1984
Publication
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1 | 1903 | Franz Kafka besucht die Kunstausstellung von Emil Orlik in Prag, Tschechoslowakei und wird dabei auf die chinesische und japanische Landschaftsmalerei aufmerksam. Er beginnt zu malen und schreibt in einem Brief, dass man für das zukünftige Leben „Orientalisch-Merkwürdiges“ erwarten dürfe. | |
2 | 1904-1910 |
Kafka, Franz. Beschreibung eines Kampfes : Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlass. (Gesammelte Werke). [1. Fassung entsteht 1904-1906, 2. Fassung 1909-1910]. Klaus Wagenbach : Es besteht die Möglichkeit, dass Kafka beim Schreiben dieser Erzählung unter dem Einfluss von Hans Heilmann steht, denn seine Landschaftsschilderung enthält ähnliche Motive. Lee Joo-dong : Sein Wunsch, „einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmässigkeit zusammenzuhämmern, entspricht der Art des chinesischen Kochs namens Ting in der Parabel von Zhuangzi. In einem Aphorismus schreibt Kafka : Vor dem Betreten des Allerheiligsten musst du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleider und Gepäck, und darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und lässt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen. Dieser Aphorismus Kafkas scheint die vollkommene Umschreibung der Parabel Zhuangzis zu sein, in der der Weise Shihnan I-liao den Herrn von Lu den Weg in die vollkommene Leere, ins Tao, einzutreten lehrt. |
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3 | 1907-1909 |
Kafka, Franz. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. In : Kafka, Franz. Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass. (Gesammelte Werke). [Entstanden 1907-1909]. Kafka schreibt :„Die Untätigkeit ist eine Vollendung des Handelns“. Einer der Grundgedanken des Taoismus im Dao de jing : Tao ist ewiges Nicht-Tun, und doch bleibt nichts ungetan. |
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4 | 1910-1920 |
Meng Weiyan : Berührungspunkte zu China von Franz Kafka : Die Doppelmonarchie und chinesische Qing-Dynastie, die beide im Zeichen des Verfalls und der Korruptheit stehen. Die Industrieentwicklung und der 1. Weltkrieg, die die Suche nach einem geistigen Zufluchtsort im idyllisch dargestellten China nahelegen. Das Judentum und die antisemitische Welle, die das tolerante China sympathisch machen. Die Blütezeit der Ostasien-Begeisterung in Deutschland. All dies trägt dazu bei, dass Kafka China-bezogene Bücher liest. Ansatzpunkte zum Vergleich dieser Bücher mit Kafka sind : Flucht aus der Gesellschaft, Flucht in die Natur, Vater-Sohn-Komplex, Ehe-Familie-Problem, Vorliebe für kleine Tiere, Motiv der Verwandlung. Gustav Janouch lernt Frank Kafka 1920 kennen und schreibt 1968, dass Kafka die Kunst der alten chinesischen Bilder, japanische Holzschnitte, sowie Sprichwörter, Gleichnisse und Geschichten aus altchinesischen Philosophie- und Religionsbücher in der Übersetzung von Richard Wilhelm bewundert habe. Kafka besass in seiner Bibliothek die Übersetzungen : Kung-futse. Gepräche [ID D1581] : Kafka bemerkt dazu : In Kung-futses Gesprächen ist man noch auf festem Boden. Laotse. Tao-te-king [ID D4445] : Kafka schreibt : Laotses Sprüche sind steinharte Nüsse. Ich bin von ihnen bezaubert, doch ihr Kern bleibt mir verschlossen. Ich habe sie mehrmals gelesen. Dann entdeckte ich aber, dass ich sie – wie ein kleiner Junge bunte Glaskugeln – aus einem Gedankenwinkel in den andern gleiten liess, ohne damit nur ein Stück weiterzukommen. Ich entdeckte mit den Glaskugeln dieser Sprüche eigentlich nur die trostlose Seichtheit meiner Gedankenmulden, die Lao-tses Glaskugeln nicht begrenzen und aufnehmen konnten. Das war eine ziemlich deprimierende Entdeckung, also liess ich das Spiel mit den Glaskugeln bleiben. Dschuang Dsi [ID D4447] : Nach Janouch hat Kafka einige Stellen unterstrichen und zu zwei Stellen bemerkt : Durch das Leben wird nicht der Tod lebendig ; durch das Sterben wird nicht das Leben getötet. Leben und Tod sind bedingt, sie sind umschlossen von einem grossen Zusammenhang. – Die Männer des Altertums wandelten sich äusserlich, aber blieben innerlich umgewandelt. Heutzutage wandeln sich die Menschen innerlich, aber bleiben äusserlich unverwandelt. Wenn man sich in Anpassung an die Verhältnisse wandelt und dabei doch ein und derselbe bleibt, so ist das in Wirklichkeit kein Wandel. Man bleibt ruhig im Wandel und bleibt ruhig im Nichtwandel ; man bleibt ruhig bei allen Berührungen mit der Aussenwelt und lässt sich nicht in die Vielheit