1985
Publication
# | Year | Text | Linked Data |
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1 | 1669 |
Gottfried Wilhelm Leibniz sagt : Wie närrisch auch und paradox der Chinesen Reglement in re medica scheint, so ist's doch weit besser als das unsrige. Adrian Hsia : Das konfuzianische Chinabild der Missionare sprach die Aufklärer an, die sich zu jener Zeit mit der Sittenlehre und der praktischen Philosophie beschäftigten. Die Berichte der Missionare hatten schon früh das Interesse von Leibniz geweckt und er setzte sich auch mit der chinesischen Schrift auseinander. Er suchte die Universalsprache für die Gelehrten und stiess dabei auf die chinesischen Schriftzeichen. Auch hatte er sich für verschiedene Schlüssel zur Erlernung des Chinesischen interessiert. |
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2 | 1670 |
Hagdorn, Christian W. Aequan, oder der Grosse Mogol : das ist Chinesische und Indische Stahts- Kriegs- und Liebes-geschichte [ID D16025]. Adrian Hsia : In diesem als Fragment gebliebenen historischen Roman sind die Hauptcharaktere historische Figuren aus der chinesischen Geschichte. Geschrieben wurde er unter dem Einfluss von Martini, Martino. De bello tartarico historia [ID D1699]. |
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3 | 1673 |
Happel, Eberhard Werner. Der asiatische Onogambo darin der jetzt-regierende grosse sinesische Käyser Xunchius [ID D16026]. Adrian Hsia : Der Schauplatz des Romans ist in China und beeinflusst von Martini, Martino. De bello Tartarico historia [ID D1699]. Der erste Mandschu-Kaiser Xuncii [Shunzhi] hat eine wichtige Position in Martinis Geschichte. Auch Adam Schall von Bell figuriert bei Martini und bei Happel. Er ist Beichtvater Onogambos und hält ihm Vorträge über Zeitrechnung und Astronomie. Die Frau Onogambos, Kaiserin von China wird zum Christentum bekehrt und auch der Kronprinz wird getauft. So wird China in der fiktiven Welt des Romans ein christliches Reich. |
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4 | 1686 |
Gasser, Rudolph. Aussforderung mit aller-demütigst gebottnem Vernunft-Trutz an alle Atheisten, Machiavellisten, gefährliche Romanen, und falsch-politische Welt-Kinder zu einem Zwey-Kampff [ID D16027]. Adrian Hsia : Philologi ist der Sohn des chinesischen Kaisers und der englischen Erbprinzessin. Er wird in Portugal erzogen, zuerst als Atheist, bevor er zum wahren Glauben bekehrt wird. Er beschliesst nach China zu fahren, um dort ein christliches Reich zu errichten. Auf dem Wege dahin gelingt es ihm heimkehrende chinesische Gesandte samt Gefolge zum Christentum zu bekehren. Auch in China selbst überzeugt er die feindliche Kaiserin von der Wahrheit der christlichen Religion. Sie tritt zurück zugunsten ihres Bruders Carubellus, der dann das katholische Kaiserreich proklamiert. Die frommen Fürsten werden Vorsteher der neu errichteten Klöster und die Missionierung Chinas ist vollzogen. |
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5 | 1689 |
Gottfried Wilhelm Leibniz trifft Claudio Filippo Grimaldi in Rom. Von ihm erhält er ausführliche Beschreibungen von China und versucht von nun an einen neuartigen Kultur- und Wissenschaftsaustausch zwischen China und Europa in die Wege zu leiten. Mit seinem ersten Brief an Grimaldi, beginnt eine rege Korrespondenz mit den Jesuiten in China. Leibniz schreibt am 19. Juli 1689 an Grimaldi : Ich schätze Ihre Bekanntschaft so hoch, verehrungswürdigster Pater, dass ich täglich mit Ihnen zu sprechen wünschte... Was nämlich kann einem wissbegierigen Menschen Wünschenswertes widerfahren, als einen Mann zu sehen und zu hören, der die versteckten Schätze des fernsten Osten und die verborgenen Geheimnisse so vieler Jahrhunderte uns eröffnen kann. Bisher hatten wir nur Handelsbeziehungen, und zwar mit den Indern in Gewürzen und verschiedenen Spezereien, aber noch nicht in wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese wird Europa Ihnen verdanken. Sie lehren die chinesischen Völker in unseren Mathematischen Wissenschaften. Durch Sie schulden umgekehrt auch uns die Chinesen verschiedene Geheimnisse der Natur, die ihnen durch lange Beobachtung bekannt geworden sind. Denn die Physik stützt sich mehr auf praktische Beobachtungen, die Mathematik dagegen auf theoretische Überlegungen des Verstandes. In diesen letzteren zeichnet sich unser Europa aus, aber in den praktischen Erfahrungen sind die Chinesen die Überlegenen, weil in ihrem Reich, das seit so vielen Jahrtausenden blüht, die Traditionen der Alten bewahrt wurden, die in Europa durch die Wanderungen der Völker zum grossen Teil verloren gingen... |
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6 | 1697 |
Leibniz, Gottfried Wilhelm. Novissima sinica [ID D1101]. Quellen : Der grösste Teil des Buches besteht aus Auszügen der Schriften und Briefe der Jesuitenmissionare in China. Werke von Martino Martini. Bouvet, Joachim. Icon regia monarchae sinarvm nvnc regnantis. Bouvait, Joachim. Portrait historique de l'Empereur de Chine. [Kangxi]. In : 2. Aufl. von Gerbillon, Jean-François. Gerbillon, Jean-François. Auszug eines Briefes über den chinesisch-russischen Krieg und den Friedensschluss. Beschreibung des Weges der russischen Gesandtschaft nach China (1693-1695). Erwähnung der 1625 aufgefundenen Stele von Xi'an. Grimaldi, Claudio Filippo. Antworten auf die Liste der Fragen über China von Leibniz, Brief von 1695. Kircher, Athanasius. Kircher, Athanasius. China illustrata [ID D1712]. Leusden, Johann. De successu evangelii apud Indos Occidentales. Longobardo, Niccolò. Traité sur quelques points de la religion des Chinois [ID D1792]. Malebranche, Nicolas. Entretien d'un philosophe chrétien et d'un philosophe chinois [ID D1799]. Ricci, Matteo ; Trigault, Nicolas. De christiana expeditione [ID D1652]. Sainte-Marie, Antoine de. Traité sur quelques points importans de la mission de la Chine [ID D16444]. Soares, José. Libertas Evangelium Christi annunciandi et propagandi in Imperio Sinarum solenniter declarata, anno Domini 1692. Bericht über das Toleranzedikt zur Missionserlaubnis in China von Kaiser Kangxi. Spizel, Gottlieb. De re literaria Sinensium commentarius [ID D1706]. Thomas, Antoine. Brief über die Förderung des Christentums durch den Hof in Beijing. Verbiest, Ferdinand. Auszug aus Astronomia Europaea [ID D1719]. Leibniz schreibt im Vorwort : China nimmt es schon an Grösse mit Europa als Kulturlandschaft auf und übertrifft es sogar in der Zahl seiner Bewohner, es weist aber auch noch vieles andere auf, in dem es mit uns wetteifert und bei nahezu "ausgeglichenem Kriegsglück" uns bald übertrifft, bald von uns übertroffen wird… In den Fertigkeiten, deren das tägliche Leben bedarf, und in der experimentellen Auseinandersetzung mit der Natur sind wir einander ebenbürtig, und jede von beiden Seiten besitzt da Fähigkeiten, die sie mit der jeweils anderen nutzbringend austauschen könnte ; in der Gründlichkeit gedanklicher Überlegungen und in den theoretischen Disziplinen sind wir allerdings überlegen… Aber wer hätte einst geglaubt, dass es auf dem Erdkreis ein Volk gibt, das uns, die wir doch nach unserer Meinung so ganz und gar zu allen feinen Sitten erzogen sind, gleichwohl in den Regeln eines noch kultivierteren Lebens übertrifft ? Und dennoch erleben wir dies jetzt bei den Chinesen, seitdem jenes Volk uns vertrauter geworden ist. Wenn wir daher in den handwerklichen Fertigkeiten ebenbürtig und in den theoretischen Wissenschaften überlegen sind, so sind wir aber sicherlich unterlegen auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ich meine : in den Lehren der Ethik und Politik, die auf das Leben und die täglichen Gewohnheiten der Menschen selbst ausgerichtet sind… und mögen die Chinesen die wahre tugendhafte Lebensführung noch nicht ganz erreicht haben, so habe sie dennoch die bitteren Resultate menschlicher Fehler gemildert, und obwohl sie die Wurzeln sündhafter Vergehen aus der menschlichen Natur nicht ausrotten konnten, haben sie gleichwohl gezeigt, dass die hervorsprossenden Schösslinge böser Eigenschaften zu einem guten Teil nieder gehalten werden können... Möge Gott es geschehen lassen, dass unsere Freude begründet und dauerhaft ist und nicht durch unklugen Glaubensfanatismus oder durch interne Streitigkeiten der Männer, die die Pflichten der Apostel auf sich nehmen, noch durch üble Beispiele unserer Landsleute zunichte gemacht wird. Die europäische Kultur verkörpert die eine Einheit, die durch die Weltreligion des Christentums zusammengehalten wird. Die östliche Einheit begegnet uns in der chinesischen Kultur. Die beiden Kulturen sind untrennbar geeint in der grossen Harmonie einer Kulturfamilie. Was Europa auszeichnet, fehlt zumeist in China, und was im Osten vorbildlich erscheint, geht oft dem Abendlande ab. Der Westen ist in allen metaphysischen und abstrakten theoretischen Wissenschaften fortgeschrittener, besonders in theoretischer Philosophie. Andererseits überragen die Chinesen die Europäer in der sogenannten praktischen Philosophie, besonders in der Ethik und Politik, in den Wissenschaften, die in Zusammenhang mit dem praktischen Leben stehen. Leibniz schreibt über Kaiser Kangxi : Das gilt so sehr, dass der jetzt regierende K'ang Hsi, ein nahezu bespiellos hervorragender Fürst, wie immer er auch den Europäern geneigt ist, es dennoch gegen die Empfehlung seiner obersten Behörden nicht gewagt hat, die Freiheit der christlichen Religion durch ein staatliches Gesetz zu sanktionieren, bis ihre Heiligkeit geklärt war und es feststand, dass auf keine andere Weise der grosse und heilsame Plan des Kaisers besser zur Vollendung gebracht werden könne, in China europäische Fertigkeiten und Wissenschaften einzuführen. In dieser Angelegenheit scheint mir der Kaiser als Einzelperson weiter vorausgeschaut zu haben als alle seine obersten Behörden ; und der Grund für eine so überragende Klugheit war, wie ich glaube, die Tatsache, dass er Europäisches mi Chinesischem verband... Ich erinnere mich, dass Pater Claudio Filippo Grimaldi... mir gegenüber in Rom nicht ohne Bewunderung die Tugend und Weisheit dieses Fürsten pries, denn um nichts über seine Gerechtigkeitsliebe, die liebende Fürsorge für seine Völker, seine gemässigte Lebensweise und die übrigen Lobpreisungen zu sagen - Grimaldi hob hervor, dass des Kaisers erstaunlicher Wissensdurst nahezu unglaublich sei. Denn er, den seine fürstlichen Verwandten und die bedeutendsten Männer des gesamten Reiches von Ferne verehren und in seiner Nähe anbeten, bemühte sich zusammen mit Ferdinand Verbiest in der Abgeschlossenheit eines inneren Gemachs drei oder vier Stunden lang täglich an mathematischen Geräten und Büchern, wie ein Schüler mit seinem Lehrer ; und er machte so grosse Fortschritte, dass er die euklidischen Beweise erfasste, die trigonometrischen Berechnungen verstand und so in der Lage ist, die astronomischen Erscheinungen in Zahlen auszudrücken. Leibniz schreibt an Jacob Hop : Bei der Veröffentlichung der Novissima sinica hatte ich das Ziel, die Protestanten aufzufordern, sich an der grossen Ernte zu beteiligen, die auf dem Felde des Herrn eröffnet ist, zur Ehre Gottes und zu ihrer eigenen Ehre, auf dass die reine Religion in diesem grossen Reiche nicht ausgeschlossen bleibe. Denn nur wegen ihrer Wissenschaften sind die Jesuiten in China zugelassen worden, worin ihnen die Protestanten nichts nachgeben, um nicht zu sagen, ihnen überlegen sind. Und da der chinesische Kaiser mit ihnen nur die europäischen Wissenschaften hereinbittet, so glaube ich, dass man der Religion und der Schiffahrt grosse Vorteile verschaffen würde, wenn man aus den guten Absichten dieses Fürsten Nutzen zöge. Leibniz bemüht sich in seiner Novissima sinica um ein umfassendes Wissen über China sowie andere Kulturen, um es als Basis und Material für konsistente und empirisch begründete Spekulationen über eine gemeinsame kulturelle Zukunft verwenden zu können. Er entdeckt Chinas Verachtung menschlicher Aggressionen und Abscheu vor den Kriegen, eine "natürliche Theologie", die kultivierende und zivilisierende Macht der Konventionen und Sitten und die Vorbildlichkeit der Herrscher als mögliches Muster, einem Verfall Europas entgegen zu wirken. Leibniz möchte Europa ein sympathisches Bild von China vermitteln und setzt sich für die Akkommodationspolitik ein. Er ist der Meinung, dass sich die christliche Mission so weit wie möglich den Landessitten anpassen sollte. Missionen waren für ihn ein wichtiges Medium für den wissenschaftlichen Austausch mit dem Westen. Russland sollte die Vermittlerrolle zwischen China und Europa einnehmen. Die chinesische Sprache und Schrift faszinierten ihn, da er sich Gedanken über eine Universalsprache macht. Der chinesische Kaiser ist mit Nachrichten über Europa informiert worden, da z.B. das Vorwort der Novissima Sinica in China bekannt geworden ist. Adrian Hsia : Für Leibniz stellen Europa und China zwei sich ergänzende Hälften einer Weltkultur dar : China sei stärker in der praktischen Philosophie, während Europa in der transzendentalen Philosophie voraus sei. In China gelte die natürliche Religion und in Europa die geoffenbarte. Ein tiefgehendes Verständnis ihres Gegenpols sei auf beiden Seiten dringend vonnöten. Daher meinte er, ein Austausch von Studierenden, die sich in die Kultur des Gastlandes vertiefen sollten, sei sehr erwünscht. Ausserdem sei die gegenseitige Missionierung notwendig, was er in seiner Vorrrede zu Novissima sinica zum Ausdruck bringt. China und Europa sollen sich ergänzen und voneinander lernen. Da Russland zwischen den beiden Kulturhälften liegt, sei es dazu berufen, die Vermittlerrolle zu übernehmen. Er versuchte unermüdlich, den Zaren Peter der Grosse, für sein Projekt zu gewinnen, was ihm aber nicht gelingt. Es ist offensichtlich, dass Leibniz die China-Mission der Jesuiten und ihre Akkomodation gutheisst, denn seine Äusserungen spiegeln weitgehend die Lehre und Praxis der Jesuiten in China wider. Auch ist er wie die Missionare von der Überlegenheit der christlichen Offenbarungsreligion überzeugt und gegen den Glaubensfanatismus. Er räumt die Möglichkeit ein, China könne, wenn es einmal christlich werde, Europa überlegen sein und befürwortet einen Kulturaustausch, weil die ganze Welt davon profitieren würde. Sein Eifer, China zu christianisieren, entspringt nicht der Überzeugung, China dadurch Kultur oder Zivilisation zu bringen, vielmehr will er China dadurch vervollkommnen. Hans Poser : Die christliche Mission in China ist das zentrale Thema und Anliegen der Novissima sinica. Sie ist erstens geprägt durch den seit Matteo Ricci für die jesuitische Mission leitenden Gedanken, dass Wissenschaft und Christentum unmittelbar zusammengehören und zweitens entspricht die Offenbarungstheologie des Westens aus seiner Sicht einer natürlichen Theologie und Ethik Chinas. Immer wieder betont Leibniz den Zusammenhang von Erkenntnis und Glauben, indem er den Weg über die Mathematik und ihre ewigen Wahrheiten zur platonischen Ideenlehre als den vernünftigen Weg zum Christentum darstellt. In der Dyadik und im Yi jing sieht er die Möglichkeit eines vernünftigen Zugangs zum Christentum als Lehre vom Schöpfergott, der die beste aller möglichen Welten als Harmonie der Vielfalt in der Einheit verwirklicht und erhält, so dass eine rationale Grundstruktur durch die Vereinbarkeit von Vernunft und Glauben auch in der Offenbarungsreligion gegeben ist... Leibniz' Darstellung des chinesischen Toleranzediktes, in dem der christlichen Religion die gleiche Stellung eingeräumt wird wie dem Buddhismus und dem Mohamedanismus, ist ein meisterlicher politischer Schachzug, denn wenn ein Tolaranzedikt in China möglich ist, wäre es in Europa um so gebotener... Er steht im Ritenstreit ganz auf der Seite der Jesuiten, denn so ist eine Verschiedenheit im Kultus bei gleicher Grundüberzeugung möglich, kommt es in der Mission doch darauf an, die interpretativen Unterschiede der christlichen Konfessionen nicht öffentlich werden zu lassen, sondern im Gegenteil die Gemeinsamkeit hervorzuheben. Ein unmittelbares politisches Vorbild für Europa und für seine eigenen Visionen sieht Leibniz im chinesischen Kaiser, verkörperte er doch, was er von den europäischen Fürsten erhoffte... Der chinesische Herrscher achte und ehre die Gesetze und die Weisen seines Landes, hat sich den Wissenschaften und der Vernunft verschrieben und will mit ihnen sein Reich fördern. John Ho : Leibniz schätzt den chinesichen Kaiser hoch ein. Trotz der grossen politischen Macht würde er sie nie missbrauchen. Das Ziel seiner Politik wird von weister Überlegenheit und Sittlichkeit bestimmt. Er bleibt stets den Weisen und den Gesetzen untergeordnet und gehorsam und holt den Rat der Gelehrten als wichtigsten Beitrag zu seiner Politik ein. Besonders hoch wertet Leibniz, dass sich der Kaiser bemüht, den Geist Europas zu verstehen, sowie seine Toleranz dem Christentum gegenüber... Leibniz schätzt die Philosophie des Neo-Konfuzianismus. Er hält ihn für den „Rationalismus“ Chinas und betrachtet ihn als Kern der chinesischen Tradition. Sein Vorschlag ist, dass die Europäer die Gedanken des chinesischen Rationalismus so weit wie möglich aufnehmen, um ihre eigene natürliche Theologie zu verbessern ; in gleicher Weise sollten sich die Chinesen die Offenbarungstheologie zu eigen machen. Leibniz wünscht, dass China Missionare nach Europa schickt, die die natürliche Theologie lehren, und europäische Missionare sollten die Offenbarungstheologie nach China bringen. Um die christliche Religion zu verbreiten und um das Christentum als ein Mittel der Kulturverbindung wirksam werden zu lassen, sollten die westlichen Missionare zuerst die chinesische Kultur verstehen lernen. Dazu gehört das Studium der chinesischen Sprache, Schrift, Geschichte, Philosophie und Wissenschaft. Leibniz hofft, dass China auch das Unterrichtswesen Europas annimmt und fordert einen wissenschaftlichen Austausch, der helfen würde, dass der Weltfriede erhalten bleibt. Er drückt die Hoffnung aus, Russland werde eine wissenschaftliche Beziehung zwischen Europa und China vermitteln ; und nähme der Zar oder der chinesische Kaiser den christlichen Glauben an, wäre der Weltfrieden sicher gestellt. Auch wäre der Weg durch Russland nach China sicherer und schneller als der Weg über das Meer. |
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7 | 1700 | Gründung der Preussischen Akademie der Wissenschaften durch Anregung von Gottfried Wilhelm Leipzig. Eine der Aufgaben soll die Verwirklichung des Kulturaustausches mit China sein. |
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8 | 1716 |
Gottfried Wilhelm Leibniz. Lettre à Rémond sur la philosophie chinoise [ID D1716]. Leibniz schreibt : Es gibt in China eine in mancher Hinsicht bewundernswerte öffentliche Moral, verbunden mit einer philosophischen Lehre, oder richtiger, mit einer natürlichen Theologie, die ehrwürdig ist durch ihr Alter, eingeführt und zur Autorität gekommen vor etwa 3000 Jahren, also lange vor der Philosophie der Griechen, auch wenn diese letztere, abgesehen von unseren heiligen Büchern, die erste ist, von der die übrige Welt Werke besitzt. Es wäre daher von uns, die wir im Vergleich mit den Chinesen neu hinzugekommen sind, sehr unklug und anmassend, wollten wir eine so alte Lehre verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind, übereinzustimmen scheint. Es ist die richtige Art, um ganz behutsam, ohne es merken zu lassen, diejenigen, die sich von der Wahrheit und noch dazu von ihrem eigenen Altertum entfernt haben, zu korrigieren. Hier zeigt sich, dass man sich nicht von vornherein durch Schwierigkeiten abschrecken lassen soll, und dass P. Martinus und alle, die seine Auffassung vertreten, gut daran getan haben, der Meinung P. Riccis und anderer bedeutender Männer zu folgen und trotz des Widerstandes der Jesuiten P. Emanuel Diaz und P. Nicolas Longobardo, und des Franziskaners P. Antoine de Sainte Marie, und trotz der Verachtung verschiedener Mandarine auf ihren Erklärungen zu beharren. Es genügt, dass diese Erklärungen, die sie von den Schriften der Alten geben, voll vertretbar sind, da ja die Auffassung der modernen Chinesen offenbar schwankt. Betrachtet man die Dinge aber näher, so sind diese Erklärungen auch in den Texten selbst am besten begründet. Ich spreche hier nur von der Lehre und untersuche nicht die Zeremonien oder den Kult, der eine grössere Besprechung verlangt... Um daher einzusehen, dass die Chinesen die geistigen Substanzen anerkennen, muss man vor allem ihr Li, das heisst Ordnung, betrachten, welches der Erste Beweger und die Ursache der übrigen Dinge ist und, wie ich glaube, unserer Gottheit entspricht... Da nun die alten Weisen Chinas glaubten, dass das Volk im Gottesdienst Gegenstände brauche, die seine Einbildungskraft ansprechen, wollten sie es nicht anhalten, das Li oder das T'ai-kih (Taiji), sondern Shang-ti (Shangdi), also den Himmelgeist, anzubeten. Dabei verstanden sie aber unter diesem Namen nichts anderes als das Li oder das T'ai-kih, das hauptsächlich im Himmel seine Macht zeigt... Der Kult der Ahnen und grossen Männer, der von den alten Chinesen eingeführt wurde, kann sehr wohl den Zweck haben, die Dankbarkeit der Lebenden, eine vom Himmel geschätzte und belohnte Tugend, zu zeigen und die Menschen zu Leistungen anzuspornen, die sie der Anerkennung der Nachwelt würdig machen. Doch drücken die Alten sich aus, als wenn die Geister der tugendhaften Ahnen, die von einem Strahlenkranz umgeben sind und zum Hofstaat des Weltenkönigs gehören, die Macht hätten, ihren Nachfahren Gutes und Böses zu bringen. Hier wenigstens wird deutlich, dass sie sich vorstellen, dass die Ahnen weiterleben. Leibniz schreibt über das binäre Zahlensystem : So haben der hochw. P. Bouvet und ich den eigentlich gemeinten Sinn der Charaktere des Reichsgründers Fuh-Hi [Fuxi] entdeckt. Diese Charaktere bestehen nur aus der Kombination von ganzen und unterbrochenen Linien und gelten als die ältesten Schriftzeichen Chinas, wie sie gewiss auch die einfachsten sind. Insgesamt gibt es 64 Figuren dieser Art, die in einem Buch, das Ih-King [Yi jing] oder Buch der Variationen heisst, zusammengefasst sind. Mehrere Jahrhunderte nach Fuh-Hi haben der Wen-Wang und sein Sohn Chou-Kung und nochmals fünf Jahrhunderte später der berühmte Konfuzius philosophische Geheimnisse darin gesucht. Andere wollten sogar eine Art Geomantie und ähnliche Ungereimtheiten herauslesen. Tatsächlich handelt es sich aber genau um das binäre Zahlensystem, das dieser grosse Gesetzgeber besessen zu haben scheint, und das ich einige tausend Jahre später wider entdeckt habe. Ahn, Jong-su : Der Brief ist in vier Teile geteilt : Die Gottesvorstellung der Chinesen, Die Lehre der Chinesen über das Urprinzip, die Materie und die Geister, Die chinesische Seelenlehre, Die Charaktere des Fuh-hi [Fuxi] und das binäre Zahlensystem. Nach Zhu Xi bestehen alle Dinge aus zwei Prinzipien : das li entspricht der Weltordnung, der Weltvernunft, dem Gesetz, der Form und dem Logos. Das qi entspricht dem Fluidum, dem Stoff, der Materie, der Energie und der Kraft. Longobardi und Sainte-Marie behaupteten, dass der christliche Gott mit dem chinesischen Wort T'ien-chu (Tianzhu), s.h. Himmelsherr übersetzt werden solle. Nach Longobardi hängt Shangdi von dem Taiji ab. Da nach ihm Taiji die Urmaterie ist, darf man es nicht mit Gott gleichsetzen. Er war der Meinung, dass der christliche Gott mit Tianzhu (Himmelsherr) übersetzt werden solle. Leibniz behauptet, dass die Worte Shangdi und Tianzhu dasselbe seien. Seiner Meinung nach könnte man für den christlichen Gott das Wort Shangdi verwenden. Leibniz hat fast alle wichtigen Begriffe des Neokonfuzianismus behandelt und ist der Interpretation von Matteo Ricci gefolgt. Da schon Ricci nicht alles richtig interpretiert hat, wiederholt er diese Fehler. Er sieht die chinesische Philosophie aus der Sicht des Europäers und hat den Unterschied zwischen dem Christentum und der chinesischen Philosophie nicht erkannt. Diese Interpretation der chinesischen Philosophie von Leibniz ist eine scharfe Kritik der Schriften von Niccolò Longobardo und Antoine de Sainte-Marie. Leibniz bespricht die Gottesidee der Chinesen. Er meint, dass es besser wäre, die alten chinesischen Autoren zu betrachten, als die modernen, denn die alten Chinesen brauchen den Ausdruck li um die Gottesidee zu bezeichnen. Danach bedeutet 'li' das Urprinzip, das höchste Prinzip aller Dinge und eine geistige Substanz. 'Li' ist aktiv, wirkungskräftig und hat eine bestimmte Ordnung. 'Li' ist nicht zufällig entstanden, sondern hat ein in sich vollkommenes Sein. Im Gegensatz zu 'li' ist 'ki' [ji] Materie, die aus 'li' hervorgebracht worden ist. Man könne nicht beurteilen ob 'ki' ohne Anfang ist, aber es sei sicher, dass 'ki' nie schwinden werde. Wenn man an Gott denke, könne man sich nicht vorstellen, dass Gott aus Form und Materie zusammengesetzt ist. Gott ist an sich die allmächtige geistige Substanz. Gott kann die Materie schaffen, aber die Materie ist nie Gott gleichgeordnet. 'Taiki' [taiji] kann sowohl 'li' als auch 'ki' einschliessen, das heisst aber nicht, dass 'taiki' aus 'li' und 'ki' zusammengesetzt ist. 'Tin' (Himmel) ist nicht nur das Himmelsgewölbe, sondern auch das Gesetz des Himmels oder der Herrscher des Himmels, also Gott. 'Tin' ist ein Symbol von 'Xangti' (Gott), deshalb ist es möglich, im Sichtbaren den unsichtbaren Gott zu erkennen. Leibniz ist überzogen, dass die Chinesen schon vor dem Neo-Konfuzianismus dem wahren religiösen Glauben gefolgt sind. Die neokonfuzianische Metaphysik ist für ihn nur ein Kommentar zur chinesischen Religion. Leibniz ist überzeugt, dass die Chinesen an die Existenz von Geistern 'Kuei-Xin' [Gui sheng] glauben, dass sie Gott gehorchen, Gott, den Menschen, Orten, Provinzen und dem Staat dienen. Diese Geister seien mit verschiedenen Elementen wie Feuer, Flüsse und Berge verbunden, was ausdrückt, dass sie Kräfte Gottes sind. Die Chinesen glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Das Weiterleben der Seele nach dem Tod stellen sie sich als ein Existieren unter Geistern vor. Nach chinesischer Überlieferung steige die Seele, hoan [hun] eines Menschen zum Himmel hinauf, um sich wieder mit der ewigen Naturordnung, also Gott zu verbinden. Leibniz hält den Ahnenkult der Chinesen nicht für einen Aberglauben, sondern sieht in ihm Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Die Chinesen glauben nicht an eine Bestrafung nach dem Tod wie Hölle oder Fegefeuer, aber doch daran, dass die Seelen, die überall in Bergen und Wäldern leben, eine andere Art der Bestrafung erfahren. Wie Bouvet findet Leibniz die binarische Arithmetik im Ye Kim [Yi jing] wieder. Er stellt fest, dass die Konstruktion des Hexagramms nichts anderes als eine 'arithmétique binaire' ist. Er setzt die Zahl 1 für das Zeichen ____ und 0 für ___ ___. Mit 0 und 1 kann man alle anderen Zahlen schreiben. Als Gundzahl hat er 2 gewählt, um seine Dyadik aufzubauen. Adrian Hsia : Leibniz äussert sich in diesem Brief zur chinesischen Metaphysik. Er setzt sich zuerst mit dem Begriff 'li' auseinander und versucht nachzuweisen, dass 'li' in der europäischen Philosophie nicht der 'Urmaterie', sondern Gott entspreche. Die Urmaterie sei an sich 'ki' [ji], das aus 'li' entsteht. Er untersucht die Begriffe 'tian (Himmel) und 'Shangdi' (Gott) und kommt zum Ergebnis, dass der chinesische Himmel physisch und mataphysisch zu verstehen sei ; daher sei der sichtbare Himmel bei den Chinesen ein Symbol des 'Shangdi'. Damit drückt Leibniz seine Überzeugung aus, dass die Chinesen keine Atheisten oder Materialisten sind, sondern immer eine Gottesidee gehabt haben. Er argumentiert weiter, dass die Chinesen an die Unsterblichkeit der Seele glaubten, weil diese nach dem Tod zum Himmel zurückkehre. Er ist auch der Meinung, dass es sich beim Ahnenkult der Chinesen nicht um einen Aberglauben handelt, sondern vielmehr um den Ausdruck von Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Diese Interpretation spiegelt Leibniz’ eigene philosophische Konzeption wider. Seine Argumente waren auch für die China-Mission der Jesuiten von grosser Bedeutung. Denn der Ritenstreit war um diese Zeit voll im Gange. |
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9 | 1721 |
