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“Mein Bild in deinem Auge : Exotismus und Moderne : Deutschland - China im 20. Jahrhundert” (Publication, 1989)

Year

1989

Text

Mein Bild in deinem Auge : Exotismus und Moderne : Deutschland - China im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfgang Kubin. (Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995). (KW6)

Type

Publication

Contributors (1)

Kubin, Wolfgang  (Celle 1945-) : Sinologe, Professor für Sinologie am Sinologischen Seminar der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Subjects

History : China / Literature : China : General / Periods : China : People's Republic (1949-) / Periods : China : Republic (1912-1949) / Sinology and Asian Studies : Europe : Germany

Chronology Entries (17)

# Year Text Linked Data
1 1897-1900 Hesse-Wartegg, Ernst von. China und Japan [ID D2606].
Er schreibt : Nur wer die Kultur anderer Länder und Weltteile kennen und aus sich selbst herauszugehen gelernt hat, kann überall den richtigen Masstab anlegen. Andere werden gewöhnlich einseitig nach der von ihrer Jugend an gewöhnten Elle messen, vieles minderwertig, verzwickt und verrückt halten, was nicht nach dieser heimatlichen Elle passt. Und weil die Kultur der Ostasiaten von der unsrigen so sehr abweicht und so selten einsichtige, unabhängige Schilderer fand, ist der Begriff „Chinesisch“ bei uns zur ländläufigen Bezeichnung für alles Groteske geworden.
In der 2. Aufl. schreibt er : Überzeugt von der Wichtigkeit des chinesischen Marktes und von dem Ringen unter den Industriestaaten des Erdballs, das in Bälde um diesen Markt platzgreifen wird, habe ich seit Jahren getrachtet, die Aufmerksamkeit aller Kreise im Deutschen Reich durch zahlreiche Aufsätze und öffentliche Vorträge auf Ostasien zu lenken und ein kräftiges Eintreten zur Wahrung der grossen und berechtigten Interessen dort herbeizuführen…
China muss entwickelt, erschlossen werden, und dazu ist es nötig, das China die erdrückende Macht Europas und die grosse Überlegenheit seiner Kultur noch eingehender kennen und fühlen lernt. Das grosse China wird endlich aus seiner mehrtausendjährigen Erstarrung aufgerüttelt und der Erschliessung durch Europa entgegengeführt…
Im chinesischen Reiche giebt [sic] es, nicht einmal den Kaiserpalast in Peking ausgenommen, kein einziges Gebäude, das sich an Grösse und Pracht mit einem unserer modernen Miethäuser messen könnte…
So sehr ich mir während vieler Besuche in den verschiedensten Theatern Mühe gab, in dem furchtbaren Lärm, den die auf der Bühne selbst kauernden Gongschläger, Lautenbläser und Violinenkratzer unausgesetzt machten, irgend eine Methode, Rhythmus, Melodie zu finden, ist es mir doch niemals gelungen, und als ich einmal in Shanghai einen der englischen Sprache mächtigen Chinesen darüber befragte, so antwortete er mir lächelnd, es sei ihm mit der europäischen Musik, die er gehört, gerade so ergangen.
Die Stadtentwicklung beschreibt Hesse-Wartegg folgendermassen : In ganz Canton giebt [sic] es noch keine Dampfmaschine, keinen Betrieb durch Wasserkraft, keine Elektrizität. Canton ist ebenso wie alle anderen Städte Chinas heute noch so, wie es vor fünfhundert, vor tausend, vor zweitausend und mehr Jahren war.
Über die Beziehung zu Fremden schreibt er : Nichts bringt die Chinesen so sehr ausser Fassung und verwirrt sie, wie die geraden und schroffen Manieren der westlichen Völker, hauptsächlich der Engländer und Amerikaner, und deshalb verschanzen sie sich gerade diesen gegenüber hinter ihrer starren Etikette, während sie dem höflichen, bescheidenen und geduldigen Deutschen grössere Offenheit und grösseres Vertrauen entgegenbringen.
  • Person: Hesse-Wartegg, Ernst von
2 1898 Im Brockhaus steht über China und die Chinesen : Der Stolz auf diese alte Kultur hat aber auch eine gewisse Beschränktheit gezeitigt, die fremden Errungenschaften ablehnend gegenübersteht. Im Charakter der Chinesen wiegt das Verstandesmässige vor ; sein Grundzug ist praktische Nüchternheit, die in Schlauheit und Treulosigkeit im Verkehr ausarten kann ; daneben steht eine merkwürdige Neigung zum Phantasischen, Grotesken. Grosse Arbeitsamkeit, Genügsamkeit und Höflichkeit vervollständigen das Bild.
3 1898 Borel, Henri. Weisheit und Schönheit aus China [ID D13027].
Borel schreibt : Der Chinese liebt die Natur leidenschaftlich. Das ist für uns unbegreiflich. Aber der Chinese ist auch ein Mysterium, in das kein Mensch je eindringen wird, auch ein anderer Chinese nicht. Ein Chinese ist eine Welt für sich. Er hat eine ganze, tiefsinnige Philosophie, mit der er keinen andern belästigt und in die er sich in unverstörbarer Ruhe einspinnt wie eine Katze in einem molligen Winkel. Es nützt nichts, ob man sich in staunender Verwunderung vor ihn hinstellt und ihm tiefsinnige Betrachtungen vororakelt. Die imperturbable Katze kneift die Augen eben zu und schnurrt und spinnt weiter...
Es ist in jedem Menschen ein Drang zur Bewegung, der, aus Tao gekommen, ihn wieder zu Tao zurückführen will. Aber die Menschen werden blind gemacht, durch ihre eigenen Sinnesorgane und Begierden... Sie wollen zuviel, um das Eine zu wollen. Sie wollen auch weise sein und gut, und das ist das Ärgste. Sie wollen zuviel wissen. Aber das einzige Heil ist : die Rückkehr zu unserem Ursprung. In uns ist Tao, Tao ist Ruhe. Wir können nur zur Ruhe kommen, indem wir nach Nichts verlangen, auch nicht nach Gutheit oder Weisheit...
Mit Nicht-Thun, Wu Wei, meinte Laotse nicht gewöhnliches Unthätigsein, einfaches Faulenzen mit geschlossenen Augen. Er meinte : Ruhenlassen der irdischen Bewegung, des Verlangens und Begehrens nach unrealen Dingen. Er meinte Nachgeben dem inneren Drange, der Bewegung, die uns aus Tao gegeben ist und die unsere Seele wieder zu Tao führt.
  • Document: Schuster, Ingrid. China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. (Bern : Francke, 1977). S. 150. (Schu4, Publication)
  • Person: Borel, Henri
4 1900 Kaiser Wilhelm II. hält seine Hunnenrede in Bremerhaven nach dem Boxer-Aufstand : Die Aufgabe, zu der Ich Euch hinaussende, ist eine grosse. Ihr sollt schweres Unrecht sühnen. Ein Volk, das, wie die Chinesen, es wagt, tausendjährige alte Völkerrechte umzuwerfen, und der Heiligkeit der Gesandten und der Heiligkeit des Gastrechts in abscheulicher Weise Hohn spricht, das ist ein Vorfall, wie er in der Weltgeschichte noch nicht vorgekommen ist, und dazu von einem Volke, welches stolz ist auf eine vieltausendjährige Cultur. Aber ihr könnt daraus ersehen, wohin eine Cultur kommt, die nicht auf dem Christenthum aufgebaut ist. Jede heidnische Cultur, mag sie noch so schön und gut sein, geht zu Grunde, wenn grosse Aufgaben an sie herantreten. So sende ich Euch aus... Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht ! Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in der Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.
  • Document: Zhang, Zhenhuan. China als Wunsch und Vorstellung : eine Untersuchung der China- und Chinesenbilder in der deutschen Unterhaltungsliteratur 1890-1945. (Regensburg : S. Roderer, 1993). (Theorie und Forschung ; Bd. 241. Literaturwissenschaft ; Bd. 14). Diss. Univ. Heidelberg, 1992. S. 264. (ZhaZ3, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 213. (FanW1, Publication)
  • Person: Wilhelm II.
5 1914 Heyking, Elisabeth von. Tschun [ID D13180].
Der Roman spielt um die Jahrhundertwende und trägt autobiographische Züge aus ihren China-Erfahrungen. Der Hintergrund ist der Boxer-Aufstand. Heyking hat Mitleid mit dem chinesischen Volk und versucht Gefühle für das unterdrückte China zu mobilisieren. Sie kritisiert das imperial-kolonialistische Vorgehen Europas in China.

