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“Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen” (Publication, 1996)

Year

1996

Text

Heuser, Qixuan. Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen. (Freiburg, Schweiz : Universität Freiburg, 1996). Diss. Univ. Freiburg, 1996. (Heus1)

Type

Publication

Contributors (1)

Heuser, Qixuan  (Chongqing 1956-) : Germanistin

Subjects

Literature : Occident : Germany / References / Sources

Chronology Entries (9)

# Year Text Linked Data
1 1975 Frisch, Max. Notizen von einer kurzen Reise nach China 28.10-4.11.1975.
Frisch schreibt über die Chinesische Mauer : Heute auf der Grossen Mauer. Wenn man dasteht, um zu verschnaufen und festzustellen : Genau wie erwartet und wie schon beschrieben, ja, genau so ist es... ihr Verlauf scheint bestimmt durch das Bedürfnis nach einem Monument, das irgendwo im kahlen Bergland zeigt : Hier beginnt China, das Reich der Himmelssöhne ! Oder von innen her gesehen : Hier endet die Welt, der Rest ist barbarisch.

Qixuan Heuser : Das China, das Frisch schildert, ist noch stark vom Ausklang der Kulturrevolution gekennzeichnet : das Strassenbild ist durch die einheitlich gekleidete Masse „blau-grau-grünlich“ ; die Schulklasse spricht die „Sätze des Vorsitzenden Mao in englischer Sprache“ nach ; an der Universität studieren noch die Arbeiter-Bauern-Soldaten-Studenten – „Ich sehe Burschen, die wahrscheinlich mit einem Schweissbrenner umzugehen wissen, und Mädchen, die mit einer Sichel arbeiten können“ : die Verwaltungen auf allen Ebenen bezeichnen sich als „Revolutionskomitees“ ; die Kulturunterhaltung ist stark ideologisch geprägt – sie bietet die Peking-Oper mit dem Thema des Bauernkampfes und den Ballettanz „eines Mädchens mit Gewehr“ ; schliesslich verhalten sich die chinesischen Dolmetscher übervorsichtig, meiden sie jedes Gespräch mit den westlichen Besuchern. All das sind zeitbedingte und bald verschwundene Erscheinungen, die die späteren Chinabesucher nicht mehr vorfinden. Frischs Frage : „Was kommt nach Mao Tse-tung?“ findet in den China-Romanen der späteren Chinabesucher indirekte Antworten. Was Frisch seinerzeit in China vermisst hat, wie Schaufenster und Reklame, kommt in bald folgenden Darstellungen der Chinareisen vor. Doch manches durchhaltend Chinesische, was Frisch damals schon beschäftigt, erfährt eine Kontinuität in dem literarischen China-Bild der achziger Jahre. Frischs Beschreibung der chinesischen Masse, die sich „ohne Hast zu Fuss, im Bus, die meisten auf Fahrrädern“ bewegt, dabei als eine „gesittete Masse“ erscheint, die „keine Verzweiflung kennt und „viel Geduld“ aufweist, finden bei anderen China beschreibenden Schriftstellern immer wieder Ergänzungen, Erweiterungen oder Variationen. Auch Frisch Skepsis zu der Möglichkeit des Lebens der jungen Leute unter dem Verbot der unehelichen Sexualität in China besteht in den China-Romanen der achtziger Jahre fort.
  • Document: Wu, Jianguang. Die chinesische Bildwelt als Exotik für den chinesischen Leser : am Beispiel der Chinesischen Mauer von Max Frisch. In : Orientierungen ; 2 (1989). (WuJ1, Publication)
  • Person: Frisch, Max
2 1980 Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800].
(Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]).

Qixuan Heuser : Als "China-Roman" mag in dem Buch von Grass wenig direkt von China die Rede sein. Zum einen besteht das Buch aus zwei Geschichten, der Geschichte der Ich-Erzählers und der seiner Filmfiguren. China kommt hauptsächlich in der ersten vor. Zum anderen legt der Erzähler allgemein den Schwerpunkt nicht auf die Darstellung Chinas, sondern auf die Bezugnahme auf China. Letzteres ist gerade die Besonderheit der China-Rezeption bei Grass. Wo die Rede von China aufhört, bleibt die Chinabezogenheit. So werden erzähltechnisch die direkte und die indirekte Chinabezogenheit in zwei Ebenen aufgeteilt : in die Ebene der erzählten Wirklichkeit (während und unmittelbar nach der Chinareise des Ich-Erzählers), auf welcher er seine Gedanken über das Aussterben der Deutschen als Reflexion auf das typische China-Erlebnis mit dem Fahrraddschungel spekulativ entfaltet, und in die Ebene der erzählten Fiktion (Filmhandlung vor, während und nach der Asienreise eines deutschen Lehrerpaares), auf welcher der als Drehbuchautor den Gegensatz zwischen dem deutschen Aussterben und der chinesischen Überbevölkerung – in einer indischen bzw. indonesischen Variation – zum Thema macht.
Als Schriftsteller wird der Ich-Erzähler zu Lesungen und Vorträgen nach China eingeladen, das gerade die Kulturrevolution durchgemacht hat. Während und neben dieser beruflichen Tätigkeit gewinnt er durch den Kontakt mit den Chinesen und die eigenen Beobachtungen Einblick in das unlängst der Welt geöffnete Land. Während sich der Erfahrungsaustausch mit den chinesischen Intellektuellen hauptsächlich auf das Kulturleben in China beschränkt, hat er aus den eigenen Beobachtungen heraus ein allgemeines China-Bild skizziert : „Vor allem sind die Radfahrer, die sich in Haltung und Kleidung unendlich wiederholen“. „Beiderseits des Zuges wiederholten sich Reisterrassen. Der Nassfelderanbau. Die ausladenden, systemüberlebenden Strohüte der überall fleissig gebückten Arbeitskräfte. Soviel Nutzen. Alles von Menschenhand“. „Die Chinesen [essen] in aller Welt zum Mondfest jenen Mondkuchen, dessen Süsse uns in Kanton [Guangzhou], Hongkong, Singapore gleich süss ist“ ; „starr, unverrückbar (und doch seit dem Baubeginn vergeblich) [kriecht] die [chinesische] Mauer in immer kühneren Verkürzungen über Bergkämme“.
Nur eine Kleinigkeit des aktuellen China-Bildes wird gestreift, indem der Erzähler das chinesische Motto der Vier Modernisierungen auf den aufgehängten Spruchbändern erwähnt, die er kaum übersehen kann. Die Interessen des Beobachtenden für das chinesische Gesellschaftmodell statt für dessen einzelne Menschenschicksale, für das relative Dauerbild statt für das Augenblickliche sind an diesem China-Bild deutlich erkennbar…
Eine Parallele zur Situation der deutschen Schriftsteller, „die während des Dritten Reiches ihre Werke in jenem Freigehege veröffentlicht haben, das ihnen die Nazis eingeräumt hatten“, sieht der Erzähler in der Lage der chinesischen Schriftsteller, „die sich zwölf Jahre lang der Kulturrevolution, der ‚Viererbande’ verschrieben hatte… Auch ein anderes Problem der Deutschen, der Konflikt zwischen Kulturschaffenden und den Regierenden, ist den chinesischen Kollegen vertraut.
Schliesslich denkt sich der Ich-Erzähler einen Austausch der psychischen Probleme zwischen Chinesen und Deutschen als Folge der Umkehrung der Bevölkerungszahlen der beiden Länder aus. Dabei lässt er die Deutschen ihre „Überlegenheit“ in der Bewältingung der psychischen Probleme einbüssen : „Und hätten wir Deutsche, wenn wir uns anstelle der Chinesen zu einer Milliarde ausgewachsen hätten, dann, weil um jeden vor- und ausserehelichen Lustgewinn gebracht, die nicht erkennbaren, von niemand behandelten, auf keiner Couch analysierten Komplexe und Neurosen der Chinesen, während sich, stellvertretend für uns, das auf achtzig und immer weniger Millionen schrumpfende chinesische Volk, vom Aussterben bedroht und vom Lustgewinn übersättigt, mit unseren deutschartigen Komplexen und Neurosen rumzuplagen hätte, also eine wachsende Zahl von Psyhiatern, von Analytikern und Therapeuten ernähren müsste.
Der Ich-Erzähler geht sachlich dem Bevölkerungsproblem Chinas nach, vor allem der grossen chinesischen, von der ganzen Welt mit Distanz und Sorge und nicht ohne Vorwürfe verfolgte Kampagne der Ein-Kind-Familie. Etwas völlig Unverständliches ist für ihn das Verbot des vor- und ausserehelichen Sexulalverkehrs in China…
Der Ich-Erzähler übt Kritik an der deutschen journalistischen China-Rezeption : „Stern- und Spiegel-Reporter zählen Mächen in Röcken, Dauerwellenköpfe, Lippenstiftspuren und ähnliche Attribute westlicher Liberalität, fotografieren sie ab, vertexten sie und lassen ihre vorgefasste Meinung zur falschen Information gerinnen. Wäre es nicht genauer und deshalb gerechter, das chinesische Volk und seine Gesellschaftsordnung am Zustand jener Staaten der Dritten Welt zu messen, die sich dem westlichen Liberalismus in Gestalt seines Wirtschaftssystems ausgesetzt haben und deren traurige Rekorde Landflucht und Verslumung, Raubbau und Verkarstung, Unterernährung und Hunger, Luxus und Elend, staatliche Willkür und, alles überragend : Korruption heissen ?“

Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen.

Bodo Plachta : Das Lehrerehepaar Dörte und Herm Peters wählt unter den Reiseangeboten so lange aus, bis es ein Asien-Programm gefunden hat, das ihm seine „objektive Urteilskraft“ garantiert und es nicht zu „üblichen Touristen“ macht.

Thomas Lange : Der romanhafte Reisebericht sucht immer wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie überraschend darin, dass dort wie hier die Mächtigen sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, „die unruhig sesshaften Nestbeschmutzer“, äussern. „Das war nicht fremd oder zu weit weg.
  • Document: Lange, Thomas. China als Metapher : Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Lange1, Publication)
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Mein Bild in deinem Auge : Exotismus und Moderne : Deutschland - China im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Kubin. (Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995). S. 166-167. (KW6, Publication)
  • Person: Grass, Günter
3 1980 Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435].
Muschg sagt im Interview mit Rolf Kieser : Selbstverständlich ist es kein Buch über China, was ich versuche, sondern ein Buch über China-Reisende.
Qixuan Heuser : Eine schweizerische Delegation wird offiziell nach China eingeladen. Die Zusammensetzung der Delegation dient dem Ziel, "China aus der Sicht von Experten kennenzulernen, die ausgetretenen Pfade zu meiden". Die Begegnung mit der chinesischen Welt wird eher in der Beobachtung des einzelnen konkreten menschlichen Verhaltens als in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen dargestellt. China wird auch nicht aus der Sichtweise einer Person, sondern aus den Sichtweisen von acht Personen betrachtet, obwohl das Ganze aus der Perspektive des persönlichen Beobachters, des Ich-Erzählers, erzählt wird.
Als Spezialisten in verschiedenen Bereichen haben die Reiseteilnehmer verschiedene Interessen an China mitgebracht, die eindeutig mit ihren verschiedenen Berufen zusammenhängen.
Der Biologe Gallus bewundert vor allem das chinesische Leben, in dem das Gesetz der Natur noch eine wichtige Rolle spielt. Was er sonst noch von China bewundert, ist Mao, "der nicht nur China zum ersten Mal in seiner Geschichte von Mangel und Hunger befreit, sondern seinem Land auch die gültigen Werte zu bewahren gewusst habe, obschon in umgestalteter Form".
Gaby, die Gattin des Handelskammer-Direktors vertritt das rein touristische Interesse an China.
Der Buchhändler Jules erhofft sich offensichtlich, in China etwas Radikales und Revolutionäres zu erleben.
Den Entwicklungshelfer Martin interessiert, "wie der neue Kurs sich manifestiere, den die chinesische Führung nach Maos Tod, die Kampagne gegen die Viererbande benützend, eingeschlagen habe".
Der Delegationsleiter Agronomieprofessor Stappung interessiert sich nur für die chinesischen Landwirtschaft und ignoriert China. Was ihn ausser Arbeitsdisziplin kennzeichnet, ist seine Rücksichtslosigkeit gegenüber den chinesischen Gastgebern und den mitreisenden Landsleuten. Den Chinesen gegenüber verhält er sich wie ein "Kolonialherr". China kennenzulernen heisst für ihn, gut informiert zu sein, wie z.B. über die Zahlen des Produktionszuwachses.
Dem Schriftsteller Samuel gibt die Chinareise Anregungen zum Nachdenken, Philosophieren und Spekulieren. Auf der Grossen Mauer geht Samuel die symbolische Bedeutung durch den Kopf. Sie ist die Trennung zwischen dem Reich der Mitte und dem Rest der Welt, zwischen Drinnen und Draussen, Despotie und Freiheit, Osten und Westen. Er widmet seine Begeisterung dem China eines Idylls und er möchte China und die Chinesen verstehen lernen.
Der Psychologe, der Ich-Erzähler verhält sich weder als Bewunderer noch als Kritiker von China. Ihm ist die Begegnung einer Denkweise europäischer Ausprägung mit der chinesischen Realität ständig bewusst, wobei er China zwangsläufig durch den Vergleich mit den europäischen Verhältnissen zu verstehen versucht. So wie er keinen Zugang zum Leben der Arbeiter findet, verstehen die Chinesen nichts von dem Beruf des Psychotherapeuten.
Durch die Gaby-Szene kommt der Ich-Erzähler noch auf einen anderen Unterschied zwischen Chinesen und Europäern. Die Agressivität zwischen Gaby und Paul als der Ausbruch der Spannung in der Gruppe demonstriert die Unfähigkeit der Europäer, Gruppen zu bilden. Die Individualisierung als eine Folge der westlichen Zivilisation beherrscht die Lebens- und Denkweise der Menschen. Das Individuum ist der Mittelpunkt seines Handelns. Dazu sieht er in China ein Gegenbild. Die Gruppe spielt in der chinesischen gesellschaftlichen Struktur eine wichtige Rolle. Der Ich-Erzähler sucht in China nach Problemen, wobei er sich nur Probleme vorstellen kann, die er vom eigenen europäischen Kulturkreis her kennt, wie z.B. Depressionen, Homosexualität. Dass diese Wörter für die unwissenden Chinesen einer Aufklärung bedürfen, lassen ihn verzweifeln. Der Ich-Erzähler distanziert sich von der Rolle des beurteilenden Experten, er reagiert nicht nur passiv auf China, sondern er probiert, sich und die eigenen Landsleute auch umgekehrt aus der chinesischen Sicht zu sehen. Er hält sich und den Landsleuten nicht nur China als Spiegel entgegen, in welchem er diese anders sehen kann, sondern er versucht auch die subjektive Erklärung der wahrgenommenen chinesischen Realität zu relativieren, um beim Bewusstsein zu bleiben, dass man beim Beurteilen der anderen Verhältnisse ganz andere gesellschaftliche Normen berücksichtigen soll. Folgerichtig kommt zwischen die spontanen Eindrücke und deren willkürliche Lenkung immer wieder der eigene Zweifel an dem eigenen Verständnis des Wahrgenommenen überhaupt. Deshalb betont er : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht. Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger".
Dieses Bewusstsein der eigenen Grenze gebietet ihm, in den Gedankenäusserungen über China überall Vorsicht und Rücksicht walten zu lassen, vor allem Vorsicht vor den Fehlinterpretationen und Rücksicht auf das Anderssein.
In einem Interview mit Rolf Kieser sagt Muschg : "China und Japan machen es einem viel leichter, ein Buch zu schreiben, weil dort die Staffage, die Kulisse, das Befremdende mitspielt und dem Stoff zugute kommt, ihm einen Reiz hinzufügt, den man nicht erfinden kann".