hineinreissen. So hielten’s die Leute in den Gärten und Hallen der alten Weisen. Die Herren aber, die sich in den verschiedenen Gelehrtenschulen zusammenschlossen, bekämpften einander mit Behauptungen und Widerlegen. Und wie sieht es da erst heutzutage aus ! Der berufene Heilige weilt in der Welt, aber er verletzt nicht die Welt. Liä Dsi [ID D4446] : Kein Kommentar von Kafka. Dschung yung [Zhong yong] : Einige Leute behaupten, dass Kafka das Zhong yong durch einen Vorabdruck gekannt hat, andere bestreiten es, da das Zhong yong erst als Kapitel des Li gi von Wilhelm 1930 erschienen ist. Heilmann, Hans. Die chinesische Lyrik [ID D11976] : Max Brod schreibt : Kafka hat das Buch sehr geliebt, zeitweilig allen andern vorgezogen und mir oft mit Begeisterung daraus vorgelesen ; schliesslich hat er es mir geschenkt. Seine Lieblingsgedichte sind von Li Bo, Sao Han, Su Shi, Yuan Mei und Du Fu. Nach der Handbibliothek Kafkas, die Klaus Wagenbach gesammelt hat, hat Kafka gelesen : Bethge, Hans. Die chinesische Flöte [ID D11977] : Jürgen Born meint : Das Buch ist bei den angebotenenen Büchern aus der Handbilbiothek von Kafka. Die Seiten des von uns erworbenen Exemplares sind allerdings nicht aufgeschnitten, es könnte sein, dass Kafka dieses Buch nicht gelesen hat. Wilhelm, Richard. Chinesische Volksmärchen [ID D1585] : Kafka hat das Buch besessen, dann aber seiner Schwester Ottla geschenkt. Die aus dem Textvergleich ersichtlichen Parallelen zwischen einigen Novellen Kafkas und den Volksmärchen stützt jedoch die Vermutung, dass er das Buch gelesen hat. Li-tai-pe von Klabund [ID D2998] : Kafka schätzt die Gedichte von Hans Heilmann mehr, als die Nachdichtungen von Klabund. Durch die Bekanntschaft 1913 mit Martin Buber liest Kafka auch seine Bücher : P'u, Sung-ling. Chinesische Geister- und Liebes-Geschichten [ID D2083] : Das Buch wird zwei mal in Briefen an Felice Bauer von 1913 erwähnt : Buber hat also Chinesische Geister- und Liebesgeschichten herausgegeben, die, soviel ich davon kenne, prachtvoll sind. – Das ist wirklich merkwürdig, dass Du das Buch von Buber gekauft hast ! Ich kenne es nur aus einer ausführlichen Besprechung, in der verschiedene Zitate standen. Auf jeden Fall kannte Kafka das Buch. Reden und Gleichnisse des Tschuang-tse [ID D11978]. Weitere Bücher, die Kafka gekannt hat : Dittmar, Julius. Im neuen China [ID D12662]. Das Buch ist nicht in Kafkas Handbibliothek und wird auch in seinen Werken nicht erwähnt. Dass er es vermutlich doch gelesen hat wird durch folgende Tatsachen gestützt : Darin enthalten sind Mauer-, Kaisertum- und Kaisermotive, die auch in Kafkas Erzählungen vorkommen. 1916 schreibt er auf eine Postkarte an Felice : Für Knaben sind die grünen Bücher von Schaffstein, meine Lieblingsbücher, das Beste. Aus den Textvergleichen zwischen diesem Buch und Kafkas Novellen Beim Bau der chinesischen Mauer, Eine kaiserliche Botschaft, Ein altes Blatt, ergibt sich, dass Kafka die China-Motive aus diesem Buch übernommen hat. Meyrink, Gustav. Der Golem. Daraus hat Kafka China-Motive übernommen hat. Jacques, Norbert. Auf dem chinesischen Fluss [ID D3065]. Kisch, Egon Erwin. China geheim [ID D3296]. Ehrenstein, Albert. Schi king [ID D12457] und Pe-lo-thien [ID D12456]. Döblin, Alfred. Die drei Sprünge des Wang-lun [ID D12338] Hofmannsthal, Hugo von. Der weisse Fächer [ID D12664]. In einem Brief an der Verlag Kurt Wolff in Leipzig bestellt Kafka 1923 die beiden Bücher Chinesische Landschaftsmalerei von Otto Fischer [ID D653] und Von Chinas Göttern von Friedrich Perzynski [ID D3054]. Fiedler, F. Des Laotse Tao-te-king [ID D13723] : Gustav Janouch : Kafka hat gesagt : Gustav Wyneken (der Herausgeber des Buches) und seine Freunde wollen dem Zugriff unserer Maschinenwelt entkommen. Sie wenden sich an die Natur und das älteste Gedankengut des Menschen. Sie buchstabieren – wie Sie hier sehen – in den Übertragungen alter chinesischer Übersetzungen der Wirklichkeit, statt im Originaltext ihrer eigenen Existenz und Verantwortung geduldig zu lesen. Das Vorgestern scheint ihnen zugänglicher zu sein als das Heute. Dabei ist die Wahrheit nie und nirgends zugänglicher als im Augenblick des eigenen Lebens. Nur hier kann man sie gewinnen oder verlieren. Was sie verbirgt, ist nur das Offensichtliche, die Fassade. Die muss man durchbrechen. Dann ist alles klar. Buch bubácká knihá (Gespenster) : Um welches Buch es sich handelt, ist nicht herausgefunden worden. In einem Brief an Milena zitiert er zwei Passagen daraus. Die beiden Zitate stehen aber werder in Buber noch sind sie in Liao zhai zhi yi zu finden. 1922 schreibt er an Milena über Gespenster. 1920 schreibt Kafka an Milena : Ich lese ein Buch über Tibet. Dies betrifft Hedin, Sven Andres. Durch Asiens Wüsten [ID D2666]. Hedin, Sven Anders : Trans-Himalaya [ID D2867] : Das Buch hat seine Spur in Kafkas Werken hinterlassen. Die Beschreibungen der Nomaden haban auf ihn Eindruck gemacht. |