Heyking beginnt mit den Sätzen : "Tschun war ein schmutziger kleiner chinesischer Junge. Er war nicht schmutziger als andere kleine chinesische Jungen. Er war im Gegenteil etwas reiner. Denn Tschuns Mutter war Christin. Und Christentum bedeutet in China unter anderem auch gelegentliches Waschen."
Sie schreibt über den Sommerpalast : "Der Sommerpalast umfasste eine ganze Sammlung von Palästen, samt Hallen, Paogden, Pavillons und Kiosken. Die blutrote Umfassungsmauer mit ihrer goldenen Kachelkrönung wand sich wie ein seltsames Schlangenungetüm in Zickzacklinien um das ganze Gelände, Wälder, Gärten, Grotten, einen riesigen See, hochgeschwungene Marmorbrücken über Lotosteichen."

Fang Weigui : Heyking tritt als Augenzeugin der Ereignisse auf und macht zahlreiche Aussagen über den geschichtlichen Hintergrund der Boxer-Aufstandes. Sie bietet eine umfangreiche Darstellung vom Leben der einfachen Leute, den lokalen Verhältnissen und Sitten, über den Kaiserhof, Politik und Reform. Sie schildert nicht nur das Verhältnis zwischen China und den imperialistischen Mächten, die Schauer des Boxer-Aufstandes, sondern auch ausführlich die Plünderungen der Alliierten, von denen man damals nichts wusste oder nichts wissen wollte.