Gao Yunfei : Obwohl der Roman auf einem chinesischen Hintergrund spielt, oder gerade weil der Roman auf dem fremden Boden spielt, wird das Problem des "unzureichenden Kontakes der Figuren zu sich selbst und zueinander" hervorgehoben. Die Begegnung mit der Fremde wird den China-Reisenden zum Prüfstein für ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Die chinesische Reiseorganisation sorgt für eine glatte Abwicklung des Besuchsprogramms. Die China-Reisenden streiten sich, lassen sich jedoch von den Chinesen vom Süden nach Norden, von Landkommunen in die Industrie, von Sehenswürdigkeiten zu Kulturabenden durch China führen. In der letzten Station, wenige Tage vor der Abreise, stirbt der Delegationsleiter Hugo Stappung. Hier beginnt die Geschichte und wird in Rückblenden aufgezeichnet.
Bevor die China-Reisenden direkt mit China, dem äusseren, kulturräumlichen Fremden konfrontiert werden, sind sie dem eigenen Fremden gegenübergestellt. Muschg lässt seine Figuren für sich sprechen, indem er sie mit immer neuen Situationen konfrontiert. Der Tod hat alle Figuren in Bewegung gesetzt. Die Beziehungen der Überlebenden zueinander, zu den Chinesen, und nicht zuletzt zum Toten, werden in Frage gestellt. Es entsteht eine allgemeine Entfremdung, die Kommunikation und Verständigung der Menschen miteinander wird unmöglich. Ein Gespräch, eine scheinbar naive Frage oder eine harmlose Bemerkung eines Chinesen machen die China-Reisenden schon nachdenklich über das Eigene und umgekehrt stossen eine Erklärung, eine ernste Frage der China-Reisendan an die Chinesen auf Unverständnis.
Stappung, der unfähig zur Kommunikation ist, meint er sei der Einzige der Reisegruppe, der China versteht. Er ist immer auf der Jagd nach Zahlen für seine Bücher über China und meint aus "Erfahrung", "dass man mit den Chinesen deutlich und bestimmt sein müsse". Der Schriftsteller Samuel beschäftigt sich mit einem mehr abstrakten Chinabild. Das China von Gallus ist für ihn ein Paradies, er verklärt alles in China oder krempelt das Fremde nach eingenem Muster um. Er ist und bleibt ein Verehrer von Mao Zedong. Der Buchhändler Jules geht davon aus, dass China einfach nichts Falsches machen kann. Sein Lob am neuen China ist von der chinesischen Realität weit entfernt. Gallus und Jules sehen auch keine Notwendigkeit, ihre Bilder von China zu ändern, sie glauben noch eher an ihre Bestätigung und wollen nicht aus dem schönen Chinatraum erwachen. Martin ist auf der Suche nach der Wahrheit nach China gekommen. Er will wissen, wie es während der Kulturrevolution ausgesehen hat und wie die heutige Situation aussieht. Die China-Reise von Bernhard, dem Erzähler und Gaby war ursprünglich eher die Flucht aus einer unglücklichen Ehe. Anders als Bernhard, der mit kühlem Kopf und grosser Aufmerksamkeit alles beobachtet und kommentiert, hat Gaby von Anfang an kein Interesse für China. China ist nur soweit für sie interessant, weil es "weit genug weg von ihrem Mann ist".
Der Roman ist eine Beschäftigung mit dem Eigenen in der Konfrontation mit der Fremde. Das Fremde dient als Kontrastmittel zum Erhellen des Eigenen, als Anregung zur Selbsterfahrung. Das Fremde wird ein Spiegel des Eigenen : Die eigene Menschlichkeit wird in der Interaktion mit der Fremde getestet ; die Selbsterfahrung wird auf dem Hintergrund des Fremden projiziert ; der erste Schritt zur Selbsterläuterung wird mit Hilfe der Fremde getan. Muschg hat ein lebendiges, glaubwürdiges Bild des heutigen China vermittelt.

Adrian Hsia : Muschg lässt China sich selbst darstellen, aus der Sicht einer offiziellen oder offiziösen Delegation, die das Land bereist. Darin liegt die Stärke und vielleicht auch die Schwäche dieses Romans. Von grossem Interesse sind die Mitglieder der Delegation, die Charaktere des Romans, die in ihrem Bezug zu China dargestellt werden. Fast alle repräsentativen europäischen Perspektiven China gegenüber sind in den Charakteren vertreten… Alle finden ihre Ansichten über China während ihres China-Aufenthalts bestätigt. Muschg stellt die Chinesen als normale Menschen dar und die von einigen Charakteren vorgenommene Projektion des unheimlichen und undurchsichtigen Chinesentums wird als Vorurteil entlarvt. Ausserdem erweist sich eine Verständigung mit den Chinesen trotz der Sprachschwierigkeiten sogar bei einer kurzen Reise als möglich.

Thomas Lange : Der Roman betrifft die europäisch-chinesische Konfrontation. Was Eurpäer über China mutmassen, sind immer auch Vermutungen über die Europäer. China tritt als das „andere“ dem Besucher fast tautologisch entgegen. Ein Gespräch auf der Grossen Mauer : „Hier China. Dort drüben alles andere. Das Reich der Mitte. Und der Rest der Welt : Randgebiet… Es gibt nur einen Grund, drinnnen zu bleiben, einen einzigen. – Nämlich ? Wenn man Chinese ist, sagt Samuel.

Bodo Plachta : Odyssee eines Kongressteilnehmers zwischen Flugplatz, Hotel und deutscher Botschaft in Beijing, ohne dass er sein Reiseziel, die Teilnahme an einem Konfuzius-Kongress erreicht. Er meint : „Überdies verbot sich eine novellistische Behandlung meines Lebens in Peking ja schon deshalb von selber, weil ich genaugenommen ausser einem Blick aus dem Fenster nichts von Peking gesehen hatte, was einer ausschmückenden Beschreibung wert gewesen wäre, und auch die Fahrt durch die nächtliche Hauptstadt hätte bestenfalls für ein paar beiläufige Bemerkungen zur Illustration des atmosphärischen Hintergrunds getaugt“.
Krügers Erzählung dokumentiert die Stationen einer Flucht, deren Ungewolltheit vom Ich-Erzähler zwar mehrfach beteuert wird, deren Inszenierung aber unter einer von Obsessionen und Wahnvorstellungen zusammenbrechende Dramaturgie zur banalen Parodie auf vergleichbare literarische Vorwürfe zu verkommen droht. Der eigentliche Anlass der Reise, die Einladung der chinesischen Akademie zu einem Vortrag auf einem internationalen Konfuzius-Kongress, setzt einen Prozess von tatsächlichen und phantasierten Ereignissen und Verwicklungen in Gang, der anfangs noch eine Lösung aus den heimatlichen sozialen Bindungen verspricht. Die läuternde Wirkung der Ferne aber wird überschätzt, im Endeffekt werden die sozialen und kommunikativen Defizite des Ich-Erzählers noch vergrössert, er selbst mehr und mehr isoliert, so dass er seine Umgebung schliesslich als „Folterkrammer“ und „Zwinger“ wahrnimmt…
In der Erzählung werden nur zwei genau lokalisierbare Örtlichkeiten erwähnt, die exemplarisch das landläufige China-Bild repräsentieren : zum einen der Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Fahrradgewirr, Lampenmasten und Lautsprecherkränzen, bunten Fahnen sowie dem Bild Mao Zedongs am Eingangstor zur Verbotenen Stadt, und zum anderen die Gräber der Ming-Dynastie. Dieses kulissenhafte China-Bild setzt sich fort in den ebenso plakativen Gegenüberstellungen vom „modernen China“ und dem „wahren China“…
Die Pekinger Erlebnisse werden durch ein Tagebuch und durch Notizbücher dokumentiert : „Es lag ein Nachmittag hinter mir, dessen letztes Drittel ich darauf verwendet hatte, all die chinesischen Ungereimtheiten in meinem Tagebuch, alle offenen, später zu klärenden Fragen in das grüne, alle theoretischen Exkurs in das schwarze Notizbuch einzutragen… während das Tagbuch dazu herhalten musste, einen schematischen Grundriss der Ereignisse in Peking in zeitlicher Folge aufzunehmen, der es mir später einmal ermöglichen sollte, die Dinge aus meiner Sicht zu rekonstruieren, falls dies – etwa vor Gericht – gewünscht würde“.

Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435].
(Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800]).
Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen.
  • Document: Lange, Thomas. China als Metapher : Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Lange1, Publication)
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 55-56. (Hsia12, Publication)
  • Person: Muschg, Adolf
4 1983 Rosendorfer, Herbert. Briefe in die chinesische Vergangenheit [ID D13436].
Qixuan Heuser : Das Buch ist eine fiktive Geschichte aus dem Blickwinkel eines Chinesen aus dem 10. Jahrhundert, der mit einer Zeitmaschine in das gegenwärtige Deutschland gegen Ende des 20. Jahrhunderts reist und die fremde Welt mit chinesischen Augen sieht. Es geht aber nicht nur um eine verfremdete Darstellung Deutschlands, auch das alte China spiegelt sich im Briefwechsel wider. Allein die imitierte chinesische Sichtweise zeugt vom Einfühlungsvermögen und gewissen Kenntnissen der Verhältnisse im alten China des Autors.
Monika Schmitz-Emans : Rosendorfer's protagonist is a Chinese mandarin from the 10th century who comes to 20th century Germany with a time machine. From contemporary Germany he writes letters back to his time and his own country : letters to the Chinese past. He is not volutarily abroad, though he had severe political reasons to escape from his home, but the effects of his time voyage, undertaken with the help of a mysterious machine, could not be foreseen. Arriving in Europe, the surprise is perfect. Naturally for the medieval Chinese, contemporary Germany is a very strange country with very odd customs. The oddity of the place is even deeper, as it is not any city where Kao-tai arrives, but Munich. The Bavarians have strange customs, strange attitudes and opinions, and a very strange way of speaking and expressing themselves. And so Rosendorfer combines the elements of two drawers filled with clichés : the clichés about the Bavarians, which the self-confident Bavarians have adapted in the course of time for their self-descriptions, and the clichés about Chinese people, viewed from the Western perspective. While the intra-German differences between Bavarians and non-Bavarians is of notable importance for the novel, there are no analogously differentiated views on the Chinese ; a Chinese is a Chinese, whether he is medieval or contemporary. It doesn't seem necessary to stress that Rosendorfer is not at all interested in presenting anything authentically Chinese. His subject is Germany, especially, but not exclusively, its southern parts, and, on a more general and abstract level, he reflects upon the Western way of life. His insights are not very profound, but represent a rather wide-spread attitude, a politically correct and even sympathetic way of thinking. Regarded from the point of view of a Chinese stranger, the absurdities of a noisy and hectic modern city seem to be extremely deep. The Chinese's perspective, regarding the contemporary Western city, the Western world, regarding and reflecting itself, the Germans, regarding the Bavarians, and the Bavarians, regarding themselves.
To use a novel as as means to reflect critically on customs and habits, on the conditions of social and political life, on morality and moral values, as well as on the superficial stupidities of everyday world. The threatening of a nuclear war is treated as well as the regional characteristics of Bavarian life which to a great part seems to consist of drinking beer and commenting on the lousy weather.
  • Document: Schmitz-Emans, Monika. Distorted reflections : images of China in European literature. In : East-West dialogue ; vol. 4, no 2 ; vol. 5, no 1 (June 2000). (RosH1, Publication)
  • Person: Rosendorfer, Herbert
5 1984 Fries, Fritz Rudolf. Verlegung eines mittleren Reiches [ID D15086].
Qixuan Heuser : Das Tauschspiel mit dem chinesischen Zeitalter ist bei Fries fiktionale Romanwirklichkeit. Durch einen Atomkrieg ist der Tausch zustande gekommen. Im Nu ist alles in einem deutschsprachigen Ort auf Chinesisch umgestellt, in Begleitung einer klimatischen Umwandlung der winterlichen Witterung in exotisch tropische Hitze. Die Ortseinwohner, die sonst China in den Büchern nur als eine der ältesten und grössten Kulturnationen kennen, erleben einen überwältigenden Kulturschock. Der Chronist des Ortes, der Ich-Erzähler, notiert die Ereignisse innerhalb knapp eines Jahres. Vom Einmarsch der Chinesen bis zum Untergang des Ortes vermeidet er dabei jegliche Wortverwendung von "China", "Chinesen" oder "chinesisch". Für China verwendet er "das Reich der Mitte" und für Chinesen steht "Kwan-yins". Bei sonstigen chinesischen Elementen hütet er sich davor, die Dinge beim Namen zu nennen.
Im Ort wird nach chinesischer Art gelebt : so z.B. Tee trinken, Reis essen und Schriftzeichen pinseln. Die chinesische Währung wird eingeführt. Die Schilderung des chinesischen Lebensstandard besteht aus Lebensmittelrationen, Stromausfall, Wassermangel und Hungersnot. Die chinesische Kulturrevolution breitet sich aus, polemische Propagandabroschüren werden verteilt und Mao-Kult wird getrieben. Das vorher herrschende europäische Leben und die Bequemlichkeit existieren im chinesischen Zeitalter nicht mehr.

