2000
Publication
# | Year | Text | Linked Data |
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1 | 1819 |
Die Welt als Wille und Vorstellung [ID D11901]. Quellen siehe 1819-1854. Schopenhauer schreibt in Bd. 1, 2. Buch : Sie haben besonders darauf aufmerksam gemacht, daß die Polarität, d.h. das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten, welches sich meistens auch räumlich durch ein Auseinandergehn in entgegengesetzte Richtungen offenbart, ein Grundtypus fast aller Erscheinungen der Natur, vom Magnet und Krystall bis zum Menschen ist. In China ist jedoch diese Erkenntniß seit den ältesten Zeiten gangbar, in der Lehre vom Gegensatz des Yin und Yang. – Ja, weil eben alle Dinge der Welt die Objektität des einen und selben Willens, folglich dem innern Wesen nach identisch sind; so muß nicht nur jene unverkennbare Analogie zwischen ihnen seyn und in jedem Unvollkommeneren sich schon die Spur, Andeutung, Anlage des zunächst liegenden Vollkommeneren zeigen; sondern auch, weil alle jene Formen doch nur der Welt als Vorstellung angehören, so läßt sich sogar annehmen, daß schon in den allgemeinsten Formen der Vorstellung, in diesem eigentlichen Grundgerüst der erscheinenden Welt, also in Raum und Zeit, der Grundtypus, die Andeutung, Anlage alles Dessen, was die Formen füllt, aufzufinden und nachzuweisen sei. Es scheint eine dunkle Erkenntniß hievon gewesen zu seyn, welche der Kabbala und aller mathematischen Philosophie der Pythagoreer, auch der Chinesen, im Y-king [Yi jing], den Ursprung gab: und auch in jener Schellingischen Schule finden wir, bei ihren mannigfaltigen Bestrebungen die Analogie zwischen allen Erscheinungen der Natur an das Licht zu ziehn, auch manche, wiewohl unglückliche Versuche, aus den bloßen Gesetzen des Raumes und der Zeit Naturgesetze abzuleiten. Indessen kann man nicht wissen, wie weit ein Mal ein genialer Kopf beide Bestrebungen realisiren wird. Bd. 1, 4. Buch : So kommen alle Kreaturen dem guten Menschen zu Nutz: eine Kreatur in der andern trägt ein guter Mensch zu Gott.« Er will sagen: dafür, daß der Mensch, in und mit sich selbst, auch die Thiere erlöst, benutzt er sie in diesem Leben. – Sogar scheint mir die schwierige Bibelstelle Röm. 8, 21-24 in diesem Sinne auszulegen zu seyn. Auch im Buddhaismus fehlt es nicht an Ausdrücken der Sache: z.B. als Buddha, noch als Bodhisatwa, sein Pferd zum letzten Male, nämlich zur Flucht aus der väterlichen Residenz in die Wüste, satteln läßt, spricht er zu demselben den Vers: »Schon lange Zeit bist du im Leben und im Tode da; jetzt aber sollst du aufhören zu tragen und zu schleppen. Nur dies Mal noch, o Kantakana, trage mich von hinnen, und wann ich werde das Gesetz erlangt haben (Buddha geworden seyn), werde ich deiner nicht vergessen.« (Foe Koue Ki, trad. p. Abel Remusat, S. 233.) Bd. 2, Ergänzungen zum Buch 1, Kap. 17 : Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Massstabe der Wahrheit nehmen, so müsste ich dem Buddhaismus den Vorrang vor den andern zugestehen. Jedenfalls muss es mich freuen, meine Lehre in so grosser Übereinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die Majorität auf Erden für sich hat. Sekundärliteratur Liu Weijian : Arthur Schopenhauer versucht aus seiner Begeisterung für den Buddhismus keinen Hehl zu machen. Er versuchte nicht nur den Buddhismus an die Stelle des Christentums zu setzen, sondern sogar das Christentum wegen seines Pessimismus, seiner Askese und seiner Ethik als aus dem Buddhismus hervorgegangene Religion zu deuten. Seitdem ist das deutsche Geistesleben des 19. Jahrhunderts nicht mehr vom Einfluss des Buddhismus zu trennen... Schopenhauer zollt bei seiner Kritik am Christentum der buddhistischen Lehre grosse Anerkennung und leitet deren Rezeption ein, die sodann Nietzsche bewusst