Zhang Zhenhuan : Die Bemerkung Heykings in Bezug auf die Jiaozhou-Frage, dass die Chinesen, diese schmutzigen Barbaren, welche nur die Dollar- oder Kanonensprache verständen, keine europäischen Gesandten, wohl aber europäische Herren bräuchten. Otto Franke schreibt über Elisabeth von Heyking und ihren Mann, die er persönlich gekannt hat : Über die Chinesen hatten beide die in Berlin und anderswo damals vorgeschriebenen Ansichten : sie galten für schmutzig, feige, zurückgeblieben und widerwärtig, gut genug nur dafür, dass man ihnen ihre Besitztümer abnehmen und auf ihrem Rücken die Karriere fördern konnte. Sich mit chinesischen Kulturfragen abzugeben, war das Zeichen eines subalternen Geistes, im besten Falle eine Gelehrtenschrulle ; es war nichts an diesem Volk, das man ernst nehmen musste.
Heyking hat in diesem Roman versucht, einen Chinesen zu gestalten, der sich deutlich von den „armseligen“ und „bösen“ Chinesen unterscheidet. Die Enttäuschung Tschuns über den Westen sollte eine Mischung aus dem persönlichen Schicksal und der Wiederentdeckung alter chinesischer Tugenden beinhalten.
Man findet in diesem Roman eine teilweise recht kritische Analyse der europäischen Kolonial- und Missionspolitik. Mit der Figur Tschun korrigiert Heyking das einst von ihr selbst vermittelte stereotype Bild der Chinesen.
  • Document: Li, Changke. Der China-Roman in der deutschen Literatur 1890-1930 : Tendenzen und Aspekte. (Regensburg : S. Roderer, 1992). (Theorie und Forschung ; Bd. 209. Literaturwissenschaft ; Bd. 12). S. 115-116. (LiC1, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 180-181. (FanW1, Publication)
  • Document: Zhang, Zhenhuan. China als Wunsch und Vorstellung : eine Untersuchung der China- und Chinesenbilder in der deutschen Unterhaltungsliteratur 1890-1945. (Regensburg : S. Roderer, 1993). (Theorie und Forschung ; Bd. 241. Literaturwissenschaft ; Bd. 14). Diss. Univ. Heidelberg, 1992. S. 139, 146, 152. (ZhaZ3, Publication)
  • Document: Bernier, Lucie. Fin de siècle et exotisme : le récit de voyage en Extrême-Orient. In : Klincksieck : revue de littérature comparée ; vol. 53, no 1 (2001).
    http://www.cairn.info/article.php?ID_REVUE=RLC&ID_NUMPUBLIE
    =RLC_297&ID_ARTICLE=RLC_297_0043
    . (Bern, Publication)
  • Person: Franke, Otto
  • Person: Heyking, Elisabeth von
6 1930 Huelsenbeck, Richard. China frisst Menschen [ID D11986].
Der Schauplatz des Romans ist der Bürgerkrieg, die Personen, die an den Unruhen und Kriegen beteiligt sind, sind aus dem Westen.

Dietrich Harth : China ist in seinem Roman als Gleichnis für eine Wirklichkeit zu verstehen, in der das berechnende Planen und Wollen mit triebhaften Illusionen und unberechenbaren Begierden zusammenstösst. So geht es ihm nicht um ein Bild der chinesischen Kultur. Huelsenbeck sucht in China die verkehrte Welt. Damit ist er aber nur in das Spiegelbild jener Welt eingetreten, die er als Heimat verlassen hat. Sein China ist die spiegelbildlich verkehrte eigene Welt. Der Roman spielt nicht nur mit Stereotypen, sondern macht ihre Struktur zu seinem Konstruktionselement. Als Spiegelbild entlarvt, ist das Bild des Fremden nicht anderes als das seitenverkehrte Bild der Figur, die in den Spiegel schaut.
  • Document: Li, Changke. Der China-Roman in der deutschen Literatur 1890-1930 : Tendenzen und Aspekte. (Regensburg : S. Roderer, 1992). (Theorie und Forschung ; Bd. 209. Literaturwissenschaft ; Bd. 12). (LiC1, Publication)
  • Person: Huelsenbeck, Richard
7 1931 Feng Zhi schreibt : Ich vertiefe mich ganz in die Welt von Rainer Maria Rilke. Vormittags lese ich ihn, nachmittags lese ich ihn, und mit deutschen Studienfreunden spreche ich auch über ihn. Seine Gedichte sind wirklich ein kunstvoller Ausdruck der Welt. Vor seinen Werken muss ich mich schämen. Aber er ist sehr liebenswürdig, er ist der grösste Dichter nach Goethe und Hölderlin.
8 1942 Eckstein, Oskar. Sonne über Peking [ID D3490].
Eckstein schreibt : War damals [um 1909], nach den Jahren in Peking, in mir noch ein Rest übrig geblieben von der europäisch-amerikanischen Überheblichkeit, die ich einst übers Meer gebracht hatte, so verschwand er in jenen Sommernnachmittagen im Garten vor unserem Yamen, im Angesicht einer Berglandschaft, die mich an die ferne Heimat erinnerte, aber in deren Gipfeln und Tälern sich die Pagoden und Köster einfügten in einer vollendeten Harmonie, wie sie die Baukunst des Abendlandes seit zwei Jahrtausenden nie wieder vollbracht hat.
9 1947 Klara Blum kommt in Shanghai an.
10 1948-1951 Klara Blum ist Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Shanghai.
11 1951 Blum, Klara. Der Hirte und die Weberin [ID D13293].
Die alte Welt ist verkörpert durch eine reiche, bürgerliche und egoistische Chinesin alten Schlages und ihrem sklavischen, urteilslosen Diener. Die Ausländer sind Imperialisten reinsten Wassers : „Sie gingen mit aufgeblasener Herrenmiene umher, scheuchten mit einer belästigten Gebärde die Bettler fort“.
Thomas Lange : Der chinesische Exotismus Klara Blums, ihr idealisiertes Chinabild, wurzelt in ihrem Idealbild vom Judentum und ist im Grunde eine zionistische Projektion. In China konnte sich Klara Blum mit Unterdrückten identifizieren, die die Mehrheit bildeten und die zudem ein Gefühl kultureller Überlegenheit gegenüber den gegenwärtigen ausländischen Machthabern besassen. Sie konnte beobachten, dass im kolonialen Shanghai gerade diejenigen Europäer, die den untersten sozialen Rang einnahmen – nämlich die jüdischen Emigranten -, ihre eigene rassistische Diskriminierung an den Chinesen abreagierten.
12 1952-1957 Klara Blum ist Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Nanjing.
13 1957-1971 Klara Blum ist Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Zhongshan-Universität in Guangzhou (Guangdong).
14 1959 Blum, Klara. Das Lied von Hongkong [ID D13294].
Dora Wentscher : Die Ausbeuter sind bei Klara Blum stets fett und sadistisch, ihre Knechte herrisch und frech, die wackeren Unterdrückten dagegen sind opferbereit, uneigennützig und lernbegierig. Die Klischees des Klassenkampfs sind leicht zu kritisieren. Andererseits sind auch die Kritiker der Klara Blum nicht frei von Autostereotypen, denn von ihnen wird ein Klischee, das die eigene Gruppe angeht, eher wahrgenommen und getadelt als eines, das die fremde Gruppe betrifft : Eine deutsche Kritikerin findet die Darstellung von Europäern „unnötig karikaturenhaft“, während ein chinesischer Literaturwissenschaftler bemängelt, dass das Chinabild verfälscht sei und die chinesischen Charaktere wie Karikaturen wirken.
15 1980 Grass, Günter. Kopfgeburten [ID D13800].
(Muschg, Adolf. Baiyun oder die Freundschaftsgesellschaft [ID D13435]).