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5 | 1910 | Franz Kafka nimmt in Jungborn an einem Vortrag über chinesische Sitten, Kleidung und Naturheilkunde teil. Seither besitzt er ein tiefergehendes Interesse an Naturheilkunde im Hinblick auf seine eigene körperliche und geistige Gesundheit. |
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6 | 1912 |
Franz Kafka zitiert in einem Brief an Felice Bauer das Gedicht In tiefer Nacht von Yuan Mei aus Die chinesische Lyrik von Hans Heilmann [ID D11976] und erwähnt es noch fünfmal in weiteren Briefen. Das Gedicht hat eine grosse Bedeutung für Kafka und Felice bekommen. Kafka schreibt : Aber warte einen Augenblick, zum Beweise dessen, dass die Nachtarbeit überall, auch in China den Männern gehört, werde ich aus dem Bücherkasten ein Buch holen und ein kleines chinesisches Gedicht für Dich abschreiben. Es stammt von dem Dichter Jan-tsen-tsai über den ich die Anmerkung finde : sehr talentvoll und frühreif, machte eine glänzende Karriere im Staatsdienst. Er war ungemein vielseitig als Mensch und Künstler.“ Ausserdem ist zum Verständnis des Gedichts die Bemerkung nötig, dass die wohlhabenden Chinesen vor dem Schlafengehen ihr Lager mit aromatischen Essenzen parfümieren. Im übrigen ist das Gedicht vielleicht ganz wenig unpassend, aber es ersetzt den Anstand reichlich durch Schönheit. Meng Weiyan : Kafka betrachtet die Frau in dem Gedicht gleichsam mit einem verwandten Herzen, weil er sich gerade mit dem Problem der Ehe und Familie auseinandersetzt. |
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7 | 1915 |
Kafka, Franz. Die Verwandlung [ID D13540] Zhou Jianming : Die Erzählung trägt autobiographische Züge. Hu Runsen stellt die These auf, dass Kafka vom Taoismus stark und positiv beeinflusst werde. Das „Tao“ komme in seinem Werk überall zum Ausdruck als Instanz, die über alles herrsche und bestimme. Das führe zur Entfremdung des Menschen. Das Motiv der Entfremdung, verstanden als die Herrschaft des Dinges über Menschen nach dem Taoismus, durchziehe vor allem die Erzählung Die Verwandlung. Zum Einen sei die tragische Feststellung von Zhuangzi, dass der Mensch unvermeidlich dem Ding dienen müsse, zu finden, zum anderen werde das schöne taoistische Ideal, über das Ding zu herrschen ausgedrückt. Dies sei das Zeiel, nach dem Kafka sein ganzes Leben lang vergeblich gestrebt habe. Lee Joo-dong : Die Geschichte zeigt, wie der dem normalen alltäglichen Leben verfallene durchschnittliche Mensch Gregor Samsa durch den Prozess der Verwandlung seiner eigenen Innenwelt als einer fremden Gegenstandswelt gegenübersteht, die ihn plötzlich überfällt. Der Wunsch und die Sehnsucht Samsas, sich aus dem Zwang und der Gewalt des modernen gesellschaftlichen Berufslebens zu befreien, und ein freies Leben zu finden, rufen seine unruhigen Träume hervor, in denen er sich ein einen fremden Käfer verwandelt. In einer Spiegelung von wirklicher Unwirklichkeit und unwirklicher Wirklichkeit beginnen alle Dinge bei Kafka ihre Konturen zu verlieren und damit auch ihre unbezweifelbare, greifbare Realität aufzutauchen. Zwischen Traum und Verwandlung scheint deutlich ein rätselhaftes Verhältnis zu bestehen. Der Schmetterlingstraum von Zhuangzi ist ein paralleles Gleichnis. Kafkas Gedanke, dass ein Tier trotz seiner Verschiedenheit in der Gestalt, die gleiche Fähigkeit zur Hellsicht wie der Mensch tragen kann, erinnert an eine Lehre von Liezi, wonach die Denkart der Tiere von Natur aus gleichartig mit der des Menschen ist. |
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8 | 1915 |