im Kampf gegen den christlichen dogmatischen Wahrheitsanspruch und die Schopenhauersche pessimistische Weltanschauung fortsetzt, indem er den Buddhismus für die Subversion der christlichen absoluten Werte und das Konzept der diesseitigen Sinnschöpfung und Selbsterlösung reaktiviert. Han Ruixin : Schopenhauer war ein Bewunderer der buddhistischen Lehre. Seiner Ansicht nach sei Buddhismus stärker als europäische Religion und werde nach Europa strömen und eine Grundänderung in Wissen und Denken der Europäer hervorbringen. Sein Werk Die Welt als Wille und Vorstellung lässt erkennen, dass er sich bei der Ausgestaltung seiner Lehre vom Buddhismus anregen liess. Der Buddhismus, aus dem Schopenhauer für seine Lehre schöpfte, stellte in China die grösste Gemeinschaft von Gläubigen und hat zugleich viele Berührungspunkte mit dem chinesischen Taoismus. |
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2 | 1869-1908.2 |
Buddhismus bei Friedrich Nietzsche : Liu Weijian : Nietzsche hat sich Bücher über Buddhismus aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen. So z.B. Die Religion des Buddha von Carl Friedrich Koeppen [ID D12205] und von bedeutendem Einfluss Buddha von Hermann Oldenberg [ID D18109]. Auch in seiner Bibliothek gibt es Bücher über indische Philosophie und Buddhismus. Nietzsche steht der Interpretation des Buddhismus durch Arthur Schopenhauer kritisch gegenüber. Er weist auf die Auffassung von einer müden agnostischen und mystischen Art des Buddhismus hin, die den freien kritischen Geist entkräftigt und den Willen zum Leben schwächt... Er erklärt den Buddhismus als ein Synonym des antidogmatischen Nihilismus und fasst seine geistige Funktion aus der Perspektive des Niedergangs des Christentums auf… Nietzsche weist auf die Auffassung von einer 'müden' agnostischen und mystischen Art des Buddhismus hin, die den freien kritischen Geist entkräftigt und den Willen zum Leben schwächt. Für ihn ist das Christentum ein Unterdrückungsmittel, den Menschen 'krank zu machen' und seine Raubtier-Natur geistig zu zähmen, zu ‚civilisieren’. Einen solchen, mit dem Christentum vergleichbaren Buddhismus charakterisiert er als 'passivischen Nihilismus, als ein Zeichen der Schwäche : die Kraft des Geistes kann ermüdet, erschöpft sein, so dass die bisherigen Ziele und Werte unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden'. Dieser passiven Art begegnet Nietzsche durch eine Interpretation des Buddhismus im Sinne der skeptischen Kraft. Er erklärt den Buddhismus als ein Synonym des antidogmatischen Nihilismus und fasst seine geistige Funktion aus der Perspektive des Niedergangs des Christentums auf. Nietzsches Auffassung dieses ‚nihilistischen’ Buddhismus ist unmittelbar aus dem Hintergrund des Endes der christlichen metaphysischen und Moralischen Welt- und Wertauslegung in Europa zu verstehen : 'Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltige Kraft der Zerstörung : als aktiver Nihilismus'. Er ist eine geschichtlich notwendige Konsequenz aus der Zeit, wo der konfessionelle Glaube und der krankhafte moralische Zwang zusammenbrechen. Die realitätsfernen metaphysischen Kategorien 'Sinn' und 'Wahrheit', mit denen man ansonsten die Welt interpretiert, werden als Irrtum und Lüge hinfällig. Es gilt jetzt, dass sich der Mensch selbst als religiöses Subjekt betrachtet, im eigenen Lebensfeld neuen Wert sucht und setzt. Nietzsches Hinweis auf Buddhas Begriff der Kausalität betrifft offensichtlich die buddhistische zwölfgliedrige Kausalitätsformel, die Verkettung von Ursachen und Wirkungen, in der das eine nicht ohne das andere besteht und keine Ursache zum alleinigen Entscheidungsfaktor emporgehoben werden kann. Diese Formel der Abhängigkeit des Entstehens beginnt vorerst mit dem 'Nichtwissen' der Wahrheit über