Qixuan Heuser : Als "China-Roman" mag in dem Buch von Grass wenig direkt von China die Rede sein. Zum einen besteht das Buch aus zwei Geschichten, der Geschichte der Ich-Erzählers und der seiner Filmfiguren. China kommt hauptsächlich in der ersten vor. Zum anderen legt der Erzähler allgemein den Schwerpunkt nicht auf die Darstellung Chinas, sondern auf die Bezugnahme auf China. Letzteres ist gerade die Besonderheit der China-Rezeption bei Grass. Wo die Rede von China aufhört, bleibt die Chinabezogenheit. So werden erzähltechnisch die direkte und die indirekte Chinabezogenheit in zwei Ebenen aufgeteilt : in die Ebene der erzählten Wirklichkeit (während und unmittelbar nach der Chinareise des Ich-Erzählers), auf welcher er seine Gedanken über das Aussterben der Deutschen als Reflexion auf das typische China-Erlebnis mit dem Fahrraddschungel spekulativ entfaltet, und in die Ebene der erzählten Fiktion (Filmhandlung vor, während und nach der Asienreise eines deutschen Lehrerpaares), auf welcher der als Drehbuchautor den Gegensatz zwischen dem deutschen Aussterben und der chinesischen Überbevölkerung – in einer indischen bzw. indonesischen Variation – zum Thema macht.
Als Schriftsteller wird der Ich-Erzähler zu Lesungen und Vorträgen nach China eingeladen, das gerade die Kulturrevolution durchgemacht hat. Während und neben dieser beruflichen Tätigkeit gewinnt er durch den Kontakt mit den Chinesen und die eigenen Beobachtungen Einblick in das unlängst der Welt geöffnete Land. Während sich der Erfahrungsaustausch mit den chinesischen Intellektuellen hauptsächlich auf das Kulturleben in China beschränkt, hat er aus den eigenen Beobachtungen heraus ein allgemeines China-Bild skizziert : „Vor allem sind die Radfahrer, die sich in Haltung und Kleidung unendlich wiederholen“. „Beiderseits des Zuges wiederholten sich Reisterrassen. Der Nassfelderanbau. Die ausladenden, systemüberlebenden Strohüte der überall fleissig gebückten Arbeitskräfte. Soviel Nutzen. Alles von Menschenhand“. „Die Chinesen [essen] in aller Welt zum Mondfest jenen Mondkuchen, dessen Süsse uns in Kanton [Guangzhou], Hongkong, Singapore gleich süss ist“ ; „starr, unverrückbar (und doch seit dem Baubeginn vergeblich) [kriecht] die [chinesische] Mauer in immer kühneren Verkürzungen über Bergkämme“.
Nur eine Kleinigkeit des aktuellen China-Bildes wird gestreift, indem der Erzähler das chinesische Motto der Vier Modernisierungen auf den aufgehängten Spruchbändern erwähnt, die er kaum übersehen kann. Die Interessen des Beobachtenden für das chinesische Gesellschaftmodell statt für dessen einzelne Menschenschicksale, für das relative Dauerbild statt für das Augenblickliche sind an diesem China-Bild deutlich erkennbar…
Eine Parallele zur Situation der deutschen Schriftsteller, „die während des Dritten Reiches ihre Werke in jenem Freigehege veröffentlicht haben, das ihnen die Nazis eingeräumt hatten“, sieht der Erzähler in der Lage der chinesischen Schriftsteller, „die sich zwölf Jahre lang der Kulturrevolution, der ‚Viererbande’ verschrieben hatte… Auch ein anderes Problem der Deutschen, der Konflikt zwischen Kulturschaffenden und den Regierenden, ist den chinesischen Kollegen vertraut.
Schliesslich denkt sich der Ich-Erzähler einen Austausch der psychischen Probleme zwischen Chinesen und Deutschen als Folge der Umkehrung der Bevölkerungszahlen der beiden Länder aus. Dabei lässt er die Deutschen ihre „Überlegenheit“ in der Bewältingung der psychischen Probleme einbüssen : „Und hätten wir Deutsche, wenn wir uns anstelle der Chinesen zu einer Milliarde ausgewachsen hätten, dann, weil um jeden vor- und ausserehelichen Lustgewinn gebracht, die nicht erkennbaren, von niemand behandelten, auf keiner Couch analysierten Komplexe und Neurosen der Chinesen, während sich, stellvertretend für uns, das auf achtzig und immer weniger Millionen schrumpfende chinesische Volk, vom Aussterben bedroht und vom Lustgewinn übersättigt, mit unseren deutschartigen Komplexen und Neurosen rumzuplagen hätte, also eine wachsende Zahl von Psyhiatern, von Analytikern und Therapeuten ernähren müsste.
Der Ich-Erzähler geht sachlich dem Bevölkerungsproblem Chinas nach, vor allem der grossen chinesischen, von der ganzen Welt mit Distanz und Sorge und nicht ohne Vorwürfe verfolgte Kampagne der Ein-Kind-Familie. Etwas völlig Unverständliches ist für ihn das Verbot des vor- und ausserehelichen Sexulalverkehrs in China…
Der Ich-Erzähler übt Kritik an der deutschen journalistischen China-Rezeption : „Stern- und Spiegel-Reporter zählen Mächen in Röcken, Dauerwellenköpfe, Lippenstiftspuren und ähnliche Attribute westlicher Liberalität, fotografieren sie ab, vertexten sie und lassen ihre vorgefasste Meinung zur falschen Information gerinnen. Wäre es nicht genauer und deshalb gerechter, das chinesische Volk und seine Gesellschaftsordnung am Zustand jener Staaten der Dritten Welt zu messen, die sich dem westlichen Liberalismus in Gestalt seines Wirtschaftssystems ausgesetzt haben und deren traurige Rekorde Landflucht und Verslumung, Raubbau und Verkarstung, Unterernährung und Hunger, Luxus und Elend, staatliche Willkür und, alles überragend : Korruption heissen ?“