Kafka, Franz. Vor dem Gesetz. In : Selbstwehr ; 7.9.1915 / In : Vom jüngsten Tag : ein Almanach deutscher Dichtung ; 1915. [Legende aus Der Prozess]. Quellen : Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik [ID D11976] und Dittmar, Julius. Im neuen China [ID D12662]. Ernst Weiss schreibt im ‚Berliner Börsen Courier’ (26.4.1925) über den Roman Der Prozess, wobei er Kafkas Parabel Vor dem Gesetz dem Gleichnis von Zuangzi und Konfuzius gleichsetzt. Lee Joo-dong : Vor einem unbekannten Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Man kann annehmen, dass das unbekannte Gesetz dem Tao als verborgenem und unerkennbarem Gesetz entspricht. Das Gesetz stellt sich als ein Gebäude, ein Haus oder Tor dar. Auch das Tao erscheint in taoistischen und buddhistischen Texten oft als „Himmels Schatzhaus“, „Haus“, „Tor des Wunderbaren“, „Taotor“, „Tore des Himmels“, „Pforte“ oder „Türe“. Friedrich von Schelling beschreibt das Tao als die Pforte in das wirkliche sein : Tao heisst Pforte, Tao-Lehre, die Lehre von der grossen Pforte in das Sein, von dem Nichtseienden, dem bloss seinkönnenden durch das alles endliche Sein in das wirkliche Sein eingeht. (Schellings Werke, Philosophie der Mythologie 1857). Der Eintritt oder Nicht-Eintritt in das Gesetz scheint davon abhängig zu sein, ob der Mann vom Lande die Aussage des Türhüters, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren kann, verstehen kann oder nicht, ob er selbst seinen jetzigen existentiellen Zustand der Schuld erkennen kann oder nicht. Alle Verantwortlichkeit für den Eintritt liegt bei ihm selbst. Die Parabel erinnert an den Aphorismus Kafkas der buddhistischen und taoistischen Lehre : „Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden“. Der Mann vom Lande wusste nicht, dass das Gesetz das in seinem Innern schon gegebene Naturgesetz ist, und dass der Weg zu sich selbst gerade den Eintritt in das Gesetz bedeutet. Der Mann scheitert, denn er hat sein Lebensziel nicht in sich selbst gesucht, sondern im Aussen. Bei Kafka wird alles, was dem Menschen von seiner Natur aus nicht gegeben ist, sondern von den Menschen von aussen auferlegt wird, völlig negiert, weil das was man nicht ist, für ihn eine Lüge oder das Böse der Welt ist. Rolf J. Goebel : Zwar verweist das Werk immer wieder auf die soziale Umwelt Prags, das Judentum, auf politische Machtverhältnisse und Missstände der Zeit, aber Kafka unterminiert zugleich den Referenzcharakter seines Schreibens, indem er Realitätspartikel und kulturelle Diskurse allenfalls aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, ironisch gebrochen, metaphorisch verfremdet in seine Texte hineinlässt… Kafka beschränkt sich mit der Rezeption von Heilmanns Anthologie nicht nur auf die Charakterisierung der Figuren, sondern schliesst auch poetologische Momente mit ein. Es geht ihm nicht eigentlich um die Aneignung von chinesischen Themen und Gedanken, sondern um ein imaginativ-soziatives Spiel mit einzelnen Signifikanten, die sich von ihren ursprünglichen Signifkanten lösen, und mit Motivfragmenten, die den Kontext weitgehend hinter sich lassen… Dittmar erwähnt drei aufeinander folgende Stadt-Tore, die von chinesischen Soldaten bewacht werden. Diese fragmentarischen Wortbrocken könnten, auch hier von ihrem usrpünglichen Kontext gelöst, Kafka zur Konzeption der aufeinander folgenden schrecklichen Türhüter inspiriert haben…Kafka hat zwar Dittmars Bericht als Fundus fragmentarischer Motive und sprachlicher Signifikanten benutzen können, den ideologischen Orientalismus-Kontext des übernommenen Sprachmaterials als solchen aber unterdrückt. |
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9 | 1916-1917 |
Kafka, Franz. Der Jäger Gracchus. In : Kafka, Franz. Sämtliche Erzählungen. (Frankfurt a.M. : S. Fischer, 1970). [Entstanden 1916-1917]. Meng Weiyan : Eine Quelle ist vermutlich die Geschichte Weibertreue aus Chinesische Volksmärchen von Richard Wilhelm und der Schmetterlingstraum von Zhuangzi. Lee Joo-dong : Die Zeit, in der der noch lebendige Jäger Gracchus mit der Natur (Himmel und Erde) im Einklang lebt, mit der ewigen ganzheitlichen universellen Welt atmen und Leben und Tod in einer gesicherten Ordnung des Universums sehen konnte, entspricht der Vorstellung von der ursprünglichen universellen Welt der Taoisten. Kafka versucht einen kulturkritischen Ansatzpunkt und zugleich den ruhigen und friedlichen Zustand des paradiesischen Menschen zu finden, der der taoistischen Gedankenwelt entspricht. Han Ruixin : Einfluss hat der Taoismus durch den „Schmetterlingstraum“ Hui die meng von Zhuangzi. Der zwischen Diesseits und Jenseits wandernde Jäger verwandelt sich in einen Schmetterling. |
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10 | 1916 |
Franz Kafka schreibt : Marienbad ist unbegreiflich schön… Ich denke, wenn ich ein Chinese wäre und gleich nach Hause fahren würde (im Grunde bin ich ja Chinese und fahre nach Hause), müsste ich es doch bald erzwingen, wieder herzukommen. Elias Canetti bemerkt dazu, dass Kafka die Natur unter dem Aspekt der taoistischen Weltanschauung verstanden hat. Meng Weiyan : Den Europäern gegenüber indentifiziert sich Kafka mit einem Chinesen (Nicht-Europäer, Fremder), den Menschen gegenüber mit einem Tier (Nicht-Mensch). Seine Wesensverwandtschaft mit einem Chinesen sind Schuldgefühl, Nicht-Verstanden-Werden, Alleinsein, Entwurzeltsein und Fremdheit unter den Europäern. |