Wolff, Christian. Oratio de Sinarum philosophica practica [ID D1812]. Rede zum 28-jährigen Jubiläum der Hochschule zu Halle. Quellen : Noël, François. Sinensis imperii libri classici sex [ID D1801]. Noël, François. Observationes mathematicae, et physicae in India et China [ID D5595]. Quelle für die Anmerkungen von 1726 : Couplet, Philippe. Confucius sinarum philosophus [ID D1758]. Wolff schreibt : Nach Stand und Würden allerseits hochgeehrteste Zuhörer! Obgleich die Weisheit der Sineser von den ältesten Zeiten her sehr berühmt gewesen, und ihre ganz besondere Klugheit in Verwaltung des Staats von jederman in Bewunderung gezogen worden ist: so scheinet doch alles dasjenige, was von beyden insgemein pfleget gesaget zu werden, so wenig seltsames als vortreffliches in sich zu fassen. Der Confuz wird gemeiniglich für den Urheber einer so grosen Weisheit von uns angesehen: diejenigen aber, welche dieser Meynung beypflichten, bezeugen dadurch nichts anderst, als ihre Unerfahrenheit in den Sinesischen Nachrichten. Der Sinesische Staat hat sich lange vor den Zeiten des Confuz der vortrefflichsten Geseze zu erfreuen gehabt, indem die Fürsten ihren Unterthanen so wohl mit Worten als auch mit ihrem eigenen Beyspiel eine Richtschnur der grösten Vollkommenheit zur Nachfolge vor Augen gestellet, und die Lehrer und Hofmeister, so wohl Käyserliche und Königliche Prinzen, als auch anderer vornehmer und geringer Leute Kinder von der zartesten Jugend an zu wohlanständigen Sitten angewiesen, die Erwachsenen aber in der Erkenntniß des Guten und Bösen gestärket haben, also daß die Fürsten und Unterthanen den Preis der Tugend einander strittig machten. Denn die alten Käyser und Könige der Sineser waren selbst auch Weltweise: dahero hat man sich nicht zu wundern, daß ihr Staat nach dem Ausspruch, welchen Plato gethan hat, glükseelig gewesen seye, da Weltweise herrscheten, und die Könige Weltweise waren. Fo hi ist der erste, welchen die Sineser als den Stifter der Wissenschafften und des Reiches in China verehrten. Diesem aber haben Xin num Hoam ti, Yao und Xun in der Regierung nachgefolget, welche diejenige Einrichtung, welche Fo hi bereits gemachet hatte, mehr und mehr verbesserten, biß endlich die Käyser aus den Geschlechtern Hia, Xam und Cheü so wohl die Regierung als auch die Geseze zur grösten Vollkommenheit gebracht haben. Auf Erden aber ist nichts beständigers als der Unbestand. Kaum hatte die Weisheit und Staatsklugheit der Sineser einen so hohen Grad erreichet, so fingen sie auch schon wieder nach und nach an in Verfall zu gerathen, und wären fast gänzlich untergegangen, weil die Fürsten den Weg der Tugend verliesen, und die Vornehmsten sich nicht mehr nach den so sorgfältig gegebenen Gesezen, richteten, die Lehrer ihres Eydes und Pflicht vergasen, und die Unterthanen, die ohnedem übel geartet waren, nur Schandthaten und Laster verübten. Damals war ein recht bejammernswürdiger Zustand in dem Sinesischen Reiche! Denn wer sollte sich wohl, wertheste Zuhörer! nicht darüber betrüben, daß die Obrigkeit das ansehnlichste, nehmlich Tugend und Klugheit verlohren habe; daß die Geseze, worauf sich die allgemeine Wohlfarth gründete, schändlicher Weise unterdrüket worden sind; daß die Schulen, in welchen zarte Gemüther zu wohlanständigen Sitten angeführet, die Erwachsenen aber auf den rechten Weg der Ehrbarkeit bestätiget wurden, fast gänzlich eingegangen; und daß endlich das ganze Volk, das dem Müßiggang und den Wohllüsten ergeben gewesen, ganz und gar ins Verderben gerathen sind. Da es aber nun so verwirrt in dem Staat der Sineser aussahe; so hat Confuz, der ein sehr tugendhafter und gelehrter Mann, und von der göttlichen Vorsehung besonders darzu bestimmet war, dem Verfall derselben wieder aufzuhelffen sich bemühet. Er hatte zwar nicht selbsten das Glük, als ein König dem Staat heilsame Geseze vorzuschreiben, dieselben öffentlich einzuführen, und andere zu denselben hinzuzuthun; sondern er war nur darauf bedacht, die Pflichten eines Lehrers auf das genaueste und möglichste zu beobachten. Dahero, ob er schon nicht thun konnte, was er wollte, so hat er doch dasjenige bewerkstelliget, was in seinem Vermögen war, und nicht das geringste unterlassen, was zur Verrichtung und Zierde seines Lehramtes in Ansehung seines Verstandes nur von ihm hat gefordert werden können. Dazumahl war den Sinesern die Regel noch wohl bekannt, welche ihnen von den alten Weltweisen, welche auch zugleich ihre Käyser und Könige waren, sehr nüzlich eingepräget worden ist, daß die Beyspiele der Käyser und Könige den Unterthanen zur Richtschnur ihrer Handlungen dienen sollten. Da nun ihre ersten Käyser und Könige also gelebet und regieret hatten, daß sie auch andern zu einem Beyspiel dienen konnten: so werden sie so wohl wegen ihrer wohlanständigen und vortrefflichen Sitten als auch wegen ihrer grosen Staatsklugheit, von allen und jeden noch heut zu Tag gebührend verehret. Dahero hat Confuz mit besonderer Mühe die Jahrbücher der alten Käyser und Könige durchgelesen, was darinnen als eine Richtschnur recht zu leben und zu regieren angenommen, und durch ihre Beyspiele bekräfftiget worden war, herausgelesen, was er sich besonders daraus bemerket hatte, öffters in eine reiffe Betrachtung gezogen, und endlich nach genügsamer Ueberlegung und Erfahrung an sich selbsten, es seinen Untergebenen, um es auf die späte Nachwelt fortzupflanzen, anvertrauet. Confuz ist also zwar nicht als der Stiffter aber doch als der Wiederbringer der Sinesischen Weltweisheit billig anzusehen. Ob nun schon dieser Weltweise keine neue Richtschnur zu leben und zu regieren gemachet hat, wiewohl es ihm an Verstande nicht fehlete, indem er nicht aus eitler Ehrbegierde, sondern aus Liebe zu dem Wohlstand und der Glükseeligkeit seines Volkes darzu getrieben wurde: so ist er doch damahls in so grosem Ansehen, als heut zu Tag gestanden, also, daß er, da er ehemahls lehrete, drey tausend in seiner Schule, die seinen Unterricht genossen hatten, zehlen konnte, nun aber ihn auch die Sineser noch so hoch halten, als die Juden den Moses, die Türken den Mohammed, ja wir selbsten den Heyland achten, in so fern wir ihn als einen Propheten und Lehrer, der uns von GOtt gegeben worden ist, verehren. Nun hat es zwar Confuz nicht so weit gebracht, daß beständig ein löbliches Regiment und gute Sitten in China geblühet hätten: dann China hat schon vor dem Confuz und auch nach demselben viele Veränderung erfahren, da so wohl die Lehrer, die die Scharffsinnigkeit und den Verstand nicht besasen, welchen der Confuz gehabt hatte, und also die Höhe und Tieffe der Lehren dieses so grosen Weltweisen keinesweges erreichten: als auch da die Käyser und Könige von den Beyspielen der alten Helden, die Confuz so deutlich vor Augen gemahlet hat, abgiengen, und das ganze Volk sich nicht also bezeigte, wie ihr so vorsichtiger und behutsamer Führer Confuz sie gelehret hatte: so habe ich doch hier die Absicht nicht die so grosen Veränderungen der Dinge zu untersuchen, sondern etwas weit wichtigers, und das ihre Aufmerksamkeit, meine geneigte Zuhörer, mehr verdienet vorzutragen. Wir wollen die Sinesische Weltweisheit etwas genauer betrachten, und aus derselben die geheime und verborgene Grundwahrheiten der Sitten und des Regiments, aus derjenigen Tiefe, in die vielleicht nicht ein jeder sich hinein wagen kan, heraus hohlen, was heraus gehohlet ist an das Licht bringen, und das an das Licht gebrachte behutsam von einander unterscheiden. Wohlan demnach, meine wertheste Zuhörer! Vergönnen sie dem Redner ihre Wohlgewogenheit, und ein geneigtes Gehöre; wo aber meine Einsicht in dieser so wichtigen Unternehmung ihnen nicht hinreichend zu seyn scheinen solte, so belieben sie die Proben von ihrer besonderen Gütigkeit abzulegen, wofür ich ihnen wiederum in allen möglichen Fällen, zu dienen, mich verbindlich mache. Die Sache, von der ich zu reden beschlossen habe, hat eine gewisse natürliche Schönheit, dadurch sie die nach hohen Dingen begierige Gemüther vergnügen kan, und sie hat nicht nöthig einen fremden Pracht von den Worten erst zu entlehnen, um dem Gehöre derer, so dem Gemüthe nach abwesend sind, ein Vergnügen zu machen. Sie erlauben also, daß ich mir dabey einer niedrigen Art zu reden, bediene, und mich hierinnen nach den Bildhauern richte, die, wenn sie eine schöne Weibsperson auf einem Stein vorstellen wollen, dieselbe nakend abbilden, damit die Bemühungen der Weisheit, welche die Natur in der Bildung, und die Bemühungen des Fleisses, welche die Kunst, die mit der Natur eifert, bey der Nachahmung zum Zwek gehabt hat, zugleich miteinander in das Gesicht fallen, und so endlich die unverwandten Augen geweidet, und die Gemüther mit einem angenehmen Vergnügen gesättiget werden. Da wir, meine wertheste Zuhörer! die Gründe der Sinesischen Weltweisheit, welche von jedermann durch so viele Jahrhunderte hindurch bewundert worden sind, in etwas genauer untersuchen wollen, so haben wir einen Prüfestein vonnöthen, damit wir das Wahre von dem Falschen unterscheiden, und ein jegliches nach seinem rechten Werth beurtheilen können. Wir wissen, daß die Weisheit nichts anderst als eine Wissenschafft der Glükseeligkeit seye, welcher niemand theilhafftig seyn kan, als der sich in einem wohl eingerichteten Staat der guten Sitten befleissiget. Es wird demnach niemand unter uns läugnen, daß diejenige für ächte Gründe der Weisheit zu achten seyen, welche mit der Natur des menschlichen Verstandes überein kommen, und diejenigen als Falsche verworffen werden müssen, welche der Natur des menschlichen Verstandes zuwider sind. Dann gleichwie der Grund von allem demjenigen, welches entweder in den Dingen, oder von ihnen nur einigermasen herkommen, von dem Wesen und der Natur derselben hergeleitet werden muß; also kan man auch den Grund von Dingen, die von unserm Verstande abhangen, nirgends anders, als aus der Beschaffenheit unseres Verstandes herleiten. Ja wenn einer einem andern etwas zu thun befehlen wollte, welches in dem menschlichen Verstande nicht gegründet wäre; so würde man von ihm sagen, daß er einen Menschen zu etwas verbinde, welches unmöglich ist. Es ist mir zwar nicht unbekannt daß Männer, die mehr als menschliche Weisheit besizen, und welche wir als Gottesgelahrte verehren, mit gutem Grunde behaupten, daß man durch die Gnade GOttes auch Dinge verrichten könne, welche die Kräffte der Natur weit übersteigen. Ob nun aber schon das, was die von oben mit Göttlichem Lichte erleuchtete einsehen, auch allerdings mit der Wahrheit der Sache übereinstimmen muß: so streitet dieses doch keinesweges wider dasjenige, was ich behaupte. Denn da die Seele des Menschen der Göttlichen Gnade fähig ist, da sie sonsten derselben, wann sie ihr angeboten würde, nicht theilhafftig werden könnte: so muß in ihrem Wesen und in ihrer Natur Selbsten ein Grund enthalten seyn, warum sie dasselbige an sich nehmen kan, es mag auch für einer seyn, was es für einer immer seyn will. Es ist also der menschlichen Natur gemäs daß die Kräffte der Natur durch die Krafft der Gnade erweitert, und zu einem höhern Grad getrieben werden. Sie mögen dahero den Prüfestein zu den Gründen der Weisheit entweder selbsten abgeben oder nur einrichten: so kan ich dem ohngeachtet die Uebereinstimmung derselben mit der Natur des menschlichen Verstandes behaupten, daß wir nehmlich dasjenige als wahr annehmen, dessen Grund daher geleitet werden kan, und dasjenige als falsch verwerffen, davon kein Grund in demselben enthalten ist. Nach diesem Prüfestein sind die Gründe der Sinesischen Weisheit nicht zu verachten. Dan erstlich ist vor allem zu merken, daß die Sineser keine menschliche Handlungen zu unternehmen befohlen, und von den Uebungen in den Tugenden und Sitten nichts ausgemachet haben, als was ihrem Einsehen nach, mit der menschlichen Vernunfft auf das genaueste überein kam. Wir haben uns dahero nicht zu wundern, daß alle ihre Unternehmungen so glüklich von statten gegangen sind, da sie nichts unternommen haben, als was in der Natur gegründet gewesen war. Diejenigen, welche die sittlichen Dinge tiefer einsehen, erkennen sehr wohl und deutlich, daß die menschliche Handlungen, ob sie schon dem Geseze gemäs sind, dennoch verschiedene Bewegungsgründe haben. Dann entweder stellet sich das Gemüth die Veränderung des menschlichen Zustandes, sowol des innern, als des äusern vor, welche aus der Handlung erfolget; oder es bedienet sich zu Bewegungsgründen, der Eigenschafften und Vorsehung ja auch der Hoheit und Majestät GOttes; oder es geben ihm die Wahrheiten, die von GOtt geoffenbahret worden, und von Natur unbegreifflich sind, als diejenige, welche wir von dem Heylande und Erlöser des menschlichen Geschlechtes, als den Grund unseres Gottesdienstes annehmen, Bewegungsgründe ab. Wer die Handlungen nach dem Erfolg beurtheilet, richtet seine Handlungen nur blos nach der Vernunfft ein, und die Tugenden, die er liebet, sind blos den Kräfften der Natur zuzuschreiben. Wer durch eine nur nach dem Lichte der Vernunfft angestellte Betrachtung der Göttlichen Eigenschafften und Vorsehung GOttes zu einer Handlung geleitet wird, desselben Tugenden entspringen aus einem natürlichen GOttesdienst. Wer endlich durch die göttlich geoffenbahrten und von Natur unbegreifflichen Wahrheiten, etwas zu thun angetrieben wird, desselben Tugenden sind nur den Kräfften der Gnade zuzuschreiben. Die alten Sineser, von welchen ich rede, die, da sie nichts von dem Urheber aller Dinge wusten, auch einen natürlichen Gottesdienst, noch vielweniger einige Spuren der göttlichen Offenbahrung hatten, konnten also keine andere, als nur natürliche Kräffte, welche sich auf keinen Gottesdienst gründen, zur Beförderung der Ausübung der Tugend gebrauchen. Daß sie aber derselben sich mit grosem Nuzen bedienet haben; wird so gleich mit mehrern dargethan werden. Sie haben also nicht auf die Unvollkommenheiten des menschlichen Verstandes, aus welchem als aus einer Quelle, Laster, Schand- und Uebelthaten herzurühren pflegen, gesehen: sondern nur auf dessen Vollkommenheit ihr Augenmerk gerichtet, damit sie ihre natürlichen Kräffte erkennen, und was ihnen nur nach denselben möglich wäre, erlangen möchten. Es werden zwar einige die Sineser tadeln, daß sie die menschliche Unvollkommenheit nicht genau erwogen haben, und daß sie nicht darum bekümmert gewesen sind, um der Krankheit ihres Gemüths abzuhelffen, die Laster zu fliehen. Es ist aber das Gemüth ganz anders als der Leib beschaffen, und man kan nicht allezeit von den Krankheiten dieses auf die Schwachheiten von jenem einen sichern Schluß machen. Wer die Tugend lernet, der wird durch eben diese Bemühung sich die Laster abgewöhnen, denn die Tugenden sind den Lastern zuwieder, und können nicht beyde zugleich statt finden. Wo eine Tugend zugegen ist; da ist das ihr entgegengesezte Laster nicht vorhanden. Und gleichwie die Erkänntniß der Tugend allezeit sehr vortheilhafft ist, also gereichet die Unwissenheit derselben mehrentheils zum Schaden. Daher bringet im Gegentheil die Unwissenheit der Laster einen beständigen Nuzen, und ihre Erkänntniß ist offtermahls schädlich. Demnach haben die Sineser nicht allzugroses Unrecht, daß da sie sich wenig um die Schändlichkeit der Laster bekümmert, sie vornehmlich dahin getrachtet haben, daß die Ausübung der Tugend mehr und mehr empor kommen, allen aber gänzlich verborgen bleiben möchte, was ein Laster sey. Und hierinnen haben sie den verständigen Vernunfftlehrern nachgefolget, welche wenig um die Vermeidung der Vorurtheile bekümmert sind, sondern vielmehr auf die Kräffte des Verstandes dringen, und zu untersuchen pflegen, wie sie dieselben zur Erforschung der Wahrheit anwenden können, da sie versichert sind, daß so dann keine Vorurtheile herrschen, wo man das Wahre von dem Falschen deutlich unterscheidet; daß man aber vergebens die Vorurtheile zu fliehen gebiete, wo die Kräfte das Wahre zu erkennen, annoch fehlen. Daß die menschliche Seele einige Kräffte so wohl gute Handlungen zu verrichten, als Böse zu unterlassen besize; wird, wie ich dafür halte, niemand leugnen. Denn es ist ohnedem bekannt, daß dieses die natürliche Beschaffenheit desselben seye, daß sie nichts verlanget, als was sie für gut erkennet, und hingegen nichts verabscheuet, als was sie für böse angesehen hat: dahero andere schon längstens angemerket haben, daß wenn es sich zuweilen zutragen sollte, (welches leyder offt zu geschehen pfleget), wenn man etwas Böses erwehlet, welches gut zu seyn scheinet; das verworffen werde, welches das Ansehen hat, als wäre es böse. Denn die Erfahrung lehret uns, daß Menschen, die nach ihren Empfindungen gehen, das Gute, nach den Vergnügen, welches sie darnach geniesen, und das Böse nach den Schmerzen und Verdruß, womit sie belästiget werden, beurtheilen. Da also die Empfindungen nur das Gegenwärtige fürstellen, das Zukünfftige aber weit von ihnen entfernet bleibet; so vermischen sie das Vergängliche mit dem Unvergänglichen, und ziehen die Scheingüter den wahren Gütern vor, ja sie tragen öffters vor wahren Gütern einen Abscheu, weil sie erst in der zukünfftigen Zeit ihnen ein Vergnügen erweken, welches sie noch nicht voraus empfinden. Wer also diese gefährliche und unglükseelige Wege vermeiden will, der muß auf das Zukünfftige sehen, und nach denselben den Befehl der menschlichen Handlungen und Verrichtungen beurtheilen. Der Verstand hat ein Vermögen das Gute von dem Bösen, und das Böse von dem Guten zu unterscheiden, desgleichen auch die Finsterniß, welche die Empfindungen im Verstande verursachen, zu vertreiben. Die Handlungen sind nehmlich entweder gut oder böse, in so fern sie diese oder jene Veränderung in unserm Zustand zuwege bringen: Eine geübte Vernunfft aber siehet die Veränderungen zum Voraus, welche aus den Handlungen, die man entweder vorgenommen oder unterlassen hat, entstehen. Da dasjenige, was gut ist, unsern Zustand keinesweges unglüklich machet, sondern denselben vielmehr in Ruhe und Friede versezet; das Böse aber, alles verwirret, das Oberste mit dem Untersten vermischet, ja beständige Unruhen zu erweken pfleget: so wird das Gemüthe, welches beydes zum Voraus siehet, durch den Erfolg der guten Handlungen vergnüget; die Bösen aber bringen in ihnen einen Ekel und Mißfallen hervor, so lange es nach seiner Vernunfft urtheilet. Dahero haben wir einen Antrieb in uns, nach dem Guten, das wir erkennen, zu streben, und das Böse, dessen Schändlichkeit wir wahrnehmen, zu fliehen. Damit wir nun des Vorsazes eingedenk seyn, und dabey beständig verharren können, so erstreket sich solches niemahls über die Kräffte des Gedächtnisses und der Vernunfft, welche auf das genaueste mit einander verbunden sind: wie ich an einem andern Ort weitläufftiger erkläret habe. Da also ein Mensch nach dem Gebrauch seiner natürlichen Kräffte das Gute und Böse unterscheiden, durch jenes vergnügt, und durch dieses mißvergnügt werden, und seines Vorsazes eingedenk seyn kan: so sehe ich nicht, Wie einer läugnen wolte, daß einige Kräffte der Natur, zur Ausübung der Tugend und Vermeidung der Laster hinlänglich wären. Und weil die Sineser, welche ihre Kräffte auf keine andere Art gebrauchen konnten, einen vortrefflichen Ruhm der Tugend und Klugheit sich erworben haben; so haben sie mit ihrem Beyspiel hinlänglich gezeiget, daß der Gebrauch dieser Kräffte nicht vergebens gewesen seye. Gleichwie es aber höchst unbedachtsam, verwegen und gefährlich gehandelt ist, wenn man den Verstand in Untersuchung der Wahrheit Gränzen sezen wollte: Also würde auch derjenige sehr kühn und unbesonnen verfahren, welcher die Kräffte der Natur Gutes auszuüben, einzuschrenken suchte. Dann ob man schon, wann man vornehmlich zu einer nähern Erkänntniß des menschlichen Verstandes gelanget ist, darthun kan, wie weit es die Sineser gebracht haben, indem man ihre Jahrbücher, darinnen das Leben und die Thaten ihrer ersten Kayser und Könige beschrieben worden sind genau durchgehen kan: so ist doch gewiß, daß sie es keinesweges zu der grösten Vollkommenheit gebracht haben, und wird dahero niemand behaupten, daß man nicht weiter gehen solle, als sie gekommen sind. Wir gehen dahero zur gegenwärtigen Sache selbst, und bekümmern uns nicht darum, wie weit wir fortgehen sollen, sondern wollen vielmehr sehen, wie weit es zu kommen möglich ist. Es stimmet dieses mit der Gewohnheit der alten Sineser ganz genau überein, welche sich sowol in ähnlichen als unähnlichen Fällen nach dem Beyspiel ihrer Vorfahren gerichtet und gelehret haben, daß man nur bey der grösten Vollkommenheit, das ist, niemahls bey etwas stehen bleiben solle. Hier sehen sie also, hochzuehrende Zuhörer! die Quelle, aus welcher die Sineser ehedem ihre Weisheit und Klugheit hergeleitet haben. Wir müssen aber auch, (welches vornehmlich unser Vorhaben ist) den Ausfluß aus derselben betrachten, damit wir die Reinlichkeit und Lauterkeit des Wassers, auch in seinem Strom, darinnen es fortläuffet, um desto besser erkennen können. Es träget der Unterscheid zwischen dem obern und untern Vermögen der Seele zur Tugend ein groses bey, welches auch einigen Alten bekannt, aber nicht faßlich u. deutlich genug gewesen ist. Zu den untern Vermögen rechnet man die Empfindung, die Einbildung und die Begierde, das ist, alles was in den Vorstellungen undeutl. vorkommt, und von diesen, in soferne sie undeutlich sind, abhanget: zu dem obern Theil aber gehöret der Verstand, (welcher um die zweyfache Bedeutung des Worts, die durch die verschiedene Art zu reden entstanden ist, aufzuheben bisweilen der reine Verstand (intellectus purus) genennet zu werden pfleget), die Vernunfft und der freye Wille, oder mit einem Worte, alles was in den Vorstellungen deutliches gefunden, und aus denselben in so fern sie deutlich sind, hergeleitet wird. Wer nur bey einer undeutlichen Erkänntniß der Dinge stehen bleibet, und durch keine andere, als die von den Weltweisen so genannte sinnliche Begierde, und durch die daraus entstandenen Gemüthsbewegungen, zu Handlungen angetrieben wird; der bringt sich eine Gewohnheit Gutes zu thun zu wege, aus welcher die Furcht vor einen Oberherrn meistentheils erhalten werden muß, damit sie nicht bey Gelegenheit durch das Gegentheil aufgehoben wird. Und in diesem Zustande ist der Mensch von dem Vieh nicht unterschieden, welches zwar die Vernunfft keinesweges gebrauchen kan, aber doch eine Empfindung und die daraus entstehende sinnliche Begierde hat. Wie man also unvernünfftige Thiere zu gewissen Handlungen anzugewöhnen pfleget, also gewöhnen sich auch Menschen in eben solchem Zustande, Handlungen, die in unserer Willkühr stehen, vorzunehmen. Diejenigen aber, welche sich eine deutliche Erkänntniß der Dinge zuwege zu bringen suchen, und durch diejenige Begierde, welche die Weltweisen die vernünfftige nennen (appetitum rationalem) zu etwas gutes angetrieben werden, die lenket ihr freyer Wille zu guten Handlungen, und die haben nicht nöthig aus Furcht eines Obern in dem Guten zu beharren, weil sie den innern Unterschied des Guten und Bösen erkennen, und andern, wenn es die Noth erfordert, hinlänglich erklären können. Die Wahrheit zu sagen, so weis ich niemand, der dieses bey der Einrichtung der menschlichen Sitten so genau beobachtet hätte, als die Sineser. Als die Sineser unter den Kaysern, welche anfangs angeführet worden sind, so glükseelige Zeiten genossen; so hatten sie an allen Orten des Reiches in China zwey Schulen angerichtet. Die eine nenneten sie die Schule der Kleinern, welche sich auf den untern Theil der Seele gleichsam gründete: die andere aber wurde die Schule der Gröseren (schola adultorum) genannt, welche mit dem obern Theil der Seele gänzlich beschäfftiget war. Und dieses war der Grund, warum die Knaben von acht biß funffzehn Jahren alt, in die Schule der Kleineren giengen, weil sie ihren Verstand noch nicht gebrauchen konnten, und also nur durch sinnliche Vorstellungen musten gelenket und regieret werden; keiner aber vor dem funffzehenden Jahr in die Schule der Grösern angenommen wurde, damit wenn sie ihre Vernunfft gebrauchen lerneten, auf höhere Dinge denken möchten. Und das war eben auch die Ursache, warum alle und jede ohne Unterschied, sowol Kayserliche und Königliche Prinzen, als auch anderer vornehmen und geringen Leute Kinder in die Schule der Kleinern kommen konnten. In der Schule der Gröseren aber keiner angenommen wurde, als der aus einem Kayserlichen, Königlichen und sonst einem vornehmen Geschlecht herstammte, oder auch einer vom gemeinen Volke, der aber mehr Verstand, Urtheilungskrafft und Fleis als die andern bey sich verspüren lies. Weil die Kinder in der Schule der Kleinern zu guten Sitten angewiesen wurden, die darinnen erlangte Gewohnheit Gutes zu thun aber nicht anderst als durch Furcht vor einen Obern erhalten werden konnte; so war dasjenige, was sie daselbst gelernet hatten, keinesweges hinlänglich, dermaleinsten einem Reich vorzustehen, oder ein ungehorsames Volk regieren zu können: denn die Regenten in China erkennen keinen vor ihren Oberherrn, der ihnen Geseze vorschreiben könnte; die Sineser aber selbsten wollten lieber in Freyheit leben, als sich von sndern beherrschen lassen. Weil sie nun also in der Schule der Grösern unterwiesen wurden, wie sich ein jeder selbsten regieren müsse, damit er freywillig dasjenige unternähme, wodurch er sich Lob erwerben könnte, dasjenige aber ohne Zwang unterlasse, was ihm zur Schande gereichen mögte: so wurden in dieser Schule solche Personen erzogen, welche entweder ohne einem andern unterthänig zu seyn, dermahleinstens andere beherrschen, oder wenn sie auch noch einen Höhern über sich erkennen musten, sich dessen Gesez aus eignem freyen Triebe gemäs verhalten sollten. Diejenigen aber im Gegentheil, welche die Geburth schon zur Dienstbarkeit bestimmet hatte, wurden von dieser Schule zurük gehalten, sowol weil sie nach ihrer Einfalt dasjenige nicht verstanden, was zur Beherrschung seiner selbst erfordert wurde, als auch weil sie als Unterthanen eines andern, sich selbsten zu regieren nicht nöthig hätten, weil sie ohnedem zum Gehorsam geneigt wären. Alle Unternehmungen der Sineser hatten zu ihrem Ziel und Endzwek eine gute Regierung, damit nehmlich alle und jede, die sich in diesem wohl eingerichteten gemeinen Wesen befänden, glükseelig seyn möchten. Dahero wurden sie in der Schule der Kleinern zur Unterthänigkeit, in der Schule der Grösern aber zur Regierung zubereitet, so daß nehmlich, wie erst gedacht wurde, diejenigen, die zur Knechtschafft gebohren waren, ihren Vorgesezten Gehorsam leisten, die Regenten aber nur heilsame Dinge zu verrichten anbefehlen, und andern mit ihrem Exempel fürgehen, die aber welche von der Regierung ausgeschlossen und zu den Unterthanen gerechnet worden sind, alles was ihre Oberherren befehlen würden, aus eigenem Trieb verrichten sollten. In der Schule der Kleinern wurde also besonders auf die Hochachtung gegen Eltern, alte Leute und Vorgesezte gedrungen, und ihnen in ihrer zarten Jugend die Geseze der Bescheidenheit und Unterthänigkeit eingeschärffet. In der Schule der Grösern aber wurden die Gründe der Dinge entdeket, und heilsame Regeln so wol sich als andere zu beherrschen vorgeleget. In beyden Schulen aber wurde von den Lernenden nicht mehr gefordert, als was sie in ihrem Leben gebrauchen könnten. In beyden Schulen bemüheten sich auch nicht nur die Lernenden, daß sie dasjenige, was sie selbsten zu thun hatten, wohl einsehen mochten, sondern sie wendeten auch alle ihre Kräffte des Leibes und des Verstandes dazu an, daß sie dasjenige, was sie erkannt hatten, auch würklich bewerkstelligen möchten. Dieses war die Beschaffenheit dieser beyden Schulen, da das gemeine Wesen der Sineser in seiner goldnen Zeit blühete, und sowol die Regenten als auch Eltern ihrem Amt und Pflichten sich gemäs bezeigten. Und nach meinem Urtheil sind die Sineser auch hierinnen besonders zu loben gewesen, daß sie bey Erlernung der Wissenschafften jederzeit eine gewisse Absicht sich zum Grunde gesezet, und nichts verabsäumet haben, was zur Erlangung derselben beförderlich hat seyn können. Nicht geringeres Lob scheinen sie auch dadurch sich erworben zu haben, daß sie ihre erlernte Wissenschafften auch sich zu Nuze zu machen suchten, und dabey weiter auf nichts ihr Absehen richteten, als was zur Erlangung ihrer Glükseeligkeit etwas beytragen konnte; welches die Ursache war, daß niemand in dieser so geseegneten Zeit in ganz China anzutreffen war, der sich nicht, so weit es sein Verstand zulies, und es die übrige Beschaffenheit seines Lebens erforderte, auf die Erlernung der Wissenschafften geleget hätte. Ja auch hierinnen verdienen die Sineser gelobet zu werden, daß sie nicht allein Sittenlehren vorgeschrieben, sondern ihre Schüler auch in der Tugend geübet, und ihre Sitten eingerichtet haben. Wir wollen aber noch deutlicher wahrnehmen, wie weit es die Sineser in der Erkänntniß und Ausübung des Guten gebracht haben. Der Jesuit Franz Noel, der eine sehr weitläufftige Gelehrsamkeit besessen und das Lob eines sehr ehrbaren Lebens sich erworben hatte, hat, nachdem er mehr als zwanzig Jahre mit der Besserung der vornehmsten Bücher des Sinesischen Reiches ganz besonders beschäfftiget gewesen, dieselben endlich in das Lateinische übersezet, und vor ohngefehr zehn Jahren zu Praag herausgegeben. Unter diesen erscheinet zum ersten das unschäzbare Büchlein, welches Confuz verfertiget hat, darinn die Lehre enthalten ist, welche die Erwachsenen zu erlernen haben, und die Schule der Grösern oder Erwachsenen genennet wird. Ich habe oben gesagt, daß Confuz nicht etwas Neues erfunden, sondern das Alte nur verneuert habe: dahero kan man in diesem Buch die ächten Gründe der Sinesischen Weisheit finden. Die Sineser drungen also darauf, daß die Vernunfft vor allen Dingen geübet werden möchte, indem einer zu einer deutlichen Erkänntniß des Guten und Bösen gelangen müsse, der sich ohne Furcht vor den Obern und ohne Hoffnung von denselben eine Belohnung zu erhalten, der Tugend widmen wollte, man aber keinesweges zur vollkommenen Erkänntniß des Guten und Bösen gelangen könne, wo man die Beschaffenheit und Gründe der Dinge nicht genau untersuchet habe. Und ein Schüler von dem Confuz, Tsem tsu, der für andern sich herfür gethan hat, beweiset aus den Kayserlichen Jahrbüchern, daß die vornehmsten Weisen vornehmlich dahin gesehen hätten, daß die Vernunfft von Tag zu Tag möchte vollkommener gemachet werden. Und dieses behaupteten sie mit gutem Grunde. Denn sie erkannten, daß ein Mensch der freywillig etwas thut, er mag nun entweder keines andern Botmäsigkeit unterworffen seyn, oder wenn er wieder Willen unterthänig ist, sich lieber in die Freyheit wünschen, das Gute nicht ausübe, und das Böse nicht vermeide, wo nicht vorhero die Begierden in der Seele, und die Bewegungen des Herzens so mit denselben in dem Leibe übereinstimmen, in Ordnung gebracht worden sind; und daß ferner die Begierden in der Seele und die Bewegungen des Herzens in dem Leibe nicht können in Ordnung gebracht werden, wo nicht der Mensch in der Liebe zum Guten und in dem Haß gegen das Böse bestärket werde; daß die Liebe zum Guten, und der Haß gegen das Böse nicht statt finden könne, woferne einer nicht eine vollkommene Erkänntniß des Guten und Bösen, und zwar durch einen Vernunfftschluß in der Seele erlanget hätte; und daß endlich keine vollkommene Erkänntniß des Guten und Bösen durch einen Vernunftschluß erlanget werde, wo man nicht die Beschaffenheit u. Gründe der Dinge genau untersuchte. Sie bewiesen zwar dieses nicht mit vielen zusammenhangenden Gründen, indem sie keine deutliche Erkänntniß der Dinge hatten, welche auch heut zu Tag noch den meisten fehlet. Sie gründeten sich aber auf eine lange Erfahrung in Behauptung dessen, was sie in der Jugend durch die scharffsinnige Betrachtung der Beyspiele so vortrefflicher Helden erlanget, und was sie selbsten bey der Ausübung der Tugend an sich wahrgenommen hatten. Wer wird aber dasjenige in Zweiffel ziehen, was durch eine so vielfache Erfahrung ist bestättiget worden, da ich vornehmlich oben schon gezeiget habe, daß man bey keinem Volk in dieser Sache seine Versuche besser anstellen könne, als bey den alten Sinesern, welche weder einen natürlichen noch geoffenbahrten Gottesdienst gehabt, und niemals auf äuserliche Gründe gesehen haben. Dann weil nur die innern Bewegungsgründe, welche aus der Beschaffenheit der menschlichen Handlungen selbst hergeleitet worden sind, bey ihnen statt hatten; so konnte man aus ihrem Beyspiel deutlich wahrnehmen, wie weit es jene bringen können. Da ich von der Sinesischen Weisheit noch gänzlich nichts wüste, sondern von Natur auf die Beförderung der menschlichen Glükseeligkeit bedacht war, habe, da ich noch sehr jung war, und zwar mit gutem Fortgang (ohne Ruhm zu gedenken,) schon angefangen dem Thun und Lassen der Menschen weiter nachzudenken, welches diejenige Schrifft bezeugen kan, welche ich vor vielen Jahren auf einer benachbahrten und vortrefflichen hohen Schule statt einer Probe, von der allgemeinen ausübenden Weltweisheit der öffentlichen Prüfung der Gelehrten mit geziemender Bescheidenheit unterworfen habe. Wie ich zu mehrern Jahren gekommen bin, und meine Beurtheilungskrafft und Scharffsinnigkeit reiffer und gröser worden ist, habe ich eben dieses tieffer eingesehen, und aus den innersten des menschlichen Verstandes hergeleitet, was zu einer weisen Regierung der menschlichen Handlungen gehöret. Ob nun aber schon die Sinesischen Erfindungen nichts zu den meinigen haben beytragen können, indem sie mir