Horst Denkler : Beide Erzählungen knüpfen an eine kurzfristige Rundreise ihrer Autoren durch die Volksrepublik China an, verzeichnen Augenblickseindrücke wie Hupenlärm, Radfahrerdschungel, Geruchsoffensive und äussern Verblüffung über augenscheinliche Widersprüche zwischen chinesischem Kulturstolz und Vorliebe für das Neue, chinesischem Traditionsbewusstsein und utopischer Perspektive. Beide demonstrieren, wie die zugereisten Romanpersonen politische Peinlichkeitsschwellen überschreiten und ideologische Tabuzonen verletzten, indem sie sich zum Beispiel für die Kulturrevolution begeistern oder auf Entmaoisierung drängen ; beide enthüllen, dass die Europäer (besonders die Deutschen) dazu neigen, ihre eigenen Probleme, Konflikte, Neurosen bei den Chinesen zu suchen, das "Unmögliche und Unnatürliche" zu fragen, im zwischenmenschlichen Verkehr das Gesicht zu verlieren und sich lächerlich zu machen. Und beide gestehen die Begrenztheit der geschilderten Eindrücke, die Zufälligkeit der beschriebenen Erlebnisse, die Fragwürdigkeit der gewagten Aussagen freimütig ein. Muschg schreibt : "Wir hatten Phantasie, aber eine Ahnung hatten wir nicht... Von den Chinesen weiss ich jeden Tag weniger. Grass schreibt : "Wir konnten unsere deutschen Rückstände nicht loswerden". Doch obwohl sich weder Muschg noch Grass über die Oberflächlichkeit ihres China-Bildes hinwegtäuschten und sich beide vor falschen Schlüssen zu hüten suchten, mit denen sie die chinesischen Gastgeber kränken könnten, ist jedem eine Taktlosigkeit unterlaufen, die sich nur aus der begrenzten Perspektive des Touristen und dem unbegrenzten Gestaltungs- und Wirkungswillen des Literaten erklären lässt... Muschg lässt Pietät und politischen Spürsinn vermissen, Grass mangelt es an Mitgefühl und sozialer Sensibilität. Beide haben sich genommen, was sie gebrauchen konnten, um ihre eigenen Ausdrucks- und Schaffensbedürfnisse zu befriedigen.

Bodo Plachta : Das Lehrerehepaar Dörte und Herm Peters wählt unter den Reiseangeboten so lange aus, bis es ein Asien-Programm gefunden hat, das ihm seine „objektive Urteilskraft“ garantiert und es nicht zu „üblichen Touristen“ macht.