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11 | 1917 |
Franz Kafkas Neigung zu einem zurückgezogenen und asketischen Leben verstärkt sich durch den Ausbruch seiner Lungenkrankheit. Diese Lebensform kann mit der taoistischen verglichen werden. In einem Brief an Milena spricht er das asketische Leben eines chinesischen Weisen an : „Ich lese ein chinesisches Buch, bubácká kniha (Gespensterbriefe), deshalb erinnere ich mich daran, es handelt nur vom Tod. Einer liegt auf dem Sterbebett und in der Unabhängigkeit, die ihm die Nähe des Todes gibt, sagt er : Mein Leben habe ich damit verbracht, mich gegen die Lust zu wehren und es zu beenden“. Lee Joo-dong : Vor allem will Kafka einen Sinn der Welt und des Menschen nicht im Aussen, sondern immer im Innern suchen, denn er glaubt daran, dass das Unzerstörbare in uns selbst verborgen ist. Deshalb will er nicht Handelnder sein, sondern stets Passiver, Nicht-Handelnder bleiben. Er schreibt : „Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei diesem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden“. Diese Stelle erinnert deutlich an den 47. Spruch des Dao de jing : „Ohne aus dem Hause zu gehen, kann man die Welt erkennen…“ |
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12 | 1917-1918 |
Franz Kafka hält sich bei seiner Schwester Ottla in Zürnau, Nordböhmen auf um die Trennung von Felice zu überwinden. Er beschäftigt sich vor allem mit der chinesischen Philosophie und liest Martin Buber, sowie Richard Wilhelms Übersetzungen Laotse [Laozi] und Dschuang Dsi [Zhuangzi]. Kafka beschreibt, dass die chinesische Philosophie und Religion grundsätzlich das Leben bejahen, als einen mächtigen Reichtum der geistigen Weltgeschichte, und dass die chinesische Lebensphilosophie, in der Leben und Tod nicht unterschiedlich, sondern von einem grossen Zusammenhang sind, als das Grund- und Hauptproblem aller Religion und Lebensweisheit. Lee Joo-dong : Den Weg zum traumhaften inneren, höheren und ewigen Leben nennt Kafka häufig „den rechten“, „den richtigen Weg“, oder „den wahren Weg“. Dieser rechte Weg, den Max Brod „Tao“ nennt, kann erst erreicht werden, wenn der Mensch jeden Augenblick des Lebens als den existentiellen Augenblick erleben und aufnehmen kann. Max Brod weist 1951 darauf hin, dass Franz Kafkas Lebensvorstellung auf „Tao“ beruht : Die Ehe bedeutet für Kafka Eingliederung in das richtige Leben, in menschliche und kosmische Gemeinschaft, in die Weisheit Chinas das „Tao“ nennt. Die Chinesen haben es immer als selbstverständlich gehalten, dass die Ehe, die Vereinigung von Mann (yang) und Frau (yin) eine zentrale Stelle im Leben einnimmt. Er stellt die These auf, dass in Kafkas religiösem Glauben das Absolute vorhanden sei, ja „Tao“ für Idee als Ethos steht, es aber wegen unserer gottfernen Lebens- und Denkweise immer unmöglich ist, in das vollendete Leben, in das Tao einzutreten. Trotz seiner negativen Grundhaltung gegenüber dem konventionellen jüdisch-christlichen Gedankengut, wendet sich Franz Kafkas mystische Gläubigkeit an ein unbeschreibbares Etwas, was sich unserer sinnlichen und kognitiven Wahrnehmung entzieht. |
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13 | 1919 |
Kafka, Franz. Ein Landarzt : kleine Erzählungen. (München : K. Wolff, 1919). [Entstanden 1917-1918] Quelle : Wilhelm, Richard. Chinesische Volksmärchen [ID D1585]. Han Ruixin : Die drei Erzählungen Ein Bericht für eine Akademie, Ein Besuch im Bergwerk und Elf Söhne weisen Einflüsse der chinesischen Märchen „Der Affe Sun Wukong“ aus Xi you ji und „Baxian“ [Die acht Unsterblichen] auf. Ein Bericht für eine Akademie. Hartmut Binder : Quelle ist Der Affe Sun Wu Kung aus Chinesische Volksmärchen. Lee Joo-dong : Erzählung des Affen Rotpeter, der unter dem Zwang der Welt seine eigene Natur und Freiheit verlassen und ein Pseudo-Mensch werden muss. Als er im Käfig gefangen erwacht, sieht er sich zum erstenmal in seinem Leben ohne Ausweg. Die Metapher ‚Käfig’ im Taoismus erscheint als fesselnde Funktion und Struktur der zivilisierten Welt der natürlichen Freiheit des Menschen. Kafka versucht darzustellen, wie der Mensch unter dem Zwang und der Gewalt der Zivilisation seine eigentümliche Natur