meistens unbekannt waren; so dienten mir doch meine Erfindungen, welche ich durch eignes Nachdenken herausgebracht hatte, darzu, daß die Erfindungen der Sineser desto genauer einsehen lernete. Denn da der bereits oben erwehnte Uebersezer der vornehmsten Bücher des Sinesischen Reiches, ein Mann von einem sehr scharffen Verstand und groser Beurtheilungskrafft, mehr als zwanzig Jahre mit der Durchlesung derselben zugebracht, und seinen möglichsten Fleis angewendet hatte, daß er den richtigen Verstand, welcher, wie er selbsten bekennet, an manchen Orten sehr schwer und dunkel ist, deutlich genug erkennen möchte; so hat er endlich in der Vorrede der Uebersezung dieses Urtheil gefället, daß in denselben nicht eine verborgene und hohe Wissenschafft, sondern nur eine gemeine Tugend- u. Sittenlehre, eine Einrichtung des Hauswesens, und eine Staatsklugheit enthalten seye, so daß ihn nicht sowol die Vortrefflichkeit des Innhalts und der Sache selbst, als die vielen Leute, welche damit beschäfftiget sind, zu dieser Uebersezung angetrieben haben, welche von so vielen unternommen, aber in mehr als hundert Jahren, seit dem die Sinesische Mißion ihren Anfang genommen hatte, nicht zu Stande gebracht worden ist. Ich aber, da ich diese Bücher kaum so beyläuffig betrachtete, habe alsobald wahrgenommen, daß eine höhere Weisheit darinnen verborgen liege, ob es schon Kunst braucht, dieselbe heraus zu suchen: denn ich habe wahrgenomen, daß diejenigen Dinge, welche dort in sehr groser Unordnung erscheinen, in dem allerschönsten Zusammenhang mit einander verbunden seyen, in so ferne man sie genauer erweget, und daß dasjenige, was ohne einigen beygefügten Grund behauptet worden ist, mit der Vernunfft auf das genaueste überein komme wo man es gehörig prüfen würde. Ich hatte auch gefunden, daß dasjenige wahr seye, was von den Alten behauptet wird, daß wenn einer blos aus natürlichen Kräfften, nicht aus Gewohnheit, noch Furcht vor einem Obern, sondern nach seinem freyen Willen und mit Vergnügen sich der Tugend befleisigen soll, er von der Verbesserung seines Verstandes anfangen müsse, und daß derjenige auf diese Wahrheit komme, welcher die Beschaffenheit des menschlichen Verstandes genau erweget. Hievon habe ich, wo ich nicht irre, bewiesen, daß es der Probierstein der sittlichen Wahrheiten sey. Denn die Tugend ist im Verstande nicht im Leibe zu finden, ob schon die tugendhaften Handlungen sich darinn äusern. Die äuserliche Verrichtungen müssen mit den Begierden der Seele überein kommen, die Begierden aber entstehen aus den Bewegungsgründen, die Bewegungsgründe eines gegenwärtigen Falles bestehen in der Erkänntniß des Guten und Bösen; das Gute und Böse wird aus der Vollkommenheit und Unvollkommenheit unseres Zustandes erkannt; die Empfindung der Vollkommenheit bringet Vergnügen, die Empfindung der Unvollkommenheit Verdrus; Wer ein Vergnügen aus dem Guten empfindet, der liebet das Gute. Wer durch etwas Böses misvergnüget wird, der hasset das Böse. Ein jeder siehet also, daß alle Dinge aus einer deutlichen Erkänntniß des Guten und Bösen herrühren, und daß durch die Schärffe des Verstandes der Wille gebessert werde. Dieses ist der Natur des Verstandes gemäs, stimmet mit den Gründen der Sineser überein, und ist durch so viel herrliche Versuche von den Sinesern bestättiget, ob gleich nicht von allen gebilliget worden, da man den obern Theil der Seele von dem untern Theil derselben insgemein nicht genug unterscheidet, welchen Unterschied die Sineser doch auf das genaueste beobachtet haben. Es erforderten aber die Sineser, daß einer erst sein Thun und Leben recht einrichten müsse, ehe er einen Hausvater abgeben wolle; daß er erst sein Haus wohl regierte, ehe er zum obersten Regimente angenommen werden könnte. Und nach meiner Meynung hatten sie hierinnen nicht unrecht gethan. Denn wie kan einer ein Hauswesen führen, der sich selbst nicht genug zähmen kan. Wie will einer viele regieren können, der nicht einmahl sein Hauswesen, das ist, die wenigen recht zu beherrschen im Stande ist, welche er doch auf das genaueste kennet? Es kommet noch dieses hinzu, daß wenn einer andere beherrschen will, er mit seinem Beyspiel auch lehren müsse, daß dasjenige geschehen könne, was er zu thun befiehlet, und daß es zu dem Ende befohlen werde, weil es als ein Mittel zur Erlangung der Glükseeligkeit anzusehen ist. Es war aber den Sinesern nicht genug, daß man sich nur selbsten bemühen solle, tugendhafft zu leben, und die Laster zu fliehen; sondern man sollte sich auch die äuserste Mühe geben, es dahin zu bringen, daß auch andere die Laster vermeiden, und der Tugend sich ergeben möchten. Dahero war dieses auch einer von den vornehmsten Gründen der Weisheit der Sineser mit, daß, wenn sie im Guten einen glüklichen Fortgang verspürten, sie sich auch andere ihnen gleich zu machen höchstens angelegen seyn liesen. Diejenige Scharffsinnigkeit, welche sie erlanget hatten, waren sie bemühet auch andern beyzubringen: die Erkänntniß des Guten und Bösen, die bey ihnen anzutreffen war, suchten sie auch andern zu verschaffen: dasjenige Vergnügen, dessen sie theilhafftig worden, sollten auch andere geniesen: was ihnen angenehm und unangenehm vorkam, sollten auch andere lieben und hassen: und sie gaben sich endlich alle ersinnliche Mühe, daß andere auch denjenigen Ruhm erlangen möchten, dessen sie sich selbsten bereits in Ansehung ihrer Tugend zu erfreuen hatten. Dahero giengen die Kayser und Könige dem Volk, die Hausväter ihrem Haus, und die Eltern ihren Kindern mit guten Beyspielen vor, und waren denen zu grosem Nuzen, welche man nicht, nach der Vernunfft regieren konnte. Dieses aber schärfften die Sineser vornehmlich ein, daß man, wo man entweder sich, oder andere zu bessern hat, nur bey der grösten Vollkommenheit, und da man dieselbe nicht erreichen kan, gar niemahls stehen bleiben sollte: sondern vielmehr je mehr und mehr weiter fortzugehen trachten, damit wir sowol als auch andere zu einem grösern Grad der Vollkommenheit gelangen möchten. Die Sineser richteten also alle ihre Handlungen zu ihrer und anderer grösesten Vollkommenheit als dem Hauptendzwek ein: In welcher Einrichtung, wie ich längstens schon erwiesen habe, das ganze natürliche Recht, ja was sonst nur in unsern Handlungen einiger masen lobenswürdig zu seyn scheinen mag, enthalten ist. Sie mögen zwar so viel man siehet, keinen deutlichen Begriff von der Vollkommenheit gehabt haben, da sie vielmehr das genaue Band, durch welches die Handlungen die zu der Vollkommenheit des menschlichen Zustandes abzielen, mit einander vereiniget werden, und welches von mir an das Licht gebracht worden ist, keinesweges einsehen, und die Vollkommenheit nur als einen Grad der Tugend einig und allein beurtheilet zu haben, scheinen; wenn man aber doch so wol die Regeln als Beyspiele welche in ihren vornehmsten Büchern hier und dar von ihrem Thun und Lassen vorkommen, genau untersuchet, so scheinet es, daß sie doch davon einen undeutlichen Begriff gehabt haben. Und was wollen wir uns darüber wundern, da sie auch in den übrigen Dingen, die ich deutlicher erkläret habe, keine deutliche Begriffe hatten. Dieses war auch die Ursache, warum der Uebersezer nach so viel angewandter Zeit und Mühe nicht hat erkennen lernen, was die Sinesischen Weltweisen haben sagen wollen. Man kan nicht allezeit sogleich aus den blosen Worten abnehmen, was für undeutliche Begriffe mit den Worten verbunden werden müssen: aber diejenigen, welche sie aus der Undeutlichkeit heraus gebracht haben, müssen es durch Muthmasungen meistentheils herausbringen, welche undeutliche Begriffe mit den deutlichen einerley seyen. Daß das höchste Gut der Menschen in einem ungehinderten Fortgang täglich zu grösern Vollkommenheiten bestehe habe ich an einem andern Ort, dargethan. Weil nun die Sineser dieses so sehr einschärften, daß man auf dem Wege der Tugend beständig weiter fortgehen und bey keinem Grad der Vollkommenheit stehen bleiben müsse, als bey dem höchsten, welchen doch wohl keiner erreichen kan; also haben nach meiner Einsicht, auch ihre Weltweisen diese Meynung gehabt, daß der Mensch nicht könne glükseeliger werden, als wenn er von Tag zu Tag zu mehrern Vollkommenheiten zu gelangen suchet. Damit sie aber mit desto gröserer Begierde nach diesem Ziel streben möchten, so wurden sie eben dadurch, wodurch die Gelehrten insgemein zu herrlichen Unternehmungen in einer jeden Art der Gelehrsamkeit gereizet werden, auch angetrieben, nehmlich durch den Ruhm der Wohlthaten, welcher, ob er schon sehr schwer zu erlangen ist, doch diejenigen, welche sich darum bemüheten, stärkte. Wir sehen also, daß die Sineser die so herrliche Beyspiele ihrer Kayser und Weltweisen zu Regeln angenommen haben, damit sie auch andere zu gleichen herrlichen Uebungen antreiben möchten. Denn diejenigen, welche sich durch die Ruhmbegierde treiben lassen, bemühen sich möglichst es andern, die sich durch ihre Verdienste berühmt gemacht haben, gleich zu thun, oder dieselben gar zu übertreffen. Ich habe aber eine ganz besondere Art wahrgenommen, deren sich die Sinesischen Weltweisen bedienet haben, wenn sie ihre Schüler zur Nachfolge solcher herrlichen Thaten haben anfrischen wollen. Von Personen, deren Verdienste sehr hoch gehalten wurden, erzehleten sie ihren Schülern ganz seltsame Dinge, daß sie mit einer erstaunenden Bewunderung nachdachten, was dieselben doch zu einer solchen Unternehmung müsse bewogen haben: wenn sie nun lange genug nach dem Grunde geforschet, denselben aber doch nicht eingesehen hatten, so erkläreten sie ihnen endlich auch diesen, und reizten sie also zur Nachfolge in ähnlichen Fällen an. Mich dünket, ich höre einige strenge Sittenlehrer mit einem Murren einwenden, daß die Sineser nur aus Ehrgeiz etwas verrichtet hätten, was dem äuserlichen Ansehen nach den Schein der Tugend hätte, von der wahren Tugend aber so weit entfernet gewesen wären, daß man mit Recht behaupten könne, ihre Handlungen seyen mit Lastern befleket gewesen. Aber diese guten Leute mögen es mir nicht übel nehmen, daß ich ihnen keinen Beyfall geben kan. Mit dem Ehrgeiz muß man die Ruhmbegierde nicht vermengen, als welche die Dinge, wie ich an einem andern Ort gezeigt habe, sehr weit von einander unterschieden sind. Wer wird wohl an einem, der etwas Gutes thut, mit Recht tadeln, daß er sich über den Genuß dessen, da er sich seiner guten Handlungen bewust ist, erfreuet? Wer mißbilliget es, daß man sich alle ersinnliche Mühe in Einrichtung seiner Handlungen gebe, damit die Abgünstigen nichts daran auszusezen finden mögen, andere aber dieselbigen loben, und ihnen nachfolgen können? Wer kan das als etwas Unrechtes tadeln, daß die Tugend durch ihre Vortrefflichkeit sich andern gefällig gemachet hat, so daß wir es für lobenswürdig halten, mit derselbigen geschmüket zu seyn, aber es für schimpflich erachten, wenn es an derselbigen mangelt? Wer weis dann auch ferner nicht, daß die Handlungen an sich gut sind? Wem ist es wohl unbekannt, daß die Handlungen keinen Fehler an sich haben, in so fern sie wegen ihrer innern Güte geliebet, hoch gehalten und verrichtet werden? da ich also in dem vorhergehenden gezeiget habe, daß die Sineser deswegen sich guter Handlungen beflissen hätten, weil sie die innere Güte derselben auf das genaueste erkannten; So können wir mit Recht an ihnen nichts tadeln: denn ich habe Anfangs gezeiget, daß sie keine andere Bewegungsgründe gehabt haben, als die aus den Handlungen erfolgende Veränderung ihres Zustandes. Wer wird aber daran zweiffeln, daß GOtt, da er etliche Handlungen verboten, andere geboten hat, eben darauf gesehen habe? Wer wird in Betrachtung dessen, sich wohl noch zu behaupten unterfangen, daß derjenige zu schelten seye, welcher aus eben demjenigen Grunde einige Handlungen vornimmt, andere aber unterlasset, aus welchen der allerweiseste und allergütigste GOtt dieselben zu thun befohlen oder verboten hat? Es ist noch ein besonderer Grund der Sinesischen Weisheit übrig, dessen ich auch Krafft meines Vorhabens Erwehnung thun muß. Die Sineser hielten ehedem sehr vieles von Gebräuchen, welche sie in grosser Anzahl hatten, und in der Schule der Kleinern, in welche alle Einwohner des ganzen Reiches giengen, lehreten. Dahero auch heut zu Tag unter den vornehmsten Büchern der fünff erstern Weisen, welche von denen unterschieden sind, welche der Noel übersezet hat, ein Buch von den Gebräuchen angetroffen wird, welches in der lateinischen Uebersezung offt angeführet worden ist. Es scheinet, daß der Uebersezer der Sinesischen Bücher dieses für allzu gering angesehen, und es deswegen nicht habe übersezen wollen: Aber ich wollte wünschen, daß auch die Uebersezung davon vorhanden seyn möchte, indem ich versichert bin, daß man mehr darinnen finden würde, als man suchen sollte. Denn wie nüzlich die Gebräuche bey Ausübung der Tugend seyen, habe ich an einem andern Ort auf das deutlichste erwiesen, welches denjenigen nicht unbekannt ist, welche dasjenige genau geprüfet haben, was in dieser Sache von mir geschrieben worden ist. Es bezeugen aber die Proben, welche in der lateinischen Uebersezung dieser Bücher hier und dort angetroffen werden, daß die Gebräuche der Sineser solche Gründe haben, welche ihrer Weisheit höchst anständig sind. Damit ich mein Versprechen halte, so will ich nur ein einziges Beyspiel anführen. Es durffte ehedem, da nehmlich das Sinesche Reich noch im Flor stunde, keine schwangere Frau etwas Schändliches ansehen, oder ärgerliche Redensarten zu Ohren fassen. Des Abends sang der Vorgesezte in der Music, welcher blind war, damit er die Thöne desto besser unterscheiden konnte, zwey Lieder aus einem Gesangbuch, von der wahren Hauszucht in ihrer Gegenwart vor, und redete von ehrbaren Dingen. Dieses geschähe zu dem Ende, damit ein Kind von einem guten Verstand möchte gebohren werden. Davon der Lien Hiam in dem Buch, welches er von der Unterweisung der Weiber geschrieben zurük gelassen hat, behauptet, daß es auch würklich eingetroffen habe. Ich will diesen Gebrauch etwas deutlicher erklären, damit man sehe, wie genau er mit einer gesunden Vernunfft überein komme. Es ist ihnen, meine wertheste Zuhörer! ohnedem bekannt, wie genau Seele und Leib mit einander vereiniget sind, und daß, indem eine Geburt in Mutterleibe gebildet wird, in der Bildung der Gliedmasen, welche sich ganz genau nach der Seele richten, nichts könne verändert werden, wo nicht auch zugleich eine Veränderung in der Seele vorgehet, welche mit der Veränderung, die im Leibe geschehen ist, übereinstimmet. Und es ist bekannt, daß wegen des gemeinschafftlichen Umlauffs des Geblüts in der Geburt und in der Mutter, die Bewegungen der flüssigen Theile in der Geburt mit den Bewegungen der flüssigen Theile in der Mutter überein kommen müssen. Ja es ist auser allem Zweifel, daß mit den unmateriellen Begriffen in dem Gehirne einige materielle Begriffe überein kommen, welche in einer Bewegung des Nervensafftes der durch die Nervengänge des Gehirnes, mit einer gewissen Geschwindigkeit gehet, bestehen, und daß, gleichwie aus den Vorstellungen die Begierden in der Seele entstehen, also auch aus den materiellen Begriffen, Bewegungen der Gliedmasen, welche mit diesen Begierden übereinstimmen, in dem Cörper entspringen. Hieraus siehet man nun, daß die zur Zeit der Schwangerschafft, die den materiellen Begriffen, in dem Gehirn der Mutter erregten Begriffe, in dem Gehirn des Kindes einigermasen ähnliche verursachen, und daß auch in demselben ähnliche Bewegungen erfolgten, dergleichen sich davon in der Mutter ereignen. Da nun die einmahl eingedrukten Begriffe dem Gehirn eine gewisse Geschiklichkeit ertheilen, dieselbige hinwiederum, folglich auch die darauf erfolgenden Bewegungen zu erregen; so siehet ja jedermann, daß ebenermasen das Gehirn des Kindes eine gewisse Geschiklichkeit bekommt, Begriffe von einer gewissen Art, und die in dem Cörper darauf beruhende Bewegungen, in der Seele aber darauf erfolgende Begierden hervor zu bringen. Ferner ist bekannt, daß die Begriffe in dem Gehirn durch die Singekunst, und den Gesang einen stärkern Eindruk, als durch die Rede überkommen. Wer sollte nun zweiffeln, daß die von den Sinesern ehedem den schwangern Weibern vorgeschriebene Gewohnheiten der Vernunfft gemäs gewesen seyen. Also habe ich ihnen nun, meine werthgeschäzte Zuhörer! die Gründe der Weisheit der alten Sineser vor Augen geleget, von welchen ich sowol sonsten öffentlich, als auch nun in dieser ansehnlichen Versammlung einiger masen gezeiget habe, daß sie mit den Gründen meiner Weltweisheit genau überein kommen . . . |
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10 | 1756-1796 |
Kant, Immanuel. Collegium über die Physische Geographie. Vorlesungen geschrieben 1756-1796 und ca. 48 mal vorgetragen. Kant modifiziert den Text während seiner mündlichen Vorträge, hat ihn aber nur in geringem Masse verbessert. Die Manuskripte aus Königsberg sind seit 1945 verschollen. Diktattexte Quellen : Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande [ID D16843]. Anson, George. A voyage round the world in the years M.DCC.XL.I.II.II.IV [ID D1897]. Du Halde, Jean-Baptiste. Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartary [ID D11242]. Guignes, Joseph de. Memoire dans lequel on preuve, que les chinois sont une colonie egyptienne [ID D1841]. Lettres édifiantes et curieuses [ID D1397]. Magazin von merkwürdigen Reisebeschreibungen [ID D16844]. Osbeck, Pehr. Reise nach Ostindien und China [ID D1839]. Pallas, Peter Simon. Sammlung historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften [ID D16845]. Pauw, Cornelius de. Recherches philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois [ID D1861]. Salmon, Thomas. Die heutige Historie, oder, Der gegenwärtige Staat von allen Nationen [ID D16842]. Sonnerat, Pierre. Reise nach Ostindien und China [ID D1874]. Gesamtdarstellung Im nördlichen Teile dieses grossen Reiches ist die Winterkälte stärker als in einem gleichen Parallel in Europa. Dieses Reich ist ohne Zweifel das volkreichste und kultivierteste in der ganzen Welt. Man rechnet in China so viele Einwohner als in ganz Europa zusammen. Fast durch jede Provinz sind Kanäle gezogen, aus diesen gehen andere kleinere zu den Städten und noch kleinere zu den Dörfern. Über alle diese gehen Brücken mit einigen gemauerten Schwibbogen, deren mittelster Teil so hoch ist, dass ein Schiff mit Masten durchsegeln kann. Der grosse Kanal, der von Kanton [Guangzhou] bis Peking [Beijing] reicht, hat an Länge keinen andern seinesgleichen in der Welt. Man hebt die Schiffe durch Kräne und nicht wie bei uns durch Schleusen aus einem Kanal in den andern oder über Wasserfälle. Die grosse chinesische Mauer ist, mit allen Krümmungen gerechnet, dreihundert deutsche Meilen lang, vier Klafter dick, fünf Klafter hoch, oder, wie andere berichten, fünf Ellen dick und zehn Ellen hoch. Sie geht über erstaunende Berge und Flüsse durch Schwibbogen. Sie hat schon eintausendachthundert Jahre gestanden. Die chinesischen Städte sind alle, sofern es der Grund leidet, akkurat ins Viereck gebaut und durch zwei Hauptstrassen in vier Vierteile gegliedert, so dass die vier Tore gerade gegen die vier Weltgegenden hinstehen. Die Mauer der Stadt Peking [Beijing] ist beinahe einhundert Fuss hoch. Der Porzellanturm in Nanking [Nanjing] hat eine Höhe von zweihundert Fuss und ist in neun Stockwerke geteilt. Er hat bereits vierhundert Jahre gestanden, besteht aus Porzellan und ist das schönste Gebäude im Orient. Sitten und Charaktere Die Chinesen sehen jemand für schön an, der lang und fett ist, kleine Augen, eine breite Stirn, kurze Nase, grosse Ohren und, wenn er eine Mannsperson ist, eine grobe Stimme und einen grossen Bart hat. Man zieht sich mit Zänglein die Barthaare aus und lässt nur einige Büschlein stehen. Die Gelehrten schneiden sich die Nägel an ihrer linken Hand niemals ab zum Zeichen ihrer Profession. Der Chinese ist von einem ungemein gelassenen Wesen. Er hält hinter dem Berge und sucht die Gemüter anderer zu erforschen. Es ist ihnen nichts verächtlicher als in Jähzorn zu geraten. Sie betrügen ungemein künstlich. Sie können ein zerrissenes Stück Seidenzeug so nett wieder zusammennähen, dass es der aufmerksamste Kaufmann nicht merkt, und zerbrochenes Porzellan flicken sie mit durchgezogenem Kupferdraht so gut zu, dass keiner anfänglich den Bruch gewahr wird. Er schämt sich nicht, wenn er auf dem Betruge betroffen wird, als nur insofern er dadurch einige Ungeschicklichkeit im Betruge hat blicken lassen. Er ist rachgierig, aber er kann sich bis auf bequeme Gelegenheit gedulden. Niemand duelliert sich. Er spielt ungemein gern, ist feige, sehr arbeitsam, sehr untertänig und den Komplimenten bis zum Übermasse ergeben ; ein hartnäckiger Verehrer der alten Gebräuche und in Ansehung des künftigen Lebens so gleichgültig als möglich. Das chinesische Frauenzimmer hat durch die in der Kindheit geschehene Einpressung nicht grössere Füsse als ein Kind von drei Jahren. Es schlägt die Augen immer nieder, zeigt niemals die Hände und ist übrigens weiss und schön genug. Essen und Trinken In China ist alles essbar bis auf die Hunde, Katzen, Schlangen usw. Alles Essbare wird nach Gewicht verkauft ; daher füllen sie den Hühnern den Kropf mit Sand. Ein totes Schwein gilt, wenn es mehr wiegt, auch mehr als ein lebendiges. Daher der Betrug, lebendige Schweine zu vergiften und, wenn sie über Bord geworfen worden, wieder aufzufischen. Man hat anstatt der Gabeln zwei Stäbchen von Ebenholz. Auch haben die Chinesen keine Löffel. Sie sitzen nicht wie andere orientalische Völker auf der Erde, sondern auf Stühlen. Ein jeder hat sein eigenes Tischchen bei dem Gastmahle. Alle Getränke wird bei ihnen warm getrunken, sogar der Wein, und das Essen geniessen sie kalt. Bei Gastmählern schlägt einer den Takt, dann heben alle ihre Gabelstöckchen auf und essen, oder heben ihre Tassen zugleich auf und trinken oder tun, als wenn sie tränken. Der Wirt gibt das Zeichen, wenn sie anfangen, etwas zum Munde zu bringen, aber auch wenn sie absetzen sollen. Alles geschieht wohl drei Stunden lang stillschweigend. Zwischen der Mahlzeit und dem Nachtische spaziert man im Garten. Dann kommen Komödianten und spielen alberne Possen. Sie tragen Wachteln in der Hand, um sich an ihnen als Müffen zu erwärmen. Die Tartaren machen hier auch Branntwein aus Pferdemilch und ziehen ihn über Schöpsenfleisch ab, wodurch er einen starken, aber ekelhaften Geschmack bekommt. Komplimente Niemand in China schimpft oder flucht. Alles was ein Gast, wenn er sich meldet [und] wenn er den Besuch abstattet, für Gebärden und Reden führen soll, was der Wirt dabei sagt oder tut : das alles ist in öffentlichen herausgegebenen Komplimentierbüchern vorgeschrieben, und es muss nicht ein Wort davon abgehen. Man weiss, wie man höflich etwas abschlagen soll und wenn es Zeit ist, sich zu bequemen. Niemand muss sein Haupt beim Grüssen entblössen, dieses wird für eine Unhöflichkeit gehalten. Ackerbau, Früchte und Manufakturen Die Hügel werden in Terrassen abgestuft. Der Mist wird aus den Städten auf den Kanälen herbeigeführt und trockene Ländereien unter Wasser gesetzt. Ein jeder, auch der kleinste Flecken Landes wird genutzt. Von dem Talgbaum ist oben die Rede gewesen. Vom Wachsbaume berichtet Salomon, dass ein Insekt wie eine Fliege nicht allein die Blätter, sondern auch bis auf den Kern oder Stamm die Baumrinde durchsteche, woraus das weisse Wachs wie Schnee tropfenweise hervorquillet. Der Teestrauch. Das Baumbusrohr, von welchem sie fast alle Geräte, auch sogar Kähne machen ; aus der Rinde desselben wird das überfirnisste Papier gefertigt, welches sehr dünn und glatt ist, aber von Würmern leicht verzehrt wird. Daher ihre Bücher immer müssen abgeschrieben werden. Rattang oder ein zähes chinesisches Rohr, wovon man Ankertaue flicht, welche nicht so leicht faulen als die, welche aus Hanf gemacht sind. Der Firnisbaum, mit dessen Lack die Chinesen alles, was in ihren Häusern ist, überfirnissen. Die Wurzel Ginseng oder Mannswurzel, weil sie sich in zwei Äste gleich den Lenden eines Mannes teilt. Der Kaiser schickt jährlich zehntausend Tataren in die chinesische Tatarei aus, um diese Wurzel für ihn einzusammeln. Das übrige können sie verkaufen. Sie ist ungemein teuer. Die Seidenwürmer arbeiten auf den Maulbeerbäumen in den südlichen Provinzen ohne Pflege. Ihre Seidenzeuge sind vornehmlich mit Figuren von eingewirkten Drachen geziert. Ihre Tusche oder chinesische Tinte wird aus Lampenruss verfertigt, den sie durch Muskus wohlriechend machen. Der Kaiser ackert alle Jahre einmal öffentlich. Wissenschaften, Sprache und Gesetze Ihre Astronomie ist zwar alt, und in Peking [Beiing] ist viele Jahrhunderte vor Ankunft der Missionarien ein Observatorium gewesen. Allein ihr Kalender war höchst falsch. Die Verkündigung der Finsternisse erstreckte sich kaum auf den Tag, nicht aber bis auf Minuten wie bei uns. Sie ziehen aber diese Verkündigung aus Tabellen, daher man damit nicht zusammenreimen kann, wie es möglich ist, dass ihre Gelehrten glauben können, der Mond oder die Sonne würden zur Zeit der Finsternis von einem Drachen gefressen, dem sie mit Trommeln seine Beute abzujagen suchen. Es kann aber auch sein, dass dieses ein alter Aberglaube von den Zeiten der Unwissenheit her ist, den die Chinesen als hartnäckige Verehrer alter Gebräuche noch beibehalten, ob sie gleich dessen Torheit einsehen. Die Kenntnisse der Mathematik und andere Wissenschaften haben der Predigt des Evangeliums in China statt der Wunder gedient. Die chinesische Sprache hat nur dreihunderunddreissig einsilbige Wörter, welche alle nicht flektiert werden, aber die verschiedenen Töne, Aspirationes und Zusammensetzungen machen dreiundfünfzigtausend Wörter aus. Die Zeichen ihrer Schrift bedeuten nicht die Töne, sondern die Sachen selber, und zuweilen umfassen sie auch mehrere Begriffe zusammen. Z.E. Guten Morgen, mein Herr ! wird durch ein Zeichen ausgedrückt. Die Bewohner von Cochin-China und Tongking verstehen wohl der Chinesen Schrift, aber nicht ihre Sprache. Ein Gelehrter muss zum wenigsten zwanzigtausend Charaktere schreiben und kennen lernen. Sie kurieren viele Krankheiten durch die Kauterisation oder durch Brennen mit heissen kupfernen Platten. Einige Kaiser und andere haben sich lange mit der Grille vom Trank der Unsterblichkeit geschleppt. Die Buchdruckerkunst ist so beschaffen : man klebt die Blätter eines wohl abgeschriebenen Buchs auf ein langes Brett und schneidet die Charaktere in Holz aus. Die Chinesen haben gradus academicos. Die Kandidaten zur Doktorwürde werden gemeiniglich vom Kaiser selbst examiniert. Mit ihnen werden die wichtigsten Ämter besetzt. Weil alle ihre Archive von einem ihrer Kaiser vor zweitausend Jahren sind vertilgt worden, so besteht ihre alte Geschichte fast bloss aus Traditionen. Ihr erstes Gesetz ist die Gehorsamkeit der Kinder gegen die Eltern. Wenn ein Sohn Hand an seinen Vater legt, so kommt das ganze Land darüber in Bewegung. Alle Nachbarn kommen in Inquisition. Er selbst wird kondemniert, in zehntausend Stücke zerhauen zu werden. Sein Haus und die Strasse selber, darinnen es stand, werden niedergerissen und nicht mehr aufgebaut. Das zweite Gesetz ist Gehorsamkeit und Ehrerbietung gegen die Obrigkeit. Das dritte Gesetz betrifft die Höflichkeit und Komplimente. Diebstahl und Ehebruch werden mit der Bastonade bestraft. Jedermann hat in China die Freiheit, die Kinder, die ihm zur Last werden, wegzuwerfen, zu erhängen oder zu ersäufen. Dies geschieht, weil das Land so volkreich ist, das Heiraten zu befördern. Ungeachtet ihres Fleisses sterben doch jährlich in einer oder der anderen Provinz viele Tausende Hungers. In Peking [Beijing] wird täglich eine Zeitung abgedruckt, in der das löbliche und tadelhafte Verhalten der Mandarine samt ihrer Belohnung oder Strafe angegeben wird. Religion Die Religion wird hier ziemlich kaltsinnig behandelt. Viele glauben an keinen Gott ; andere, die eine Religion annehmen, bemengen sich nicht viel damit. Die Sekte des Fo ist die zahlreichste. Unter diesem Fo verstehen sie eine eingefleischte Gottheit, die vornhemlich den grossen Lama zu Barantola in Tibet anjetzt bewohnt und in ihm angebetet wird, nach seinem Tode aber in einen andern Lama fährt. Die tatarischen Priester des Fo werden Lamas genannt, die chinesischen Bonzen. Die katholischen Missionarien beschreiben die den Fo betreffenden Glaubensartikel in der Art, dass daraus erhellt, es müsse dieses nichts anderes als ein ins grosse Heidentum degeneriertes Christentum sein. Sie sollen in der Gottheit drei Personen statuieren, und die zweite habe das Gesetz gegeben und für das menschliche Geschlecht ihr Blut vergossen. Der grosse Lama soll auch eine Art des Sakramentes mit Brot und Wein administrieren. Man verehrt auch den Confucius oder Con-fu-tse, den chinesischen Sokrates. Es sind auch einige Juden da, die so wie diejenigen auf der Malabarischen Küste vor Christi Geburt dahin gegangen sind und von dem Judentum wenig genug mehr wissen. Die Sekte des Fo glaubt an die Seelenwanderung. Es ist eine Meinung unter ihnen, dass das Nichts der Ursprung und das Ende aller Dinge sei, daher eine Fühllosigkeit und Entsagung aller Arbeit auf einige Zeit gottselige Handlungen sind. Ehen Man schliesst mit den Eltern die Ehe, ohne dass beide Teile einander zu sehen bekommen. Die Mächen bekommen keine Mitgabe, sondern werden noch dazu verkauft. Wer viel Geld hat, kauft sich so viele Frauen als er will. Ein Hagestolz oder alter Junggeselle ist bei den Chinesen etwas Seltenes. Der Mann kann, wenn er den Kaufschilling verlieren will, die Frau, ehe er sie berührt, zurückschicken, die Frau aber nicht. Waren, die ausgeführt werden Dahin gehören vornehmlich Teebou, Singlotee, Quecksilber, Chinawurzel, Rhabarber, rohe und verarbeitete Seide, Kupfer in kleinen Stangen, Kampfer, Fächer, Schildereien, lackierte Waren, Porzellan, Soya, Borax, Lazursteine, Tutenag. Indische Vogelnester sind Nester von Vögeln, die den Meerschwalben gleichen und welche, aus dem Schaume des Meeres, der mit einem in ihrem Schnabel generierten Safte vermengt wird, jene Nester bilden. Sie sind weiss und durchsichtig, werden in Suppen gebraucht und haben einen aromatischen Geschmack. Tibet Es ist das höchste Land, wurde auch wahrscheinlich früher als irgend ein anderes bewohnt und mag sogar der Stammsitz aller Kultur und Wissenschaft sein. Die Gelehrsamkeit der Indier namentlich rührt mit ziemlicher Gewissheit aus Tibet her, so wie dagegen alle unsere Künste aus Indostan hergekommen zu sein scheinen, z.B. der Ackerbau, die Ziggern, das Schachspiel usw. Man glaubt, Abraham sei an den Grenzen von Indostan einheimisch gewesen… China, Persien und Indien bekam seine Einwohner dorther. Hier oder nirgends müsste man die Stammwurzeln aller Ursprachen Asiens und Europas suchen… In Barantola oder wie andere es nennen, in Potala, residiert der grosse Oberpriester der