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Chronology Entry

Year

1915

Text

Kafka, Franz. Vor dem Gesetz. In : Selbstwehr ; 7.9.1915 / In : Vom jüngsten Tag : ein Almanach deutscher Dichtung ; 1915. [Legende aus Der Prozess].
Quellen : Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik [ID D11976] und Dittmar, Julius. Im neuen China [ID D12662].
Ernst Weiss schreibt im ‚Berliner Börsen Courier’ (26.4.1925) über den Roman Der Prozess, wobei er Kafkas Parabel Vor dem Gesetz dem Gleichnis von Zuangzi und Konfuzius gleichsetzt.

Lee Joo-dong : Vor einem unbekannten Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Man kann annehmen, dass das unbekannte Gesetz dem Tao als verborgenem und unerkennbarem Gesetz entspricht. Das Gesetz stellt sich als ein Gebäude, ein Haus oder Tor dar. Auch das Tao erscheint in taoistischen und buddhistischen Texten oft als „Himmels Schatzhaus“, „Haus“, „Tor des Wunderbaren“, „Taotor“, „Tore des Himmels“, „Pforte“ oder „Türe“. Friedrich von Schelling beschreibt das Tao als die Pforte in das wirkliche sein : Tao heisst Pforte, Tao-Lehre, die Lehre von der grossen Pforte in das Sein, von dem Nichtseienden, dem bloss seinkönnenden durch das alles endliche Sein in das wirkliche Sein eingeht. (Schellings Werke, Philosophie der Mythologie 1857).
Der Eintritt oder Nicht-Eintritt in das Gesetz scheint davon abhängig zu sein, ob der Mann vom Lande die Aussage des Türhüters, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren kann, verstehen kann oder nicht, ob er selbst seinen jetzigen existentiellen Zustand der Schuld erkennen kann oder nicht. Alle Verantwortlichkeit für den Eintritt liegt bei ihm selbst. Die Parabel erinnert an den Aphorismus Kafkas der buddhistischen und taoistischen Lehre : „Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden“. Der Mann vom Lande wusste nicht, dass das Gesetz das in seinem Innern schon gegebene Naturgesetz ist, und dass der Weg zu sich selbst gerade den Eintritt in das Gesetz bedeutet. Der Mann scheitert, denn er hat sein Lebensziel nicht in sich selbst gesucht, sondern im Aussen. Bei Kafka wird alles, was dem Menschen von seiner Natur aus nicht gegeben ist, sondern von den Menschen von aussen auferlegt wird, völlig negiert, weil das was man nicht ist, für ihn eine Lüge oder das Böse der Welt ist.

Rolf J. Goebel : Zwar verweist das Werk immer wieder auf die soziale Umwelt Prags, das Judentum, auf politische Machtverhältnisse und Missstände der Zeit, aber Kafka unterminiert zugleich den Referenzcharakter seines Schreibens, indem er Realitätspartikel und kulturelle Diskurse allenfalls aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, ironisch gebrochen, metaphorisch verfremdet in seine Texte hineinlässt… Kafka beschränkt sich mit der Rezeption von Heilmanns Anthologie nicht nur auf die Charakterisierung der Figuren, sondern schliesst auch poetologische Momente mit ein. Es geht ihm nicht eigentlich um die Aneignung von chinesischen Themen und Gedanken, sondern um ein imaginativ-soziatives Spiel mit einzelnen Signifikanten, die sich von ihren ursprünglichen Signifkanten lösen, und mit Motivfragmenten, die den Kontext weitgehend hinter sich lassen… Dittmar erwähnt drei aufeinander folgende Stadt-Tore, die von chinesischen Soldaten bewacht werden. Diese fragmentarischen Wortbrocken könnten, auch hier von ihrem usrpünglichen Kontext gelöst, Kafka zur Konzeption der aufeinander folgenden schrecklichen Türhüter inspiriert haben…Kafka hat zwar Dittmars Bericht als Fundus fragmentarischer Motive und sprachlicher Signifikanten benutzen können, den ideologischen Orientalismus-Kontext des übernommenen Sprachmaterials als solchen aber unterdrückt.

Mentioned People (1)

Kafka, Franz  (Prag 1883-1924 Kierling, Klosterneuburg) : Österreichischer Schriftsteller

Subjects

Literature : Occident : Austria

Documents (2)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1984 Lee, Joo-dong. Taoistische Weltanschauung im Werke Franz Kafkas. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1985). (Würzburger Hochschulschriften zur neueren deutschen Literaturgeschichte ; 8). Diss. Julius-Maximilians-Univ. zu Würzburg, 1985. S. 121, 250, 256-257, 261, 270, 272. Publication / Lee10
  • Cited by: Universitäts-Bibliothek Basel (UBB, Published)
  • Person: Kafka, Franz
  • Person: Lee, Joo-dong
2 1994 Goebel, Rolf J. Verborgener Orientalismus : Kafkas "Vor dem Gesetz". In : Franz Kafka "Vor dem Gesetz" : Aufsätze und Materialien. Hrsg. von Manfred Voigts. (Würzburg : Königshausen & Neumann, 1994). Publication / Kaf104
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)