und Freiheit verliert und schliesslich in der sicheren, bequemen, aber nur scheinbaren Freiheit und Alltäglichkeit der Gesellschaft untergeht. Die Sehnsucht des Affen nach dem Gefühl der Freiheit ist die Sehnsucht Kafkas selbst nach dem unschuldigen Urzustand des Menschen des Altertums. Er äussert sich Gustav Janouch gegenüber : „Jeder lebt hinter einem Gitter, das er mit sich herumträgt. Darum schreibt man jetzt so viel von den Tieren“. Es ist ein Ausdruck der Sehnsucht nach einem freien, natürlichen Leben. Der Ausbruch des Affen in die Menschenwelt bringt ihm aber nur eine trügerische Freiheit. Die Parabel über die Pferde von Zhuangzi verweist auf das parallele Verhältnis der Verlorenheit der Natur und der Freiheit des Affen. Kafka schreibt in einem Aphorismus „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“. Bei Zhuangzi heisst es : „Wenn man… aus der Welt einen Käfig macht, so vermag kein Vogel zu entschlüpfen“. Ein Besuch im Bergwerk. Meng, Weiyan : Das von Kafka benutzte chinesische Märchen ist die 31. Geschichte in Chinesische Volksmärchen. Auffällig ist die Strukturähnlichkeit zwischen den beiden Texten. Elf Söhne. Meng Weiyan : Das Baugesetz entspricht dem der Acht Unsterblichen. Die Struktur stimmt überein, nur wird im chinesischen Märchen jeder einzelne Unsterbliche charakterisiert und über seine Eigenschaften und Taten berichtet. Kafka geht vom Charakter der elf Söhne aus. Max Brod meint, dass die Novelle als Wunschbild einer Familiengründung zu verstehen ist, denn drei Monate später findet die zweite Verlobung mit Felice statt. Das nächste Dorf Als Quelle geben Walter Benjamin und Johannes Urzidil den 80. Spruch des Dao de jing von Richard Wilhelm [ID D4445] an. Lee Joo-dong : Die Erzählung beginnt mit „Mein Grossvater pflegte zu sagen : Das Leben ist erstaunlich kurz“. Der Sinn des eigentlichen Lebens und der Zeit kann bei Kafka wie bei den Taoisten, nur durch die existentiellen Erfahrungen des absoluten Augenblicks als zeitliche Zeitlosigkeit erfüllt werden. Der Augenblick ist unter dem Aspekt der einheitlichen universellen Weltanschauung die Ewigkeit und die Ewigkeit ist der Augenblick. Das naturnahe Dorfleben ist für die Taoisten wie für Kafka ein ideales Leben, das nicht nur einen Zustand der Einfachheit und Schlichtheit beinhaltet, sondern auch die von der Natur gewonnene, universelle Lebenskraft geniessen lässt. Die Lebenshaltung der Taoisten, das irdische Dasein, dessen Mühsal und Not sie genau kennen, so einzrichten, dass sie in Frieden arbeiten, anspruchslos einfach und mit Anstand leben und ein wenig Glück geniessen können, scheint in der Parabel der Lebenshaltung des Grossvaters zu entsperchen, da er mit „Entsagung und Verzicht“ reagiert. Eine kaiserliche Botschaft. Das Prosastück entstammt aus dem Text Beim Bau der chinesischen Mauer. Ein altes Blatt Meng Weiyan : Die Ähnlichkeit zwischen Julius Dittmars Buch Im neuen China [ID D12662] und der Erzählung lassen den Schluss zu, dass Kafka China-Motive verwendet hat. Folgende Punkte stimmen überein : Der chinesische Kaiser wohnt in der „Verbotenen Stadt“. Er hat die für den Staat wichtigen Zeremonien versäumt und die Verteidigung des Vaterlandes vernachlässigt, so dass die Nomaden [fremde Truppen bei Dittmar] aus dem Norden in die Hauptstadt gedrungen sind. Rolf J. Goebel : Ein altes Blatt acquires new political and cultural meaning when read as an intertextual appropriation of, and critical reaction to, the European cultural and political discourse on China during the Qing dynasty. This discursive practice not only familiarized the Europeans with China as an alien, exotic, and increasingly colonized country but, also discovered a parallel between the reactionary, corrupt and decandent Austro-Hungarian monarchy and the Qing dynasty that was threathened by a similar crisis. Ein altes Blatt has nothing to do with the reality of China itself. Although the story’s fictional elements prevent the reader from constructing it as a truth, mimetic representation of China. It contains clearly decipherable traces of certain Western writings about the history of the Qing dynasty and thus participates in the crosscultural interaction between Europe and the Orient during the early decades of the twentieth century. Traditional social order, political institutions, and moral self-conception of the defenseless Chinese are confronted and subverted by the irreconcilable, “barbarian” otherness of the foreign nomads’ behavior, language, and power. Kafka’s depiction of the subversive nomads could be constructed as a critique of the unjust treatment of the Chinese by the European colonialists. |