die Entstehung der leidvollen Welt, aus dem der 'Wille zum Leben', die Triebkräfte hervorgehen. Aus diesen kommt dann das 'Bewusstsein', das eine scheinbare Persönlichkeit mit 'Namen und Körperlichkeit' erzeugt. Daraus ergeben sich 'Sechs Sinne', die die gewöhnlichen fünf äusseren Sinne und den sogenannten sechsten Denksinn beinhalten. Die Gemeinsamkeit von Buddhas Ethik und Nietzsches Übermenschmoral liegt in der Selbsterlösung. So soll sich das Streben des Menschen zum höheren Übermenschentypus auf seine eigene Kraft stützen. Der Buddhismus ist für Nietzsche keine nihilistische Weltanschauung über die Sinnlosigkeit des Daseins, sondern ein realistischer Weg aus den überlieferten Erklärungsmustern, ein subversives Konzept für das Denken und Handeln, mit dem der Mensch sich selbst als der Seiende aus dem Bann der überkommenen abstrakten Wahrheit herauszieht, die Wirklichkeit als positivistisches Phänomen erfasst und den neuen Sinn durch eigene Kraft schöpft. Eben vor dieser geistesgeschichtlichen Zeitkulisse lässt Alfred Döblins Hinweis auf den Versuch Nietzsches, des 'antichristlichen Advokaten des Teufels ohne Gott', die alte Religion wieder ins Leben zu rufen, als Buddhismus bezogen gewahr werden. Aufgrund eines skeptischen Geistes schlägt für Nietzsche der Buddhismus als 'nihilistisches' Konzept ins Konstruktive um, indem er als Kampfmittel gegen alle abstrakten, lebensfernen Werte fungiert und einen aktiven, diesseitig orientierten Charakter zeigt. Die gütige Mitempfindung des Buddhismus gegenüber den anderen ist nach Nietzsche zugleich mit dem gesunden selbstliebenden 'Egoismus' angesichts der Erlösung vom Leiden verbunden, was das christliche Dogma mit der scheinheiligen Lobeserhebung des Altruismus und der daraus resultierenden 'geistig-diätetischen' 'Schwächung des Individual-Interesses' übertrifft : Er kämpft nicht ‚gegen die Sünde’, sondern praktisch 'gegen das Leiden' ; er hat im ‚tiefen’ Unterschied zum Christen, ‚die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich. In der Lehre Buddha’s wird der Egoismus Pflicht : das 'Eins ist Noth', das 'Wie kommst du vom Leiden los' reguliert und begrenzt die ganze geistige Diät. Jügen Offermanns : Es scheint, dass der Buddhismus Nietzsche als Kontrastmittel dient, um die Schwächen des Christentums noch besser hervorheben zu können. Sein Buddhismus ist markant von seinen eigenen philosophischen Ideen geprägt, von seinem verbissenen Hass auf das Christentum und seiner Abneigung gegenüber Kantianischer Moralphilosophie. Für ihn ist der Buddhismus atheistisch und er sieht darin eine antiritualistische und rationalistische Lehre. |
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3 | 1889-1992 |
May, Karl. Der blau-rote Methusalem = May, Karl. Kong-Kheou [ID D13264]. Quellen : Gabelentz, Georg von der. Chinesische Grammatik [ID D742] und Anfangsgründe der chinesischen Grammatik [ID D743]. Huc, Evariste Régis ; Gabet, Joseph. Wanderungen durch das Chinesische Reich und Wanderungen durch die Mongolei nach Thibet [ID D2107]. Schott, Wilhelm. Chinesische Sprachlehre [ID D1378]. Heinrigs, Johann. Über die Schrift der Chinesen [ID D13292]. Neumann, Karl-Friedrich. Lehrsaal des Mittelreiches [ID D4338]. Davis, J.F. China [ID D2017]. Amherst's Gesandschaftsreise [ID D13291]. Alle diese Bücher waren im Besitz von Karl May und haben Anstreichungen oder Randbemerkungen. May hat sich selbst eine chinesische Vokabelliste angefertigt. Chinesische Wörter und Begriffe in diesem Roman werden ohne Kenntnis der Grammatik und der Idiomatik zu Komposita und ganzen Sätzen zusammengebastelt, die allen kombinatorischen Regeln des Chinesischen widersprechen und oftmals gänzlich unverständlich sind. Li Changke : Unterhaltungsroman, der rassistische Vorurteile gegen China und