mongolischen Tataren, ein wahres Ebenbild des Papstes. Die Priester dieser Religion, die sich in dieser Gegend der Tartarei bis in das chinesische Meer ausgebreitet haben, heissen Lamas ; diese Religion scheint ein in das blindeste Heidentum ausgeartetes katholisches Christentum zu sein. Man hat bis jetzt gezweifelt, ob die Einwohner wirklich den Stuhlgang des grossen Dalai-Lama verzehren, indes bestätigt es Pallas dahin, dass sie ihre Speisen damit bestreuen und dass ihm geklagt sei, dass davon so wenig zu haben und dies wenige sehr kostbar sei. Die lamaische Religion ist eine der seltsamsten Erscheinungen auf dem Erdboden. Man sieht daraus, dass die Menschen in der Religion alle Ungereimtheiten versucht haben, die man sich ausdenken kann. Es ist in der lamaischen Religion eine Seelenwanderung der Menschen durch die Tiere. Dies ist die gewöhnliche Metempsychose, die man für eine Belohnung oder Bestrafung hält, je nachdem das Tier ist, in das die Seele fährt. Wenn aber eine Menschenseele wieder in einen Menschen fährt, so ist das die Lama’sche Wiedergeburt und ein solcher Manesch heisst Burchan, d.i. eine vergötterte menschliche Seele, folglich ist der Lama eine eingefleischte Gottheit. Es sind drei Lamas in Tibet. Der eine ist der alte Fo, der auch immer wiedergeboren werden soll. Ein anderer Lama führt die weltliche Regierung und der dritte ist der höchste und mischt sich in keine Regierungsgeschäfte. Nachschriften Nachschrift von Johann Gottfried Herder 1764. Kant sagt : M. de Guignes hält das Chinesische vor verdorbnes Phönicisch…. Das Gesetz des Gehorsams der Kinder gegen die Eltern wäre „politisch, um den Gehorsam gegen den Kaiser zu bevestigen“. Nachschrift von Georg Hesse 1770. Kant sagt : China ist unter allen Ländern der Erde das älteste. Selbst Egypten kann nicht so lange bewohnt seyn, denn wegen der Überschwemmungen des Nils muss man glauben, dass das Meer ehemals ganz Nieder-Egypten bedecket habe, und dass der Nil es mit seinem Schlamm nur nach und nach angesetzet. China dagegen ist ein erhabenes Land. Nach den ältesten Geschichten, die wir nur haben, ist China eben so blühend und eingerichtet, wie jetzo gewesen. Es ist in Proportion seiner Ausdehnung das vollkommenste Land in der ganzen Welt… Die Religion haben sie noch von den alten Zeiten her beybehalten, so absurd sie auch ist. Sie thun es deswegen, damit der gemeine Mann nicht sehe, dass die Mandarinen sich irren können. Sie sind auch in der Religion nicht sehr eifrig. Sie haben zweyerley Pfaffen, die Bonzia und die Lamos. Erstere sind von der alten Chinesischen, letztere von der Tartaischen Religion. Diese Unterthänigkeit der Kinder gegen die Eltern führet sie schon zur Sclaverey an gegen die Obrigkeit. Nachschrift von David Friedländer 1772. Kant sagt : Die Chinesen scheinen eine Abkunft der Ägypter zu sein. Desguignes hält dafür, dass (die Schrift der Chinesen) aus dem Chaldäischen entstanden sei. Nachschrift von Philippi 1772. Kant schenkt dem Herzog Friedrich von Holstein-Beck eine Handschrift seines Diktattextes von 1773, Vorlesungen gehalten 1772-1773. Das Manuskript ist von Kant selbst durchkorrigiert worden. Nachschrift von Siegismundo Kaehler 1775. Kant sagt : Die fünf „Kings“ oder heilige Bücher der Chinesen, die von dem Confucio herkommen, enthalten nichts als trockene Sittenlehre. Nachschrift von G.C.W. Busolt 1775. Nachschrift von Powalski 1777. Nachschrift von Fehlhauer 1782. Nachschrift von Geo-Pillau von 1784. Kant sagt : Was zuerst das Verhalten des Kaysers betrifft, so wird das zwar sehr gerühmt, Er selbst schreibt auch viel von Leutseeligkeit, aber wir wollen nur seine Thaten ansehen. Er rottete a: 1748 und 49 die Tatarn aus,… Ferner er schickte sie nach Siphan einem Volck welches viele Saec. unabhängig gelebt. Der Kayser suchte sie zu überwältigen, welches ihm auch gelang, wo er denn das gantze Königliche Haus niederhauen liess, ausser ein einziges Mädchen, welches er zur Parade behielt… Was die Wissenschaften in China betrifft, so bemüht sich immer einer dem andern darin zuvor zu thun. Es ist aber keine Nation die eine grössere Opinion der Wissenschaften von sich hegte, aber auch keine, die in diesem Stück hartnäckiger als die Chineser. Die neuern Zeiten haben bewiesen, dass sie alles von Indien haben… Sie haben keine einzige Wissenschaft, ob sie gleich Künste haben, und selbst die wenigen Sätze der Geometrie, die sie wissen, können sie doch nicht demonstriren, sondern sie sind blos pracktisch. Man hat von ihrer Astronomie viel Wesens gemacht, allein sie haben keine Theorie : sondern ihre Wissenschaft gründet sich blos auf Tabellen… Ihre Gelehrsamkeit enthält viele Dinge, die zwar gelernet werden, aber keine eigentliche Wissenschaft sind. Ihr grösster Philosoph ist Confucius, von dem sie sagen, dass er alle Weissheit gehabt haben soll, allein er hat doch einmahlen gefragt, was das höchste Guth sey… Was die Gesetze der Chineser betrift, so dienen sie nur um das Volck ruhig und dem Kayser unterwürfig zu machen, es wird aber dabey gar nicht auf Moralitaet gesehen… Die Kinder müssen ihnen [Eltern] gehorchen, dass aber nicht um der Moralitaet, die Eltern haben eine absolute Gewalt über sie, sie können sie wegwerfen, ums Leben bringen, oder sonst mit ihnen machen was sie wollen… Den Eltern ist diese Macht von der Obrigkeit gegeben worden, damit sie die Kinder in Zeiten zur despotischen Herrschaft gewöhnen sollten, theils aber auch den Ehestand leicht zu machen, weil der Kayser seine Staaten bevölckert wissen will. Nachschrift von Johann Friedrich Crueger 1785. Kant sagt : Von diesen Völkern wurde vor einiger Zeit noch gross Rühmens gemacht, so dass man in Rücksicht vieler Stücke glauben könnte, es wäre kein besseres Land als dieses China. Allein die dahingeschickten Missionarii von Seiten der Römischen Kirche hatten zu viele Vorurteile auf ihrer Seite, warum sie es taten, nämlich der Welt etwas vorzumachen. Seit dieser Zeit aber hat sich die Sprache hiervon merklich geändert. Sie wollen zwar noch etwas davon rühmen : weil aber jetzt die Wahrheit allzusehr herfür leuchtet, so wird dies bald wieder niederschlagen… Wollen wir die Frage aufwerfen, ob sie wohl sonst Wissenschaften haben ?, so ist die Antwort : auch keine einzige ; denn sie zählen ja selbst unter ihre Elemente das Holz. Nachschrift von J.W. Volckmann 1784, 1785. Nachschrift von Christian Friedrich Puttlich 1785. Kant sagt : Philosophie ist im ganzen Orient nicht anzutreffen, die wenigen Araber ausgenommen, allein das sind auch schon Weise. Ihr Lehrer Konfuzius trägt in seinen Schriften nichts als moralische Lehren für die Fürsten vor… und führt Exempel der vorigen chinesischen Fürsten an… aber ein Begriff von Tugend und Sittlichkeit ist den Chinesen nie in den Kopf gekommen. Nachschrift von Heinrich zu Dohna-Wundlacken 1792. Nachschrift von A.C.W. Werner 1793. Nachschrift von K. Friedrich Wolter 1796. Nachschriften ohne Datum von Barth, Busolt, F. Karmann, Vigilantius. Anonyme Nachschriften : 1784, 1787, 1791. Sekundärliteratur Helmuth von Glasenapp / Adrian Hsia : Für Kant sollen die Chinesen ein Mischstamm der weissen und gelben Rasse sein. Er bezeichnet China als das kultivierteste Reich der Welt und beschreibt seine Errungenschaften wie z.B. die Grosse Mauer. Er teilt auch die Meinung seiner Zeit, dass die Chinesen höflich seine, niemals fluchten oder Schimpfworte benutzten und ihr ganzes Leben ritualisiert sei. Etwa 40 Jahre lang brachte Kant seinen Studenten bei, das Schönheitsideal der Chinesen beiderlei Geschlechts sei ein langer und fetter Körper. Die Stirn müsse breit und die Nase kurz, die Augen müssten klein und die Ohren gross sein. Die Chinesen seien ungemein rachsüchtig, jedoch sehr geduldig in der Ausführung des Racheakts. Weiterhin seien sie feige, sehr arbeitsam, sehr untertänig und den Komplimenten bis zum Übermasse ergeben. Sie seien von Natur aus betrügerisch veranlagt und schämen sich nur, wenn sie sich dabei ertappen liessen. Von den Wissenschaften berichtet Kant, dass ihre Voraussage von Sonnen- und Mondeklipsen trotz der uralten astronomischen Tradition sehr fehlerhaft seien. Kant findet es eigenartig, dass die Jesuiten ihre Missionsarbeit durch die Verbreitung der Wissenschaften wie Astronomie und Mathematik vorantreiben, statt durch die Predigt der Worte Gottes oder durch Wundertaten. Er versucht mit Objektivität die Lage der Religionen in China darzustellen und unterteilt die Chinesen in grundsätzliche und funktionale Atheisten. Die ersten seien Atheisten an und für sich, die anderen glaubten zwar an die Existenz Gottes, ohne ihn aber anzubeten. Er nimmt an, dass die meisten Chinesen der Lehre Buddhas folgten und er identifiziert den Dalai Lama mit Buddha, der in Lhasa thront und nach dem Tod reinkarniert würde. Konfuzius nennt er den chinesischen Sokrates, ohne sich für seine Person oder Lehre zu interessieren. Laozi, den er Laokum nennt, interessiert ihn dagegen viel mehr, denn die Jesuiten haben wenig Interesse für ihn gehabt, da sich ihre Missionsarbeit darauf konzentrierte, den Konfuzianismus mit dem Christentum zu harmonisieren. Kant konzentriert seine Kritik gegen China in vier Hauptpunkten, die die Vorurteile des späten 18. Jahrhunderts widerspiegelt. Er glaubt, dass die Chinesen niemals in ihren Wissenschaften zu klaren Konzepten kommen würden. Für ihn ist das Fehlen der Schatten in der chinesischen Tuschmalerei ein fester Beweis, dass die Chinesen konfus denken. Schlimmer sei noch die Tatsache, dass sie 80'000 Schriftzeichen brauchen, um sich verständlich zu machen, während man in Europa nur 24 benutzt. Der Chinese könne erst die nötigen Zahlen beherrschen, wenn er bereits den Zustand der Senilität erreicht habe. Dass der Chinese angeblich nie seine Heimat verlässt und in die Fremde ziehe, sei ein weiterer Nationalfehler. Den letzten Beweis, dass die Chinesen keine klaren Konzepte hätten, sieht Kant darin, dass sich der Sitz ihres religiösen Oberhauptes, der Dalai Lama, ausserhalb Chinas befinde. Am Ende steht China für Kant als ein Land ohne die Fähigkeit zur Tugend und Pflichterfüllung da. Helmuth von Glasenapp : Berücksichtigt man, dass Kant ausschliesslich von der Literatur über China abhängig war und keine eigene Kenntnis des Landes besass, mag es einerseits verständlich erscheinen, dass er in seinen Ansichten von den herrschenden Meinungen bestimmt wurde. Andererseits stellt sich die Frage, aus welchem Grund er über seine eigenen Bedenken gegenüber den Berichten der Kaufleute so einfach hinwegging. Er war sich durchaus bewusst, dass die für die Chinesen ungünstigen Nachrichten von den Handelsplätzen an der Küste Chinas kamen… Sein Urteil über China in den ersten Jahren seiner Vorlesung ist geprägt vom positiven, neutralen Ton der Jesuitenberichte, auch wenn er damals schon die Bemerkung über den betrügerischen Charakter der Chinesen von Anson übernommen hat… Zunächst einmal vermisst Kant an den philosophischen Werken der Chinesen die Schärfe des Ausdrucks, die logische Verknüpfung, die Strenge der Beweisführung und die systematische übersichtlich gegliederte Darstellung… Der chinesische Philosoph sucht gar nicht rationale, durch Schlüsse fundierte Erkenntnisse zu vermitteln, sondern er will die Rätsel des Lebens intuitiv lösen und gibt das, was er erschaute, in Form von Aphorismen von sich. Dem an die Formen abendländischen Denkens Gewöhnten mussten die Aussprüche des Konfuzius deshalb als unzusammenhängende Sentenzen ohne eigenliche philosophische Grundlage erscheinen… Lee Eun-jeung : Kant zweifelte in keiner Weise daran, dass der chinesische Herrscher ein Despot war. Er könnte über Leben und Tod der Untertanen entscheiden. Diese wären ohnehin per Gesetz zu Gehorsam und Ehrerbietigkeit gegen die Obrikeit verpflichtet, ebenso wie gegen die Eltern. Diese wären die obersten Gesetze der Chinesen, wozu auch noch Höflichkeit und Komplimente zu zählen wären. In allen Manuskripten spricht Kant von diesen Gesetzen, wobei er relativ nüchtern und ohne eigene Interpretation die bekannten Sittenkodizes der Chinesen wiedergibt. Kants Deutung, dass es sich bei den chinesischen Gesetzen nicht um Moralität handle, bedarf, auch wenn dies nur beiläufig erwähnt wird, vor allem deshalb besonderer Achtung, weil darin der von ihm entfaltete Kritizismus reflektiert wird. Mit dieser Aussage spricht Kant den Chinesen die moralische Autonomie und Vernunft ab. Seiner Ansicht nach, hängt die Glückseligkeit, die er als den „Inbegriff aller durch die Natur ausser und in dem Menschen möglichen Zwecken desselben“ betrachtet, nicht vom autonomen Handeln des Menschen, sondern von der Wohltätigkeit der Natur ab. Die Materie, die, die das Glück bestimmenden Zwecke ausmacht, bestünde nämlich aus Macht, Reichtum, Ehre, Gesundheit, Wohlstand und Zufriedenheit mit dem eigenen Zustand… Da in den Berichten der Jesuiten immer wieder von dem wohlgeordneten Leben in China und von seiner guten Moral die Rede ist, mag es sein, dass Kant darauf geschlossen hat, dass die Chinesen hauptsächlich auf 'das beständige Wohlergehen' und 'ein vergnütes Leben', also auf 'die Glückseligkeit' bedacht sind… Bedenkt man, dass Kant nur über geringe Kenntnis von der konfuzianischen Lehre verfügt, sind seine Feststellungen um so verwunderlicher. Sein Kommentar zu den 5 Jings geht über die Wiedergabe damals weitvertreiteter abwertender Urteile nicht hinaus. Obwohl ihm bekannt ist, dass die chinesischen Gesetze auf diesen fünf Büchern beruhen, hat er, wie es scheint nicht versucht, sie zu untersuchen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. |
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11 | 1760 |
Friedrich II. Relation de Phihihu, émissaire de l’empereur de la Chine en Europe [ID D17063]. Quellen : Schriften von Christian Wolff, Korrespondenz mit Voltaire. Lettre première Sublime empereur, astre de lumière, merveille de nos jours, consolation de tes esclaves, ô toi dont je ne suis pas digne de baiser le marchepied de tes pieds! j'ai entrepris selon tes ordres le grand voyage que tu m'as ordonné de faire. J'arrivai avec le père Bertau à Constantinople, sans que nous ayons essuyé aucun accident en chemin. Constantinople est une très-grande ville, mais elle n'approche pas de Pékin. Il y a un nouvel empereur turc, qui vient de succéder depuis peu à son oncle. J'ai été surpris de voir à ce peuple de grands yeux, et des barbes qui ont l'air de forêts. On dit que les Européens sont tous de même; je doute cependant qu'ils voient mieux que nous. On m'a dit qu'ils portent des barbes pour se donner un air de sagesse. En me promenant à Péra, je vis un animal portant des cornes, et qui, à en juger par sa barbe, devait être plus sage que tous ces gens-là. Je leur demandai s'il était en grande considération; on pensa me lapider, et je me sauvai avec mon jésuite dans la maison d'un ambassadeur qui, quoique n'ayant point de barbe, me parut aussi humain que mes lapideurs m'avaient paru féroces. Après cette aventure, je pensai qu'il ne ferait pas bon pour moi de faire un plus long séjour dans un pays où les questionneurs étrangers sont si mal accueillis. Nous trouvâmes un vaisseau qui partait pour l'Italie; le père Bertau et moi, nous nous y embarquâmes. Je n'ai trouvé sur ma route que les canons des Dardanelles de remarquables; ils sont si grands, qu'une famille chinoise logerait commodément dans leur cavité. On m'a assuré que c'était une grande marque de civilité quand on les faisait tirer pour quelque étranger, et que le comble des honneurs est de les charger à boulets. Je t'avoue, sublime empereur, que j'étais charmé de l'incognito que tu m'avais commandé de garder, parce que dans cette occasion il m'a préservé d'un grand danger. Nous avons traversé une mer assez étroite qui sépare l'Europe de l'Afrique, et après quinze jours de navigation, nous sommes heureusement abordés à un port qu'on nomme Ostie. Je fus surpris d'une foule d'objets si différents de ce que l'on voit dans ton immense empire, surtout des mœurs et des coutumes des Européens, qui ne ressemblent à rien de ce qu'on peut imaginer. Le père Bertau me persuada de me rendre à la capitale de l'Europe, et je trouvai qu'en effet ce n'était pas la peine de voir de petites villes, et que d'aller à la grande, c'était se trouver en possession de l'original dont les autres cités ne sont que des copies. Rome est pour les Européens ce que le Thibet est pour les Tar-tares Mandchoux et Mongols. C'est là où réside le grand lama; c'est un pontife-roi. L'on m'a assuré que son pouvoir spirituel était plus étendu que le temporel, et qu'en prononçant une certaine formule, il faisait trembler les rois sur leurs trônes; je ne le crus point. Je de mandai à un vieux bonze avec lequel je fis connaissance si l'étrange chose que l'on m'avait dite était vraie. Très-vraie, me dit-il; cependant, pour ne vous rien celer, je dois vous confesser que le bon temps est passé. Il y a cinq siècles que de certaines paroles mystiques, prononcées par notre sacré pontife, valaient des conjurations, et faisaient tomber les couronnes et les sceptres selon qu'il nous plaisait. Nous n'avons plus ce plaisir-là; mais nous pouvons cependant encore user d'autres moyens qui ne laissent pas de mettre les grands dans d'assez grands embarras pour nous faire respecter par eux. - Quel étrange plaisir prenez-vous, lui dis-je, de porter ainsi le trouble dans des pays sur lesquels vous n'avez aucune juridiction? - Aucune juridiction! repartit-il; quoi! n'avons-nous pas la juridiction spirituelle sur toutes les âmes? Les rois ont des âmes; ainsi .... - Ah! lui dis-je, en l'interrompant, votre sentiment ne serait pas reçu à Pékin : nos sublimes souverains ont des âmes; mais ils sont très-persuadés que ces âmes sont à eux, et qu'ils n'en doivent compte qu'au Tien. - Voilà précisément, répondit le bonze, l'hérésie de ceux qui se sont séparés de l'Église. - Qu'est-ce que hérésie? lui dis-je. - C'est le sentiment de tous ceux qui ne pensent pas comme nous. Je ne pus m'empêcher de lui marquer que je trouvais plaisant qu'il voulût que tout le monde eût ses idées, vu que, en nous formant, le Tien nous avait donné à tous des traits, un caractère, et une manière particulière d'envisager les choses; que pourvu que l'on fût d'accord sur la pratique des vertus morales, le reste importait peu. Mon bonze m'assura qu'il s'apercevait que j'étais encore très-chinois. C'est, lui dis-je, ce que je veux être pour la vie. Sachez que les bonzes n'auraient pas beau jeu dans mon pays, s'ils voulaient raisonner comme vous le faites; on leur permet de porter des carcans de fer et de se fourrer autant de clous dans le derrière que cela leur peut faire plaisir; d'ailleurs, quelle que soit leur mauvaise humeur, ils n'ont pas le pouvoir de chagriner un esclave, et s'ils l'osaient, on le leur rendrait bien. Mon bonze reprit avec un air de contrition qu'il voyait, à son grand regret, que nous serions damnés, et qu'il n'y avait point de salut pour ceux qui n'honoraient pas aveuglément les bonzes, et ne croyaient pas stupidement tout ce qu'il leur plaisait de leur dire. Je ne sais si c'est une opinion particulière à celui dont je viens de parler, ou si c'est la foi commune suivie en général. Le peu de temps que je suis ici ne m'a pas permis de m'en instruire; je te supplie en toute humilité de te donner quelque patience, et tu seras content des relations de ton esclave. Lettre deuxième J'ai été aujourd'hui dans le grand temple des chrétiens, et je t'annoncerai des choses, sublime empereur, que tu auras peine à croire, et que je ne puis me persuader à moi-même, quoique je les aie vues. Il y a dans ce temple un grand nombre d'autels, devant chaque autel un bonze. Chacun de ces bonzes, ayant autour de lui le peuple prosterné, fait un Dieu; et ils prétendent que tant de Dieux qu'ils font, en marmottant de certaines paroles mystiques, sont tous le même. Je ne m'étonne pas qu'ils le disent; mais ce qui est inconcevable, c'est que le peuple en est persuadé. Ils ne s'arrêtent pas en si beau chemin : quand ce Dieu est fait, ils le mangent. Le grand Confutzé aurait trouvé blasphématoire et scandaleux un culte aussi singulier. Il y a parmi eux une secte qu'ils appellent des dévots, qui se nourrissent presque journellement du Dieu qu'ils font, et ils pensent que c'est le seul moyen d'être heureux après cette vie. Il y a dans ce temple un grand nombre de statues auxquelles on fait des révérences, et que l'on invoque. Ces statues muettes ont une voix au ciel, et recom mandent au Tien ceux qui dans ce monde-ci sont leurs plus serviles courtisans; et tout cela se croit de bonne foi. En revenant chez moi, je fis conversation avec un homme sensé qui, remarquant ma surprise de tout ce que j'avais vu, me dit : Ne voyez-vous pas qu'il faut quelque chose, en toute religion, qui en impose au peuple? La nôtre est précisément faite pour lui; on ne peut point parler à sa raison, mais on frappe ses sens; et en l'attachant à un culte chargé, si vous le voulez, on le soumet à des règles et à la pratique des bonnes mœurs. Examinez notre morale, et vous verrez. Sur quoi il me donna un livre écrit par un de ses lettrés, où je trouvai à peu près tout ce qu'on nous enseigne de la morale de Confutzé. Je commençai à me raccommoder avec les chrétiens; je vis qu'il ne faut pas juger légèrement par les apparences, et je donnai bientôt dans l'excès contraire. Si, disais-je, cette religion a une morale si excellente, sans doute que ces bonzes sont tous des modèles de vertu, et que le grand lama doit être un homme tout divin. Rempli de ces idées, je me promenai le soir à la place d'Espagne, où je fus accueilli par un homme qu'on me dit être un Portugais. Il fut fort surpris d'apprendre que j'étais Chinois et que je voyageais; il me fit quelques questions sur mon pays, auxquelles je répondis le mieux que je pus, ce qui m'engagea de lui en faire également sur le sien. Il me dit que son roi était au bout occidental de l'Europe, que son pays n'était pas grand, mais qu'il avait de grandes possessions en Amérique, qu'il était le plus riche des princes, parce qu'il avait plus de revenu qu'il ne lui était possible d'en dépenser. Je lui demandai s'il voyageait, ainsi que je le faisais, pour s'instruire, ou quelle raison avait pu l'obliger à quitter un pays aussi riche pour venir dans celui-ci, où il n'y a que les églises de magnifiques, et d'opulents que ces bonzes qui ont fait vœu de pauvreté. C'est mon roi qui m'y envoie, me dit-il, pour certaine affaire qu'il a avec le grand lama. - C'est sans doute pour son âme, repris-je, car un bonze m'a assuré qu'il avait hypothèque sur toutes les âmes des princes. - C'est bien pour son corps, repartit le Portugais, car une espèce de bonze exécrable qu'il y a chez nous a voulu le faire assassiner. - Et n'a-t-il pas fait empaler ces bonzes? dis-je avec émotion. - On n'empale pas ainsi des ecclésiastiques, repartit-il; tout ce que mon maître a pu faire est de les exiler; le grand lama les a pris sous sa protection, il les a recueillis ici, et il les récompense des parricides qu'ils ont voulu commettre à Lisbonne.a - En vérité, tout est incompréhensible dans votre Europe, monsieur le Portugais, lui dis-je; j'ai lu tout aujourd'hui un livre de votre morale, qui m'a ravi en admiration; ce sont vos bonzes qui la prêchent, votre grand lama est la vive source dont elle découle. Comment, étant l'image de toute vertu, peut-il se déclarer ainsi le protecteur d'un crime abominable? - Ne parlez pas si haut, dit le Portugais; il y a ici certaine inquisition qui pourrait vous faire rôtir à petit feu pour les paroles indiscrètes qui vous sont échappées; si vous voulez parler du grand lama, que ce soit dans un endroit sûr, où personne ne nous puisse trahir. Cela me fit ressouvenir de l'aventure de mon bouc de Constantinople, et je le suivis. Tu vois, sublime empereur, ce que j'ai déjà risqué pour ton service : j'ai pensé être lapidé pour un bouc, et brûlé pour avoir dit que le grand lama protége des scélérats. Ah! que cette Europe est un étrange pays! et que je regrette les douces mœurs dont on jouit, à l'ombre de ton sceptre, dans les heureuses contrées qui m'ont vu naître sous ta domination! Lettre troisième Dès que je fus entré chez mon Portugais, et que, après avoir bien fermé, il crut que nous étions en sûreté, il me dit : Je vois bien que vous ne faites que d'arriver dans ce pays, et que tout doit vous y paraître nouveau. Vous avez vu des cérémonies religieuses qui sans doute vous ont semblé singulières; vous avez lu des livres de morale qui vous ont réconcilié avec les bonzes. Apprenez que ces cérémonies et ces livres de vertus ne sont en effet que des amorces pour le peuple; tout ce que vous voyez, depuis le souverain pontife jusqu'au dernier de ces moines qui trottent, crottés jusqu'à l'échine, à travers des boues, n'en font que peu d'état; le Tien sert de prétexte à leur ambition et à leur avarice, la religion leur sert à l'un et à l'autre. Voilà pourquoi leur vient ce zèle; voilà pourquoi ils font brûler tous ceux qui veulent rompre les fers de leur esclavage. Nous avons vu des grands lamas qui commettaient l'adultère et l'inceste, qui faisaient métier et profession d'empoisonneurs; il n'est aucun crime que les mitres et la tiare n'aient couvert. En général, tous ces gens d'Église sont les plus méchants et les plus dangereux de tous les hommes par l'audace de leurs entreprises et par l'implacable malignité de leurs vengeances. Je vous en parle si franchement, parce que dans le fond je ne suis pas de leur religion; je suis juif. - Qu'est-ce que juif? dis-je, en l'interrompant; je n'ai jamais entendu parler de ces gens-là. - Les Juifs, dit-il, ont été le peuple élu de Dieu; ils ont habité la Judée; ils ont été enfin chassés par les Romains, et ils vivent à présent dispersés sur la terre, comme les Banians et les Guèbres en Asie. Notre livre de lois est celui sur lequel les chrétiens fondent le leur; ils avouent que leur religion tire son origine de la nôtre; mais ces enfants ingrats battent et maltraitent leur mère. Pour n'être point brûlée à Lisbonne, ma famille se prête au culte extérieur de cette religion, et moi, pour vivre plus tranquillement, je me suis fait familier de l'inquisition. Je l'interrompis encore pour savoir ce que c'est que familier; il me dit que c'était un engagement par lequel on prenait part à tout ce qui regardait cet abominable tribunal et qui pouvait l'offenser. Je lui fis mes remercîments des éclaircissements qu'il ve nait de me donner; nous nous séparâmes, et nous nous promîmes de nous revoir. Lettre quatrième Le père Bertau vint le lendemain chez moi, et je lui demandai d'abord s'il était de la même espèce des bonzes que l'on avait chassés du Portugal. Il me répondit que oui, en ajoutant : Hélas! on a chassé ces bons pères de leur sainte retraite par une cruelle injustice. A ce mot, le feu me monta au visage. Quoi! vouliez-vous, mon père, que le roi de Portugal se fît assassiner par ces faquins de bonzes? lui dis-je. - Il valait mieux, dit le père, être assassiné pour le bien de son âme que de chasser ces pieux religieux. - Quelle affreuse maxime, mon père! Comment, ajoutai-je, peut-elle cadrer avec ces livres de morale que vous m'avez fait lire? - Très-bien, repartit-il; selon l'avis du père Bauni,a de Sanchezb et de quelques-uns de nos plus célèbres casuistes, il faut tuer les rois lorsqu'ils sont tyrans. - Ah! Confucius, Confucius, m'écriai-je, que diriez-vous, si vous entendiez de telles horreurs? Qu'heureux est ton empire, sublime empereur, qu'une religion qui tolère et pratique ces exécrables maximes ne soit point établie sous ta domination! Depuis cette conversation, je pris le père Bertau en aversion, et ne voulus plus vivre avec lui. Je me trouvai le lendemain dans une société de prêtres, car tout est prêtre dans ce pays-là, dans l'espérance de devenir lama un jour. Le Portugais s'y trouva aussi. Je fus curieux d'apprendre comment on faisait le grand lama, et voici à peu près ce que j'ai pu recueillir sur ce sujet. Ils disent que le Tien est séparé en trois parties (jamais, quoi qu'ils aient fait pour me l'expliquer, je n'y ai rien pu comprendre), et qu'une partie du Tien, qu'ils appellent le Saint-Esprit, préside à l'élection du lama, qu'on choisit d'entre septante bonzes qui sont tous rouges comme des écrevisses. Mon Portugais me dit : N'en croyez rien; ce sont quelques rois qui ont beaucoup de crédit, et les intrigues de ces écrevisses, qui font le lama; et quoique la joie de l'être devenu soit près de s'épancher avec emportement, il est obligé de pleurer et de se plaindre du grand fardeau dont on le charge. On le choisit le plus vieux que l'on peut, afin que, bientôt, de ces ambitieux qui aspirent à son poste l'un ou l'autre puisse lui succéder. On a encore une raison plus forte pour les choisir si âgés; c'est pour qu'ils donnent moins de scandale. Dans un vieillard de soixante-dix ans, toutes les passions contraires à la chasteté sont éteintes, il ne reste que l'ambition et l'avarice; mais comme on ne s'en scandalise pas, cela ne fait aucun tort à l'Église. - Mais comment, lui dis-je, toute cette Église, ce culte et ce raffinement de dogmes s'est-il établi? - Pas tout d'un coup, me dit le Portugais. Du commencement, la religion était simple, les bonzes peu puissants, et les vertus éclatantes; depuis, les vices et les superstitions ont été en augmentant; ils ont tenu des assemblées de bonzes qu'on nomme conciles, et chaque concile a fait un nouvel article de foi. Il n'y a point d'absurdité qui n'ait passé par la tête de ces Pères du concile. Dans le temps que l'autorité du lama était portée à son comble, il ne s'en fallut de rien qu'une certaine vierge qu'ils disent mère de Dieu ne devînt déesse et la quatrième personne de la Trinité.a Mais ne voilà-t-il pas un bonze de l'Allemagne qui se révolte contre le lama, qui dessille les yeux des peuples et des princes sur leur imbécile crédulité, et qui forme un parti considérable de frondeurs animés contre ceux-ci, qui s'appellent catholiques! Le lama et les écrevisses, comme vous les nommez, qui lui servent de conseil, comprirent que ce n'était pas le moment favorable pour augmenter la superstition; la Vierge devint ce qu'elle put, et ils se bornèrent à défendre vigoureusement leurs anciens dogmes. Cependant, depuis ce temps, ils ont été obligés de renoncer à bien des miracles qu'ils faisaient auparavant, et qui les couvriraient de ridicule, s'ils les renouvelaient, Ils exorcisent encore quelquefois des démons; mais c'est plutôt pour n'en point perdre tout à fait l'habitude, car cela ne fait plus le même effet qu'autrefois. Voilà d'où vient cette haine violente entre ces religions, quoiqu'ils soient tous chrétiens. Les bonzes ne pardonneront jamais à ces hérétiques la perte qu'ils ont faite de gros revenus et d'évêchés; ils les regardent