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14 | 1922 |
Kafka, Franz. Der Aufbruch. In : Kafka, Franz. Das erzählerische Werk. Bd. 1. (Berlin : Rütten und Loening, 1983). Kafka schreibt : „Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitet der Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel«, fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« »Du hast keinen Essvorrat mit«, sagte er. »Ich brauche keinen«, sagte ich, »die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise“. Lee Joo-dong : Die ziel- und zwecklos fortgesetzte Reise ist für den Meister schon ein Reiseziel. Diese Reise entspricht dem idealen Wandern der Taoisten. Der Meister sucht im Vertrauen auf das Pferd als geistiges und seelisches Mittel und auf die Musik als himmlische Nahrung die Reise zum Glück zu machen. |
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15 | 1923 |
Kafka, Franz. Von den Gleichnissen. In : Kafka, Franz. Das erzählerische Werk. Bd. 1. (Berlin : Rütten und Loening, 1983). Kafka schreibt : Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir… Lee Joo-dong : Die meisten Kafka-Forscher sehen Kafkas Parabel als negative oder leere Parabel, andere finden darin einen chinesischen, besonders einen taoistisch-buddhistischen Charakter. Die „Weisen“ bei Kafka scheinen weder Jesus, noch Messias, noch biblische Heilige und Propheten, Prediger oder Priester, sondern die „Weisen“ im taoistischen Sinne zu sein. |
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16 | 1975 |
Canetti, Elias. Das Gewissen der Worte : Essays [ID D14042]. Canetti, Elias. Konfuzius in seinen Gesprächen (1971). In : Das Gewissen der Worte. Canetti schreibt : "Die 'Gespräche' des Konfuzius sind das älteste vollkommene geistige Porträt eines Menschen. Man empfindet es als ein modernes Buch, nicht nur alles, was es enthält, auch alles, was in ihm fehlt, ist wichtig… Ich kenne keinen Weisen, der den Tod so ernst nahm wie Konfuzius. Auf Fragen nach dem Tod verweigert er die Antwort. 'Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen'. Er sagt nicht, dass nachher nichts ist, er kann es nicht wissen. Aber man hat den Eindruck, dass ihm gar nicht daran läge, es in Erfahrung zu bringen, selbst wenn das möglich wäre. [Lun yu]. Aller Wert wird damit auf das Leben selbst verlegt, was man dem Leben an Ernst und Glanz genommen hat, indem man einen guten, vielleicht den besten Teil seiner Kraft hinter den Tod verlegte, wird ihm wieder zurückerstattet. So bleibt das Leben ganz, was es ist, und auch der Tod bleibt intakt, sie sind nicht austauschbar, nicht vergleichbar, sie mischen sich nicht, sie bleiben verschieden… Die Reinheit und der menschliche Stolz dieser Gesinnung ist sehr wohl vereinbar mit jener emphatischen Steigerung des Gedenkens an die Toten, wie sie sich im Li-ki [Li ji], dem Buch der Riten der Chinesen findet. Das Glaubwürdigste, was ich über die Annäherung an die Toten je gelesen habe, über das Gefühl ihrer Gegenwart an den Tagen, die zu ihrem Gedächtnis bestimmt sind, findet sich in diesem Buch der Riten… Es ist ganz im Sinne des Konfuzius, es ist, obwohl in dieser Form erst später aufgezeichnet, das, was man bei der Lektüre seiner Gespräche schon immer empfindet. In einer Verbindung von Zartheit und Zähigkeit, die sich anderswo schwerlich findet, bemüht er sich, das Gefühl der Verehrung für gewisse Tote zu steigern… Es ist ein sehr kompletter Mensch, den man da kennenlernt, aber nicht irgendein Mensch. Es ist ein Mensch, der auf seine Vorbildlichkeit bedacht ist und mit ihrer Hilfe auf andere einwirken will… Wer drei Jahre für seinen Vater trauert, den Lauf seiner gewohnten Tätigkeit so vollkommen und so lang unterbricht, kann keine Freude am Überleben fühlen, jede Genugtuung am Überleben, selbst wenn sie noch möglich wäre, wird durch den Gang der Verpflichtungen zur Trauer von Grund auf ausgemerzt. Die Abneigung des Konfuzius gegen Beredsamkeit : das Gewicht der gewählten Worte. Er fürchtete ihr Schwächung durch leichten und glatten Gebrauch. Die Zögerung, die Überlegung, die Zeit vor dem Wort ist alles, aber auch die Zeit danach. Es ist etwas im Rhythmus der isolierten Frage und Antwort, das ihren Wert erhöht. Das rasche Wort der Sophisten, das eifrige Ballspiel des Wortes ist ihm verhasst…" Wu Ning : Canetti bekommt bei seiner Auseinandersetzung mit dem Tod Unterstützung von der chinesischen klassischen Philosophie. Er