Frisch, Max. Bin : oder, die Reise nach Peking [ID D3515].
Adrian Hsia : Der Text erweckt beim Leser den Eindruck, dass die Zeit um zwei Jahrhunderte zurückversetzt wurde. Offensichtlich liegt Beijing im ersten Text mit seinen glänzenden Dächern und Pagoden in einer auf einem Porzellan-Stück gemalten Landschaft zur Zeit eines Johann Georg Hörodt. Es könnte auch dem China-Bild von Eichrodt entstammen, denn in Frischs Beijing wimmelt es von kleinen Menschen mit gelben Spitzhüten und Wasserverkäufern. Diese Seelen stehen still, denn die Zeit soll eine europäische Erfindung sein und im Porzellan-China unbekannt, dessen Einwohner nur davon leben, Tee zu trinken und sich gegenseitig zu verbeugen. Ausserdem ist der dickleibigste der vornehmste Chinese bei Frisch.
Thomas Lange : Frisch macht die Sehnsucht nach einer Gegenwirklichkeit zum Thema seines Buches, allerdings ist diese nun ganz unpolitisch gemeint. Ausbruch aus dem Alltag, Abstreifen der sozialen Rolle sind die dominierenden Themen. Er schreibt : „In Peking, denke ich, können all solche Dinge nicht vorkommen, die jeder von uns kennt, so dass sie ihm in der Galle lieben. Hier ist es alles anders“. Diese Andersartigkeit meint, und da kommen wieder bekannte Motive ins Spiel : Musse, Frieden, Höflichkeit, Schönheit. Das chinesische Ambiente wird nur durch dekorative Gegenstände voziert : Bambus, Büffel, Pfirsichblüte, Seide. Das Kollektivklischee von den „Ameisen“ dreht Frisch einfach um : „Ich weiss nicht, wessen Sklaven wir sind. Wir leben wie die Ameisen, drüben im Abendland… Wir nennen es die Wochentage. Das heisst, jeder Tag hat seine Nummer, und am siebten Tage läuten die Glocken ; dann muss man spazieren und ausruhen, damit man wieder von vorne beginnen kann“.
Charakteristischerweise kann die Sehnsucht aber kein Ende, kann ihr Ziel nicht finden. Das Fremde entpuppt sich schliesslich als schon bekanntes Eigenes, das chinesische Haus in Peking ist vom Erzähler selbst konstruiert.
Chen Huimin : Es wird in Bin nur gezeigt, was in einem sich zerrissen fühlenden Schweizer Bürger vorgeht, was er wünscht, sucht und erwartet. Der Leser wird (nicht nur) daran gehindert, sich wie in einem chinesischen Haus zu fühlen, sondern er denkt distanziert über das auf diese verfremdende Weise Gesagte nach.
Geht Frisch hier auf die eine Traditionslinie des geistigen, positiven Chinabildes ein, so nimmt er die negativ-despotische Variante als Grundlage seiner Farce „Die chinesische Mauer“. In Übernahme von Brechts Verfremdungs- Dramaturgie (und mit Anklängen an dessen dramatische Tui-Satire) will Frisch vor der Willkür politischer Macht, vor der Gefahr eines Atomkrieges warnen. Wie in Brechts Drama die „chinesischen“ Tugenden von Geduld und Entsagung als nützliche Ideologie entlarvt werden, so ist für Frisch der Kaiser Hwang-ti [Huangdi] das Urbild eines Tyrannen. Der simple Verfremdungsmechanismus wird aus chinesischer Perspektive so beschrieben : „So wie ein Europäer, der blonde Haare, blaue Augen und eine grosse Nase hat, unter den Chinesen im chinesischen Milieu ganz auffällig wirkt, sind die chinesischen Elemente dem europäischen Zuschauer auch fremd, auffällig, merkwürdig. Für die Europäer sind die Figuren das Fremde, aber was sie zeigen, ihr Handeln ist das Eigene.
Literature : Occident : Switzerland