommen ausser einem Blick aus dem Fenster nichts von Peking gesehen hatte, was einer ausschmückenden Beschreibung wert gewesen wäre, und auch die Fahrt durch die nächtliche Hauptstadt hätte bestenfalls für ein paar beiläufige Bemerkungen zur Illustration des atmosphärischen Hintergrunds getaugt“.
Krügers Erzählung dokumentiert die Stationen einer Flucht, deren Ungewolltheit vom Ich-Erzähler zwar mehrfach beteuert wird, deren Inszenierung aber unter einer von Obsessionen und Wahnvorstellungen zusammenbrechende Dramaturgie zur banalen Parodie auf vergleichbare literarische Vorwürfe zu verkommen droht. Der eigentliche Anlass der Reise, die Einladung der chinesischen Akademie zu einem Vortrag auf einem internationalen Konfuzius-Kongress, setzt einen Prozess von tatsächlichen und phantasierten Ereignissen und Verwicklungen in Gang, der anfangs noch eine Lösung aus den heimatlichen sozialen Bindungen verspricht. Die läuternde Wirkung der Ferne aber wird überschätzt, im Endeffekt werden die sozialen und kommunikativen Defizite des Ich-Erzählers noch vergrössert, er selbst mehr und mehr isoliert, so dass er seine Umgebung schliesslich als „Folterkrammer“ und „Zwinger“ wahrnimmt…
In der Erzählung werden nur zwei genau lokalisierbare Örtlichkeiten erwähnt, die exemplarisch das landläufige China-Bild repräsentieren : zum einen der Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Fahrradgewirr, Lampenmasten und Lautsprecherkränzen, bunten Fahnen sowie dem Bild Mao Zedongs am Eingangstor zur Verbotenen Stadt, und zum anderen die Gräber der Ming-Dynastie. Dieses kulissenhafte China-Bild setzt sich fort in den ebenso plakativen Gegenüberstellungen vom „modernen China“ und dem „wahren China“…
Die Pekinger Erlebnisse werden durch ein Tagebuch und durch Notizbücher dokumentiert : „Es lag ein Nachmittag hinter mir, dessen letztes Drittel ich darauf verwendet hatte, all die chinesischen Ungereimtheiten in meinem Tagebuch, alle offenen, später zu klärenden Fragen in das grüne, alle theoretischen Exkurs in das schwarze Notizbuch einzutragen… während das Tagbuch dazu herhalten musste, einen schematischen Grundriss der Ereignisse in Peking in zeitlicher Folge aufzunehmen, der es mir später einmal ermöglichen sollte, die Dinge aus meiner Sicht zu rekonstruieren, falls dies – etwa vor Gericht – gewünscht würde“.

Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435].
(Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800]).
Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen.
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 55-56. (Hsia12, Publication)
  • Document: Heuser, Qixuan. Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen. (Freiburg, Schweiz : Universität Freiburg, 1996). Diss. Univ. Freiburg, 1996. S. 23-35. (Heus1, Publication)
  • Person: Muschg, Adolf