surtout comme des surveillants incommodes, qui les obligent à être plus raisonnables qu'ils le voudraient; aussi depuis ce schisme n'ont-ils point osé introduire la moindre petite superstition; vous les en voyez au désespoir, et ils ont bien de la peine d'entretenir le peuple dans sa crédulité. Sur ces entrefaites vint un bonze qui dit à mon Portugais que le grand lama le demandait; nous nous séparâmes, il alla vers le pontife, et moi, tout pensif, je repassai toutes ces choses extraordinaires dans ma tête, pour te les mander. Lettre cinqième Mon Portugais revint le lendemain de bon matin chez moi. Il me dit qu'il avait été fort grondé du lama, et qu'il fulminait toujours contre son maître de ce qu'il chassait ces perfides bonzes de ses États. Il voudrait, dit-il, que les rois se laissassent humblement égorger par ces marauds tonsurés, comme des volailles de basse-cour. Je lui ai parlé librement. Tout autre que lui aurait rougi de l'indignité avec laquelle il protége le crime; mais ces gens ont un front qui ne rougit jamais;a ils se croient inspirés et infaillibles. - Il faut bien qu'ils soient inspirés, lui dis-je, sans quoi pareille sottise et une conduite aussi odieuse serait insoutenable. Ah! que nos lettrés sont saints, et que leurs mœurs sont divines! C'est la pure vertu, jamais ils ne s'en écartent; aussi ne sont-ils inspirés que par cette vertu pure qui naît dans le sein immortel et bienheureux du Tien. - Ne perdons pas le temps à raisonner, me dit le Portugais; il se fera aujourd'hui une cérémonie dans le grand temple, qui mérite d'attirer votre attention. - Une cérémonie? dis-je; et pourquoi? - Le grand lama, me dit le Portugais, y figurera. Venez, et rendons-nous au temple pour en être spectateurs. Nous partîmes aussitôt, et nous trouvâmes un concours prodigieux de peuple qui s'était assemblé devant ce superbe édifice. Nous eûmes de la peine à percer la foule; cependant, comme mon Portugais était envoyé d'un grand roi, on lui fit place, et je me glissai à sa faveur vers un endroit de l'église d'où l'on pouvait voir de près la cérémonie; et je ne quittai point mon Portugais, pour avoir quelqu'un qui m'expliquât ce qui s'y passerait. Des bonzes en grand nombre commencèrent par faire des Dieux, selon leur coutume; ensuite parut le grand lama, escorté de ses écrevisses et d'un grand nombre de bonzes qui portaient de grands bonnets fendus sur la tête. Le lama est un vieillard qui a les soixante ans passés, mais qui ne paraît pas avoir envie d'incommoder le Saint-Esprit de sitôt pour inspirer le choix de son successeur. Il s'assit majestueusement sous un dais somptueux qu'on lui avait préparé; sur quoi un de ces bonzes à bonnet fendu lui présenta une épée et un bonnet. Qu'est-ce que ceci? dis-je à mon Portugais. - C'est, me dit-il, une épée et un bonnet qu'il doit bénir. - Et pourquoi les bénir? - Parce qu'ils doivent servir à un grand général qui fait la guerre contre un de ces princes qui sont dans le schisme, et qui ne sont point soumis au lama. - Mais, dis-je, on m'a dit qu'il était le père de tous les chrétiens, on dit qu'il est ministre de paix; comment peut-il donc armer les mains des enragés qui s'entre-font la guerre? - Très-bien, me dit le Portugais, parce que les véritables ennemis de ce prince hérétique lui ont persuadé qu'ils détruiraient l'hérésie, et qu'ils ramèneraient tous ces peuples égarés dans le giron de l'Église; et d'ailleurs, comme il doit aux ennemis de l'hérétique son élévation au pontificat, il faut qu'il leur en témoigne sa reconnaissance. Pour cet effet, il bénit cette épée, et de plus il a prêché une espèce de croisade contre l'hérétique, et obligé tous les bonzes qui ont quelque relation avec cet ennemi, qu'on appelle empereur, à lui payer un tribut qu'on ne lève jamais que lorsque l'on fait la guerre aux Turcs. En même temps je vis que le lama, après avoir marmotté tout bas quelques paroles, et fait quelques signes hiéroglyphiques auxquels je ne pus rien comprendre, prit un goupillon qu'il trempa dans un bassin d'eau, puis en aspergea le bonnet et l'épée. Qu'est-ce-ci? dis-je. - C'est de l'eau bénite, dit le Portugais; c'est de l'eau mêlée d'un peu de sel et de sainte huile; depuis que ce bonnet et cette épée en ont été humectés, ils en acquièrent tout leur mérite, et rendront le général qui les recevra sage, heureux et victorieux. - Ah! que n'avons-nous eu de ces bonnets et de ces épées, m'écriai-je, lorsque les Tar-tares nous conquirent! Ce général va donc tout subjuguer? - Il s'en flatte bien, dit l'autre. - Mais pourquoi se fait cette guerre? ajoutai-je. - Pour qu'une puissance assez voisine, repartit-il, du Portugal puisse prendre un poisson qu'on nomme merluche en Amérique, on fait la guerre à un prince du Nord. - Mais cela est incompréhensible, lui dis-je. - La liaison de cette affaire serait trop longue à vous expliquer, repartit-il; mais ne savez-vous pas que, lorsque l'on a des maux de tête, on se fait saigner du pied? - Et la tête et les pieds, qu'ont-ils à faire avec la politique? Ne vous moquez pas de moi parce que je suis Chinois. Pendant que nous raisonnions, le grand lama s'était retiré. Nous nous promenâmes encore dans le temple pour en examiner les beautés; c'est sans contredit le plus beau monument de l'industrie humaine. Tandis que le Portugais m'en faisait admirer tous les détails, un bonze de sa connaissance s'approcha de lui, et lui demanda qui j'étais; et en apprenant que j'étais Chinois, il me considéra avec attention, en répétant souvent : Il est vrai qu'il a l'air bien chinois.a Et comme il s'aperçut que je savais quelque peu d'italien que j'avais appris des jésuites géomètres de Ta Sublimité, il m'accosta, et me demanda si j'étais baptisé. Je lui dis que je n'avais pas cet honneur. Il me demanda encore si je n'en avais peut-être pas d'envie. Moins que jamais, repartis-je, après ce que j'ai vu et ce que j'ai entendu. - Ah! que je vous plains, mon beau monsieur! C'est bien dommage, mais vous serez damné; la grâce vous a conduit dans des lieux où elle pouvait se répandre sur vous, vous y résistez, votre erreur est volontaire, vous serez damné, monsieur, vous serez damné. Je pris la liberté de lui demander s'il croyait que Confutzé aurait un même sort. Peut-on en douter? reprit mon bonze. - Ah! lui répondis-je, j'aime mieux être damné avec lui que sauvé avec vous. Et nous nous quittâmes. Tu vois, sublime empereur, combien tout diffère de l'Europe à l'Asie; leur religion, leur police, leurs coutumes, leur politique, tout me surprend; beaucoup de choses me paraissent inconcevables. Je ne saurais encore juger si c'est que mes vues sont trop bornées, ou qu'en effet il y entre beaucoup d'extravagances dans ces usages, qui, parce qu'ils y sont accoutumés, ne leur paraissent plus ridicules. La principale différence qu'il y a entre les esprits des Européens et les nôtres consiste en ce qu'ils se livrent souvent sans réserve à leur imagination, qu'ils prennent pour leur raison, et que ceux qui ont le bonheur d'être nés tes esclaves sont inviolablement attachés aux principes. Lettre sixième Le bonze qui m'avait voulu baptiser, et qui m'avait damné la veille, vint me voir. Il avait fait ses réflexions, et je remarquai qu'il avait imaginé quelque nouveau moyen qui ne lui faisait pas renoncer à ma conversion. Il m'engagea à faire connaissance avec un de ces bonnets fendus qui avait présenté le goupillon au grand lama. Je me rendis dans sa maison, où je fus reçu avec ce que les Italiens appellent le puntiglio, qui sont des cérémonies auxquelles nous autres Chinois, nous avons le bonheur de ne rien comprendre. Après plusieurs questions sur mon pays, où j'entrevis plus de dédain et d'ignorance que de politesse et de connaissances, mon mage se mit à disserter sur la grandeur de sa nation; il me conta longuement qu'autrefois ils avaient été les conquérants de l'univers, et qu'à présent, quoique prêtres, ils ne renonçaient pas à gouverner le monde. Je ne pus m'empêcher de lui repartir qu'il faisait bien de me dire que les Italiens avaient été autrefois des conquérants, parce que, en vérité, à présent on aurait peine à s'en douter. Sur quoi il entama un long discours où il prétendit me prouver invinciblement que les grandes actions de ces Romains n'étaient rien, parce qu'ils n'avaient pas eu ce qu'il appelle la grâce; mais qu'eux autres les surpassaient beaucoup, parce qu'ils avaient cette grâce, cette prédilection divine, et qu'ils gouvernaient l'Europe par une espèce de foudre qu'ils appellent la parole, et ce qu'ils appellent encore excommunication, ce qui atterre tous les rois lorsqu'ils les en menacent. Je lui dis que je trouvais à la vérité l'avantage des Romains modernes sur les anciens très-beau; mais que si tout ce qu'il m'avait conté de ce peuple conquérant était vrai, je ne pouvais m'empêcher de lui dire qu'il me semblait qu'ils avaient beaucoup dégénéré, et que je préférais les lauriers des anciens aux tonsures des modernes. Ah, profane! s'écria-t-il, je vois bien que vous n'avez pas le goût des choses célestes; vous ne serez jamais qu'un Chinois, qu'un aveugle empêtré dans la chair et le sang. - Pour Chinois, lui dis-je, je me fais honneur de l'être; mais pour aveugle, cela est différent, et je parie bien que vous seriez très-fâché que votre peuple eût de petits yeux aussi perçants que les miens. - Point de colère, mon cher Phihihu, me dit-il; vous avez des yeux pour apercevoir les objets des sens, mais votre âme, qui ne sait point s'exalter, n'a point d'yeux pour apercevoir les choses intellectuelles. - Ah! lui dis-je, bonze orgueilleux des fausses lueurs que vous avez prises dans vos écoles, apprenez à connaître le divin Confutzé, et vous verrez que ses sectateurs sont capables de concevoir toutes les choses intellectuelles qui sont à la portée de la lumière de nous autres faibles mortels. - Comment! dit-il, vos brahmanes font-ils comme nous vœu de chasteté? - S'ils ne le font pas, lui repartis-je, ils l'observent à peu près de même. Il n'y a point de carrefour dans cette superbe ville où l'on ne rencontre des bâtards de cardinaux ou d'évêques. A quoi servent ces vœux de chasteté? Et quand même vous les pratiqueriez religieusement, le Tien veut-il être servi par des eunuques, et vous a-t-il créés avec des membres inutiles? Sur quoi il me vanta beaucoup les ouvrages d'un certain Origène, qui, à ce qu'il disait, avait poussé la perfection jusqu'à se priver volontairement des membres qui pouvaient l'inciter à la moindre impudicité. Qu'on fe rait bien, lui dis-je, de vous traiter de même! car il n'y a rien de plus effronté que de se vanter de perfections qu'on est si loin de posséder. Cela lui déplut fort. Non, me dit-il, nous n'avons de castrati que pour chanter les louanges du Tien dans nos églises; mais nous nous gardons bien d'exercer ces cruautés sur nous-mêmes, parce qu'il n'y a point de mérite sans tentation, ni de victoire sans combats. Je ne pus m'empêcher de lui dire que cent mille bâtards ne le rendraient pas, lui et ses pareils, aussi odieux que tant d'autres crimes que cette multitude de bonzes commettaient, et que son lama autorisait si insolemment. Soit qu'il me trouvât moins flexible qu'il ne l'avait cru, je m'aperçus que sa physionomie se refrognait; il fit une dernière tentative, et me poussa un argument sur l'antiquité de son Église. Je lui répondis par ce que j'avais appris de mon juif portugais, que, sans compter que la religion juive était plus ancienne que celle dont il me vantait l'antiquité, je pouvais l'assurer que celle des lettrés surpassait encore de beaucoup celle des juifs. La conversation devint languissante, et je me retirai tout doucement. Mon Portugais vint me trouver, et me dit qu'il avait découvert qu'on avait eu grande envie de me baptiser; que le prélat chez lequel j'avais été avait espéré de se rendre célèbre par ma conversion; et qu'au fond il était très-mortifié de n'y avoir pas réussi. O sublime empereur! vois ce que j'ai déjà risqué pour ton service, d'être lapidé pour un bouc à Constantinople, d'être brûlé par l'inquisition à Rome, et, ce qui pis est, d'y être baptisé sur le point d'en partir. Je compte de quitter Rome dans peu de jours pour un royaume qu'on appelle la France, et où l'on dit qu'il y a de belles choses à voir; de là je me prépare à passer par l'Espagne, l'Angleterre et l'Allemagne, pour retourner par Constantinople et te rendre compte de toutes les singularités que j'aurai remarquées dans un si long voyage. Adrian Hsia : Friedrich II. verdankt seine Chinakenntnisse Christian Wolff und dem Briefwechsel mit Voltaire. Zwar berichtet der ‚Sendbote’ über Europa, doch sein Verfasser lässt ihn durch die katholischen Missstände immer wieder in Erstaunen versetzen, so das ein positives Chinabild entsteht. Friedrich II. strebt einen regulären Handel mit China an und schreibt deswegen an Kaiser Qianlong. Doch China hat kein Interesse an einem internationalen Handel, wie ihn die Europäer praktizieren und lehnt dankend ab. Daraufhin kühlt sich der Enthusiasmus Friedrichs II. zu China ab. An Voltaire schreibt er, dass die Chinesen „nur seltsame, wunderliche Barbaren“ seien und dass sein „Confrère (Qianlong), der Chines gewordne Mandschu“, der einen Brief an Friedrich II. in Versen geschrieben hat, ein schlechter Poet sei. Lee Eun-jeung : Friedrich II. identifiziert sich mit dem Bild des chinesischen Herrschers. Er will derjenige sein, der als gerechter, aufgeklärter, mit der Vernunft und der natürlichen Moral verbündeter Herrscher im Kampf mit den Mächten einer finsteren und moralisch verfaulten katholischen Religion steht. Werner Lühmann : Friedrich II. hat seinen Briefroman in der Zeit höchster militärischer und politischer Bedrängnis konzipiert. Er achtet in Konfuzius den herausragenden Vertreter einer Haltung, der er sich verwandt fühlt und ehrt in gewissem Masse auch die geistige Leistung der Jesuiten, insoweit diese sich als Mittler im Austausch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zwischen Ost undWest hervorgetan haben. Er bewertet die Vorzüge chinesischen Denkens : Der gesunde Menschenverstand, gepaart mit einer auf die Vernunft gegründeten Weisheit zeichnen nach seiner Auffassung das Weltverständnis der Chinesen aus. Was wiege angesichts solcher Freiheit des Geistes die Drohung ewiger Verdammnis durch eine in blindem Aberglauben gefangenen Kirche, die den Anspruch auf den Besitz einer alleinseligmachenden Wahrheit erhebe. |
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12 | 1787 |
Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [ID D1955]. Quellen : Le Comte, Louis. Nouveaux mémoires sur l'état de la Chine [ID D1771]. Du Halde, Jean-Baptiste. Description géographique... [ID D1819]. Mémoires concernant l'histoire, les sciences, les arts [ID D1867]. Gaubil, Antoine. Le Chou-king [ID D1856]. [Shu jing]. Pallas, Peter Simon. Sammlung historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften [ID D16796]. Quelle zu Tibet : Georgi, Agustin Antonio. Alphabetum tibetanum [ID D17081]. Herder schreibt zu seinen Quellen : Um die fleissigen Versuche eines Deguignes, Bayers, Gatterers u.a., die kühneren Hypothesen Baillys, Pauws, Delisle u.f., die nützlichen Bemühungen in Sammlung und Bekanntmachung asiatischer Sprache und Schriften sind Vorarbeiten zu einem Gebäude, dessen ersten sichern Grundstein ich zu sehen wünschte. Im umfangreichen handschriftlichen Nachlass Herders in der Staatbibliothek Berlin, befinden sich eine Reihe von Büchern über China und Ostasien, sowie Zusammenfassungen des Shu jing und Yi jing. Herder schreibt : Südwärts am Fluss der grossen Asiatischen Gebürge haben sich, so viel uns aus der Geschichte bekannt ist, die ältesten Reiche und Staaten der Welt gebildet ; auch giebt uns die Naturgeschichte dieses Welttheils Ursachen an die Hand, warum sie sich nicht sowohl Nord- als Südwärts bilden konnten… In diesem hohen, zerschnittenen, steilabhängigen Lande, der Steppen- und Bergregion unsrer alten Welt, mussten also lange Zeit und in manchen Strichen vielleicht immer, Sarmaten und Scythen, Mongolen und Tatern, halbwilde Jäger und Nomaden wohnen. Das Bedürfniss und die Gegend machte die Menschen barbarisch : eine einmal gewohnte Gedankenlose Lebensart bevestigte sich in den abgetrennten oder umherziehenden Stämmen und bildete bei roheren Sitten jenen beinah ewigen National-Charakter, der alle Nord-Asiatischen Stämme von den südlichen Völkern so ganz unterscheidet… Da aber, was die Vernunft noch nicht thun kann, der Despotismus thun muss, so entstanden im südlichen Asien jene Gebäude der Policeien und Religionen, die uns wie Pyramiden und Götzentempel der alten Welt in ewigen Traditionen dastehn ; schätzbare Denkmale für die Geschichte der Menschheit, die uns in jeder Trümmer zeigen, wie viel der Bau der Menschen-Vernunft unserm Geschlecht gekostet habe. Sina Im östlichen Winkel Asiens unter dem Gebirge liegt ein Land, das an Alter und Kultur sich selbst das Erste aller Länder, die Mittelblume der Welt nennt, gewiß aber eins der ältesten und merkwürdigsten ist: Sina. Kleiner als Europa, rühmt es sich einer größern Anzahl Einwohner, als in Verhältnis dieser volkreiche Weltteil hat; denn es zählt in sich über 25 Millionen und zweimal Hunderttausend steuernde Ackerleute, 1572 große und kleine Städte, 1193 Kastelle, 3158 steinerne Brücken, 2796 Tempel, 2606 Klöster, 10809 alte Gebäude u. f.181, welche alle von den 18 Statthalterschaften, in welche das Reich geteilt ist, samt Bergen und Flüssen, Kriegsleuten und Gelehrten, Produkten und Waren in langen Verzeichnissen jährlich aufgestellt werden. Mehrere Reisende sind darüber einig, daß außer Europa und etwa dem alten Ägypten wohl kein Land so viel an Wege und Ströme, an Brücken und Kanäle, selbst an künstliche Berge und Felsen gewandt habe als Sina, die, nebst der Großen Mauer, alle doch vom geduldigen Fleiß menschlicher Hände zeugen. Von Kanton bis nahe bei Peking kommt man zu Schiff, und so ist das ganze mit Bergen und Wüsten durchschnittene Reich durch Landstraßen, Kanäle und Ströme mühsam verbunden; Dörfer und Städte schwimmen auf Flüssen, und der innere Handel zwischen den Provinzen ist reg und lebendig. Der Ackerbau ist die Grundsäule ihrer Verfassung: man spricht von blühenden Getreide- und Reisfeldern, von künstlich gewässerten Wüsten, von urbar gemachten wilden Gebirgen; an Gewächsen und Kräutern wird gepflegt und genutzt, was genutzt werden kann; so auch Metalle und Mineralien, außer dem Golde, das sie nicht graben. Tierreich ist das Land, fischreich die Seen und Ströme; der einzige Seidenwurm ernährt viele Tausende fleißiger Menschen. Arbeiten und Gewerbe sind für alle Klassen des Volks und für alle Menschenalter, selbst für Abgelebte, Blinde und Taube. Sanftmut und Biegsamkeit, gefällige Höflichkeit und anständige Gebärden sind das Alphabet, das der Sinese von Kindheit auf lernt und durch sein Leben hin unablässig übt. Ihre Polizei und Gesetzgebung ist Regelmäßigkeit und genau bestimmte Ordnung. Das ganze Staatsgebäude in allen Verhältnissen und Pflichten der Stände gegeneinander ist auf die Ehrerbietung gebaut, die der Sohn dem Vater und alle Untertanen dem Vater des Landes schuldig sind, der sie durch jede ihrer Obrigkeiten wie Kinder schützt und regiert: könnte es einen schönern Grundsatz der Menschenregierung geben? Kein erblicher Adel; nur Adel des Verdienstes soll gelten in allen Ständen; geprüfte Männer sollen zu Ehrenstellen kommen, und diese Ehrenstellen allein geben Würde. Zu keiner Religion wird der Untertan gezwungen und keine, die nicht den Staat angreift, wird verfolgt; Anhänger der Lehre Konfuzius', des Laotse und Fo, selbst Juden und Jesuiten, sobald sie der Staat aufnimmt, wohnen friedlich nebeneinander. Ihre Gesetzgebung ist auf Sittenlehre, ihre Sittenlehre auf die heiligen Bücher der Vorfahren unabänderlich gebaut: der Kaiser ihr oberster Priester, der Sohn des Himmels, der Bewahrer der alten Gebräuche, die Seele des Staatskörpers durch alle seine Glieder; könnte man sich, wenn jeder dieser Umstände bewährt und jeder Grundsatz in lebendiger Ausübung wäre, eine vollkommenere Staatsverfassung denken? Das ganze Reich wäre ein Haus tugendhafter, wohlerzogner, fleißiger, sittsamer, glücklicher Kinder und Brüder. Jedermann kennet die vorteilhaften Gemälde der sinesischen Staatsverfassung, die insonderheit von den Missionarien nach Europa geschickt und daselbst nicht nur von spekulativen Philosophen, sondern von Staatsmännern sogar, beinah als politische Ideale bewundert wurden; bis endlich, da der Strom menschlicher Meinungen sich in entgegengesetzten Winkeln fortbricht, der Unglaube erwachte und ihnen weder ihre hohe Kultur noch selbst ihre sonderbare Eigentümlichkeit zugestehen wollte. Einige dieser europäischen Einwürfe haben das Glück gehabt, in Sina selbst, obgleich ziemlich sinesisch, beantwortet zu werden, und da die meisten Grundbücher ihrer Gesetzgebung und Sittenverfassung samt der weitläuftigen Geschichte ihres Reichs und einigen gewiß unparteiischen Nachrichten vor uns liegen, so wäre es übel, wenn sich nicht endlich ein Mittelweg zwischen dem übertriebnen Lobe und Tadel, wahrscheinlich die richtige Straße der Wahrheit, auffinden ließe. Die Frage über das chronologische Altertum ihres Reichs können wir dabei völlig an ihren Ort gestellt sein lassen; denn so wie der Ursprung aller Reiche des Erdbodens mit Dunkel umhüllt ist, so mag es dem Forscher der Menschengeschichte gleichgültig sein, ob dies sonderbare Volk zu seiner Bildung ein paar Jahrtausende mehr oder minder bedurft habe; genug, wenn es diese Bildung sich selbst gab und wir sogar in seinem langsamen Gange die Hindernisse wahrnehmen, warum es nicht weiterkommen konnte. Und diese Hindernisse liegen in seinem Charakter, im Ort seiner Wohnung und in seiner Geschichte uns klar vor Augen. Mongolischer Abkunft ist die Nation, wie ihre Bildung, ihr grober oder verschrobener Geschmack, ja selbst ihre sinnreiche Künstlichkeit und der erste Wohnsitz ihrer Kultur zeigt. Im nördlichen Sina herrschten ihre ersten Könige: hier wurde der Grund zu dem halbtatarischen Despotismus gelegt, der sich nachher, mit glänzenden Sittensprüchen überzogen, durch mancherlei Revolutionen bis ans Südmeer hinab verbreitet. Eine tatarische Lehnverfassung war Jahrhunderte hin das Band, das die Vasallen an den Herrscher knüpfte, und die vielen Kriege dieser Vasallen gegeneinander, die öftern Umstürze des Throns durch ihre Hände, ja selbst die ganze Hofhaltung des Kaisers, seine Regentschaft durch Mandarinen, eine uralte Einrichtung, die nicht erst die Dschengis-Khaniden oder Mandschu nach Sina gebracht haben; alle dies zeigt, welcher Art und welches genetischen Charakters die Nation sei: ein Gepräge, das man bei der Ansicht des Ganzen und seiner Teile, bis auf Kleider, Speisen, Gebräuche, häusliche Lebensart, die Gattungen ihrer Künste und ihres Vergnügens, schwerlich aus den Augen verliert. Sowenig nun ein Mensch seinen Genius, d.i. seine angeborne Stammart und Komplexion, zu ändern vermag, sowenig konnte auch durch jede künstliche Einrichtung, wenn sie gleich jahrtausendelang währte, dies nordöstliche Mongolenvolk seine Naturbildung verleugnen. Es ist auf diese Stelle der Erdkugel hingepflanzt, und wie die Magnetnadel in Sina nicht die europäische Abweichung hat, so konnten aus diesem Menschenstamme in dieser Region auch niemals Griechen und Römer werden. Sinesen waren und blieben sie, ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen Nase, platter Stirn, wenig Bart, großen Ohren und einem dicken Bauch von der Natur begabt; was diese Organisation hervorbringen konnte, hat sie hervorgebracht, etwas anders kann man von ihr nicht fordern. Alle Nachrichten sind darüber einig, daß sich die mongolische Völkerschaften auf der nordöstlichen Höhe Asiens durch eine Feinheit des Gehörs auszeichnen, die sich bei ihnen ebensowohl erklären läßt, als man sie bei andern Nationen vergebens suchen würde; die Sprache der Sinesen ist von dieser Feinheit des Gehörs Zeuge. Nur ein mongolisches Ohr konnte darauf kommen, aus dreihundertdreißig Silben eine Sprache zu formen, die sich bei jedem Wort durch fünf und mehrere Akzente unterscheiden muß, um nicht statt Herr eine Bestie zu nennen und jeden Augenblick die lächerlichsten Verwirrungen zu sagen; daher ein europäisches Ohr und europäische Sprachorgane sich äußerst schwer oder niemals an diese hervorgezwungene Silbenmusik gewöhnen. Welch ein Mangel an Erfindungskraft im Großen und welche unselige Feinheit in Kleinigkeiten gehörte dazu, dieser Sprache aus einigen rohen Hieroglyphen die unendliche Menge von achtzigtausend zusammengesetzten Charakteren zu erfinden, in welchen sich nach sechs und mehr Schriftarten die sinesische Nation unter allen Völkern der Erde auszeichnet! Eine mongolische Organisation gehörte dazu, um sich in der Einbildungskraft an Drachen und Ungeheuer, in der Zeichnung an jene sorgsame Kleinfügigkeit unregelmäßiger Gestalten, in den Vergnügungen des Auges an das unförmliche Gemisch ihrer Gärten, in ihren Gebäuden an wüste Größe oder pünktliche Kleinheit, in ihren Aufzügen, Kleidungen und Lustbarkeiten an jene eitle Pracht, an jene Laternenfeste und Feuerwerke, an lange Nägel und zerquetschte Füße, an einen barbarischen Troß von Begleitern, Verbeugungen, Cerimonien, Unterschieden und Höflichkeiten zu gewöhnen. Es herrscht in alle diesem so wenig Geschmack an wahrem Naturverhältnis, so wenig Gefühl von innrer Ruhe, Schönheit und Würde, daß immer nur eine verwahrloste Empfindung auf diesen Gang der politischen Kultur kommen und sich von demselben so durchaus modeln lassen konnte. Wie die Sinesen das Goldpapier und den Firnis, die sauber gemalten Züge ihrer krausen Charaktere und das Geklingel schöner Sentenzen unmäßig lieben, so ist auch die Bildung ihres Geistes diesem Goldpapier und diesem Firnis, den Charakteren und dem Schellenklange ihrer Silben durchaus ähnlich. Die Gabe der freien, großen Erfindung in den Wissenschaften scheint ihnen, wie mehreren Nationen dieser Erdecke, die Natur versagt zu haben; dagegen sie ihren kleinen Augen jenen gewandten Geist, jene listige Betriebsamkeit und Feinheit, jenes Kunsttalent der Nachahmung in allem, was ihre Habsucht nützlich findet, mit reicher Hand zuteilte. In ewigem Gange, in ewiger Beschäftigung gehen und kommen sie des Gewinnes und Dienstes wegen, so daß man sie auch in ihrer höchstpolitischen Form immer noch für ziehende Mongolen halten könnte; denn bei allen ihren unzähligen Einteilungen haben sie die Einteilung noch nicht gelernt, Bewerbsamkeit mit Ruhe also zu gatten, daß jede Arbeit einen jeden auf seiner Stelle finde. Ihre Arzneikunst wie ihr Handel ist ein feines, betrügerisches Pulsfühlen, welches ihren ganzen Charakter in seiner sinnlichen Feinheit und erfindungslosen Unwissenheit malt. Das Gepräge des Volks ist eine merkwürdige Eigenheit in der Geschichte, weil es zeigt, was durch hochgetriebne politische Kultur aus einem Mongolenvolk, unvermischt mit andern Nationen, werden oder nicht werden konnte; denn daß die Sinesen in ihrer Erdecke sich, wie die Juden, von der Vermischung mit andern Völkern frei erhalten haben, zeigt schon ihr eitler Stolz, wenn es sonst nichts zeigte. Einzelne Kenntnisse mögen sie erlangt haben, woher sie wollten; das ganze Gebäude ihrer Sprache und Verfassung, ihrer Einrichtung und Denkart ist ihnen eigen. Wie sie das Einimpfen der Bäume nicht lieben, so stehen auch sie, trotz mancher Bekanntschaft mit andern Völkern, noch jetzt uneingeimpft da, ein mongolischer Stamm, in einer Erdecke der Welt zur sinesischen Sklavenkultur verartet. Alle Kunstbildung der Menschen geschieht durch Erziehung; die Art der sinesischen Erziehung trug nebst ihrem Nationalcharakter mit dazu bei, warum sie das, was sie sind, und nicht mehr wurden. Da nach mongolischer Nomadenart kindlicher Gehorsam zum Grunde aller Tugenden, nicht nur in der Familie, sondern jetzt auch im Staat, gemacht werden sollte, so mußte freilich daher mit der Zeit jene scheinbare Sittsamkeit, jenes höfliche Zuvorkommen erwachsen, das man als einen Charakterzug der Sinesen auch mit feindlicher Zunge rühmt; allein was gab dieser gute Nomadengrundsatz in einem großen Staat für Folgen? Als in ihm der kindliche Gehorsam keine Grenzen fand, indem man dem erwachsnen Mann der selbst Kinder und männliche Geschäfte hat, dieselbe Pflicht auflegte, die nur dem unerzognen Kinde gebührte, ja, als man diese Pflicht auch gegen jede Obrigkeit festsetzte, die doch nur im bildlichen Verstande durch Zwang und Not nicht aber aus süßem Naturtriebe den Namen des Vaters führt: was konnte, was mußte daher anders entstehen, als daß indem man trotz der Natur ein neues menschliches Herz schaffen wollte, man das wahre Herz der Menschen zur Falschheit gewöhnte? Wenn der erwachsne Mann noch kindischen Gehorsam bezeugen soll, so muß er die selbstwirksame Kraft aufgeben, die die Natur in seinen Jahren ihm zur Pflicht machte; leere Cerimonien treten an die Stelle der herzlichen Wahrheit, und der Sohn, der gegen seine Mutter, solange der Vater lebte, in kindlicher Ergebenheit hinschwamm, vernachlässigt sie nach seinem Tode, sobald nur das Gesetz sie eine Konkubine heißt. Gleichergestalt ist's mit den kindlichen Pflichten gegen die Mandarinen: sie sind kein Werk der Natur, sondern des Befehls; Gebräuche sind sie, und wenn sie gegen die Natur streben, so werden sie entkräftende, falsche Gebräuche. Daher der Zwiespalt der sinesischen Reichs- und Sittenlehre mit ihrer wirklichen Geschichte. Wie oft haben die Kinder des Reichs ihren Vater vom Thron gestoßen, wie oft die Väter gegen ihre Kinder gewütet! Geizige Mandarine lassen Tausende verhungern und werden, wenn ihr Verbrechen vor den höheren Vater kommt, mit elenden Stockschlägen wie Knaben unwirksam gezüchtigt. Daher der Mangel an männlicher Kraft und Ehre, den man selbst in den Gemälden ihrer Helden und Großen wahrnimmt: die Ehre ist kindliche Pflicht geworden, die Kraft ist in modische Achtsamkeit gegen den Staat verartet; kein edles Roß ist im Dienst, sondern ein gezähmter Maulesel, der in Gebräuchen von Morgen bis zum Abende gar oft die Rolle des Fuchses spielt. Notwendig mußte diese kindische Gefangenschaft der menschlichen Vernunft, Kraft und Empfindung auf das ganze Gebäude des Staats einen schwächenden Einfluß haben. Wenn einmal die Erziehung nichts als Manier ist, wenn Manieren und Gebräuche alle Verhältnisse des Lebens nicht nur binden, sondern auch überwältigen: welche Summen von Wirksamkeit verliert der Staat! zumal die edelste Wirksamkeit des menschlichen Herzens und Geistes. Wer erstaunt nicht, wenn er in der sinesischen Geschichte auf den Gang und die Behandlung ihrer Geschäfte merkt, mit wie vielem ein Nichts getan werde! Hier tut ein Kollegium, was nur einer tun muß, damit es recht getan sei; hier wird gefragt, wo die Antwort daliegt; man