Thomas Lange : Der romanhafte Reisebericht sucht immer wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie überraschend darin, dass dort wie hier die Mächtigen sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, „die unruhig sesshaften Nestbeschmutzer“, äussern. „Das war nicht fremd oder zu weit weg.
  • Document: Lange, Thomas. China als Metapher : Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert. In : Zeitschrift für Kulturaustausch ; H. 3 (1986). (Lange1, Publication)
  • Document: Denkler, Horst. Von chinesischen Pferden und deutschen Missionaren : China in der deutschen Literatur : deutsche Literatur für China. In : German quarterly ; vol. 60, no 3 (1987). (Den1, Publication)
  • Document: Heuser, Qixuan. Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen. (Freiburg, Schweiz : Universität Freiburg, 1996). Diss. Univ. Freiburg, 1996. S. 10-22. (Heus1, Publication)
  • Person: Grass, Günter
16 1986 Krüger, Michael. Warum Peking ? [ID D15088].
Qixuan Heuser : Seit dem Empfang am Flughafen lässt sich der chinesische Betreuer des Ich-Erzählers nicht mehr blicken. Im Hotelzimmer wartet er verzweifelt, wird aber von der chinesischen Akademie für den Konfuzius-Kongress öffentlich für krank erklärt und von einem chinesischen Arzt behandelt. Die ärztliche Untersuchung erweist sich als eine politische Umerziehung auf chinesische Art. Als der Kongress zu Ende ist, fliegt er nach Deutschland zurück, ohne daran teilgenommen zu haben. Im Zusammenhang mit dem Kongress hat der Ich-Erzähler ein negatives China-Bild dargestellt. Die Chinesen sind hinterlistig, sie geben ihm keine Erklärung für den Mangel der Gastfreundschaft und halten ihn durch Manipulationen vom Kongress fern. Die chinesische Akademie ist fragwürdig, die chinesische Presse unzuverlässig und verbreitet Lügen, was den Bericht über den Kongress betrifft. China steht noch unter ideologischer Macht – das lässt sich am Verschwinden des Manuskriptes des Ich-Erzählers und an der Diagnose des chinesischen Arztes erkennen. Seine bitteren Erfahrungen und sein schlechter Seelenzustand führen zu Feindlichkeit gegenüber den Chinesen. Sowohl die eigenen Bekenntnisse als auch die Zitate aus den chinesischen philosophischen Büchern sprechen dafür, dass sich der Ich-Erzähler für das alte geistige China interessiert hatte. Das Buch I-ging [Yi jing], das ihm sonst als Lebenshilfe gedient hat, vermisst er : "Ich sehne mich plötzlich nach meiner schönen alten Ausgabe des I-ging, die mir schon manches Mal in hoffnungsferner Zeit ein Licht gesteckt hat, wenn Zaudern meines Lebens einziger Antrieb war". Er hatte auch eine Vorliebe für Lao Tse [Laozi] : "Konfuzius nein, Lao Tse ja". Zu seiner Verbindung zu Konfuzius äussert er sich : „meine einzige Verbindung zu Konfuzius… bestand allein darin, dass ich in unserer Werkzeitung… einen Aufsatz über Konfuzius veröffentlicht hatte – nicht viel mehr als eine Marginalie, die im wesentlichen in der Ausschmückung eines Lexikonartikels bestand“. Von seiner tieferen Beziehung zu Laozi zeugen seine Kenntnisse des Dao de jing, aus dem er direkt und indirekt zitiert : "Unsterblich ist der tiefe Geist des Tals, der dunkle Mutterschoss sei er benannt, und dieses dunklen Mutterschosses Pforte – genannt wird sie die Wurzel des Alls, sich hinschlingend durch alles, allgegenwärtig wirkt sie und wirkt doch mühelos". "von der zahllosen Vielfalt der Dinge wird jede zurückfinden zur Wurzel, zurückfinden zur Wurzel ein jedes und doch nichts wissen davon". "Frag nicht nach ihren Namen, erkunde nicht ihre Daseinsweise, und die Dinge werden von selbst gedeihen". "Wer weiss, spricht nicht, wer spricht, weiss nicht". "Das Tao als das Unendliche, das das Flüchtige ist, das Flüchtige, das das Vergängliche ist, und das Vergängliche, das die Rückkehr ist". "Schwaches überwindet das Starke, Weiches überwindet das Harte“. "denn so ist der Weise – tut und verlangt nichts für sich, nimmt nicht für sich, was er vollbracht, und will nicht gepriesen sein, wie es bei den Klassikern heisst". "Klein sei das Land, das Volk gering an Zahl, so viele Werkzeuge es gibt, gebraucht sie nicht ! Lehrt das Volk den Tod scheuen und weites Wandern meiden ! Gibt es auch Boote und Wagen, man besteige sie nicht, gibt es auch Harnisch und Waffen, man hole sie nicht hervor, das Schreiben schafft ab. Lehrt die Menschen wieder Knoten knüpfen, die Speise sei ihnen süss, die Kleidung schön, die Hütten bequem, die Sitten fröhlich. Die Nachbarstaaten liegen dicht beisammen, man hört die Hühner gackern, die Hunde bellen, und doch verkehrt man bis zum Tode mit seinen Nachbarn nicht". Konfuzius ist mit einem Zitat aus dem Lun yu vertreten : "Ein Amt abschlagen, heisst es sinngemäss bei Konfuzius, heisst seine Pflicht vergessen. Wer nur seine persönliche Unschuld und Reinheit bewahren will, der lässt Unordnung in den menschlichen Beziehungen zu. Der gebildete, hochstehende Mensch übernimmt öffentliche Ämter und verwaltet sie pflichtgemäss".