die Chinesen verbreitet Fang Weigui : Seit dem Erscheinen des Methusalem gilt Karl May in der Öffentlichkeit als China-Kenner. May schreibt : China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in ganz andrer Richtung bewegt und ganz andre Formen angenommen als diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt, greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft ; der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur. Schon Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung hatte sie dieselbe eine Stufe erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden scheint, und zu diesem Fortschritte ist China mit der Gewalt der Waffen gezwungen worden… Kein Volk ist so höflich wie die Chinesen, und es ist eine beinahe tödliche Beleidigung, einen Bewohner der Mitte grob zu nennen… Es ist eine der lobenswerten Eigenschaften des Chinesen, dass er seine Eltern in hohem Grade ehrt und den Verstorbenen eine nie ermüdende Pietät widmet… Der Chinese versteht es, jedes Stück fruchtbaren Landes möglichst auszunutzen… Trotz diesen auch positiven Darstellungen zeigt May ein zu verachtendes China. Im allgemeinen werden die Chinesen im Kollektiv als dreckige und übelriechende gelbe Schar, als boshafte Piraten oder grausame Gangster, hinterlistige Betrüger, diebische Halunken, geile Männlein und korrupte Beamte dargestellt. Zhang Zhenhuan : Der Roman spielt im Jahre 1874, acht Jahre nach der Niederlage der Taipings. Dem Leser wird ein China vermittelt, das trotz seiner Grösse und seiner alten Kultur ein heruntergekommenes Land ist. Zwar hat May für die chinesischen Gesellschaftsschichten das Buch von Huc benutzt, hat sich aber sehr viel dichterische Freiheit erlaubt… Religion spielt in Mays Werken eine bedeutende Rolle. Das Christentum und die christlichen Missionen werden gegenüber den anderen Religionen als überlegen dargestellt… Deutschland wird verherrlicht. Die chinesische Stadt besteht im Roman aus Schmutz und Gedränge und die Chinesen werden als ein Volk dargestellt, das aufgrund seiner zahlreichen negativen Charaktere und der zahlreichen Misstände, der Regierung eines europäischen Kolonialherren, möglichst der Deutschen bedarf. Erwin Koppen : Es spricht einiges dafür, dass Karl May seine Informationen über China eher durch Lektüre von Trivialliterautr und Presseberichten, als durch das Studium ernsthafter Werke erhalten hat. Die ausserordentliche Fehlerhaftigkeit der chinesischen Stellen lässt ausserdem den Schluss zu, dass sich May, der von dieser Sprache keine Ahnung hatte, auf äusserst obskure Quellen und Ratgeber verliess. Er schreibt über den Inhalt von Methusalem : Das gelobte Land der Zöpfe, eine fünftausendjährige Kulturnation zwar, die aber in jeder Hinsicht dem Untergang geweiht ist, ein Land zweiter oder dritter Kategorie, degeneriert und heruntergekommen. Liu Weijian : Karl May beschreibt die chinesische Kultur als greisenhat alt und vertrocknet. Zur Erneuerung habe China erst dank dem Westen mit der Gewalt der Waffen gezwungen werden müssen, was in Küstengegenden zu spüren sei. |
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4 | 1915 |
Döblin, Alfred. Die drei Sprünge des Wang-lun [ID D12338]. Die Quellen, denen Döblin seine Kenntnisse über die historische Person des Wang-lun und die von diesem geführte Rebellion entnimmt sind folgende Werke : Sectarianism and religious persecution in China von J.J.M. de Groot [ID D789]. The religious system of China von J.J.M. de Groot [ID D787]. Die Bewohner der Mandschurey von Johann Heinrich Plath [ID D40989]. Die Geschichte des chinesischen Reiches… von Karl Gützlaff [ID D832]. Religion und Kultus der Chinesen von Wilhelm Grube [ID D799]. Zur Pekinger Volkskunde von Wilhelm Grube [ID D797]. Geschichte der chinesischen Literatur von Wilhelm Grube [ID D798]. Laotse. Tao te king übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4445]. Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4447]. Liä Dsi. Das Wahre Buch vom quellenden Urgund übersetzt von Richard Wilhelm [ID D4446]. Samuel Turner’s Gesandtschaftsreise an den Hof des Teshoo Lama… [ID D1898]. P’u T’o shan von Ernst Boerschmann [ÍD D444]. Aus China von Leopold Katscher [ID D12204]. Die Religion des Buddha von Karl Friedrich Koeppen [ID D12205]. Die Welt als Wille und Vorstellung von Arthur Schopenhauer [ID D11901]. Alfred Döblin hat Die Welt als Wille und Vorstellung sehr gut gekannt und daraus auch Hinweise auf seine Lektüre der Bücher über China für Wang-lun bekommen. Ma Jia : Döblin ist der erste, der den Stoff des in der chinesischen Geschichte im Jahre 1744 unter Wang Lun stattgefundenen Aufstandes gegen Kaiser Qianlong als literarisches Werk bearbeitet. Der Roman handelt von der religiösen Sekte des Reinen Wassers (Jin shui jiao) in Shandong, die unter Wang Lun die taoistische Botschaft des Schwachseins und Nicht-Handelns zu ihrem Lebensprinzip erklärt. Voller Hochachtung widmet er dem chinesischen 'weisen alten Mann' Liä Dsi (Liezi) seinen chinesischen Roman, predigt in dessen Sinne Rückkehr zum natürlichen Leben und entwickelt die daoistische Botschaft des Nicht-Handelns zum Hauptmotiv seines Romans. In dieser Hinsicht ist Wang-lun Produkt einer Zeit der Desorientierung in der eigenen entfremdeten Kulturwelt, ein Bekenntnis Döblins zu einer Distanzierung von der eigenen Kultur und Suche nach einer neuen Identifikationsmöglichkeit in der chinesischen Kultur… China ist bei Döblin eine zwar nicht historisch getreue, aber in sich geschlossene sozialpolitische Realität. Nicht nur die Tatsache, dass die Haupthandlung auf eine geschichtlich nachweisbare Rebellion zurückgeht, verleiht ihm einen realen Zug. Die Lehre des Nicht-Handelns bettet er in die gesellschaftliche Situation Chinas ein, die ebenso konfliktreich ist wie seine eigene. Die daoistische Botschaft verliert im Wang-lun den allgemeinen Charakter, indem sie ausschliesslich zum Lebensprinzip der Ausgestossenen und Gestrandeten wird. In der Konfrontation mit der sozialen Wirklichkeit lässt Döblin die heilige Lehre, mit der die armen Menschen die schöne Hoffnung auf einen Lebensweg verbinden, an der Intoleranz der despotischen Herrschaft scheitern. Döblin zitiert im Roman wörtlich das Gleichnis von dem Mann, der seinen Schatten fürchtet und sich zu Tode rennt von Zhuangzi. Es ist der Hauptgedanke des Wang-lun. Das Werk gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der Beschäftigung deutscher Autoren mit der chinesischen Kultur. Seine Einzigartigkeit besteht nicht nur darin, dass ihm, im Unterschied zu den in jener Zeit zahlreich erschienenen Übersetzungen von chinesischen Geschichten, Nachdichtungen von chinesischer Lyrik oder dramatischen Umgestaltungen von chinesischen Motiven, die das Prinzip der Imitation befolgen, ein mehr schöpferisches Prinzip zugrundeliegt. Es ist Döblin - der die chinesische Sprache nicht versteht und nicht einmal in China gewesen ist - gelungen, aus seinen Leseerfahrungen eine fremde Welt in breitem Umfang zu schaffen. Die so entstandene China-Welt basiert nicht auf einzelnen sinnlichen Eindrücken, wie sie die zu seiner Zeit nach China Reisenden bekommen haben, sondern auf einem von Deutschen und Europäern vielseitig wahrgenommenen und vermittelten Gesamtbild Chinas. Wang-lun ist keine Chinoiserie, ist auch keinem klassischen chinesischen Werk nachgedichtet. Döblin ist es gelungen, die chinesische Philosophie des Taoismus aus dem akademischen Elfenbeinburm zu befreien. Er hat als erster dem Taoismus eine gesellschaftliche Relevanz gegeben, hat die Philosophie des Nicht-Handelns mit