Die Reaktionen der Ortseinwohner auf die fremde Regierung sind unterschiedlich : überzeugtes Mitmachen (De-zah), kämpferische Opposition (Gernold), Gleichgültigkeit des Wissenschaftsforschers (Falk), skeptisches und passives Abwarten (der Ich-Erzähler und die meisten Bewohner), idealistische Kooperation (Meister Zi). Interessant sind die Haltung des Ich-Erzählers und der Schlüsselfigur Zi vor allem deswegen, weil sie die einzigen im Ort sind, die eine geistige Beziehung mit dem Reich der Mitte gepflegt haben, bevor sie die "Kwan-yins" zu Gesicht bekamen.
Das traditionelle China wird nicht als Wirklichkeit dargestellt, sondern hauptsächlich durch die Kenntnisse der zwei Chinakenner, der Ich-Erzähler und der Meister Zi. Der Ich-Erzähler bekennt : "Ich beherrsche die Sprache, Zi und ich haben uns schon immer im Reich der Mitte ausgekannt, in den Lehren der Meister". Damit gemeint sind die klassischen chinesischen Werke von Laozi, Zhuangzi, Konfuzius, die oft zitiert, deren Namen aber nie genannt werden. Zi scheint eine Laozi-Figur zu sein. Er geniesst hohe Achtung bei der Ortsbevölkerung "weil er der Älteste unter uns ist, also der Weise". Auch sein Aussehen wird mit einem chinesischen Weisen verglichen. Zi appelliert an das Vertrauen der Ortsbewohner zu der neuen Regierung und an die Bereitschaft zur Kooperation, wobei der Laozi frei zitiert : "Und Geduld, meine Freunde, dass das Weiche das Harte besiegt, das fliessende Wasser den sperrenden Stein…" Zi zitiert aus dem Lun yu : "Meine Freunde, warum seid ihr traurig, als wäre alles verloren ! Die Welt geht schon lange in die Irre. Nun gebraucht der Himmel euren Meister als Glocke".
Es werden auch chinesische Legenden und Fabelgeschichten in den Roman eingebaut, so z.B. eine Version der Legende der Entstehungsgeschichte des Dao de jing : "Auf einem schwarzen Ochsen reitend, kommt er an den Grenzpass Han Gu. Der Grenzbeamte Yin Hin bittet ihn, die Summe seiner Lebenserfahrung niederzuschreiben für das Entgelt eines Obdachs, etwas Stroh und Brot, dazu Tinte und Papier. Der Meister steigt vom Ochsen, , legt sich aufs Stroh und schläft vierzehn Tage und vierzehn Nächte. Ho ! sagt er, als er aufwacht und sich die Augen reibt. Inzwischen hat der Grenzbeamte Yin Hin die Grenzkontrolle mit grosser Nachlässigkeit erledigt, immer in Gedanken an die Lebenslehre des Meisters, auf die er hofft wie auf einen Goldschatz. So sind ihm eine Reihe Spitzbuben und Staatsverbrecher entschlüpft. Dafür wird er verhaftet, am Tag, da der Meister wieder auf seinen Ochsen steigt. Später hat der Geschichtsschreiber Si Ma Tsien [Sima Qian] das Verhalten des Meisters wie folgt entschuldigt : 'Sein Streben war, sich selbst zu verbergen und ohne Namen zu bleiben'. Der säumige Yin Hin wurde hingerichtet."
6 1985 Leutenegger, Gerturd. Kontinent [ID D15089].
Qixuan Heuser : China spielt im Roman, der sich in einem schweizerischen Dorf abspielt, eigentlich keine Rolle, sondern ist als Gedankenwelt der Ich-Erzählerin dargestellt. Das Geschehen im Dorf, das sich um zwei von Anfgang bis Ende abwesende Figuren kreist, eine Verstorbene und eine Verreiste, wird zwar ausführlich geschildert, aber ohne grosse Teilnahme der neu ins Dorf gezogene Ich-Erzählerin. Hingegen kann sie sich innerlich schwer von den Erinnerungen an ihre Chinareise lösen und macht immer wieder einen Gedankensprung nach China. Zwischen der schweizerischen Aussenwelt und ihren chinesischen Erlebnissen besteht jedoch keine inhaltliche Verbindung, sie werden nur durch erzähltechnische Anknüpfungspunkte formal miteinander verkettet. Anstelle von China steht "Kontinent", statt Beijing steht "Westberge" oder "Hauptstadt".
Die Menschen in China spielen eine wichtige Rolle im China-Bild bei Leutenegger. Menschen in verschiedenen Tätigkeiten, in grosser Menge und einzeln werden beschrieben und die Menschenmasse und der Unterschied zwischen der chinesischen Land- und Stadtbevölkerung werden in verschiedenen Variationen dargestellt.
Im Zentrum steht ein chinesischer Mann, der Reiseführer in Beijing. Dieser Mann ist für die Ich-Erzählerin der einzige Bote des fremden Kontinents und gleichzeitig auch ihr Geliebter. Mit ihm scheint es ihr zu gelingen, die Unendlichkeit und Anonymität des Koninents durch die konkreten Erlebnisse gewinnbringend zu überwinden, indem sie ihm, beflügelt durch die Liebe, Schritt für Schritt in die andere Kultur folgt.
Rebellisch ist der Mann, weil er etwas tut, was ein normaler Chinese nicht tun würde – eine amouröse Beziehung mit einer ausländischen Frau einzugehen. Diese Verbundenheit heisst mehr oder weniger Verrat am Eigenen und Bruch mit dem Vertrauten, egal of sie einen politischen Hintergrund hat oder nicht. Sie ist auch ein Zeichen für die Suche nach etwas mehr Freiheit. Das Rebellische drückt sich auch in seiner Schweigsamkeit aus, die sich aber auch als seine Sprache versteht. Was ständig im Hintergrund zu verstehen gegeben wird, ist die chinesische Missbilligung dieser Liebesbeziehung.
Der Abschied vom chinesischen Mann ist der Höhepunkt der Ich-Erzählerin in China. Die beiden Liebenden verbringen die Abschiedszeit zusammen, indem sie ziellos mit der U-Bahn fahren. Und ausgerechnet unter unzähligen Fahrgästen erleben sie zum ersten und gleichzeitig zum letzten Mal ihre körperliche Nähe, die durch das Gedränge gerechtfertigt wird.
Die Ich-Erzählering hat einen persönlichen Blickwinkel gewählte, um China darzustellen. Als die Geliebte des Reiseleiters, macht sie ihre China-Rezeption von ihrer Liebesbeziehung abhängig. In der Hauptstadt, neben dem chinesischen Mann, nimm sie "mit übersteigerter Aufmerksamkeit" alles um sich wahr. Im Süden, ohne ihn, hat sie dieses Interesse verloren.

Gao Yunfei : Die Ich-Erzählerin kommt in ein Dorf in einem abgelegenen Alpental in der Schweiz um Geräusche aus der Natur für eine Jubiläumsschallplatte einer Aluminiumfabrik aufzunehmen. Dabei wird sie ständig von ihrem unerfüllten China-Traum heimgesucht. Erinnerungen an eine China-Reise drängen sich immer wieder in ihre gegenwärtigen Beobachtungen und Reflexionen. Nicht selten ignoriert oder verwechselt sie die Leute um sich herum mit ihrem chinesischen Freund, den sie mit Du anredet. Oft muss man sie aus ihrem China-Traum in die Wirklichkeit zurück holen. Die Bilder des China-Erlebnisses drängen im Lauf der Erzählung unabhängig von ihrem Bewusstsein an die Oberfläche, die einzelnen Bilder sind nicht rational geordnet und werden nicht chronologisch erzählt. Zuletzt erinnert sich die Erzählerin, wie sie anderswo in China an ihre Hauptstadt Peking und ihren chinesischen Freund gedacht hat und von der Sehnsucht nach ihm heimgesucht worden ist. Ihr Aufenthalt in China, ihre Begegnung mit der chinesischen Wirklichkeit sollten ihr die Chance geben, sowohl China als auch das eigene ich kennenzulernen. Dieses Zu-Sich-Kommen in der Begegnung mit der Freumde wird auch am eigenen Erlebnis in der Peking-Oper veranschaulicht. China ist ein Spiegel, in dem sie ihr eigenes Bild betrachten kann. Sie kann gut beobachten, weil sie aufgeschlossen ist und immer ein scharfes Auge für das Eigene und das Fremde hat. Ihre Beobachtungen sind vor allem auf die Massenszenen gerichtet, wo ihr mehr Leben, mehr menschliches Gefühl zu sein scheint. Sie beobachtet den chinesischen Alltag und ihre Beschreibungen sind eigentlich sterotyp : Farräder, Kutscher, Vogelkäfige, Reisfelder, Peking-Oper, Schattenboxen.
Die Vertrautheit mit der fremden Welt verdichtet sich vor allem in der Person ihres chinesischen Freundes. Erst durch ihn wird sie mit dem neuen Kontinent vertraut. Sie achtet trotz der Nähe und Vertrautheit mit ihrem Freund noch mehr auf das Fremde zwischen ihnen und nutzt jede Gelegenheit, um die Beziehung zwischen ihr und ihm vernünftig wahrzunehmen. Schliesslich wird sie von ihm getrennt und nach Süden geschickt : "Es ist doch nur Angst, jede Stunde wachsende Angst, Gefahr zu bringen, todbringende Gefahr, auch wenn du nicht mehr bei mir bist". Dies spricht dafür, dass Anfang der 1980er Jahre eine Liebesbeziehung zwischen einem Chinesen und einer Ausländerin noch unmöglich war.
Leuteneggers „Kontinent“ ist keine Reiseliteratur, man liest nicht nur die Beschreibung der China-Reise, sondern vor allem die Nachwirkungen einer solchen auf die Reisende. Es geht um die Selbsterfahrungen der Erzählerin in der Fremde, dabei ist es gleichgültig, ob sie sich in der Schweiz oder in China befindet. So glaubt sie in China ein neues Leben gefunden zu haben, aber ihre chinesische Liebesgeschichte bleibt ein unerfüllter Traum, der belastend auf sie wirkt.