kommt und geht, man schiebt auf und weicht aus, nur um das Cerimoniel des kindlichen Staatsrespekts nicht zu verfehlen. Der kriegerische sowohl als der denkende Geist sind fern von einer Nation, die auf warmen Öfen schläft und von Morgen bis zum Abende warm Wasser trinkt. Nur der Regelmäßigkeit im gebahnten Wege, dem Scharfsinn in Beobachtung des Eigennutzes und tausend schlauer Künste, der kindischen Vieltätigkeit ohne den Überblick des Mannes, der sich fragt, ob dies auch nötig zu tun sei und ob es nicht besser getan werden möge: nur diesen Tugenden ist in Sina der königliche Weg eröffnet. Der Kaiser selbst ist in dies Joch gespannt; er muß mit gutem Beispiel vorgehen und wie der Flügelmann jede Bewegung übertreiben. Er opfert im Saal seiner Vorfahren nicht nur an Festtagen, sondern soll bei jedem Geschäft, in jedem Augenblick seines Lebens den Vorfahren opfern und wird mit jedem Lobe und jedem Tadel vielleicht gleich ungerecht bestraft. Kann man sich wundern, daß eine Nation dieser Art nach europäischem Maßstabe in Wissenschaften wenig erfunden, ja, daß sie Jahrtausende hindurch sich auf derselben Stelle erhalten habe? Selbst ihre Moral- und Gesetzbücher gehen immer im Kreise umher und sagen auf hundert Weisen genau und sorgfältig mit regelmäßiger Heuchelei von kindlichen Pflichten immer dasselbe. Astronomie und Musik, Poesie und Kriegskunst, Malerei und Architektur sind bei ihnen, wie sie vor Jahrhunderten waren, Kinder ihrer ewigen Gesetze und unabänderlich-kindischen Einrichtung. Das Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden; ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Wintertiere. Daher die Absonderung, Behorchung und Verhinderung jedes Fremden; daher der Stolz der Nation, die sich nur mit sich selbst vergleicht und das Auswärtige weder kennt noch liebt. Es ist ein Winkelvolk auf der Erde, vom Schicksal außer den Zusammendrang der Nationen gesetzt und eben dazu mit Bergen, Wüsten und einem beinah buchtlosen Meer verschanzt. Außer dieser Lage würde es schwerlich geblieben sein, was es ist; denn daß seine Verfassung gegen die Mandschu standgehalten hat, beweist nichts, als daß sie in sich selbst gegründet war und daß die roheren Überwinder zu ihrer Herrschaft einen solchen Lehnstuhl kindlicher Sklaverei sehr bequem fanden. Sie dorften nichts an ihm ändern, sie setzten sich drauf und herrschten. Dagegen die Nation in jedem Gelenk ihrer selbsterbauten Staatsmaschine so sklavisch dient, als ob es eben zu dieser Sklaverei erfunden wäre. Alle Nachrichten von der Sprache der Sinesen sind darüber einig, daß sie zur Gestalt dieses Volks in seiner künstlichen Denkart unsäglich viel beigetragen habe; denn ist nicht jede Landessprache das Gefäß, in welchem sich die Ideen des Volks formen, erhalten und mitteilen? Zumal wenn eine Nation so stark als diese an ihrer Sprache hängt und von ihr alle Kultur herleitet. Die Sprache der Sinesen ist ein Wörterbuch der Moral, d.i. der Höflichkeit und guten Manieren: Nicht nur Provinzen und Städte, sondern selbst Stände und Bücher unterscheiden sich in ihr, so daß der größte Teil ihres gelehrten Fleißes bloß auf ein Werkzeug verwandt wird, ohne daß noch mit dem Werkzeuge irgend etwas ausgerichtet werde. An regelmäßigen Kleinigkeiten hängt in ihr alles; sie sagt mit wenigen Lauten viel, um mit vielen Zügen einen Laut und mit vielen Büchern ein und dasselbe herzumalen. Welch ein unseliger Fleiß gehört zum Pinseln und Druck ihrer Schriften! Eben dieser Fleiß aber ist ihre Lust und Kunst, da sie sich an schönen Schriftzügen mehr als an der zaubervollsten Malerei ergötzen und das einförmige Geklingel ihrer Sittensprüche und Komplimente als eine Summe der Artigkeit und Weisheit lieben. Nur ein so großes Reich und die Arbeitseligkeit des Sinesen gehört dazu, um z.B. von der einzigen Stadt Kai-fong-fu vierzig Bücher in acht großen Bänden zu malen186 und diese mühsame Genauigkeit auf jeden Befehl und Lobspruch des Kaisers zu verbreiten. Sein Denkmal über die Auswanderung der Torguts ist ein ungeheures Buch auf Steinen187, und so ist die ganze gelehrte Denkart der Sinesen in künstliche und Staatshieroglyphen vermalt. Unglaublich muß der Unterschied sein, mit dem diese Schriftart allein schon auf die Seele wirkt, die in ihr denkt. Sie entnervt die Gedanken zu Bilderzügen und macht die ganze Denkart der Nation zu gemalten oder in die Luft geschriebenen willkürlichen Charakteren. Mitnichten ist diese Entwicklung der sinesischen Eigenheit eine feindselige Verachtung derselben; denn sie ist Zug für Zug aus den Berichten ihrer wärmsten Verteidiger geschöpft und könnte mit hundert Proben aus jeder Klasse ihrer Einrichtungen bewiesen werden. Sie ist auch nichts als Natur der Sache, d. i. die Darstellung eines Volks, das sich in einer solchen Organisation und Weltgegend, nach solchen Grundsätzen, mit solchen Hülfsmitteln, unter solchen Umständen im grauen Altertum bildete und wider den gewöhnlichen Lauf des Schicksals unter andern Völkern seine Denkart so lange bewahrte. Wenn das alte Ägypten noch vor uns wäre, so würden wir, ohne von einer gegenseitigen Ableitung träumen zu dürfen, in vielen Studien eine Ähnlichkeit sehen, die nach gegebnen Traditionen nur die Weltgegend anders modifizierte. So wäre es mit mehreren Völkern, die einst auf einer ähnlichen Stufe der Kultur standen; nur diese sind fortgerückt oder untergegangen und mit andern vermischt worden; das alte Sina am Rande der Welt ist wie eine Trümmer der Vorzeit in seiner halbmongolischen Einrichtung stehengeblieben. Schwerlich ist's zu beweisen, daß die Grundzüge seiner Kultur von Griechen aus Baktra oder von Tatern aus Balkh hinübergebracht wären; das Gewebe seiner Verfassung ist gewiß einheimisch und die wenige Einwirkung fremder Völker auf dasselbe leicht zu erkennen und abzusondern. Ich ehre die Kings ihrer vortrefflichen Grundsätze wegen wie ein Sineser, und der Name Konfuzius ist mir ein großer Name, ob ich die Fesseln gleich nicht verkenne, die auch er trug und die er mit bestem Willen dem abergläubigen Pöbel und der gesamten sinesischen Staatseinrichtung durch seine politische Moral auf ewige Zeiten aufdrang. Durch sie ist dies Volk, wie so manche andere Nation des Erdkreises, mitten in seiner Erziehung, gleichsam im Knabenalter, stehengeblieben, weil dies mechanische Triebwerk der Sittenlehre den freien Fortgang des Geistes auf immer hemmte und sich im despotischen Reich kein zweiter Konfuzius fand. Einst, wenn sich entweder der ungeheure Staat teilt oder wenn aufgeklärtere Kien-Longs den väterlichen Entschluß fassen werden, was sie nicht ernähren können, lieber als Kolonien zu versenden, das Joch der Gebräuche zu erleichtern und dagegen eine freiere Selbsttätigkeit des Geistes und Herzens, freilich nicht ohne mannigfaltige Gefahr, einzuführen: alsdenn, aber auch alsdenn werden Sinesen immer nur Sinesen bleiben, wie Deutsche Deutsche sind und am östlichen Ende Asiens keine alten Griechen geboren werden. Es ist die offenbare Absicht der Natur, daß alles auf der Erde gedeihe, was auf ihr gedeihen kann, und daß eben diese Verschiedenheit der Erzeugungen den Schöpfer preise. Das Werk der Gesetzgebung und Moral, das als einen Kinderversuch der menschliche Verstand in Sina gebaut hat, findet sich in solcher Festigkeit nirgend sonst auf der Erde; es bleibe an seinem Ort, ohne daß je in Europa ein abgeschlossenes Sina voll kindlicher Pietät gegen seine Despoten werde. Immer bleibt dieser Nation der Ruhm ihres Fleißes, ihres sinnlichen Scharfsinns, ihrer feinen Künstlichkeit in tausend nützlichen Dingen. Das Porzellan und die Seide, Pulver und Blei, vielleicht auch den Kompaß, die Buchdruckerkunst, den Brückenbau und die Schiffskunst nebst vielen andern feinen Hantierungen und Künsten kannten sie, ehe Europa solche kannte; nur daß es ihnen fast in allen Künsten am geistigen Fortgange und am Triebe zur Verbesserung fehlt. Daß übrigens Sina sich unsern europäischen Nationen verschließt und sowohl Holländer als Russen und Jesuiten äußerst einschränkt, ist nicht nur mit ihrer ganzen Denkart harmonisch, sondern gewiß auch politisch zu billigen, solange sie das Betragen der Europäer in Ostindien und auf den Inseln, in Nordasien und in ihrem eignen Lande um und neben sich sehen. Taumelnd von tatarischem Stolz, verachten sie den Kaufmann, der sein Land verläßt, und wechseln betrügliche Ware gegen das, was ihnen das Sicherste dünkt: sie nehmen sein Silber und geben ihm dafür Millionen Pfunde entkräftenden Tees zum Verderben Europas. Tibet Zwischen den großen asiatischen Gebirgen und Wüsteneien hat sich ein geistliches Kaisertum errichtet, das in seiner Art wohl das einzige der Welt ist; es ist das große Gebiet der Lamas. Zwar ist die geistliche und weltliche Macht in kleinen Revolutionen bisweilen getrennt gewesen, zuletzt aber sind beide immer wieder vereinigt worden, so daß hier, wie nirgend anders, die ganze Verfassung des Landes auf dem kaiserlichen Hohepriestertum ruht. Der große Lama wird nach der Lehre der Seelenwanderung vom Gott Schaka oder Fo belebt, der bei seinem Tode in den neuen Lama fährt und ihn zum Ebenbilde der Gottheit weiht. In festgesetzten Ordnungen der Heiligkeit zieht sich von ihm die Kette der Lamas herab, und man kann sich in Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen kein festgestellteres Priesterregiment denken, als auf dieser Erdhöhe wirklich thront. Der oberste Besorger weltlicher Geschäfte ist nur Statthalter des obersten Priesters, der, den Grundsätzen seiner Religion nach, voll göttlicher Ruhe in einem Palasttempel wohnt. Ungeheuer sind die Fabeln der lamaischen Weltschöpfung, grausam die gedrohten Strafen und Büßungen ihrer Sünden, aufs höchste unnatürlich der Zustand, zu welchem ihre Heiligkeit aufstrebt: er ist entkörperte Ruhe, abergläubische Gedankenlosigkeit und Klosterkeuschheit. Und dennoch ist kaum ein Götzendienst so weit als dieser auf der Erde verbreitet; nicht nur Tibet und Tangut, der größte Teil der Mongolen, die Mandschu, Kalkas, Eluthen u. f. verehrten, den Lama; und wenn sich in neueren Zeiten einige von der Anbetung seiner Person losrissen, so ist doch ein Stückwerk von der Religion des Schaka das einzige, was diese Völker von Glauben und Gottesdienst haben. Aber auch südlich zieht sich diese Religion weit hin; die Namen Sommona-Kodom, Schaktscha-Tuba, Sangol-Muni, Schige-Muni, Buddha, Fo, Schekia sind alle eins mit Schaka, und so geht diese heilige Mönchslehre, wenngleich nicht überall mit der weitläuftigen Mythologie der Tibetaner, durch Indostan, Ceylon, Siam, Pegu, Tonkin bis nach Sina, Korea und Japan. Selbst in Sina sind Grundsätze des Fo der eigentliche Volksglaube; dagegen die Grundsätze Konfuzius' und Laotse nur Gattungen einer politischen Religion und Philosophie sind unter den obern, d. i. den gelehrten Ständen. Der Regierung daselbst ist jede dieser Religionen gleichgültig; ihre Sorge ist nicht weiter gegangen, als daß sie die Lamas und Bonzen dem Staat unschädlich zu machen, sie von der Herrschaft des Dalai-Lama trennte. Japan vollends ist lange Zeit ein halbes Tibet gewesen; der Dairi war der geistliche Oberherr und der Kubo sein weltlicher Diener, bis dieser die Herrschaft an sich riß und jenen zum bloßen Schatten machte: ein Schicksal, das im Lauf der Dinge liegt und gewiß einmal auch das Los des Lamas sein wird. Nur durch die Lage seines Reichs, durch die Barbarei der mongolischen Stämme, am meisten aber durch die Gnade des Kaisers in Sina ist er so lange, was er ist, geblieben. Auf den kalten Bergen in Tibet entstand die lamaische Religion gewiß nicht; sie ist das Erzeugnis warmer Klimate, ein Geschöpf menschlicher Halbseelen, die die Wohllust der Gedankenlosigkeit in körperlicher Ruhe über alles lieben. Nach den rauhen tibetanischen Bergen, ja nach Sina selbst ist sie nur im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung kommen, da sie sich denn in jedem Lande nach des Landes Weise verändert. In Tibet und Japan wurde sie hart und strenge, unter den Mongolen ist sie beinah ein wirksamer Aberglaube worden; dagegen Siam, Indostan und die Länder, die ihnen gleichen, sie als Naturprodukte ihres warmen Klima aufs mildeste nähren. Bei so verschiedner Gestalt hat sie auch ungleiche Folgen auf jeden Staat gehabt, in dem sie lebte. In Siam, Indostan, Tunkin u. f. schläfert sie die Seelen ein; sie macht mitleidig und unkriegerisch, geduldig, sanft und träge. Die Talapoinen streben nicht nach dem Thron; bloße Almosen sind's, um die sie menschliche Sünden büßen. In hartem Ländern, wo das Klima den müßigen Beter nicht so leicht nährt, mußte ihre Einrichtung auch künstlicher werden, und so machte sie endlich den Palast zum Tempel. Sonderbar ist der Unzusammenhang, in welchem die Sachen der Menschen sich nicht nur binden, sondern auch lange erhalten. Befolgte jeder Tibetaner die Gesetze der Lamas, indem er ihren höchsten Tugenden nachstrebte, so wäre kein Tibet mehr. Das Geschlecht der Menschen, die einander nicht berühren, die ihr kaltes Land nicht bauen, die weder Handel noch Geschäfte treiben, hörte auf; verhungert und erfroren lägen sie da, indem sie sich ihren Himmel träumen. Aber zum Glück ist die Natur der Menschen stärker als jeder angenommene Wahn. Der Tibetaner heiratet, ob er gleich damit sündigt; und die geschäftige Tibetanerin, die gar mehr als einen Mann nimmt und fleißiger als die Männer selbst arbeitet, entsagt gerne den hohem Graden des Paradieses, um diese Welt zu erhalten. Wenn eine Religion der Erde ungeheuer und widrig ist, so ist's die Religion in Tibet188, und wäre, wie es wohl nicht ganz zu leugnen ist, in ihre härtesten Lehren und Gebräuche das Christentum hinübergeführt worden, so erschiene dies wohl nirgend in ärgerer Gestalt als auf den tibetanischen Bergen. Glücklicherweise aber hat die harte Mönchsreligion den Geist der Nation sowenig als ihr Bedürfnis und Klima ändern mögen. Der hohe Bergbewohner kauft seine Büßungen ab und ist gesund und munter; er zieht und schlachtet Tiere, ob er gleich die Seelenwanderung glaubt, und erlustigt sich funfzehn Tage mit der Hochzeit, obgleich seine Priester der Vollkommenheit ehelos leben. So hat sich allenthalben der Wahn der Menschen mit dem Bedürfnis abgefunden; er dung so lange, bis ein leidlicher Vergleich wurde. Sollte jede Torheit, die im angenommenen Glauben der Nationen herrscht, auch durchgängig geübt werden: welch ein Unglück! Nun aber werden die meisten geglaubt und nicht befolgt, und dies Mittelding toter Überzeugung heißt eben auf der Erde Glauben. Denke man nicht, daß der Kaimucke nach dem Muster der Vollkommenheit in Tibet lebt, wenn er ein kleines Götzenbild oder den heiligen Kot des Lama verehrt. Aber nicht nur unschädlich, auch nutzlos sogar ist dieses widerliche Regiment der Lamas nicht gewesen. Ein grobes heidnisches Volk, das sich selbst für die Abkunft eines Affen hielt, ist dadurch unstreitig zu einem gesitteten, ja in manchen Stücken feinen Volk erhoben, wozu die Nachbarschaft der Sinesen nicht wenig beitrug. Eine Religion, die in Indien entsprang, liebt Reinlichkeit; die Tibetaner dürfen also nicht wie tatarische Steppenvölker leben. Selbst die überhohe Keuschheit, die ihre Lamas preisen, hat der Nation ein Tugendziel aufgesteckt, zu welchem jede Eingezogenheit, Nüchternheit und Mäßigung, die man an beiden Geschlechtern rühmt, wenigstens als ein Teil der Wallfahrt betrachtet werden mag, bei welcher auch die Hälfte mehr ist als das Ganze. Der Glaube einer Seelenwanderung macht mitleidig gegen die lebendige Schöpfung, so daß rohe Berg- und Felsenmenschen vielleicht mit keinem sanftem Zaum als mit diesem Wahn und dem Glauben an lange Büßungen und Höllenstrafen gebändigt werden konnten. Kurz, die tibetanische ist eine Art päpstlicher Religion, wie sie Europa selbst in seinen dunkeln Jahrhunderten, und sogar ohne jene Ordnung und Sittlichkeit, hatte, die man an Tibetanern und Mongolen rühmt. Auch daß diese Religion des Schaka eine Art Gelehrsamkeit und Schriftsprache unter dies Bergvolk und weiterhin selbst unter die Mongolen gebracht hat, ist ein Verdienst für die Menschheit, vielleicht das vorbereitende Hülfsmittel einer Kultur, die auch diesen Gegenden reift. Wunderbar langsam ist der Weg der Vorsehung unter den Nationen, und dennoch ist er lautre Naturordnung. Gymnosophisten und Talapoinen, d. i. einsame Beschauer, gab es von den ältesten Zeiten her im Morgenlande; ihr Klima und ihre Natur lud sie zu dieser Lebensart ein. Die Ruhe suchend, flohen sie das Geräusch der Menschen und lebten mit dem wenigen vergnügt, was ihnen die reiche Natur gewährte. Der Morgenländer ist ernst und mäßig, so wie in Speise und Trank, so auch in Worten; gern überläßt er sich dem Fluge der Einbildungskraft, und wohin konnte ihn diese als auf Beschauung der allgemeinen Natur, mithin auf Weltentstehung, auf den Untergang und die Erneuung der Dinge führen? Die Kosmogonie sowohl als die Metempsychose der Morgenländer sind poetische Vorstellungsarten dessen, was ist und wird, wie solches sich ein eingeschränkter menschlicher Versland und ein mitfühlendes Herz denkt. »Ich lebe und genieße kurze Zeit meines Lebens; warum sollte, was neben mir ist, nicht auch seines Daseins genießen und von mir ungekränkt leben?« Daher nun die Sittenlehre der Talapoinen, die insonderheit auf die Nichtigkeit aller Dinge, auf das ewige Umwandeln der Formen der Welt, auf die innere Qual der unersättlichen Begierden eines Menschenherzens und auf das Vergnügen einer reinen Seele so rührend und aufopfernd dringt. Daher auch die sanften humanen Gebote, die sie zu Verschonung ihrer selbst und anderer Wesen der menschlichen Gesellschaft gaben und in ihren Hymnen und Sprüchen preisen. Aus Griechenland haben sie solche sowenig als ihre Kosmogonie geschöpft; denn beide sind echte Kinder der Phantasie und Empfindungsart ihres Klima. In ihnen ist alles bis zum höchsten Ziel gespannt, so daß nach der Sittenlehre der Talapoinen auch nur indische Einsiedler leben mögen; dazu ist alles mit so unendlichen Märchen umhüllt, daß, wenn je ein Schaka gelebt hat, er sich schwerlich in einem der Züge erkennen würde, die man dankend und lobend auf ihn häufte. Indessen lernt nicht ein Kind seine erste Weisheit und Sittenlehre durch Märchen? Und sind nicht die meisten dieser Nationen in ihrem sanften Seelenschlaf lebenslang Kinder? Lasst uns also der Vorsehung verzeihen, was nach der Ordnung, die sie fürs Menschengeschlecht wählte, nicht anders als also sein konnte. Sie knüpfte alles an Tradition, und so konnten Menschen einander nicht mehr geben, als sie selbst hatten und wußten. Jedes Ding in der Natur, mithin auch die Philosophie des Buddha, ist gut und böse, nachdem sie gebraucht wird. Sie hat so hohe und schöne Gedanken, als sie auf der andern Seite Betrug und Trägheit erwecken und nähren kann, wie sie es auch reichlich getan hat. In keinem Lande blieb sie ganz dieselbe; allenthalben aber, wo sie ist, steht sie immer doch eine Stufe über dem rohen Heidentum, die erste Dämmerung einer reinem Sittenlehre, der erste Kindestraum einer weltumfassenden Wahrheit. Sekundärliteratur Adrian Hsia : Die Menschen seien, davon ist Herder überzeugt, von der Vorsehung dazu bestimmt, sich zu höheren Wesen zu entwickeln. Daher gibt es für ihn nur eine Menschheit und er lehnt jegliche Rassentheorie ab. In der Praxis scheint es aber Ausnahmen zu geben : In der antiken Welt nimmt er anscheinend die Ägypter aus, in der modernen die Mongolen und Kalmücken. Die Klimatheorie eines Montesquieu zitierend, den Herder bewundert und als gross bezeichnet, und mit der Hinzuziehung des Begriffs 'des inneren Klimas', d.h. der genetischen Kraft, sucht er die innenwohnenden Mängel der beiden und verwandten Völker zu beweisen. Zu ihnen zählt er auch die Chinesen… Er will vermitteln zwischen den extrem positiven Jesuiten-Berichten über China und der extrem negativen Meinung der Zeit, den mittleren Weg gehen und China so beschreiben, wie es war. Seine Objektivität ist aber relativ, denn er kann die Kalmücken aus unbekannten Gründen und Ägypter der Hieroglyphen wegen, nicht ausstehen. Die Chinesen gebrauchen auch eine Art Bilderschrift. Für Herder ist die Sprache eine besondere Gabe Gottes, welche die Aufklärung der Menschheit, eine Voraussetzung zum höheren Wesen, erst möglich macht. Er glaubt, die fehlerhafte Sprache sei auf die chinesischen Eigenschaften, nämlich auf den 'Mangel von Erfindungskraft im Grossen' und die 'Unselige Feinheit in Kleinigkeiten' zurückzuführen. Dazu kämen noch die 80'000 Schriftzeichen von mindestens sechs Schriftarten… Herder glaubt, die mongolische Abkunft der Chinesen beeinträchtige nicht nur das Gehör, die Sprache und das Aussehen der Chinesen, sondern auch ihre Mentalität und Denkweise. Es sei unmöglich für so ein Volk, einen Sinn von 'innerer Ruhe, Schönheit und Würde' zu besitzen. Die verwahrloste mongolische Empfindung bringe es mit sich, dass den Chinesen die 'Gabe der freien, grossen Erfindung in den Wissenschaften, die Natur versagt zu haben'. Die Grundtugend dieser Kultur sei der kindliche Gehorsam, der auf Befehl ruht, sowohl in der Familie als auch im Staat. Männliche Kraft und Ehre seien den Chinesen fremd, es sei alles nur kindliche Pflicht und leere Zeremonien. Er spricht das Urteil aus, dass die chinesische Kultur im 'Knabenalter' stehen geblieben ist. In diesem Zusammenhang macht er seinen bekannten und oft zitierten Spruch über China : "Das Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden ; ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Wintertiere"… Er bekennt, dass er die 'kings', die konfuzianischen Kanons, und Konfuzius verehre, aber auch dieser sei durch die mongolische Abkunft bestimmt… Erst im Vergleich mit den Nachbarländern Chinas, nämlich 'Kotschinchina, Tongking, Laos, Korea, die östliche Tartarei, Japan', werden die Chinesen in positiverem Licht dargestellt. Dies bedeutet jedoch, dass die Einwohner und Kulturen in jenen Ländern umso negativer wegkommen… Herder beschreibt Tibet aus folgendem Grund : Tibet ist die Heimat des Buddhismus, der Sitz von Dalai Lama, eine Art Kaiser-Hohepriester, der für Herder Buddha verkörpert. Herder betrachtet die 'Lama Religion' als die grösste der ganzen Welt, eine Religion der Massen, die vom Katholizismus beeinflusst worden ist, während Konfuzianismus und Taoismus die Religion der Oberschicht ist. Lee Eun-jeung : Die durch die Berichte der Chinamissionare ausgelöste Begeisterung für die chinesische Moral- und Staatsphilosophie hat unter dem Einfluss von Montesquieu und Rousseau in Ablehnung umgeschlagen. Herder will hier keine Positition beziehen, sondern beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er sieht in China keineswegs einen idealen Musterstaat. Dabei erkennt er durchaus die durch die Jesuiten vermittelten Einsichten an und findet die konfuzianische Sittenlehre in der Theorie sogar bewundernswert. Aber er hegt Zweifel, ob die Berichte der Jseuiten der chinesischen Wirklichkeit auch entsprechen… Im Grunde spricht er den Chinesen die Fähigkeit ab, sich mittels Vernunft und politischer Aktivität von der Tradition, dem Despotismus und anderen Einschränkungen zu befreien… Während Leibniz die chinesische Schrift als Vorbild für eine 'lingua universalis' betrachtet, scheint Herder in ihr nur das Abstossend-Fremde zu sehen… Betrachtet man Herders China- und Konfuzianismusdarstellung im gesamten Kontext seines geschichtsphilosophischen Denkens, kann man darin zwei wichtige politische Überlegungen finden, die vor allem an der Gegenwart seiner Zeit orientiert sind. Die eine ist die grundsätzliche Absage Herders an die despotische Herrschaft und damit verbunden die Forderung nach politischer Reform. Seine andere Überlegung lässt sich mit dem Begriff 'Wunschbild eines pazifistischen Föderalismus' der Kulturen der Menschheit charakterisieren. Rudolf Franz Merkel : Weil Herder’s Massstäbe beinahe ausschliesslich europäische Ideale wie Fortschritt, Individualismus und Haumanität waren, so vermochte er nicht bis zu den chinesischen Idealen des Traditionalismus, des Universismus und der chinesischen Humanität vordringen ; sonst hätte er China an dessen eigenen Massstäben messen oder vom höheren Standpunkt einer Synthese der chinesischen und der europäischen Ideale aus beurteilen müssen. Andreas Pigulla : Herder ist überzeugt, dass es schon sehr viel früher ein gut organisiertes Staatsgebilde in China vorhanden gewesen sein muss… Mit der ständigen Wiederholung der Unwandelbarkeit der Grundpositionen des chinesischen Volkscharakters im Zusammenhang äusserer Faktoren und der Zuordnung zur 'Kindheit' des Menschengeschlechts ist bei Herder keine Diskriminierung der chinesischen Geschichte intendiert. Er lässt Mitleid für die chinesische Zivilisation durchscheinen. Es fehle ihr nur an den 'Triebfedern' zur Weiterentwicklung, aber auch die europäische Entwicklung habe schliesslich lange gedauert. Er hält die Entwicklungsmöglichkeiten Chinas durchaus für gegeben, denn es fehle der Nation nicht an 'Fähigkeiten zur Wissenschaft'. Er favorisiert eine Teilung Chinas, damit sich konkurrierende Kräfte, die Europa zur Entwicklung gebracht hätten, auch in China herausbilden können… Die geographische Lage, die zur Entstehung der Menschheit ideal war, wird im Verlauf der Geschichte zur Falle. Sie bedingt die Isolation des chinesischen Staates… Regierungsformen werden bei Herder nach dem Freiheitsraum beurteilt, den sie dem Individuum zubilligen. In diesen Bezugsrahmen kann die chinesische Geschichte nur als negatives Gegenbild einbezogen werden… Die Sprachentwicklung in Asien ist für ihn auch wichtigste Begründung für die kulturelle Andersartigkeit im Vergleich zu Europa. Dabei ist seine Einschätzung durchaus nicht undifferenziert. Er erkennt an, dass die einsilbigen, aus 'wenigen Wurzeln' gebildeten Sprachformen gegenüber den ‚unnützen Hülfsworten und langweiligen Flexionen’ der meisten Sprachen zu einer 'fein-durchdachten, leise-geregelten Hieroglyphik der unsichtbaren Gedankensprache' führen. Er erkennt die ästhetisch reizvolle Seite der chinesischen Sprache an, doch bedeutsamer für sein Konzept von Kulturentwicklung ist ihre Funktion. Aus 'fast kindischem Kunstwerk' erscheint ihm eine Sprachbildung, die aus '330 Silben achtzigtausend zusammengesetzte Charaktere' bildet. Sie macht Chinesisch für Herder einzigartig. Die Bewertung fällt allerdings negativ aus… Die chinesische Erziehung sieht er vom Prinzip der 'kindlichen Pietät' beherrscht und hält es für die gesellschaftliche Ordnung eines Nomadenvolks für angemessen. In China seien dadurch aber auch das Erwachsenenleben, die staatlichen Strukturen und das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten bestimmt… Mit der Dichotomie zwischen menschlicher Natur und gesellschaftlicher Ordnungskonzeption hat Herder den für ihn massgeblichen Grundwiderspruch der chinesischen Kultur und Geschichte herausgearbeitet… Sein umfassender Menschheitsbegriff verbietet aber die völlige Ausgrenzung des chinesischen Volkes aus der Menschheitsgeschichte, auch wenn er diese als Fortentwicklung versteht, an der China keinen Anteil hat… Da Herders Vorstellung von Menschheitsentwicklung nicht von einem engen Fortschrittsbegriff ausgehen soll und er Rationalisierungsprozesse nicht als seine einzige Komponente begreift, lassen sich in der Chinabeschreibung auch die Verluste, die bei der fortschreitenden Weiterentwicklung Europas erkannt werden, widerspiegeln. Die Struktur der Chinabeschreibungen ist an der Schilderung des faktisch Bestehenden orientiert und nicht an der Vermittlung historischer Verläufe. Jahreszahlen werden in den China betreffenden Abshnitten nicht genannt. Da China ausserhalb der für Herder am menschlichen Fortschritt beteiligten Nationen steht, kommen nicht die Veränderungen in der chinesischen Geschichte in den Blick… Nach einer kurzen topographischen Bestimmung und einer Beschreibung der Raumstruktur entsteht zunächst ein positives Bild Chinas mit ‚florierender Landwirtschaft, 'Höflichkeit', 'öffentlicher Ordnung', 'Pietät', 'Religionsfreiheit' und 'Moral'. Doch diese den Jesuitenbeschreibungen entnommenen idealisierten Zuschreibungen dienen ihm nur zur Kontrasierung seiner eigenen Version. Die erwähnten Merkmale chinesischer Kultur werden zu Hindernissen in der Entwicklung menschlicher Vernunft… An China werden die politischen und gesellschaftlichen Faktoren exemplarisch ausgeführt, die Fortschritt verhindern. Die Wiederverwendung der Begriffe 'Despotismus' und 'Isolation' in bezug auf europäische Geschichte macht deutlich, dass China als Beispiel für Zustände, die für Herder auch in der eigenen Geschichte noch überwunden werden müssen, herangezogen wird. Despotische Regierungen sind innerhalb der europäischen und der asiatischen Geschichte für ihn nicht naturbedingt, sondern von Menschen veränderbar. Fang Weigui : Was in der Geschichte Herder in erster Linie anspricht, sind Sitten und Charaktere, sowohl der Völker als auch einzelner Menschen. Er hat in seiner Ausführung seine genetische Betrachtungsmethode nicht konsequent durchgeführt, besser gesagt, nicht persisten durchführen können. In dem Moment, als er mit einigen Beispielen, die er aus den Kaufmanns- und Jesuitenberichten geschöpft hat, aufzuzeigen versucht, dass die Natur den Chinesen die Gabe der freien, grossen Erfindung in den Wissenschaften versagt zu haben scheine, dass das ganze Gebäude ihrer Sprache, Verfassung und Denkart ihnen eigen sei, kommt diese 'neue' Betrachtungsweise in der Tat ganz klar zum Vorschein. Sobald er dann zur chinesischen Erziehung übergeht und im beträchtlichen Umfang seinen Vorgänern jene eigentlich nicht angeborenen sondern erworbenen ‚Charaktere’ der Chinesen nachbetet, stellt er automatisch seine eigene Methode in Frage. Bei der Bewertung der chinesischen Kultur sind Herders Massstäbe letzten Endes die europäischen Ideale wie Fortschriftt, Individualimus, Humanität und christliche Anschauungen, die ihn hier und da zu eurozentrischen Schlussfolgerungen veranlassen. Ausgehend von seiner genetischen Betrachtungsweise folgert Herder, dass die chinesische Sprache 'zur Gestalt dieses Volks in seiner künstlichen Denkart unsäglich viel beigetragen habe'. Dass es den Chinesen an Erfindungskraft mangelt, wie es seine Vorgänger in Europa in Umlauf setzten, ist für Herder auch den 'rohen Hieroglyphen' zuzuschreiben. Er hat die chinesische Reichs- und Sittenlehre angeprangert, die für ihn schliesslich nur eine 'Sklavencultur' darstellt. Die kindische Gehorsamkeit, scheinbare Sittsamkeit und höfliche Zuvorkommenheit führe nur dazu, dass man das wahre Herz des Menschen an Falschheit gewöhnen und die von der Natur bescherte selbstwirksame Kraft aufgeben müsse. Diese Grundtugenden der Chinesen seinen nicht anderes als entkräftende falsche Gebräuche, die durch kindische Gefangenschaft der menschlichen Vernunft, Kraft und Empfindung gekennzeichnet seien. Werner Lühmann : Dass Herder zum Zeitpunkt der gedanklichen Konzeption seiner Ideen die chinesischen Klassiker, allen voran Konfuzius, wenn überhaupt dann nur höchst beiläufig zur Kenntnis genommen haben dürfte, wird bei der Lektüre jener Passagen deutlich, die sich mit der Geistesgeschichte Chinas befassen… Dass er sich dann in den letzten Jahren seines Lebens instensiv mit der Geistesgeschichte auseinandergesetzt hat, geht auch aus einem Hinweis auf Joseph de Guignes und Corneille de Pauw hervor. Ulrich Faust : Der Buddhismus scheidet für Herder bei der Behandlung Chinas und Indiens aus, obleich er ihn für den eigentlichen Volksglauben hält. Das 18. Jahrhundert hatte nur eine sehr unzureichende Kenntnis vom Buddhismus. Im Nachlass von Herder finden sich einige Aufzeichnungen, die von dem Bemühen zeugen, sich auch eine Kenntnis über diese Religion zu verschaffen. Herder über Tibet : Er nimmt als erster eine klare Trennung von Mythos und Religion vor. Seine negative Bewertung der tibetanischen Mythologie ist erstaunlich, da die nicht weniger abstrusen Mythologien Indiens von ihm positiv bewertet werden. Er nennt diese asiatische Religion nicht Buddhismus, sondern spricht von der Religion des Schaka oder Fo. Er hat richtig erkannt, dass die Ursprünge der tibetischen Religion in Indien liegen. Er tadelt die Untätigkeit der Mönche, anerkennt aber ihre kulturellen Verdienste. Willy Richard Berger : Herders China-Bild ist weniger die goldene Mitte zwischen idealisierendem Lob und absprechender Verzeichnung als vielmehr doch ein entschieden negatives Bild. Gefangen im eurozentrischen Denken, gelingt es ihm nicht, sich in die ganz andere Kultur so einzufühlen, dass er sie 'massstabgerecht' hätte erfassen können. Fixiert auf europäische Ideale wie Fortschritt, Individualismus, Humanität – nämlich auf eine christlich-antik geprägte Humanität –, bleibt es ihm verwehrt, bis zu den chinesischen Idealen des Traditionalismus, des Universismus und chinesischer Humanität vorzudringen. Beherrscht von einem religiösen Gefühl, das in der 'Fülle des Herzens' seinen Mittelpunkt hat, muss ihm das fromme Zeremoniell des chinesischen Kults kalt und sinnentleert erscheinen, und in fast völliger Unkenntnis schliesslich der literarischen und künstlerischen Originalwerke selbst macht er sich ästhetische Urteile zu eigen, die entweder an den Chinoiserien abgelesen oder aus religionspolitischen Tendenzschriften abgezogen sind. Dabei ist Herder selbst eine willkürliche Tendenz nirgendwo anzulasten, es ist nur die historisch und subjektiv bedingte Unzulänglikeit des menschlichen Urteils, die wir heute doch wahrzunehmen berechtigt sind. |