politisch-sozialen Wirklichkeiten konfrontiert. Döblins Wendung nach China bildet eine der ersten Stationen eines langen ununterbrochenen geistigen Suchprozesses. Sie ist ein Versuch, in der Berufung auf die östliche Philosophie das ihn ständig bewegende Problem des Daseins zu lösen und die in der Industriegesellschaft verschärfte geistige Krise zu überwinden… Die Rätselhaftigkeit der Welt, die Unübersichtlichkeit des Wirklichkeitsbildes und der Verlust des Sicherheitgefühls des Menschen in der technischen Zivilisation führen ihn zu Laozi, Zhuangzi und Liezi. Seine Begegnung mit dem Taoismus ist vor allem den Übersetzungen von Richard Wilhelm zu verdanken. Wang-lun im Vergleich mit dem Shui hu zhuan siehe Döb1, S. 115-160. Luo Wei : Döblin leistet mit seiner Hinwendung zur chinesischer Philosophie, unter ausdrücklicher Ablehnung der gängigen China-Mode, mit seinem Einrücken der chinesischen Menschenmassen in den Rang von Romanfiguren einen Beitrag zur Herausbildung und Bereicherung eines neuen objektiven Chinabildes im 20. Jahrhundert, das sich sowohl von dem idealisierten der Aufklärer im 18. Jahrhundert als auch von dem negativen des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Mit der Niederschrift findet Döblins erste umfassende Beschäftigung mit dem Konfuzianismus und Taoismus statt, die im Hinblick auf die Beschleunigung der Technisierung und Industrialisierung Deutschlands um die Jahrhundertwende mit all ihren Folgen ausserdem noch durch eine persönliche 'Verlorenheit' und eine verwirrende Atmosphäre der allgemeinen Kulturkrise genährt wurde. Seine literarische Kritik am Konfuzianismus im Wang-lun gilt nicht der Person Konfuzius und seiner Lehre, sondern an deren Missbrauch und Entstellung durch den feudalistischen Despotismus und der kaiserlichen Macht. Die Lehre von Laozi und dem Taoismus macht einen tiefen Eindruck auf Döblin, der aus Unbehagen an der eigenen Kultur und an den negativen Aspekten der Industrialisierung in der chinesischen geistigen Welt nach Alternativen sucht. Liu Weijian : Döblin schreibt : Ich habe niemals daran gedacht, mit mit China zu befassen, der Gedanke etwa, nach China zu fahren, ist mir nicht im Traum eingefallen : ich hatte ein seelisches Grunderlebnis oder eine Grundeinstellung, diese liess ich mit höchster Schonung gewähren und legte ihr vor, unterbreitete ihr, wessen sie zu ihrer Auswirkung bedurfte. Diese Grundeinstellung findet sich im Roman als tiefes Gefühl wieder und korrespondiert mit dem daoistischen Wuwei, das als grundlegendes Motiv den Roman durchzieht. Döblin schreibt : Die Welt erobern wollen durch Handeln, misslingt. Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie, wer festhält, verliert sie. So widmet Döblin die Zueignung dem taoistischen weisen alten Mann Liezi. Zugleich spricht er Laozi, dem Wuwei-Meister, seine besondere Anerkennung aus : Was ging mich, der nicht einmal Europa kennt, China an, von Laotse abgesehen. Als Kind einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie ist Döblin entbehrungsreich aufgewachsen und fühlt sich den Unterdrückten und Ausgestossenen zugehörig. Er ist empört über die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und empfindet den Staat als Handlanger der Mächtigen. Dieser Eindruck wird zur Zeit der Entstehung von Wang-lun noch durch die imperialistische Aussenpolitik und Aufrüstung für den Krieg Kaiser Wilhelms II. verstärkt. Dieser deutschen Machtpolitik stellt Döblin die daoistische Wuwei-Lehre gegenüber, die sich seiner Ansicht nach durch den Sieg des chinesischen Volkes über die zweitausendjährige Feudalherrschaft ausgezeichnet hatte und die ihm auf deutsche Verhältnisse übertragbar erscheint. In der Vorrede zu Wang-lun unterstreicht er den sozialen Aspekt der Wuwei-Lehre durch ein Zitat Liezis : Dass ich nicht vergesse – Im Leben dieser Erde sind zweitausend Jahre ein Jahr. Gewinnen, Erobern ; ein alter Mann sprach : Wir gehen und wissen nicht wohin. Wir bleiben und wissen nicht wo. Wir essen und wissen nicht warum. Das alles ist die starke Lebenskraft von Himmel und Erde. Wer kann da sprechen von Gewinnen, Besitzen. So sieht Döblin in der Wuwei-Lehre ein Perspektive für die Unterdrückten. Sie kommt seiner Vorstellung nach einer gesellschaftlichen Verbesserung entgegen und führt ihn dazu, sich der Niederschrift des Wang-lun zu widmen. Die Auseinandersetzung Döblins mit dem Buddhismus drückt sich in den Vorstudien zu Wang-lun, den zu Lebzeiten unveröffentlicheten Aufsätzen Der Wille zur Macht als Erkenntnis bei Friedrich Nietzsche (1902) und zu Niezsches Morallehren (1902-1903) aus. Ingrid Schuster : Döblin hat die Konzeption vom neuen Menschen mit der Lehre vom wu-wei verschmolzen und eine Sonderform des neuen Menschen geschaffen : den chinesischen neuen Menschen… Wang-lun ist religiöser Führer und politischer Revolutionär zugleich ; er versucht, Idee und Tat, religiöse Vision und politische Praxis, Erlösung und Existenz miteinander zu versöhnen. Wang-luns Ziel ist wu-wei, der Zustand der Übereinstimmung mit dem Weltgesetz, der Zustand der Ruhe ohne die Polarität von Freude und Schmerz, Gut und Böse, Glück und Unglück. Der Weg zum Ziel ist : Nicht handeln ; wie das weisse Wasser schwach und folgsam sein… Döblin schreibt in Wissen und Verändern : Wir haben als Ziel den auch im Natürlichen, im Ökonomischen, Politischen und Geistigen freien Menschen, dessen Verwirklichung wir nicht in die graue Zukunft schieben können. Die Verwirklichung dieses freien Menschen besteht für Döblin in dem Einswerden mit dem tao, das durch wu-wei erreicht wird. Tan Yuan : Der Zauber von Wang-lun zeigt die Andersartigkeit der chinesischen Welt und ein Bild der chinesischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts : Arme Dörfer, staubige Landstrassen, nordchinesisches Gebirge, brausende Flüsse, einsame Einsiedlerhütten, chaotische Provinzstädte, majestätische Hauptstadt, prächtige Paläste, buddhistische Klöster, düstere Gefängnisse. Es treten auf : Bauern, Handwerker, Kaufleute, Bettler, Diebe, Räuber, Dirnen, Zauberer, Soldaten, Beamte, Generäle, Kaiser, Lama, Mönche, Taoisten und Literaten. Die Chinoiserie ist berückend : Es gibt prunkvolle Darstellung des Kaiserhofes, detaillierte Schilderungen der exotischen Sitten, Bräuche, Rituale und Lebensgewohnheiten. Die Metaphorik ist faszinieren : Mit den ungewöhnlichen Assoziationen und Vergleichen verleiht Döblin der chinesischen Gefühlswelt einen sinnlich erfahrbaren Charakter und eröffnet den Lesern einen neuen Raum für ihre Phantasie. Döblin charakterisiert den Kaiser Khien-lung [Qianlong] als Staatsoberhaupt und Führer der Staatsreligion Konfuzianismus. Dass der Kaiser der 'Himmelssohn' ist, wird nur in Khien-lungs Selbstäusserung erwähnt : Ich bin als Sohn des Himmels geboren und werde auf dem Drachenthron sterben. Wang-lun kommt nach seiner Flucht in die Nan-ku-Berge erstmals mit der taoistischen Lehre in Berührung. Er hört zuerst von 'den niedrigen Leuten' die Sprüche aus dem Dao de jing : "In den niedrigen Leuten schwang der alte Geist des Volkes ; mehr als in den Literaten strömte in den Gestrandeten, viel Erfahrenen das tiefe Grundgefühl : Die Welt ist von geistiger Art, man soll nicht an ihr rühren. Wer handelt, verliert sie ; wer festhält, verliert sie". Wang-luns Bekehrung zum Wu-wei basiert auf seinem Nachdenken über den elenden Zustand der 'armen ausgestossenen Menschen'. Er sieht, dass jemand zuerst handeln muss, damit das Wu-wei verwirklicht werden kann. Als er sieht, dass die Bandenmitglieder der 'Gebrochenen Melone' bald den Regierungstruppen