Adrian Hsia : Leutenegger verarbeitet ihr China-Erlebnis in diesem Roman. Offensichtlich hat sie dieses Erlebnis verinnerlicht, ohne sich damit rational auseinandergesetzt zu haben. Denn die Bilder ihres China-Erlebnisses sind vom Bewusstsein unabhängig, drängen im Laufe der Erzählung selbständig auf die Oberfläche und vermischen sich mit anderen Bewusstseinsschichten. An sich scheint das China-Erlebnis wie das jedes Chinafahrers : Besichtigungen, Banquets, Kulturveranstaltungen usw. Aber ihre Erlebnisse haben sich in einer Person verdichtet. Diese Person, ein Mann, ist ihr China. Er tröstet sie, wenn die Depression sie heimsucht, er hört ihre Probleme und Eigenanalyse an, er ist ihre persönliche Brücke zu dem Koninent China, von dem sie angesteckt, verseucht, entzündet ist. Sie verlangt nach diesem unermesslichen Land, sie verlangt nach seiner Person, wie sie nach der Sintflut verlangt… China wird zum Urerlebnis und zu einem Archetypus des Unterbewusstseins.
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 56. (Hsia12, Publication)
  • Person: Leutenegger, Gertrud
7 1986 Krüger, Michael. Warum Peking ? [ID D15088].
Qixuan Heuser : Seit dem Empfang am Flughafen lässt sich der chinesische Betreuer des Ich-Erzählers nicht mehr blicken. Im Hotelzimmer wartet er verzweifelt, wird aber von der chinesischen Akademie für den Konfuzius-Kongress öffentlich für krank erklärt und von einem chinesischen Arzt behandelt. Die ärztliche Untersuchung erweist sich als eine politische Umerziehung auf chinesische Art. Als der Kongress zu Ende ist, fliegt er nach Deutschland zurück, ohne daran teilgenommen zu haben. Im Zusammenhang mit dem Kongress hat der Ich-Erzähler ein negatives China-Bild dargestellt. Die Chinesen sind hinterlistig, sie geben ihm keine Erklärung für den Mangel der Gastfreundschaft und halten ihn durch Manipulationen vom Kongress fern. Die chinesische Akademie ist fragwürdig, die chinesische Presse unzuverlässig und verbreitet Lügen, was den Bericht über den Kongress betrifft. China steht noch unter ideologischer Macht – das lässt sich am Verschwinden des Manuskriptes des Ich-Erzählers und an der Diagnose des chinesischen Arztes erkennen. Seine bitteren Erfahrungen und sein schlechter Seelenzustand führen zu Feindlichkeit gegenüber den Chinesen. Sowohl die eigenen Bekenntnisse als auch die Zitate aus den chinesischen philosophischen Büchern sprechen dafür, dass sich der Ich-Erzähler für das alte geistige China interessiert hatte. Das Buch I-ging [Yi jing], das ihm sonst als Lebenshilfe gedient hat, vermisst er : "Ich sehne mich plötzlich nach meiner schönen alten Ausgabe des I-ging, die mir schon manches Mal in hoffnungsferner Zeit ein Licht gesteckt hat, wenn Zaudern meines Lebens einziger Antrieb war". Er hatte auch eine Vorliebe für Lao Tse [Laozi] : "Konfuzius nein, Lao Tse ja". Zu seiner Verbindung zu Konfuzius äussert er sich : „meine einzige Verbindung zu Konfuzius… bestand allein darin, dass ich in unserer Werkzeitung… einen Aufsatz über Konfuzius veröffentlicht hatte – nicht viel mehr als eine Marginalie, die im wesentlichen in der Ausschmückung eines Lexikonartikels bestand“. Von seiner tieferen Beziehung zu Laozi zeugen seine Kenntnisse des Dao de jing, aus dem er direkt und indirekt zitiert : "Unsterblich ist der tiefe Geist des Tals, der dunkle Mutterschoss sei er benannt, und dieses dunklen Mutterschosses Pforte – genannt wird sie die Wurzel des Alls, sich hinschlingend durch alles, allgegenwärtig wirkt sie und wirkt doch mühelos". "von der zahllosen Vielfalt der Dinge wird jede zurückfinden zur Wurzel, zurückfinden zur Wurzel ein jedes und doch nichts wissen davon". "Frag nicht nach ihren Namen, erkunde nicht ihre Daseinsweise, und die Dinge werden von selbst gedeihen". "Wer weiss, spricht nicht, wer spricht, weiss nicht". "Das Tao als das Unendliche, das das Flüchtige ist, das Flüchtige, das das Vergängliche ist, und das Vergängliche, das die Rückkehr ist". "Schwaches überwindet das Starke, Weiches überwindet das Harte“. "denn so ist der Weise – tut und verlangt nichts für sich, nimmt nicht für sich, was er vollbracht, und will nicht gepriesen sein, wie es bei den Klassikern heisst". "Klein sei das Land, das Volk gering an Zahl, so viele Werkzeuge es gibt, gebraucht sie nicht ! Lehrt das Volk den Tod scheuen und weites Wandern meiden ! Gibt es auch Boote und Wagen, man besteige sie nicht, gibt es auch Harnisch und Waffen, man hole sie nicht hervor, das Schreiben schafft ab. Lehrt die Menschen wieder Knoten knüpfen, die Speise sei ihnen süss, die Kleidung schön, die Hütten bequem, die Sitten fröhlich. Die Nachbarstaaten liegen dicht beisammen, man hört die Hühner gackern, die Hunde bellen, und doch verkehrt man bis zum Tode mit seinen Nachbarn nicht". Konfuzius ist mit einem Zitat aus dem Lun yu vertreten : "Ein Amt abschlagen, heisst es sinngemäss bei Konfuzius, heisst seine Pflicht vergessen. Wer nur seine persönliche Unschuld und Reinheit bewahren will, der lässt Unordnung in den menschlichen Beziehungen zu. Der gebildete, hochstehende Mensch übernimmt öffentliche Ämter und verwaltet sie pflichtgemäss".