Adrian Hsia : China wird zu einer unheimlichen Kraft stilisiert, in der der Autor seine China-Begegnung durch esoterische Lektüre aller Art seit der Studenten-Revolte verarbeitet. 1985 war er zum ersten Mal in Beijing, ein Jahr danach erschien seine Erzählung, in der Beijing als Labyrinth erscheint, dessen Zentrum die fiktive Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften ist. Von dieser Akademie ist der Ich-Erzähler zu der ersten Konfuzius-Konferenz Chinas eingeladen um sein Land mit einem Vortrag zu vertreten. Er fertigt ein Referat an, in dem er für die Rückeinführung des Buddhismus in China plädiert, damit China nicht in die Arme des Westens falle, was seinen politischen Standort verrät. Dieses Referat verschwindet auf mysteriöse, d.h. chinesische Weise auf dem Weg vom Flughafen Beijings zum Hotel. Von Anfang an, glaubt er, dass die Chinesen ihn bespitzeln… Er erfährt, das der Titel seines Vortrages „Konfuzianismus und das Christentum“ lautet…
Krüger hat in seinen Berliner Tagen vieles über das esoterische China gelesen. Nach wie vor gilt sein Interesse eher dem Buddhismus, Taoismus und Yi jing, nicht aber dem Konfuzianismus… Krüger schreibt bewusst ein Buch der „Chineseleien“, um seine „Chineseleien“ und die seiner Generation zu entlarven und somit zu erledigen.

Gao Yunfei : Krüger beginnt seine Geschichte mit einem Zitat von Konfuzius : Konfuzius ging einmal nach Ch’u. Unterwegs traf er in einem Wald einen Buckligen, der mit Vogelleim Zikaden fing, und zwar so geschickt, als ob er von der Erde etwas aufheben würde. Konfuzius sagte zu ihm : Wie geschickt bist du doch ! Gibt es dazu einen Weg ? Da entgegnete der Bucklige : Es gibt für mich einen Weg. Im Mai und Juni übt man mit zwei Vogelleimkügelchen, auf eine Rute aufgetragen. Und wenn man so weit kommt, dass kein Vogelleimkügelchen herunterfällt, dann misslingt der Zikadenfang nur selten. Wenn die Übung mit drei Kügelchen aus Vogelleim klappt, dann kann man so werden wie ich, als ob man nur etwas von der Erde aufheben würde. Wenn ich mich zum Fangen vorbereite, dann sehe ich aus wie ein dürrer Baumast. So gross und weit der Himmel und die Erde auch sein mögen, in meinen Sinnen sind nur die Zikadenflügel. Ich drehe mich nicht, ich blicke nicht seitwärts, in diesem interesselosen Zustand gibt es nichts, das man nicht erreichen könnte. – Da wandte sich der Meister an seine Jünger und sagte : Man sagt, mit voller ungeteilter Konfzentration wird man fast göttlich. Damit ist wahrscheinlich dieser alte Bucklige gemeint.

Der Ich-Erzähler kommt nach Beijing, um die eigene Vergangenheit zu bewältigen und mit der "Chinainflation" im Westen abzurechnen. In China muss er erleben, dass ihn der Taoismus nicht aus seiner Not retten kann.
Er verschliesst sich in Beijing in sein Hotelzimmer und beschäftigt sich statt mit der fremden Wirklichkeit mit seinen grotesken Gedanken und Phantasien.. Seine Unfähigkeit zur Wahrnehmung seiner neuen Umgebung zeigt sich in seiner Interaktion mit anderen. Die amerikanische Archäologin Gwendolyn ist die einzige Figur, die ihn von Anfang an begleitet. Gleichgültig was sie unternimmt, sie bleibt in seinen Augen eine Spionin der chinesischen Seite… Aus seiner Beziehung zu einer früheren Lebensgefährtin ist auch nichts geworden. Auch die Erinnerung an sie kann dem Erzähler nicht aus der jetzigen Situation heraushelfen. Seine Verschlossenheit und Kommunikationsunfähigkeit existierte schon vor seiner Chinareise. Da er nicht am Leben von anderen teilnehmen kann oder will, wird seine Existenz in der Gesellschaft bedroht.
Mitte der 1970er Jahre kam er zum ersten Mal durch ein Mädchen mit dem Tao in Berührung. Das Mädchen und das Tao werden von Krüger von Anfang an ironisch dargestellt, denn ihr reales Menschsein, ihre menschliche Lebensfähigkeit werden von Anfang an in Frage gestellt. Das Mädchen verschwand plötzlich und hinterliess einen Zettel "Frag nicht nach ihrem Namen, erkunde nicht ihre Daseinsweise, und die Dinge werden von selbst gedeihen". Als sich die Polizei nach dem Mädchen erkundigt, antwortet der Erzähler : "Wer weiss, spricht nicht, wer spricht, weiss nicht".
Der Erzähler erklärt Professor Muller wortreich die Soziallehre des Taoismus, doch dieser ist eingeschlafen. Das taoistische "Wuwei", als Nicht-Tun oder Nicht-Handeln erfährt er in eigener Erfahrung in Beijing : "Da es aber in China für mich nichts zu tun gab, musste ich befürchten, bald wieder der Gleichgültigkeit mit all ihren unbegreiflichen Nebenzweigen zu erliegen".
China ist ihm nicht gleichgültig, er fühlt sich mit "seinem" China verbunden und verteidigt es bei jeder Gelegenheit. Er sorgt dafür, dass das "wahre Chinesische" nicht vom Westen verdorben wird. Eine zweite Möglichkeit zur Rettung des Chinesischen sieht er in der Wiedererstarkung des Buddhismus, und plädiert dafür, damit China nicht in die Arme des Westens falle : "Sie [die Chinesen] hatten Kultur, aber keinen Begriff für Kultur, und wenn es so weitergeht, haben sie bald einen Begriff von Kultur, aber keine Kultur mehr".