zum Opfer fallen werden, vergiftet er den Brunnen in der Stadt, so dass die Truppen nur noch die toten Mitglieder finden. Es ist für ihn die einzige Möglichkeit, den gewaltigen Kampf zu vermeiden und die Gewaltlosigkeit der 'wahrhaft Schwachen' durchzuhalten. Mit der Vergiftung macht er sich zum Mörder und handelt der Wu-wei-Lehre zuwider. Aber er verwirklicht den Spruch im Dao de jing, indem er allen 'Schmutz' auf sich nimmt und das Unglück trägt. Döblin weist darauf hin, dass jemand die Verantwortung übernehme und sich für das Nichthandeln der Brüder opfern muss. Im Roman zitiert Döblin zudem eine Fabel von Zhuangzi, um die Hektik des Menschen in Frage zu stellen : "Es war einmal ein Mann, der fürchtete sich vor seinem Schatten und hasste seine Fussspuren. Und um beiden zu entgehen, ergriff der die Flucht. Aber je öfter er den Fuss hob, umso häufiger liess er Spuren zurück. Und so schnell er auch lief, löste sich der Schatten nicht von seinem Körper. Da wähnte er, er säume noch zu sehr ; begann schneller zu laufen, ohne Rast, bis seine Kraft erschöpft war und er starb. Er hatte nicht gewusst, dass er nur an einem schattigen Ort zu weilen brauchte, um seinen Schatten los zu sein. Dass er sich nur ruhig zu verhalten brauchte, um keine Fussspuren zu hinterlassen". Gerwig Epkes : China ist für Döblin ein Weg zur Rechtfertigung seiner Schriftstellerei. Durch die Beschäftigung mit dem fremden Land vermeidet er unbewusst, sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzten. Damit klammert er Schuld- und Angstgefühle aus, die sein strenges Über-Ich von ihm fordern würde. Er idealisiert China. Später wird ihm selbst bewusst, dass China ihm als 'Vehikel' zur Lösung persönlicher Probleme diente. Otto Jensen schreibt 1922 : Dies Buch ist nicht nur ein Roman. Wie jedes grosse Kunstwerk ist es ein Zeitbild. Es ist ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines Volkses, das steigende Bedeutung in der Weltpolitik unserer Tage erlangt. Wir müssen die alte Kultur der Chinesen kennen, um die Wandlungen im Fernen Osten zu begreifen. Lion Feuchtwanger schreibt 1916 : Und während allerorten geschäftige Kärrner an der Arbeit sind, Grenzwälle aufzuwerfen zwischen Nation und Nation, legt hier ein Dichter eine Bresche in die chinesische Mauer, die das geistige Europa von der östlichen Welt schied... die tiefste Weisheit des Ostens, die uns bisher höchstens in sentimental-transzendentalen, akademisch theosophischen Abhandlungen europäisch frisiert, verwässert und verflüchtigt entgegendämmerte, ist in diesem Prosa-Epos rein, naiv, unsentimental, mit überzeugender Gegenständlichkeit gestaltet... Der Sinn des Buches ist die weiche, süsse Weisheit des Wu-Wei, des Nichtwiderstrebens. Das Epos sei ungefähr die Erfüllung dessen, was Goethe träumte, als er den Westöstlichen Diwan konzipierte : östliches Fühlen und Denken, in eine vollendete westliche Kunstform gezwungen. Nebel zerreissen, eine neue ungeahnte Welt ist da, Menschen und Dinge stehen da, ungeheuer fremd und seltsam, aber sie sind da, greifbar, wirklich, vom Ungläubigsten nicht wegzuleugnen. Sind da und überzeugen mit ihren abertausend neuen, unbekannten, ungeahnten Erscheinungen, Weisheiten, Lüsten, Schmerzen, Träumen, Erkenntnissen, Verzichten. |
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5 | 1963 |
Döblin, Alfred. Aufsätze zur Literatur. (Olten : Walter-Verlag, 1963). Döblin schreibt : ... ob ich von China, Indien und Grönland sprach, ich habe immer von Berlin gesprochen, von diesem grossen, starken und nüchternen Berlin, aber selbstverständlich "von Laotse [Laozi] abgesehen". |
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# | Year | Bibliographical Data | Type / Abbreviation | Linked Data |
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