Adrian Hsia : China wird zu einer unheimlichen Kraft stilisiert, in der der Autor seine China-Begegnung durch esoterische Lektüre aller Art seit der Studenten-Revolte verarbeitet. 1985 war er zum ersten Mal in Beijing, ein Jahr danach erschien seine Erzählung, in der Beijing als Labyrinth erscheint, dessen Zentrum die fiktive Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften ist. Von dieser Akademie ist der Ich-Erzähler zu der ersten Konfuzius-Konferenz Chinas eingeladen um sein Land mit einem Vortrag zu vertreten. Er fertigt ein Referat an, in dem er für die Rückeinführung des Buddhismus in China plädiert, damit China nicht in die Arme des Westens falle, was seinen politischen Standort verrät. Dieses Referat verschwindet auf mysteriöse, d.h. chinesische Weise auf dem Weg vom Flughafen Beijings zum Hotel. Von Anfang an, glaubt er, dass die Chinesen ihn bespitzeln… Er erfährt, das der Titel seines Vortrages „Konfuzianismus und das Christentum“ lautet…
Krüger hat in seinen Berliner Tagen vieles über das esoterische China gelesen. Nach wie vor gilt sein Interesse eher dem Buddhismus, Taoismus und Yi jing, nicht aber dem Konfuzianismus… Krüger schreibt bewusst ein Buch der „Chineseleien“, um seine „Chineseleien“ und die seiner Generation zu entlarven und somit zu erledigen.

Gao Yunfei : Krüger beginnt seine Geschichte mit einem Zitat von Konfuzius : Konfuzius ging einmal nach Ch’u. Unterwegs traf er in einem Wald einen Buckligen, der mit Vogelleim Zikaden fing, und zwar so geschickt, als ob er von der Erde etwas aufheben würde. Konfuzius sagte zu ihm : Wie geschickt bist du doch ! Gibt es dazu einen Weg ? Da entgegnete der Bucklige : Es gibt für mich einen Weg. Im Mai und Juni übt man mit zwei Vogelleimkügelchen, auf eine Rute aufgetragen. Und wenn man so weit kommt, dass kein Vogelleimkügelchen herunterfällt, dann misslingt der Zikadenfang nur selten. Wenn die Übung mit drei Kügelchen aus Vogelleim klappt, dann kann man so werden wie ich, als ob man nur etwas von der Erde aufheben würde. Wenn ich mich zum Fangen vorbereite, dann sehe ich aus wie ein dürrer Baumast. So gross und weit der Himmel und die Erde auch sein mögen, in meinen Sinnen sind nur die Zikadenflügel. Ich drehe mich nicht, ich blicke nicht seitwärts, in diesem interesselosen Zustand gibt es nichts, das man nicht erreichen könnte. – Da wandte sich der Meister an seine Jünger und sagte : Man sagt, mit voller ungeteilter Konfzentration wird man fast göttlich. Damit ist wahrscheinlich dieser alte Bucklige gemeint.

Der Ich-Erzähler kommt nach Beijing, um die eigene Vergangenheit zu bewältigen und mit der "Chinainflation" im Westen abzurechnen. In China muss er erleben, dass ihn der Taoismus nicht aus seiner Not retten kann.
Er verschliesst sich in Beijing in sein Hotelzimmer und beschäftigt sich statt mit der fremden Wirklichkeit mit seinen grotesken Gedanken und Phantasien.. Seine Unfähigkeit zur Wahrnehmung seiner neuen Umgebung zeigt sich in seiner Interaktion mit anderen. Die amerikanische Archäologin Gwendolyn ist die einzige Figur, die ihn von Anfang an begleitet. Gleichgültig was sie unternimmt, sie bleibt in seinen Augen eine Spionin der chinesischen Seite… Aus seiner Beziehung zu einer früheren Lebensgefährtin ist auch nichts geworden. Auch die Erinnerung an sie kann dem Erzähler nicht aus der jetzigen Situation heraushelfen. Seine Verschlossenheit und Kommunikationsunfähigkeit existierte schon vor seiner Chinareise. Da er nicht am Leben von anderen teilnehmen kann oder will, wird seine Existenz in der Gesellschaft bedroht.
Mitte der 1970er Jahre kam er zum ersten Mal durch ein Mädchen mit dem Tao in Berührung. Das Mädchen und das Tao werden von Krüger von Anfang an ironisch dargestellt, denn ihr reales Menschsein, ihre menschliche Lebensfähigkeit werden von Anfang an in Frage gestellt. Das Mädchen verschwand plötzlich und hinterliess einen Zettel "Frag nicht nach ihrem Namen, erkunde nicht ihre Daseinsweise, und die Dinge werden von selbst gedeihen". Als sich die Polizei nach dem Mädchen erkundigt, antwortet der Erzähler : "Wer weiss, spricht nicht, wer spricht, weiss nicht".
Der Erzähler erklärt Professor Muller wortreich die Soziallehre des Taoismus, doch dieser ist eingeschlafen. Das taoistische "Wuwei", als Nicht-Tun oder Nicht-Handeln erfährt er in eigener Erfahrung in Beijing : "Da es aber in China für mich nichts zu tun gab, musste ich befürchten, bald wieder der Gleichgültigkeit mit all ihren unbegreiflichen Nebenzweigen zu erliegen".
China ist ihm nicht gleichgültig, er fühlt sich mit "seinem" China verbunden und verteidigt es bei jeder Gelegenheit. Er sorgt dafür, dass das "wahre Chinesische" nicht vom Westen verdorben wird. Eine zweite Möglichkeit zur Rettung des Chinesischen sieht er in der Wiedererstarkung des Buddhismus, und plädiert dafür, damit China nicht in die Arme des Westens falle : "Sie [die Chinesen] hatten Kultur, aber keinen Begriff für Kultur, und wenn es so weitergeht, haben sie bald einen Begriff von Kultur, aber keine Kultur mehr".