Bodo Plachta : Odyssee eines Kongressteilnehmers zwischen Flugplatz, Hotel und deutscher Botschaft in Beijing, ohne dass er sein Reiseziel, die Teilnahme an einem Konfuzius-Kongress erreicht. Er meint : "Überdies verbot sich eine novellistische Behandlung meines Lebens in Peking ja schon deshalb von selber, weil ich genaugenommen ausser einem Blick aus dem Fenster nichts von Peking gesehen hatte, was einer ausschmückenden Beschreibung wert gewesen wäre, und auch die Fahrt durch die nächtliche Hauptstadt hätte bestenfalls für ein paar beiläufige Bemerkungen zur Illustration des atmosphärischen Hintergrunds getaugt".
Krügers Erzählung dokumentiert die Stationen einer Flucht, deren Ungewolltheit vom Ich-Erzähler zwar mehrfach beteuert wird, deren Inszenierung aber unter einer von Obsessionen und Wahnvorstellungen zusammenbrechende Dramaturgie zur banalen Parodie auf vergleichbare literarische Vorwürfe zu verkommen droht. Der eigentliche Anlass der Reise, die Einladung der chinesischen Akademie zu einem Vortrag auf einem internationalen Konfuzius-Kongress, setzt einen Prozess von tatsächlichen und phantasierten Ereignissen und Verwicklungen in Gang, der anfangs noch eine Lösung aus den heimatlichen sozialen Bindungen verspricht. Die läuternde Wirkung der Ferne aber wird überschätzt, im Endeffekt werden die sozialen und kommunikativen Defizite des Ich-Erzählers noch vergrössert, er selbst mehr und mehr isoliert, so dass er seine Umgebung schliesslich als "Folterkrammer" und "Zwinger" wahrnimmt…
In der Erzählung werden nur zwei genau lokalisierbare Örtlichkeiten erwähnt, die exemplarisch das landläufige China-Bild repräsentieren : zum einen der Platz des Himmlischen Friedens in Peking mit Fahrradgewirr, Lampenmasten und Lautsprecherkränzen, bunten Fahnen sowie dem Bild Mao Zedongs am Eingangstor zur Verbotenen Stadt, und zum anderen die Gräber der Ming-Dynastie. Dieses kulissenhafte China-Bild setzt sich fort in den ebenso plakativen Gegenüberstellungen vom "modernen China" und dem "wahren China"…
Die Pekinger Erlebnisse werden durch ein Tagebuch und durch Notizbücher dokumentiert : "Es lag ein Nachmittag hinter mir, dessen letztes Drittel ich darauf verwendet hatte, all die chinesischen Ungereimtheiten in meinem Tagebuch, alle offenen, später zu klärenden Fragen in das grüne, alle theoretischen Exkurs in das schwarze Notizbuch einzutragen… während das Tagbuch dazu herhalten musste, einen schematischen Grundriss der Ereignisse in Peking in zeitlicher Folge aufzunehmen, der es mir später einmal ermöglichen sollte, die Dinge aus meiner Sicht zu rekonstruieren, falls dies – etwa vor Gericht – gewünscht würde".
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 56-59. (Hsia12, Publication)
  • Document: Heuser, Qixuan. Das China-Bild in der deutschsprachigen Literatur der achtziger Jahre : die neuen Rezeptionsformen und Rezeptionshaltungen. (Freiburg, Schweiz : Universität Freiburg, 1996). Diss. Univ. Freiburg, 1996. 69-84. (Heus1, Publication)
  • Person: Krüger, Michael
17 1987 Grass, Günter. Ein 'Revisionist' in Peking : Interview.
Er schreibt über China : Allein schon die Tatsache, dass sie erst so spät heiraten, dass Verhütungsmittel nur ausgegeben werden, wenn sie verheiratet sind, dass die Wohnungsfrage ein Riesenproblem ist, dass sie eigentlich im Grunde vor einer Eheschliessung sexuell und erotisch unterentwickelt bleiben, obleich sie erwachsene Menschen sind und überall eine Menge als Erwachsene leisten müssen, lässt ihnen keine Chance, sich adäquat auf diesem Gebiet zu entwickeln und ihre Erfahrungen zu machen. Das führt natürlich zu Stauungen und zu Komplexen ; und da wäre es gerade Aufgabe eines Schriftstellers, diese Probleme junger Leute deutlich zu machen, damit sie sich in ihren Problemen wiedererkennen. Da fängt ja die Aufgabe der Literatur an.

Sources (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1897 Hesse-Wartegg, Ernst von. China und Japan : Erlebnisse, Studien, Beobachtungen auf einer Reise um die Welt. (Leipzig : J.J. Weber, 1897). [2. verm. und verb. Aufl. 1900]. [Bericht seiner Reise 1894 von Hong Kong nach Guangzhou (Guangdong) entlang der Ostküste nach Shanghai, Hangzhou über den Yangzi, vorbei an Jinjiang und Nanjing nach Hankou, Tianjin nach Beijing. Die zweite Reise bringt ihn in die Provinz Shandong und in das Hinterland von Jiaozhou].
http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/dms/werkansicht/
?PPN=PPN62470520X&LOGID=LOG_0002
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Publication / Hess1