stellt fest, dass dem Umgang der Chinesen mit den Toten ein völlig anderer Glaube bzw. ein ganz unterschiedlicher Kulturhintergrund zugrundeliegt ; dort bezeigt man sein Andenken an die Verstorbenen durch Fasten und Meditieren und erfüllt so seine Verpflichtungen gegenüber den Toten ; die Gedenkakte und Zeremonien sind durch archaische, bindende Sitten und Rituale geregelt. Er erkennt, dass die uralte Tradition mit der profanen Lehre des Konfuzius durchaus im Einvernehmen steht… Die Beziehung zwischen Vater und Sohn gehört zu den fünf wichtigsten sozialen Beziehungen der Menschen im konfuzianischen System. Die weiteren sind Mann zu Frau, älterer zu jüngerem Bruder, Fürst zum Diener und Freund zu Freund. Ihre Regelung ist in den Riten des Li ji zu lesen. Ning Ying : Canetti nimmt folgende Lehren von Konfuzius an : Erstens : Das Verhältnis zur Macht : „Er wird so zum Meister des Nein-Sagens und versteht sich ganz zu bewahren. Er ist kein Asket, et nimmt Anteil an allen Aspekten dieses Lebens und zieht sich nie wirklich aus ihm zurück“. Zweitens : Das Verhältnis zum Menschen : „Konfuzius erlaubt keinem Menschen, Werkzeug zu sein. Damit hängt seine Abneigung gegen Spezialistentum zusammen“. Drittens : Das Verhältnis zum Tod. Gerwig Epkes : Die Ansichten und Gebote des Lun yu treffen in Canetti auf eine verwandte Seele, denn auch er will durch Verbote die Beziehungen regeln. So sieht er den Ahnenkult als etwas Sinnvolles an. Beruht der Ahnenkult an und für sich auf einer Verdrängung des Todes, so bestreitet Canetti dies. Canetti fällt der Widerspruch zu sich selbst nicht auf : Würdigt er eine Seite zuvor die scharfe Trennung, die Konfuzius zwischen Leben und Tod ziehe, so lobt er mit seiner Bewertung des Ahnenkultes das Gegenteil, nämlich die Aufhebung der Trennung zwischen Leben und Tod. Li Shixun : Canetti beurteilt Konfuzius positiv, während der Konfuzianisms zu dieser Zeit in China wieder heftig kritisiert wird. Canetti, Elias. Der andere Prozess. In : Das Gewissen der Worte. Canetti schreibt, dass Franz Kafka nicht nur unter dem grossen Einfluss des Taoismus und Buddhismus steht, sondern auch ein Dichter ist, der in Europa den Charakter der chinesischen Literaturform am besten gemeistert hat : Kafka gehört mit manchen seiner Erzählungen in die chinesische Literatur. Chinesische Themen sind von der europäischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert oft aufgegriffen worden. Doch der einzige, seinem Wesen nach chinesische Dichter, den der Westen aufzuweisen hat, ist Kafka. In Übereinstimmung mit Arthur Waley stellt Canetti fest, dass Kafka mit manchen seiner Erzählungen der chinesischen Literatur anzurechnen sei, da Kafka unter dem taoistischen Animismus und der buddhistischen Seelenwanderungsidee nicht nur das Reale ins Irreale uneingeschränkt zu transzendieren vermag, sondern auch die freien Verwandlunsmöglichkeiten, den uneingeschränkten Wechsel von Mensch und Tier unternehmen oder fabelhafte und phantastische Wesen verschiedenster Art, Menschen, die mit übernatürlichen Kräften begabt sind, darstellen kann. Canetti schreibt weiter über Franz Kafka : Am erstaunlichsten ist ein anderes Mittel, über das er so souverän verfügt wie nur die Chinesen : Die Verwandlung ins Kleine. Da er Gewalt verabscheute, sich aber auch die Kraft nicht zutraute, die zu ihrer Bestreitung vonnöten ist, vergrösserte er den Abstand zwischen dem stärkeren und sich, indem er im Hinblick auf das starke immer kleiner wurde. Ning Ying : Vergleicht man den Begriff der Verwandlung im Taoismus, so lässt sich Folgendes sagen : Im alten China glaubte man, dass der Mensch und der Himmel, das Ich und das Ding eine Einheit bildeten, denn die Verwandlung führte nicht zu einer Spaltung des Ichs. Die Verwandlung in Canettis Kafka-Forschung dagegen, ist ein Mittel der Gedemütigten, die dadurch versuchen, der Macht zu entgehen. Der Begriff der Verwandlung hat tiefe Bedeutung für Canetti. Er sieht sie vor allem unter dem Aspekt der poetischen Anthropologie und der Sozialpsychologie. Mit Hilfe der Verwandlung will er nach einem Weg suchen, um die Menschheit vor der Bedrohung zu retten. Seiner Meinung nach liegen der Ursprung und das Ziel des Menschen in seiner Fähigkeit zur Verwandlung |
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# | Year | Bibliographical Data | Type / Abbreviation | Linked Data |
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1 | Universitäts-Bibliothek Basel | Publication / UBB |
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