Bodo Plachta : Odyssee eines Kongressteilnehmers zwischen Flugplatz, Hotel und deutscher Botschaft in Beijing, ohne dass er sein Reiseziel, die Teilnahme an einem Konfuzius-Kongress erreicht. Er meint : "Überdies verbot sich eine novellistische Behandlung meines Lebens in Peking ja schon deshalb von selber, weil ich genaugenommen ausser einem Blick aus dem Fenster nichts von Peking gesehen hatte, was einer ausschmückenden Beschreibung wert gewesen wäre, und auch die Fahrt durch die nächtliche Hauptstadt hätte bestenfalls für ein paar beiläufige Bemerkungen zur Illustration des atmosphärischen Hintergrunds getaugt".
Krügers Erzählung dokumentiert die Stationen einer Flucht, deren Ungewolltheit vom Ich-Erzähler zwar mehrfach beteuert wird, deren Inszenierung aber unter einer von Obsessionen und Wahnvorstellungen zusammenbrechende Dramaturgie zur banalen Parodie auf vergleichbare literarische Vorwürfe zu verkommen droht. Der eigentliche Anlass der Reise, die Einladung der chinesischen Akademie zu einem Vortrag auf einem internationalen Konfuzius-Kongress, setzt einen Prozess von tatsächlichen und phantasierten Ereignissen und Verwicklungen in Gang, der anfangs noch eine Lösung aus den heimatlichen sozialen Bindungen verspricht. Die läuternde Wirkung der Ferne aber wird überschätzt, im Endeffekt werden die sozialen und kommunikativen Defizite des Ich-Erzählers noch vergrössert, er selbst mehr und mehr isoliert, so dass er seine Umgebung schliesslich als "Folterkrammer" und "Zwinger" wahrnimmt…
In der Erzählung werden nur zwei genau lokalisierbare Örtlichkeiten erwähnt, die exemplarisch das landläufige China-Bild repräsentieren : zum einen der Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Fahrradgewirr, Lampenmasten und Lautsprecherkränzen, bunten Fahnen sowie dem Bild Mao Zedongs am Eingangstor zur Verbotenen Stadt, und zum anderen die Gräber der Ming-Dynastie. Dieses kulissenhafte China-Bild setzt sich fort in den ebenso plakativen Gegenüberstellungen vom "modernen China" und dem "wahren China"…
Die Pekinger Erlebnisse werden durch ein Tagebuch und durch Notizbücher dokumentiert : "Es lag ein Nachmittag hinter mir, dessen letztes Drittel ich darauf verwendet hatte, all die chinesischen Ungereimtheiten in meinem Tagebuch, alle offenen, später zu klärenden Fragen in das grüne, alle theoretischen Exkurs in das schwarze Notizbuch einzutragen… während das Tagbuch dazu herhalten musste, einen schematischen Grundriss der Ereignisse in Peking in zeitlicher Folge aufzunehmen, der es mir später einmal ermöglichen sollte, die Dinge aus meiner Sicht zu rekonstruieren, falls dies – etwa vor Gericht – gewünscht würde".
  • Document: Mein Bild in deinem Auge : Exotismus und Moderne : Deutschland - China im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Kubin. (Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995). S. 165-173. (KW6, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 56-59. (Hsia12, Publication)
  • Person: Krüger, Michael
8 1988 Amanshauser, Gerhard. Der Ohne-Namen-See [ID D15592].
Qixuan Heuser : Tagebuchaufzeichnungen eines österreichischen Schriftstellers über die Erlebnisse während seines zweimonatigen Chinaaufenthaltes. Als Liebhaber der chinesischen Kalligraphie und Malerei und Übersetzer von klassischen chinesischen Gedichten, bedeutet für ihn der Aufenthalt die Erfüllung eines Lebenstraums. Seine Neigung, das traditionelle, poetische China aufzuspüren, steht in Kontrast zu seiner Distanz gegenüber dem ideologischen China einerseits und dessen Orientierung nach dem Westlichen und Modernen andrerseits. "Was mich an den Chinesen angenehm berührte, war die überlieferte Dezenz und Zurückhaltung, die sie meist auch im Gedränge bewahren, vor allem aber eine wohltuende Abwesenheit psychischer Allüren, eine frische Glätte der Gesichter, die sich so sehr von unseren verkniffenen oder erstarrten Zügen unterscheidet. Ist nicht die westliche Psyche, wie sie sich in unseren Gesichtern spiegelt, der unbrauchbarste und abstossendste Bezirk der Erde ?"
  • Person: Amanshauser, Gerhard
9 1988 Kinder, Hermann. Kina Kina [ID D15593].
Qixuan Heuser : Die Erzählung schildert das chinesische Unitersitätsmilieu und die politisch hintergründige Kampagne gegen die Verwestlichung. Professor Andermatt hat keine besonderen persönlichen Interessen für die alte chinesische Kultur und keine Vorkenntnisse von dem fremden Land überhaupt mitgebracht und nimmt deshalb China ohne vorgefasste Meinung auf. Er schildert die fremde Welt ohne Anteilnahme und lässt bei der Darstellung der Begegnung mit China zwei Kulturen aufeinanderprallen, ohne darüber zu reflektieren. Andermatts Beobachtung der Chinesen bleibt nicht bei ihrem Äusseren, sondern sie gilt auch ihrem Verhalten, das ihm etwas von deren Mentalität oder Lebensinhalt verrät : das langsame Tempo und der lockere Arbeitsstil der Techniker und Arbeiter, die Zerstreutheit der Studenten beim Unterricht, der die Arbeit mit Heiterkeit hinnehmende Rikschafahrer, die Verwöhnung des Einzelkindes, das kecke Benehmen der Liebespaare im Park, die Ausdrucksform des Schamgefühls der Chinesinnen und schliesslich das offene Leben und alle möglichen Beschäftigungen der einfachen Leute auf einer verkehrsfreien Strasse.
Die einzige vollständig charakterisierte chinesische Figur ist Wang. Als Betreuer von Andermatt ist er pflichtbewusst und fürsorglich, als Hochschullehrer fleissig und wissensdurstig, als Parteimitglied treuherzig und vom politischen Weg Chinas überzeugt, als Ehemann geduldig und nachgiebig, als Mensch bescheiden und devot.
Im Zusammenhang mit Andermatts Arbeit an der Universität wird der Kulturzusammenstoss geschildert. Er sieht sich mit Zuhörern konfrontiert, die keine tiefen Kenntnisse über die europäische Kultur besitzen und Deutsch als Anfänger sprechen. Dazu kommt, dass die Studenten weniger Interesse für deutsche Literatur und Literaturwissenschaft haben, als für das westliche Alltagsleben. Bei seiner Vermittlung der deutschen Literatur beschäftigt ihn auch das Tabuthema der sexuellen Beschreibung : "Ihm war vorher nicht bewusst gewesen, wie voller Sexuellem die deutsche, die bundesdeutsche Literatur war".
Trotz seiner Aufmerksamkeit für das Fremde zeigt sich Andermatt distanziert zu China, und zwar durch seine Missfallensäusserungen zu den materiellen Lebensbedingungen.

Gao Yunfei : Der deutsche Professor für Germanistik Andermatt kommt nach China, um ein fremdes Land zu entdecken und zu erobern. Er kämpft aus seinem engen eurozentrischen Überlegenheitsgefühl heraus und erschliesst eine dem Westen bislang unbekannte chinesische Welt immer weiter. Diese fremde chinesische Wirklichzeit scheint für ihn eine Tortur zu sein. Er ist verwirrt und körperlich und seelisch der fremden Welt nicht gewachsen.
Andermatts Vorwissen über China besteht aus überlieferten Klischee-Bildern und Vorurteilen. China sei schmutzig, chaotisch und laut, aber sein Bild besteht auch aus positiveren Ansichten über die schöne Landschaften und über das chinesische Alltagsleben. Er sieht die Chinesen als "Pekingopergesicht, schön rund, weisse Bluse blaue Shorts, die Söckchenfüsse auf Plastiklatschen".
Indem Andermatt die chinesische Wirklichkeit als eine fremde Welt erfährt, gibt er zu, dass diese Wirklichkeit seinem vorherigen China-Bild nicht entspricht. Indem er sich dies gesteht, zeigt er seinen Willen, diese fremde Welt für sich zu erschliessen. Es ist ihm bewusst geworden, dass er eine ganz fremde Welt vor sich hat. Aufgrund dieses Bewusstseins kann er sich dann einrichten und diese fremde Welt erobern und je länger er dies tut, desto mehr nimmt er wahr.
Dekan Wang ist ein typischer Vertreter der chinesischen Intellektuellen, die von der Modernisierung irritiert sind und das heutige China nicht mehr verstehen. Sie wollen Chinas Modernisierung, doch sie sehen ihre Stellung, ihre alte Identität verlorengehen. Einerseits versteht Wang China nicht mehr, andererseits will er aber seine Hoffnung auf die Partei und ein neues China nicht aufgeben. Er hofft, in den westlichen Theorien eine Anwort finden zu können. Andermatt interessiert sich für den chinesischen sozialistischen Aufbau, für die Stellung des Marxismus im heutigen China und er macht sich Sorgen um das Verschwinden der alten chinesischen Kultur und Tradition, sowie um Chinas Verwestlichung.
Hermann Kinder hat ein China dargestellt, das sich mitten in der Modernisierung und im Umbruch befindet. Er hat während seines Aufenthaltes in Shanghai die Unfreiheit der Studenten in ihrem privaten Leben sowie beim Studium, ihre bedrückten Seelen, ihre Sorgen und ihre Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie wahrgenommen und in seinem Buch dargestellt. Er beschreibt Chinas Armut und Sparsamkeit um den Kontrast zwischen dem "Paradies" Europa und China zu zeigen.

Sources (2)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1988 Amanshauser, Gerhard. Der Ohne-Namen-See : chinesische Impressionen. (Zürich : Nagel & Kimche, 1988). [Bericht über seinen Sprachkurs in Beijing und einer Fahrt nach Xian und Chengdu]. Publication / Ama1
2 1988 Kinder, Hermann. Kina Kina : Erzählung. (Zürich : Haffmans, 1988). Publication / Kind1

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)