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13 | 1796 |
Lichtenberg, Georg Christoph. Von den Kriegs- und Fast-Schulen der Schinesen, nebst einigen andern Neuigkeiten von daher [ID D16012]. Lichtenberg schreibt : So lange ich über Völker zu denken im Stande gewesen bin, habe ich immer gemutmasset, dass die Schinesen das weiseste, gerechteste, sinnreichste und glücklichste Volk auf Gottes Erdboden seien. Durch dieses häufige Mutmassen habe ich es nun endlich so weit gebracht, dass ich wirklich und mit völliger Überzeugung, als wäre ich selbst dabei gewesen, glaube, dass diese Auserwählten des Himmels alle unsere so genannten leidigen neuen Erfindungen schon vor zehntausend Jahren gekannt haben, und folglich wohl noch in dem Besitz von tausend andern sein mögen, die wir, der Himmel weiss wann, noch alle werden machen müssen, ehe wir, wie sie, zur Ruhe kommen. Willy Richard Berger : Der China-Aufsatz enthält Eigenheiten des chinesischen Nationalcharakters, der chinesischen Geisteswelt und Kultur in der grosszügig verallgemeinernden Weise, wie man das im Europa des 18. Jahrhunderts diskutierte, nur mit dem Mutwillen zur satirisch verzeichnenden Karikatur. Lichtenberg war an fremden Kulturen sehr interessiert und war ein leidenschaftlicher Leser von Reisebeschreibungen. Ein Herr Sharp macht als Butler die letzte Gesandtschaftsreise nach China mit. In Lichtenbergs Notizen steht, dass er sich damit auf die Gesandtschaftsreise von 1792-1794 von Lord Macartney bezieht. Der Butler erzählt von seiner Begenung mit einem Mandarin, der ihm die Einrichtung der chinesischen Kriegs- und Fast-Schulen auseinandersetzt. Lichtenbergs vorgebliche Bewunderung für China erweist sich schnell als das genaue Gegenteil. Es sind gebräuchliche Topoi der China-Debatte, die er aufgreift : Das hohe Alter der chinesischen Kultur und der hohe zivilisatorische Standard der Chinesen. In ironischem Ton werden Dinge, die sich mit der angeblichen Kunstfertigkeit der Chinesen nicht vereinbaren, als Kleinigkeiten abgetan. Die Akademien sind eine grossangelegte staatliche Abrichtungsanstalt, deren Zöglinge nicht – wie auf den Militärakademien in Europa – auf die aktive Kriegsführung, vielmehr auf den Passiv-Krieg, nämlich die Kunst, den Krieg "mit Standhaftigkeit zu ertragen", vorbereitet werden. |
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14 | 1803 |
Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches [ID D17255]. Herder schreibt : Der Anfgang des vorigen Jahrhunderts fand die Europäischen, besonders die Römischen Christen in grosser Erwartung ; ein Welttheil, wie das Kaiserthum Sina ist, der schlaueste Welttheil Asiens, war auf dem Punkt, christlich zu werden, oder war, (so glaubten viele,) es schon geworden. Welch ein Gewinn, sagte man, für den Himmel ! Welch ein Gewinn für Europa in Ansehung der Wissenschaften und – des Handels ! Zu bald zerging diese Hoffnung. Frühe nämlich war das Christenthum schon in das ferne Sina gedungen, und hatte daselbst in die Religion der Bonzen wahrscheinlich mitgewirket. In der neueren Jahrhunderten, seit Missionen nach Asien geschäftig waren, hatte es, der Verschlossenheit des Landes ungeachtet, auch bisher an Emissarien nicht gefehlet. Insonderheit waren die Jesuiten eben so klug, als thätig ; sie ergriffen das einzige und edelste Band, das sie mit Kaiser und Reich verknüpfen konnte, das Band der Wissenschaften, der Künste. Versagen kann man ihnen den Ruhm nicht, dass seit dem Pater Ricci, der ihr Ansehen dort eigentlich gründete, sie eine Rehe gelehrter, weltkluger, unverdrossener Männer dahin gefördert, die auch Europa mit Känntnissen dieses grossen Reichs und seiner anliegenden Länder, mit Känntnissen ihrer Sprache und Bücher, ihrer Verfassung und Gebräuche sehr bekennt gemacht haben. In Europa selbst kennen wir manchen Staat weniger als Sina. Nun war zwar währender Vormundschaft des unmündigen Kaisers Kang-hi [Kangxi] durch einmüthigen Schluss der Reichstände das Christenthum für falsch und dem Reich schädlich erklärt, auch bei Leibes- und Lebensstrafe verboten. Den angesehensten Vorsteher desselben, den Jesuiten Schall, hatte man ins Gefängniss gelegt und die Verfolrung gegen christliche Mandarine weit getrieben. Seit Kann-hi [Kangxi] selbst aber auf den Thron kam und aus Liebe zu den Europäischen Wissenschaften auch ihre Lehrer liebte, seit Er im Jahre 1692 die christliche Religion für gut, seinem Reich heilsam, seinen Unterthanen erlaubt erklärt hatte, den Jesuiten eine prächtige Kirche baute, eine Gesandtschaft an den Papst schickte u.f. ; in wie grosser Hoffnung lebte man ! die Bekehrung des Kaisers und nach ihm des ganzen Reichs erwartend. Diese folgte nun zwar bis an seinen Tod nicht ; da die fremde Religion indess während seiner langen Regierung im Reich geblühet hatte und der Kaiser, trotz aller Feindseligkeiten, die andere Orden den Jesuiten durch den Römischen Hof selbst erregten, seinen Freunden treu geblieben war, so hoffte und wirkte man fort. Unglaublich ist die Geduld, die der Monarch gegen die Eingriffe Roms in die Rechte seiner Herrschaft erwies, indem er sie jederzeit nur gesetzmässig zurücktrieb oder lähmte, übrigens aber den Papst für „unverständig erklärte, dass er in einem ihm fremden Lande gebieten wolle, und über gesetzliche Gebräuche seines Reichs dem Kaiser selbst nicht glaube. Durch wie kleinfügige Streitigkeiten machte man die grosse Unternehmung zunicht, um welche sich damals die Jesuiten so viele und so feine Mühe gaben ! da sie blos ein Ceremoniel betrafen. Tien z.B. heisst der Himmel in jener Sprache, mit welchem Wort die Sinesen auch Gott benennen ; statt dessen sollten sie christlich Tien-Chu, „Herr des Himmel“ sagen. Die Ehre, die man dem Andenken des grossten Lehrers der Nation, Kung-tse (den wir Confuicus nennen) und dem Andenken der Vorfahren überhaupt nach einem unverbrüchlich gesetzlichen Landesgebrauch erwies, sollte theils abgeschafft, theils verändert, von den Täfelchen der Vorfahren z.B. die Überschrift ausgelassen und nur der Name derselben darauf bemerkt werden u.f. Welche unselige Mühe man sich über Dinge dieser Art gemacht : wie bittre Streitigkeiten darüber geführt, welche Bibliotheken für und wider geschrieben worden, wäre unglaublich, wenn es nicht vor Augen läge, so dass der Papst selbst zuletzt alles Chreiben darüber verbieten musste. Und welche Gesandtschaften von Rom nach Sina, von Sina nach Rom ! welche Congregationen in Rom ! welche Machinationen in Sina ! da dann wie gewöhnlich die Französischen Fechter die lautesten, die Italiäner, Mezzabarba z.B. die vorsichtigeren waren, indem jene sich den Sitten dieses Reichs zuwider eben so unklug als unverständig benahmen, überhaupt aber in Rom selbst die Sache sehr unsinesisch behandelt ward. Könnt ihr die Sprach-Organe einer Nation ändern ? Wenn der Sinese z.E. den Namen Maria nicht aussprechen kann, weil ihm Buchstaben in seinem Alphabet fehlen, die er nach seiner von Kindheit an gewohnten Mundart verändert, wer will es ihm wehren ? Eben so wenig könnet ihr seine Vorstellungsart ändern, die an Gebräuchen und Ceremonien haftet : denn auch diese sind eine Sprache und in Sina mit dem Staat sowohl als der Moral innig verwebet. Vom kindlichen Gehorsam gehet dort alles aus. Durch alle Stände bis zum Oberhaupt des Staats, ja bis auf die entferntesten Vorfahren verbreiten sich diese Ceremonien und Pflichten. Ihre Buchstaben, ihre Regeln und Sprüche, ihre clasischen Bücher, ihre häuslichen und öffentlichen Gebräuche, ihre Lebens- und Staatsweise ist auf dies Principium gegründet, ist darnach geordnet. Entweder musste also der christliche Katechismus den heiligen Büchern gemäss, d.i. clasisch gemacht werden, oder er blieb der Nationa unverständlich, unannehmlich. So auch mit den Gebräuchen. Der an sein Land, an die Sitten seiner Vorfahren gefesselte, von aller Welt abgeschlossene Sinese ist ganz ein Sinese und wird es wahrscheinlich noch Jahrtausende hinab bleiben. Sobald Kang-hi [Kangxi] starb, verbot sein Nachfolger Yong-tsching [Xongzheng] das Christenthum, liess im ganzen Reich, Pekin ausgenommen, die Kirchen niederreissen, und verfolgte die Christen, deren Anzahl die Jesuiten damals auf 300'000 angaben. Der Kaiser schrieb selbst einen Unterricht in der Religion für sein Reich. Der gute Kein-long [Qianlong], Nachfolger Yong-tschings, der seit 1734 das Jahrhundert hinaus eben so billig und gerecht, als klug regiert hat, liebte zwar, die Wissenschaften der Europäer, so fern sie ihm in seinem Reich nützlich schienen, deuldete auch das Christenthum in Pekin, ja gab einigemal günstige Befehle für die Christen in den Provinzen. Da diese aber immer gemissbraucht wurden, schloss er endlich die Kirchenfreiheit auf einige bestimmte Plötze seiner Residenz ein, hielt den fremden Gottesdienst, als gefährlich, unter strengem Gehorsam seiner Reichsgesetze, und liess die Fremden überhaupt nie ohne sorgsame Aufsicht. So lange die Beherrscher Sina’s wie Kine-long denken, wird kein Europäischer Cultus in Sina aufkommen, zumal der nicht, der sich durch Anmaassungen und Unruhen dem Reich so feindlich gezeigt hat. Auch wie viel Verbannungen, Gefängnissen und Stockschlägen christlichgewordner Mandarine sind die fremden Bekehrer Schuld gewesen ! Und wofür litten diese Bekehrte ? Für fremde Worte und Gebräuche. Der einzige Gewinn, der Europa durch diese Bemüungen worden ist, sind Känntnisse, die gewissermasse die Ost- und Westwelt binden. Französischen und Deutschen Jesuiten, den Vätern Gerbillon, Gruber, Couplet, Noel, Verbiest, du Hale, Amiot u.f. haben wir Mancherlei zu danken, wodurch Geist und Fleiss Europäischer Gelehrter zum Studium der dortigen Sprache und Literatur, der dortigen Zeitrechnung, Astronomie, Geschichte, Naturgeschichte u.f. erweckt sind. Der einzige Deguignes hat hierüber so viel geleistet, als eine Sinesische Akademie ; auch die von Paw erregten Streitigkeiten über die Sineser haben durch die Beantwortungen der Väter von dort aus zu mehrerem Licht geleitet. Die Philosophie, vorzüglich die politische Sittenlehre jener Nation hat in Europa vielen Beifall gefunden ; Leibnitz, Bilfinger, Wolf nahmen sich ihrer in Deutschland an, der letzte fast mit einem ihm sonst ungewohnten Enthusiasmus. In Frankfreich sind die classischen Bücher der Sinesen in jedem Format erschienen, wie sich denn die SinesischeWeisheit in Französischer Sprache beredt und artig ausnimmt. Die Belehrungen der Kaiser an ihr Volk, die Antworten derselben an ihre Staatsdiener sprechen of so väterlich als majestätisch, und das Lob der reinsten Sitten-Vernunft kann man ihnen schwerlich versagen. Wer sich über den Fortgang der Europäischen Wissenschaften in Sina am lebhaftesten gefreuet hatte, war Leibnitz ; der grosse Mann sah ihre Verpflanzung aus der West- in die Ostwelt mit dem umfassenden Blick an, der dieser Erscheinung gebührte. Den Umsturz seiner Hoffnungen erlebte er nicht ; in den Streitigkeiten, die ihn vorbereiteten, war er stets auf Seiten der vernünftigen, billigen, gelinderen Meinung. Was lehret dieses Ereigniss, das so weit aussehende Hoffnungen auf Einmal hinwarf ? Die bekannte Regel der Nemesis : "wodurch Jemand sündigt, dadurch wird er gestraft". Despotische Macht stritt hier gegen despotische Macht, Gebräuche gegen Gebräuche ; natürlich mussen in Sina die Römischen unter den alten ewigen Reichsgebräuchen, die Macht des Römischen Bischofs unter der Gewalt des Kaisers, der Oberpriester seines Reichs, ein Sohn des Himmels ist, erliegen. Wenige Pinselstriche eines kaiserlichen Edikts endeten den Handel ; die zankenden Mönche erreichten ihren Zweck, und sofern hatte ihr Neid nicht übel gerechnet. Ob das angetretene Jahrhundert einholen werde, was das vergangene so schnöde verlohr ? ist eine missliche Frage. In Ansehung der Freiheit stehn in Sina die Christen hinter Juden und Mohamedanern. Einen Zug indess macht der politische Scharfsinn der Jesuiten für alle Zeiten merkwürdig, und vielleicht für die künftigen brauchbar. Als gelehrte Mandarine galten sie ; giebts für Europäische Missionare einen edleren Namen ?Ists ihre reine Absicht, Völker aufzuklären, das Wohl der Reiche nicht zu untergraben, sondern durch Wissenschaften und Sitten auf dem Grundstein echter Menschlichkeit zu sichern, welchen Namen können sie edler führen, welch’ Amt Ehrenvoller verwalten, als das Amt gelehrter, sittlicher Mandarine. Dann fliegt der Schwan den dort die Patres aus kaiserlicher Huld als Ehrenzeichen an der Brust tragen, gern Himmel und singt den Völkern der Erde süssen Gesang. Lee Eun-jeung : Herder geht es vor allem um die Würdigung der wissenschaftlichen und philosophischen Leistung der Jesuitenmissionare in China. Er versucht, unter Zuhilfenahme seines einfühlenden Empfindens, die theoretisch-philosophische Sittenlehre des Konfuzianismus als geistige Grundlage des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und die Wirklichkeit Chinas auseinanderzuhalten. |
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15 | 1821-1831.1 |
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte : Die orientalische Welt [ID D17264]. Vorlesungen 1821/22-1830/31 in Berlin. Sekundärliteratur siehe Extra-Eintrag Quellen : Mailla, Joseph-Anne-Marie de Moyriac de. Histoire générale de la Chine [ID D1868]. Mémoires concernant l'histoire, les sciences, les arts, les moeurs, les usages, & c. des chinois [ID D1867]. Zhu, Xi. Tong jian gang mu. Grosier, Jean Baptiste Gabriel Alexandre. Description générale de la Chine [ID D1878]. Iu-kiao-li. Trad. par Jean-Pierre Abel-Rémusat. [ID D5232]. Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899]. Kircher, Athanasius. China illustrata [ID D1712]. The imperial epistle from Kien Long, emperor of China, to George the third, king of Great Britain [ID D7549]. Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899]. Ellis, Henry Sir. Journal of the proceedings of the late embassy to China [Amherst] [ID D1944]. La Barbinais le Gentil. Nouveau voyage autour du monde [ID D1816]. Anson, George. A voyage round the world [ID D1897]. Gaubil, Antoine ; Guignes, Joseph de. Le Chou-king [ID D1856]. Marshman, Joshua. The works of Confucius : Lun yu [ID D1909]. Du Halde, Jean-Baptiste. Description géographique... [ID D1819]. Ritter, Carl. Die Erdkunde [ID D2045]. Hegel schreibt : Wir haben die Aufgabe, mit der orientalischen Welt zu beginnen, und zwar insofern wir Staaten in derselben sehen. Die Verbreitung der Sprache und die Ausbildung der Völkerschaften liegt jenseits der Geschichte. Die Geschichte ist prosaisch, und Mythen enthalten noch keine Geschichte. Das Bewußtsein des äußerlichen Daseins tritt erst ein mit abstrakten Bestimmungen, und sowie die Fähigkeit vorhanden ist Gesetze auszudrücken, so tritt auch die Möglichkeit ein, die Gegenstände prosaisch aufzufassen. Indem das Vorgeschichtliche das ist, was dem Staatsleben vorangeht, liegt es jenseits des selbstbewußten Lebens, und wenn Ahnungen und Vermutungen hier aufgestellt werden, so sind dieses noch keine Fakta. Die orientalische Welt hat als ihr näheres Prinzip die Substantialität des Sittlichen. Es ist die erste Bemächtigung der Willkür, die in dieser Substantialität versinkt. Die sittlichen Bestimmungen sind als Gesetze ausgesprochen, aber so, daß der subjektive Wille von den Gesetzen als von einer äußerlichen Macht regiert wird, daß alles Innerliche, Gesinnung, Gewissen, formelle Freiheit nicht vorhanden ist, und daß insofern die Gesetze nur auf eine äußerliche Weise ausgeübt werden und nur als Zwangsrechtbestehen. Unser Zivilrecht enthält zwar auch Zwangspflichten: ich kann zum Herausgeben eines fremden Eigentums, zum Halten eines geschlossenen Vertrages angehalten werden; aber das Sittliche liegt doch bei uns nicht allein im Zwange, sondern im Gemüte und in der Mitempfindung. Dieses wird im Orient ebenfalls äußerlich anbefohlen, und wenn auch der Inhalt der Sittlichkeit ganz richtig angeordnet ist, so ist doch das Innerliche äußerlich gemacht. Es fehlt nicht an dem Willen, der es befiehlt, wohl aber an dem, welcher es darum tut, weil es innerlich geboten ist. Weil der Geist die Innerlichkeit noch nicht erlangt hat, so zeigt er sich überhaupt nur als natürliche Geistigkeit. Wie Äußerliches und Innerliches, Gesetz und Einsicht noch eins sind, so ist es auch die Religion und der Staat. Die Verfassung ist im ganzen Theokratie, und das Reich Gottes ist ebenso weltliches Reich, als das weltliche Reich nicht minder göttlich ist. Was wir Gott nennen, ist im Orient noch nicht zum Bewußtsein gekommen, denn unser Gott tritt erst in der Erhebung zum Obersinnlichen ein, und wenn wir gehorchen, weil wir das, was wir tun, aus uns selbst nehmen, so ist dort das Gesetz das Geltende an sich, ohne dieses subjektiven Dazutretens zu bedürfen. Der Mensch hat darin nicht die Anschauung seines eignen, sondern eines ihm durchaus fremden Wollens. Von den einzelnen Teilen Asiens haben wir schon als ungeschichtliche ausgeschieden: Hochasien, soweit und solange die Nomaden desselben nicht auf den geschichtlichen Boden heraustreten, und Sibirien. Die übrige asiatische Welt teilt sich in vier Terrains: Erstens die Stromebenen, gebildet durch den gelben und blauen Strom, und das Hochland Hinterasiens — China und die Mongolen... Mit China und den Mongolen, dem Reiche der theokratischen Herrschaft, beginnt die Geschichte. Beide haben das Patriarchalische zu ihrem Prinzip, und zwar auf die Weise, daß es in China zu einem organisierten Systeme weltlichen Staatslebens entwickelt ist, während es bei den Mongolen sich in die Einfachheit eines geistigen, religiösen Reichs zusammennimmt. In China ist der Monarch Chef als Patriarch: die Staatsgesetze sind teils rechtliche, teils moralische, so daß das innerliche Gesetz, das Wissen des Subjekts vom Inhalte seines Wollens als seiner eignen Innerlichkeit, selbst als ein äußerliches Rechtsgebot vorhanden ist. Die Sphäre der Innerlichkeit kommt daher hier nicht zur Reife, da die moralischen Gesetze wie Staatsgesetze behandelt werden und das Rechtliche seinerseits den Schein des Moralischen erhält. Alles, was wir Subjektivität nennen, ist in dem Staatsoberhaupt zusammengenommen, der, was er bestimmt, zum Besten, Heil und Frommen des Ganzen tut. Diesem weltlichen Reiche steht nun als geistliches das mongolische gegenüber, dessen Oberhaupt der Lama ist, der als Gott verehrt wird. In diesem Reiche des Geistigen kommt es zu keinem weltlichen Staatsleben… China Mit dem Reiche China hat die Geschichte zu beginnen, denn es ist das älteste, soweit die Geschichte Nachricht gibt, und zwar ist sein Prinzip von solcher Substantialität, daß es zugleich das älteste und neueste für dieses Reich ist. Früh schon sehen wir China zu dem Zustande heranwachsen, in welchem es sich heute befindet; denn da der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt, so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wiedererscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte, als die Voraussetzung der Momente, deren Zusammenschließung erst ihr lebendiger Fortgang wird. Die Einheit von Substantialität und subjektiver Freiheit ist so ohne Unterschied und Gegensatz beider Seiten, daß eben dadurch die Substanz nicht vermag, zur Reflexion in sich, zur Subjektivität zu gelangen. Das Substantielle, das als Sittliches erscheint, herrscht somit nicht als Gesinnung des Subjekts, sondern als Despotie des Oberhauptes. Kein Volk hat eine so bestimmt zusammenhängende Zahl von Geschichtschreibern wie das chinesische. Auch andre asiatische Völker haben uralte Traditionen, aber keine Geschichte. Die Vedas der Inder sind eine solche nicht, die Oberlieferungen der Araber sind uralt, aber sie beruhen nicht auf einem Staat und seiner Entwicklung. Dieser besteht aber in China und hat sich hier eigentümlich herausgestellt. Die chinesische Tradition steigt bis auf 3000 Jahre vor Christi Geburt hinauf und der Schu-king [Shu jing], das Grundbuch derselben, welches mit der Regierung des Yao beginnt, setzt diese 2357 Jahre vor Christi Geburt. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß auch die andern asiatischen Reiche in der Zeitrechnung weit hinaufführen. Nach der Berechnung eines Engländers geht die ägyptische Geschichte z.B. bis auf 2207 Jahre vor Christus, die assyrische bis auf 2221, die indische bis auf 2204 hinauf. Also bis auf ungefähr 2300 Jahre vor Christi Geburt steigen die Sagen in Ansehung der Hauptreiche des Orients. Wenn wir dies mit der Geschichte des Alten Testaments vergleichen, so sind, nach der gewöhnlichen Annahme, von der noachischen Sintflut bis auf Christus 2400 Jahre verflossen. Johannes von Müller hat aber gegen diese Zahl bedeutende Einwendungen gemacht. Er setzt die Sintflut in das Jahr 3473 vor Christus, also ungefähr um 1000 Jahre früher, indem er sich dabei nach der alexandrinischen Obersetzung der Mosaischen Bücher richtet. Ich bemerke dies nur darum, daß, wenn wir Daten von höherem Alter als 2400 Jahre vor Chr. begegnen und doch nichts von der Flut hören, uns das in bezug auf die Chronologie nicht weiter genieren darf. Die Chinesen haben Ur- und Grundbücher, aus denen ihre Geschichte, ihre Verfassung und Religion erkannt werden kann. Die Vedas, die Mosaischen Urkunden sind ähnliche Bücher, wie auch die Homerischen Gesänge. Bei den Chinesen führen diese Bücher den Namen der Kings und machen die Grundlage aller ihrer Studien aus. Der Schu-king [Shu jing] enthält die Geschichte handelt von der Regierung der alten Könige und gibt die Befehle, die von diesem oder jenem Könige ausgegangen sind. Der Y-king [Yi jing] besteht aus Figuren, die man als Grundlagen der chinesischen Schrift angesehen hat, so wie man auch dieses Buch als Grundlage der chinesischen Meditation betrachtet. Denn es fängt mit den Abstraktionen der Einheit und Zweiheit an und handelt dann von konkreten Existenzen solcher abstrakten Gedankenformen. Der Schi-king [Shi jing] endlich ist das Buch der ältesten Lieder der verschiedensten Art. Alle hohen Beamten hatten früher den Auftrag, bei dem Jahresfeste alle in ihrer Provinz im Jahre gemachten Gedichte mitzubringen. Der Kaiser inmitten seines Tribunals war der Richter dieser Gedichte, und die für gut erkannten erhielten öffentliche Sanktion. Außer diesen drei Grundbüchern, die besonders verehrt und studiert werden, gibt es noch zwei andre, weniger wichtige, nämlich den Li-ki [Li ji] (auch Li-king), welcher die Gebräuche und das Zeremonial gegen den Kaiser und die Beamten enthält, mit einem Anhang Yo-king [Yue jing], welcher von der Musik handelt, und den Tschun-tsin [Chun qiu], die Chronik des Reiches Lu, wo Konfuzius auftrat. Diese Bücher sind die Grundlage der Geschichte, der Sitten und der Gesetze Chinas. Dieses Reich hat schon früh die Aufmerksamkeit der Europäer auf sich gezogen, wenngleich nur unbestimmte Sagen davon vorhanden waren. Man bewundert es immer als ein Land, das, aus sich selbst entstanden, gar keinen Zusammenhang mit dem Auslande zu haben schien. Im dreizehnten Jahrhunderte ergründete es ein Venetianer (Marco Polo) zum ersten Male, allein man hielt seine Aussagen für fabelhaft. Späterhin fand sich alles, was er über seine Ausdehnung und Größe ausgesagt hatte, vollkommen bestätigt. Nach der geringsten Annahme nämlich würde China 150 Millionen Menschen enthalten, nach einer andern 200 und nach der höchsten sogar 300 Millionen. Vom hohen Norden erstreckt es sich gegen Süden bis nach Indien, im Osten wird es durch das große Weltmeer begrenzt, und gegen Westen verbreitet es sich bis nach Persien nach dem Kaspischen Meere zu. Das eigentliche China ist übervölkert. An den beiden Strömen Hoang-ho [Huanghe] und Yangtse-kiang [Yangzi] halten sich mehrere Millionen Menschen auf, die auf Flößen ganz nach ihrer Bequemlichkeit eingerichtet leben. Die Bevölkerung, die durchaus organisierte und bis in die kleinsten Details hineingearbeitete Staatsverwaltung hat die Europäer in Erstaunen gesetzt, und hauptsächlich verwunderte die Genauigkeit, mit der die Geschichtswerke ausgeführt waren. In China gehören nämlich die Geschichtschreiber zu den höchsten Beamten. Zwei sich beständig in der Umgebung des Kaisers befindende Minister haben den Auftrag, alles, was der Kaiser tut, befiehlt und spricht, auf Zettel zu schreiben, die dann von den Geschichtschreibern verarbeitet und benutzt werden. Wir können uns freilich in die Einzelheiten dieser Geschichte weiter nicht einlassen, die, da sie selbst nichts entwickelt, uns in unsrer Entwicklung hemmen würde. Sie geht in die ganz alten Zeiten hinauf, wo als Kulturspender Fohi genannt wird, der zuerst eine Zivilisation über China verbreitete. Er soll im 29. Jahrhundert vor Christus gelebt haben, also vor der Zeit, in welcher der Schu-king anfängt; aber das Mythische und Vorgeschichtliche wird von den chinesischen Geschichtsschreibern ganz wie etwas Geschichtliches behandelt. Der erste Boden der chinesischen Geschichte ist der nordwestliche Winkel, das eigentliche China, gegen den Punkt hin, wo der Hoang-ho von dem Gebirge herunterkommt; denn erst späterhin erweiterte sich das chinesische Reich gegen Süden, nach dem Yang-tse-kiang zu. Die Erzählung beginnt mit dem Zustande, wo die Menschen in der Wildheit, das heißt in den Wäldern, gelebt, sich von den Früchten der Erde genährt und mit den Fellen wilder Tiere bekleidet haben. Keine Kenntnis von bestimmten Gesetzen war unter ihnen. Dem Fohi (wohl zu unterscheiden von Fo, dem Stifter einer neuen Religion,) wird es zugeschrieben, dass er die Menschen gelehrt habe, sich Hütten zu bauen und Wohnungen zu machen; er habe ihre Aufmerksamkeit an den Wechsel und die Wiederkehr der Jahreszeiten gelenkt, Tausch und Handel eingeführt, das Ehegesetz begründet; er habe gelehrt, dass die Vernunft vom Himmel komme, und Unterricht in der Seidenzucht, im Brückenbau und in dem Gebrauch von Lasttieren erteilt. Über alle diese Anfänge lassen sich die chinesischen Geschichtsschreiber sehr weitläufig aus. Die weitere Geschichte ist dann die Ausbreitung der entstandenen Gesittung nach Süden zu und das Beginnen eines Staates und einer Regierung. Das große Reich, das sich so nach und nach gebildet hatte, zerfiel bald in mehrere Provinzen, die lange Kriege miteinander führten und sich dann wieder zu einem Ganzen vereinigten. Die Dynastien haben in China oft gewechselt, und die jetzt herrschende wird in der Regel als die 22. bezeichnet. Im Zusammenhang mit dem Auf- und Abgehen dieser Herrschergeschlechter wechselten auch die verschiedenen Hauptstädte, die sich in diesem Reiche finden. Lange Zeit war Nanking die Hauptstadt, jetzt ist es Peking, früher waren es noch andre Städte. Viele Kriege hat China mit den Tataren führen müssen, die weit ins Land eindrangen. Den Einfällen der nördlichen Nomaden wurde die von Schi-hoang-ti erbaute lange Mauer entgegengesetzt, welche immer als Wunderwerk betrachtet worden ist. Dieser Fürst hat das ganze Reich in 36 Provinzen geteilt und ist auch dadurch besonders merkwürdig, dass er die alte Literatur und namentlich die Geschichtsbücher und die geschichtlichen Bestrebungen überhaupt verfolgte. Es geschah dieses in der Absicht, die eigne Dynastie zu befestigen durch die Vernichtung des Andenkens der früheren. Nachdem die Geschichtsbücher zusammengehäuft und verbrannt waren, flüchteten sich mehrere hundert Gelehrte auf die Berge, um das, was ihnen an Werken noch übrigblieb, zu erhalten. Jeder von ihnen, der aufgegriffen wurde, hatte ein gleiches Schicksal wie die Bücher. Dieses Bücherverbrennen ist ein sehr wichtiger Umstand, denn trotz demselben haben sich die eigentlichen kanonischen Bücher dennoch erhalten, wie dies überall der Fall ist. Die Verbindung Chinas mit dem Abendland fällt ungefähr in das Jahr 64 nach Christi Geburt. Damals sandte, so heißt es, ein chinesischer Kaiser Gesandte ab, die Weisen des Abendlandes zu besuchen. Zwanzig Jahre später soll ein chinesischer General bis Judäa vorgedrungen sein; im Anfange des achten Jahrhunderts nach Christi Geburt seien die ersten Christen nach China gekommen, wovon spätere Ankömmlinge noch Spuren und Denkmale gefunden haben wollen. Ein im Norden Chinas bestehendes tatarisches Königreich Lyau-tong sei mit Hilfe der westlichen Tataren um 1100 von den Chinesen zerstört und überwunden worden, was jedoch eben diesen Tataren die Gelegenheit gab, festen Fuß in China zu fassen. Auf gleiche Weise habe man den Mandschus Wohnsitze eingeräumt, mit denen man im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Krieg geriet, infolge welcher sich die jetzige Dynastie des Thrones bemächtigte. Eine weitere Veränderung hat jedoch diese neue Herrscherfamilie, so wenig als die frühere Eroberung der Mongolen im J. 1281, im Land nicht hervorgebracht. Die Mandschus, die in China leben, müssen sich genau in die chinesischen Gesetze und Wissenschaften einstudieren. Wir gehen nunmehr von diesen wenigen Daten der chinesischen Geschichte zur Betrachtung des Geistes der immer gleichgebliebenen Verfassung über. Er ergibt sich aus dem allgemeinen Prinzipe. Dieses ist nämlich die unmittelbare Einheit des substantiellen Geistes und des Individuellen; das aber ist der Familiengeist, welcher hier auf das volkreichste Land ausgedehnt ist. Das Moment der Subjektivität, das will sagen, das sich in sich Reflektieren des einzelnen Willens gegen die Substanz als die ihn verzehrende Macht, oder das Gesetztsein dieser Macht als seiner eignen Wesenheit, in der er sich frei weiß, ist hier noch nicht vorhanden. Der allgemeine Wille betätigt sich unmittelbar durch den einzelnen: dieser hat gar kein Wissen seiner gegen die Substanz, die er sich noch nicht als Macht gegen sich setzt, wie z.B. im Judentum der eifrige Gott als die Negation des Einzelnen gewußt wird. Der allgemeine Wille sagt hier in China unmittelbar, was der Einzelne tun solle, und dieser folgt und gehorcht ebenso reflexions- und selbstlos. Gehorcht er nicht, tritt er somit aus der Substanz heraus, so wird er, da dieses Heraustreten nicht durch ein Insichgehen vermittelt ist, auch nicht in der Strafe an der Innerlichkeit erfaßt, sondern an der äußerlichen Existenz. Das Moment der Subjektivität fehlt daher diesem Staatsganzen ebensosehr, als dieses auch anderseits gar nicht auf Gesinnung basiert ist. Denn die Substanz ist unmittelbar ein Subjekt, der Kaiser, dessen Gesetz die Gesinnung ausmacht. Trotzdem ist dieser Mangel an Gesinnung nicht Willkür, welche selber schon wieder gesinnungsvoll, das heißt subjektiv und beweglich wäre, sondern es ist hier das Allgemeine geltend, die Substanz, die noch undurchweicht sich selber allein gleich ist. Dieses Verhältnis nun näher und der Vorstellung gemäßer ausgedrückt ist die Familie. Auf dieser sittlichen Verbindung allein beruht der chinesische Staat, und die objektive Familienpietät ist es, welche ihn bezeichnet. Die Chinesen wissen sich als zu ihrer Familie gehörig und zugleich als Söhne des Staates. In der Familie selbst sind sie keine Personen, denn die substantielle Einheit, in welcher sie sich darin befinden, ist die Einheit des Blutes und der Natürlichkeit. Im Staate sind sie es ebensowenig, denn es ist darin das patriarchalische Verhältnis vorherrschend, und die Regierung beruht auf der Ausübung der väterlichen Vorsorge des Kaisers, der alles in Ordnung hält. Als hochgeehrte und unwandelbare Grundverhältnisse werden im Schu-king [Shu jing] fünf Pflichten angegeben: 1) die des Kaisers und des Volkes gegeneinander, 2) des Vaters und der Kinder 3) des älteren und des jüngeren Bruders, 4) des Mannes und der Frau, 5) des Freundes gegen den Freund. Es mag hier gelegentlich bemerkt werden, daß die Zahl fünf überhaupt bei den Chinesen etwas Festes ist und ebensooft wie bei uns die Zahl drei vorkommt, sie haben fünf Naturelemente, Luft, Wasser, Erde, Metall und Holz, sie nehmen vier Himmelsgegenden und die Mitte an, heilige Orte, wo Altäre errichtet sind, bestehen aus vier Hügeln und einem in der Mitte. Die Pflichten der Familie gelten schlechthin, und es wird gesetzlich auf dieselben gehalten. Der Sohn darf den Vater nicht anreden, wenn er in den Saal tritt, er muß sich an der Seite der Türe gleichsam eindrücken und kann die Stube nicht ohne Erlaubnis des Vaters verlassen. Wenn der Vater stirbt, so muß der Sohn drei Jahre lang trauern, ohne Fleischspeisen und Wein zu sich zu nehmen; die Geschäfte, denen er sich widmete, selbst die Staatsgeschäfte stocken, denn er muß sich von denselben entfernen; der eben zur Regierung kommende Kaiser selbst widmet sich während dieser Zeit seinen Regierungsarbeiten nicht. Keine Heirat darf während der Trauerzeit in der Familie geschlossen werden. Erst das fünfzigste Lebensjahr befreit von der überaus großen Strenge der Trauer, damit der Leidtragende nicht mager werde; das sechzigste mildert sie noch mehr, und das siebzigste beschränkt sie gänzlich auf die Farbe der Kleider. Die Mutter wird ebensosehr wie der Vater verehrt. Als Lord Macartney den Kaiser sah, war dieser achtundsechzig Jahre alt (sechzig Jahre ist bei den Chinesen eine feste Zahl wie bei uns hundert), dessenungeachtet besuchte er seine Mutter alle Morgen zu Fuß, um ihr seine Ehrfurcht zu beweisen. Die Neujahrsgratulationen finden sogar bei der Mutter des Kaisers statt, und der Kaiser kann die Huldigungen der Großen des Hofes erst empfangen, nachdem er die seinigen seiner Mutter gebracht. Die Mutter bleibt stets die erste und beständige Ratgeberin des Kaisers, und alles, was die Familie betrifft, wird in ihrem Namen bekanntgemacht. Die Verdienste des Sohnes werden nicht diesem, sondern dem Vater zugerechnet. Als ein Premierminister einst den Kaiser bat, seinem verstorbenen Vater Ehrentitel zu geben, so ließ der Kaiser eine Urkunde ausstellen, worin es hieß: "Eine Hungersnot verwüstete das Reich: Dein Vater gab Reis den Bedürftigen. Welche Wohltätigkeit! Das Reich war am Rande des Verderbens: Dein Vater verteidigte es mit der Gefahr seines Lebens. Welche Treue! Die Verwaltung des Reiches war deinem Vater anvertraut: Er machte vortreffliche Gesetze, erhielt Friede und Eintracht mit den benachbarten Fürsten und behauptete die Rechte meiner Krone. Welche Weisheit! Also der Ehrentitel, den ich ihm verleihe, ist: Wohltätig, treu und weise". Der Sohn hatte alles das getan, was hier dem Vater zugeschrieben wird. Auf diese Weise gelangen die Voreltern (umgekehrt wie bei uns) durch ihre Nachkommen zu Ehrentiteln. Dafür ist aber auch jeder Familienvater für die Vergehen seiner Deszendenten verantwortlich. Es gibt Pflichten von unten nach oben, aber keine eigentlich von oben nach unten. Ein Hauptbestreben der Chinesen ist es, Kinder zu haben, die ihnen die Ehre des Begräbnisses erweisen können, das Gedächtnis nach dem Tode ehren und das Grab schmücken. Wenn auch ein Chinese mehrere Frauen haben darf, so ist doch nur eine die Hausfrau, und die Kinder der Nebenfrauen haben diese durchaus als Mutter zu ehren. In dem Falle, daß ein Chinese von allen seinen Frauen keine Kinder erzielte, würde er zur Adoption schreiten können, eben wegen der Ehre nach dem Tode. Denn es ist eine unerläßliche Bedingung, daß das Grab der Eltern jährlich besucht werde. Hier werden altjährig die Wehklagen erneut, und manche, um ihrem Schmerz vollen Lauf zu lassen, verweilen bisweilen ein bis zwei Monate daselbst. Der Leichnam des eben verstorbenen Vaters wird oft drei bis vier Monate im Hause behalten, und während dieser Zeit darf keiner sich auf einen Stuhl setzen und im Bette schlafen. Jede Familie in China hat einen Saal der Vorfahren, wo sich alle Mitglieder derselben alle Jahre versammeln; daselbst sind die Bildnisse derer aufgestellt, die hohe Würden bekleidet haben, und die Namen der Männer und Frauen, welche weniger wichtig für die Familie waren, sind auf Täfelchen geschrieben die ganze Familie speist dann zusammen, und die Ärmeren werden von den Reicheren bewirtet. Man erzählt, daß, als ein Mandarin, der Christ geworden war, seine Voreltern auf diese Weise zu ehren aufgehört hatte, er sich großen Verfolgungen von seiten seiner Familie aussetzte. Ebenso genau wie die Verhältnisse zwischen dem Vater und den Kindern sind auch die zwischen dem älteren Bruder und den jüngeren Brüdern bestimmt. Die ersteren haben, obgleich im minderen Grade, doch Ansprüche auf Verehrung. Diese Familiengrundlage ist auch die Grundlage der Verfassung, wenn man von einer solchen sprechen will. Denn obschon der Kaiser das Recht eines Monarchen hat, der an der Spitze eines Staatsganzen steht, so übt er es doch in der Weise eines Vaters über seine Kinder aus. Er ist Patriarch, und auf ihn gehäuft ist alles, was im Staate auf Ehrfurcht Anspruch machen kann. Denn der Kaiser ist ebenso Chef der Religion und der Wissenschaft, wovon später noch ausführlich die Rede sein wird. - Diese väterliche Fürsorge des Kaisers und der Geist seiner Untertanen, als Kinder, die aus dem moralischen Familienkreise nicht heraustreten und keine selbständige und bürgerliche Freiheit für sich gewinnen können, macht das Ganze zu einem Reiche, Regierung und Benehmen, das zugleich moralisch und schlechthin prosaisch ist, d.h. verständig ohne freie Vernunft und Phantasie. Die höchste Ehrfurcht muß dem Kaiser erwiesen werden. Durch sein Verhältnis ist er persönlich zu regieren genötigt und muß selbst die Gesetze und Angelegenheiten des Reiches kennen und leiten, wenn auch die Tribunale die Geschäfte erleichtern. Trotzdem hat seine bloße Willkür wenig Spielraum, denn alles geschieht auf Grund alter Reichsmaximen, und seine fortwährend zügelnde Aufsicht ist nicht minder notwendig. Die kaiserlichen Prinzen werden daher aufs strengste erzogen, ihr Körper wird abgehärtet, und die Wissenschaften sind von früh auf ihre Beschäftigung. Unter der Aufsicht des Kaisers wird ihre Erziehung geleitet, und früh wird ihnen gezeigt, daß der Kaiser das Haupt des Reiches sei und in allem auch als der Erste und Beste erscheinen müsse. Jährlich werden die Prinzen geprüft und darüber eine weitläufige Deklaration an das ganze Reich erlassen, welches den ungemeinsten Anteil an diesen Angelegenheiten nimmt. So ist China dazu gekommen, die größten und besten Regenten zu erhalten, auf welche der Ausdruck salomonische Weisheit anwendbar wäre, und besonders die jetzige Mandschudynastie hat sich durch Geist und körperliche Geschicklichkeit ausgezeichnet. Alle Ideale von Fürsten und von Fürstenerziehung, dergleichen seit dem Telemaque von Fenelon so vielfach aufgestellt worden, haben hier ihre Stelle. In Europa kann's keine Salomos geben. Hier aber ist der Boden und die Notwendigkeit von solcher Regierungen, insofern als die Gerechtigkeit, der Wohlstand, die Sicherheit des Ganzen auf dem einen Impuls des obersten Gliedes der ganzen Kette der Hierarchie beruht. Das Benehmen des Kaisers wird uns als höchst einfach, natürlich, edel und verständig geschildert, ohne stummen Stolz, Widrigkeit der Äußerungen und Vornehmtun lebt er im Bewußtsein seiner Würde und in der Ausübung seiner Pflichten, wozu er von Jugend auf ist angehalten worden. Außer dem Kaiser gibt es eigentlich keinen ausgezeichneten Stand, keinen Adel bei den Chinesen. Nur die Prinzen vom Hause und die Söhne der Minister haben einigen Vorrang, mehr durch ihre Stellung als durch ihre Geburt. Sonst gelten alle gleich, und nur diejenigen haben Anteil an der Verwaltung, die die Geschicklichkeit dazu besitzen. Die Würden werden so von den wissenschaftlich Gebildetsten bekleidet. Daher ist oft der chinesische Staat als ein Ideal aufgestellt worden, das uns sogar zum Muster dienen sollte. Das Weitere ist die Reichsverwaltung. Von einer Verfassung kann hier nicht gesprochen werden, denn darunter wäre zu verstehen, daß Individuen und Korporationen selbständige Rechte hätten, teils in Beziehung auf ihre besonderen Interessen, teils in Beziehung auf den ganzen Staat. Dieses Moment muß hier fehlen, und es kann nur von einer Reichsverwaltung die Rede sein. In China ist das Reich der absoluten Gleichheit, und alle Unterschiede, die bestehen, sind nur vermittelst der Reichsverwaltung möglich und durch die Würdigkeit, die sich jeder gibt, in dieser Verwaltung eine hohe Stufe zu erreichen. Weil in China Gleichheit, aber keine Freiheit herrscht, ist der Despotismus die notwendig gegebene Regierungsweise. Bei uns sind die Menschen nur vor dem Gesetz und in der Beziehung gleich, daß sie Eigentum haben, außerdem haben sie noch viele Interessen und viele Besonderheiten, die garantiert sein müssen, wenn Freiheit für uns vorhanden sein soll. Im chinesischen Reiche sind aber diese besonderen Interessen nicht für sich berechtigt, und die Regierung geht lediglich vom Kaiser aus, der sie als eine Hierarchie von Beamten oder Mandarinen betätigt. Von diesen gibt es zweierlei Arten, gelehrte und Kriegsmandarinen, welche letzteren unsre Offiziere sind. Die gelehrten Mandarinen sind die höheren, denn der Zivilstand überragt in China den Militärstand. Die Beamten werden auf den Schulen gebildet. Es sind Elementarschulen für die Erlangung von Elementarkenntnissen eingerichtet. Anstalten für die höhere Bildung, wie bei uns die Universitäten, sind wohl nicht vorhanden. Die, welche zu hohen Staatsämtern gelangen wollen, müssen mehrere Prüfungen bestehen, in der Regel drei. Zum dritten und letzten Examen, bei dem der Kaiser selbst gegenwärtig ist, kann nur zugelassen werden, wer das erste und zweite gut bestanden hat, und die Belohnung, wenn man dasselbe glücklich absolviert hat, ist die sofortige Zulassung in das höchste Reichskollegium. Die Wissenschaften, deren Kenntnis besonders verlangt wird, sind die Reichsgeschichte, die Rechtswissenschaft und die Kenntnis der Sitten und Gebräuche, sowie der Organisation und Administration. Außerdem sollen die Mandarine das Talent der Dichtkunst in äußerster Feinheit besitzen. Man kann dies besonders aus dem von Abel Remüsat [Abel-Rémusat] übersetzten Romane Ju-Kiao-Li [Yu jiao li] die beiden Cousinen, ersehen, es wird hier ein junger Mensch vorgeführt, der seine Studien absolviert hat und sich nun anstrengt, um zu hohen Würden zu gelangen. Auch die Offiziere in der Armee müssen Kenntnisse besitzen, auch sie werden geprüft; aber die Zivilbeamten stehen, wie schon gesagt worden ist, in weit höherem Ansehen. Bei den großen Festen erscheint der Kaiser mit einer Begleitung von zweitausend Doktoren, das heißt Zivilmandarinen, und ebensoviel Kriegsmandarinen. (Im ganzen chinesischen Staate sind nämlich gegen 15000 Zivil- und 20000 Kriegsmandarine.) Die Mandarine, die noch keine Anstellung erhalten haben, gehören dennoch zum Hofe, und bei den großen Festen, im Frühjahr und im Herbst, wo der Kaiser selbst die Furche zieht, müssen sie erscheinen. Diese Beamten sind in acht Klassen geteilt. Die ersten sind die um den Kaiser stehenden, dann folgen die Vizekönige und so weiter. Der Kaiser regiert durch die Behörden, welche meist aus Mandarinen zusammengesetzt sind. Das Reichskollegium ist die oberste Behörde, es besteht aus den gelehrtesten und geistreichsten Männern. Daraus werden die Präsidenten und andern Collegia gewählt. In den Regierungsangelegenheiten herrscht die größte Öffentlichkeit, die Beamten berichten an das Reichskollegium, und dieses legt dem Kaiser die Sache vor, dessen Entscheidung alsdann in der Hofzeitung bekanntgemacht wird. Oft klagt sich auch der Kaiser selbst wegen der Fehler an, die er begangen hat; und wenn seine Prinzen schlecht im Examen bestanden haben, so tadelt er sie laut. In jedem Ministerium und in den verschiedenen Teilen des Reiches ist ein Zensor Ko-tao, der an den Kaiser über alles Bericht erstatten muß, diese Zensoren werden nicht abgesetzt und sind sehr gefürchtet; sie führen über alles, was die Regierung betrifft, über die Geschäftsführung und das Privatbenehmen der Mandarinen eine strenge Aufsicht und berichten darüber unmittelbar an den Kaiser, auch haben sie das Recht, dem Kaiser Vorstellungen zu machen und ihn zu tadeln. Die chinesische Geschichte liefert viele Beispiele von dem Adel der Gesinnung und dem Mute dieser Ko-tao. So hatte ein Zensor einem tyrannischen Kaiser Vorstellungen gemacht, war aber hart zurückgewiesen worden. Er ließ sich indessen nicht irremachen, sondern verfügte sich abermals zum Kaiser, um seine Vorstellungen zu erneuern. Seinen Tod voraussehend, ließ er sich zugleich den Sarg mit hintragen, in dem er begraben sein wollte. Von andern Zensoren wird erzählt, daß sie von den Henkersknechten ganz zerfleischt, unvermögend einen Laut hervorzubringen, noch mit Blut ihre Bemerkungen in den Sand schrieben. Diese Zensoren bilden selbst wieder ein Tribunal, das die Aufsicht über das ganze Reich hat. Die Mandarinen sind verantwortlich auch für alles, was sie im Notfall unterlassen haben. Wenn eine Hungersnot, Krankheit, Verschwörung, religiöse Unruhe ausbricht, so haben sie zu berichten, aber nicht auf weitere Befehle der Regierung zu warten, sondern sogleich tätig einzugreifen. Das Ganze dieser Verwaltung ist also mit einem Netz von Beamten überspannt. Für die Aufsicht der Landstraßen, der Flüsse, der Meeresufer sind Beamte angestellt. Alles ist aufs genaueste angeordnet; besonders wird auf die Flüsse große Sorgfalt verwendet; im Schu-king [Shu jing] finden sich viele Verordnungen der Kaiser in dieser Hinsicht, um das Land vor Überschwemmungen zu sichern. Die Tore jeder Stadt sind mit Wachen besetzt, und die Straßen werden alle Nacht gesperrt. Die Beamten sind immer dem höheren Kollegium Rechenschaft schuldig. Jeder Mandarin hat ohnehin die Pflicht alle fünf Jahre seine begangenen Fehler anzuzeigen und die Treue seiner Darstellung wird durch das kontrollierende Institut der Zensoren verbürgt. Bei jedem groben unangegebenen Vergehen werden die Mandarine mit ihrer Familie auf das härteste bestraft. Aus allem diesem erhellt, daß der Kaiser der Mittelpunkt ist, um den sich alles dreht, und zu dem alles zurückkehrt, und von dem Kaiser hängt somit das Wohl des Landes und des Volkes ab. Die ganze Hierarchie der Verwaltung ist mehr oder weniger nach einer Routine tätig, die im ruhigen Zustande eine bequeme Gewohnheit wird. Einförmig und gleichmäßig, wie der Gang der Natur, geht sie ihren Weg ein wie allemal nur der Kaiser soll die rege, immer wache und selbsttätige Seele sein. Wenn nun die Persönlichkeit des Kaisers nicht von der geschilderten Beschaffenheit ist, nämlich durchaus moralisch, arbeitsam und bei gehaltener Würde voller Energie, so läßt alles nach, und der Zustand der Regierung ist von oben bis unten gelähmt und der Nachlässigkeit und Willkür preisgegeben. Denn es ist keine andre rechtliche Macht oder Ordnung vorhanden als diese von oben spannende und beaufsichtigende Macht des Kaisers. Es ist nicht das eigne Gewissen, die eigne Ehre, die die Beamten zur Rechenschaft anhielte sondern das äußerliche Gebot und die strenge Aufreithaltung desselben. Bei der Revolution in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts war der letzte Kaiser der damals herrschenden Dynastie sehr sanftmütig und edel, aber bei seinem milden Charakter erschlafften die Zügel der Regierung, und es entstanden notwendigerweise Empörungen. Die Aufrührer riefen die Mandschu ins Land. Der Kaiser selbst entleibte sich, um den Feinden nicht in die Hände zu fallen, und mit seinem Blute schrieb er noch auf den Saum des Kleides seiner Tochter einige Worte, in welchen er sich über das Unrecht seiner Untertanen tief beklagte. Ein Mandarin, der bei ihm war, begrub ihn und brachte sich dann auf seinem Grabe um. Dasselbe taten die Kaiserin und ihr Gefolge; der letzte Prinz des kaiserlichen Hauses, welcher in einer entfernten Provinz belagert wurde, fiel in die Hände der Feinde und wurde hingerichtet. Alle noch um ihn seienden Mandarine starben einen freiwilligen Tod. Gehen wir nun von der Reichsverwaltung zum Rechtszustande über, so sind durch das Prinzip der patriarchalischen Regierung die Untertanen für unmündig erklärt. Keine selbständigen Klassen oder Stände, wie in Indien, haben für sich Interessen zu beschützen, denn alles wird von obenher geleitet und beaufsichtigt. Alle Verhältnisse sind durch rechtliche Normen festbefohlen: die freie Empfindung, der moralische Standpunkt überhaupt ist dadurch gründlich getilgt. Wie die Familienglieder in ihren Empfindungen zueinander zu stehen haben, ist förmlich durch Gesetze bestimmt, und die Übertretung zieht zum Teil schwere Strafen nach sich. Das zweite hier zu berücksichtigende Moment ist die Äußerlichkeit des Familienverhältnisses, welches fast Sklaverei wird. Jeder kann sich und seine Kinder verkaufen, jeder Chinese kauft seine Frau. Nur die erste Frau ist eine Freie, die Konkubinen dagegen sind Sklavinnen und können wie die Kinder, wie jede andre Sache bei der Konfiskation in Beschlag genommen werden. Ein drittes Moment ist, daß die Strafen meist körperliche Züchtigungen sind. Bei uns wäre dies entehrend, aber nicht so in China, wo das Gefühl der Ehre noch nicht ist. Eine Tracht Schläge ist am leichtesten verschmerzt, und doch das Härteste für den Mann von Ehre, der nicht für einen sinnlich Berührbaren gehalten werden will, sondern andre Seiten feinerer Empfindlichkeit hat. Die Chinesen aber kennen die Subjektivität der Ehre nicht; sie unterliegen mehr der Zucht als der Strafe, wie bei uns die Kinder; denn Zucht geht auf Besserung, Strafe involviert eine eigentliche Imputabilität. Bei der Züchtigung ist der Abhaltungsgrund nur Furcht vor der Strafe, nicht die Innerlichkeit des Unrechts, denn es ist hier noch nicht die Reflexion über die Natur der Handlung selbst vorauszusetzen. Bei den Chinesen nun werden alle Vergehen, sowohl die in der Familie als die im Staate, auf äußerliche Weise bestraft. Die Söhne, die es gegen den Vater oder die Mutter, die jüngeren Brüder, die es gegen die älteren an Ehrerbietung fehlen lassen, bekommen Stockprügel, und wenn sich ein Sohn beschweren wollte, daß ihm von seinem Vater, oder ein jüngerer Bruder, daß ihm von seinem älteren Unrecht widerfahren sei, so erhält er hundert Bambushiebe und wird auf drei Jahre verbannt, wenn das Recht auf seiner Seite ist, hat er aber Unrecht, so wird er stranguliert. Würde ein Sohn die Hand gegen seinen Vater aufheben, so ist er dazu verurteilt, daß ihm das Fleisch mit glühenden Zangen vom Leibe gerissen wird. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist, wie alle andren Familienverhältnisse, sehr hoch geachtet, und die Untreue, die jedoch wegen der Abgeschlossenheit der Weiber nur sehr selten vorkommen kann, wird hart gerügt. Eine ähnliche Rüge findet statt, wenn der Chinese zu einer seiner Nebenfrauen mehr Zuneigung als zu seiner eignen Hausfrau zeigt und diese ihn darob verklagt. - Jeder Mandarin kann in China Bambusschläge austeilen, und selbst die Höchsten und Vornehmsten, die Minister, Vizekönige, ja die Lieblinge des Kaisers selbst werden mit Bambusschlägen gezüchtigt. Hinterher ist der Kaiser ebensosehr wie früher ihr Freund, und sie selbst scheinen davon gar nicht ergriffen zu sein. Als einst die letzte englische Gesandtschaft in China von den Prinzen und ihrem Gefolge vom Palaste aus nach Hause geführt wurde, so hieb der Zeremonienmeister, um sich Platz zu machen, ohne weiteres auf alle Prinzen und Vornehme mit Peitschenhieben ein. Was die Imputation betrifft, so findet der Unterschied von Vorsatz bei der Tat und kulposem oder zufälligem Geschehen nicht statt, denn der Zufall ist ebenso imputabel als der Vorsatz, und der Tod wird verhängt, wenn man die zufällige Ursache des Todes eines Menschen ist. Dieses Nichtunterscheiden des Zufälligen und Vorsätzlichen veranlaßt die meisten Zwistigkeiten zwischen Engländern und Chinesen, denn wenn die Engländer von Chinesen angegriffen werden, wenn ein Kriegsschiff, das sich angegriffen glaubt, sich verteidigt und ein Chinese umkommt, so verlangen die Chinesen in der Regel, daß der Engländer, der geschossen hat, das Leben verlieren solle. Jeder, der mit dem Verbrechen auf irgendeine Weise zusammenhängt wird, zumal bei Verbrechen gegen den Kaiser, mit ins Verderben gerissen, die ganze höhere Familie wird zu Tode gemartert. Die Drucker einer verwerflichen Schrift, wie die, welche sie lesen, unterliegen auf gleiche Weise der Rache des Gesetzes. Es ist eigentümlich, welche Wendung aus solchem Verhältnis die Privatrachsucht nimmt. Von den Chinesen kann gesagt werden, daß sie gegen Beleidigungen höchst empfindlich und rachsüchtig seien. Um seine Rache zu befriedigen kann nun der Beleidigte seinen Gegner nicht ermorden, weil sonst die ganze Familie des Verbrechers hingerichtet würde, er tut sich also selbst ein Leid an, um dadurch den andern ins Verderben zu stürzen. Man hat in vielen Städten die Brunnenöffnungen verengen müssen, damit die Menschen sich nicht mehr darin ersäufen. Denn wenn jemand sich umgebracht hat, so befehlen die Gesetze, daß die strengste Untersuchung darüber angestellt werde, was die Ursache sei. Alle Feinde des Selbstmörders werden eingezogen und torquiert, und wird endlich der Beleidiger ausgemittelt, so wird er und seine ganze Familie hingerichtet. Der Chinese tötet in solchem Falle lieber sich als seinen Gegner, da er doch sterben muß, in dem ersten Falle aber noch die Ehre des Begräbnisses hat und die Hoffnung hegen darf, daß seine Familie das Vermögen des Gegners erhalten wird. Dies ist das fürchterliche Verhältnis bei der Imputation oder Nichtimputation, daß alle subjektive Freiheit und moralische Gegenwart bei einer Handlung negiert wird. In den Mosaischen Gesetzen, wo auch dolus, culpa und casus noch nicht genau unterschieden werden, ist doch für den kurposen Totschläger eine Freistatt eröffnet, in welche er sich begeben könne. Dabei gilt in China kein Ansehen des hohen oder niedrigen Ranges. Ein Feldherr des Reiches, der sich sehr ausgezeichnet hatte, wurde beim Kaiser verleumdet, und er bekam zur Strafe des Vergehens, dessen man ihn beschuldigte, das Amt, aufzupassen, wer den Schnee in den Gassen nicht wegkehre. - Bei den Rechtsverhältnissen sind auch noch die Veränderungen im Eigentumsrecht und die Einführung der Sklaverei, welche damit verbunden ist, zu erwähnen. Der Grund und Boden, worin das Hauptvermögen der Chinesen besteht, wurde erst spät als Staatseigentum betrachtet. Seit dieser Zeit wurde es festgesetzt, daß der neunte Teil alles Güterertrags dem Kaiser zukomme. Später entstand auch die Leibeigenschaft, deren Einsetzung man dem Kaiser Schi-hoang-ti [Shihuangdi] zugeschrieben hat, demselben, der im Jahre 213 v. Chr. Geburt die Mauer erbaute, der alle Schriften verbrennen ließ, welche die alten Rechte der Chinesen enthielten, und der viele unabhängige Fürstentümer von China unter seine Botmäßigkeit brachte. Seine Kriege eben machten, daß die eroberten Länder Privateigentum wurden und deren Einwohner leibeigen. Doch ist notwendig in China der Unterschied zwischen der Sklaverei und Freiheit nicht groß, da vor dem Kaiser alle gleich, das heißt, alle gleich degradiert sind. Indem keine Ehre vorhanden ist, und keiner ein besonderes Recht vor dem andern hat, so wird das Bewußtsein der Erniedrigung vorherrschend, das selbst leicht in ein Bewußtsein der Verworfenheit übergeht. Mit dieser Verworfenheit hängt die große Immoralität der Chinesen zusammen. Sie sind dafür bekannt, zu betrügen, wo sie nur irgend können; der Freund betrügt den Freund, und keiner nimmt es dem andern übel, wenn etwa der Betrug nicht gelang oder zu seiner Kenntnis kommt. Sie verfahren dabei auf eine listige und abgefeimte Weise, so daß sich die Europäer im Verkehr mit ihnen gewaltig in acht zu nehmen haben. Das Bewußtsein der moralischen Verworfenheit zeigt sich auch darin, daß die Religion des Fo so sehr verbreitet ist, welche als das Höchste und Absolute, als Gott, das Nichts ansieht und die Verachtung des Individuums als die höchste Vollendung aufstellt. Wir kommen nun zur Betrachtung der religiösen Seite des chinesischen Staates. Im patriarchalischen Zustand ist die religiöse Erhebung des Menschen für sich einfache Moralität und Rechttun. Das Absolute ist selbst teils die abstrakte einfache Regel dieses Rechttuns, die ewige Gerechtigkeit, teils die Macht derselben. Außer diesen einfachen Bestimmungen fallen nun alle weiteren Beziehungen der natürlichen Welt zum Menschen, alle Forderungen des subjektiven Gemütes weg. Die Chinesen in ihrem patriarchalischen Despotismus bedürfen keiner solchen Vermittlung mit dem höchsten Wesen; denn die Erziehung, die Gesetze der Moralität und Höflichkeit, und dann die Befehle und Regierung des Kaisers enthalten dieselbe. Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion. Dadurch ist hier die Religion wesentlich Staatsreligion. Von ihr muß man den Lamaismus unterscheiden, indem dieser nicht zum Staate ausgebildet ist, sondern die Religion als freies, geistiges, uninteressiertes Bewußtsein enthält. Jene chinesische Religion kann daher das nicht sein was wir Religion nennen. Denn uns ist dieselbe die Innerlichkeit des Geistes in sich, indem er sich in sich was sein Innerstes Wesen ist, vorstellt. In diesen Sphären ist also der Mensch auch dem Staatsverhältnis entzogen und vermag in die Innerlichkeit hineinflüchtend sich der Gewalt weltlichen Regiments zu entwinden. Auf dieser Stufe aber steht die Religion in China nicht, denn der wahre Glaube wird erst da möglich, wo die Individuen in sich selbst, für sich unabhängig von einer äußeren treibenden Gewalt sind. In China hat das Individuum keine Seite dieser Unabhängigkeit, es ist daher auch in der Religion abhängig, und zwar von Naturwesen, von welchen das Höchste der Himmel ist. Von diesen hängt Ernte, Jahreszeit, Gedeihen, Mißwachs ab. Der Kaiser, als die Spitze, als die Macht, nähert sich allein dem Himmel, nicht die Individuen als solche. Er ist es, der an den vier Festen die Opfer darbringt, an der Spitze des Hofes für die Ernte dankt und Segen für die Saaten herabfleht. Dieser Himmel nun könnte im Sinne unsres Gottes in der Bedeutung des Herrn der Natur genommen werden (wir sagen z.B., der Himmel behüte uns), aber so ist das Verhältnis in China noch nicht, denn hier ist das einzelne Selbstbewußtsein als substantielles, der Kaiser, selbst die Macht. Der Himmel hat daher nur die Bedeutung der Natur. Die Jesuiten gaben zwar in China nach, den christlichen Gott Himmel, Tien, zu nennen, sie wurden aber deshalb beim Papst von andern christlichen Orden verklagt, und der Papst sandte einen Kardinal hin, der dort starb; ein Bischof, der nachgeschickt wurde, verordnete statt Himmel solle Herr des Himmels gesagt werden. Das Verhältnis zum Tien wird nun auch so vorgestellt, als bringe das Wohlverhalten der Individuen und des Kaisers den Segen, ihre Vergehungen aber Not und alles Übel herbei. Es liegt in der chinesischen Religion insofern noch das Moment der Zauberei, als das Benehmen des Menschen das absolut Determinierende ist. Verhält sich der Kaiser gut, so kann es nicht anders als gut gehen, der Himmel muß Gutes geschehen lassen. Eine zweite Seite dieser Religion ist, daß, wie im Kaiser die allgemeine Seite des Verhältnisses zum Himmel liegt, derselbe auch die besondere Beziehung ganz in seinen Händen hat. Dies ist die partikulare Wohlfahrt der Individuen und Provinzen. Diese haben Genien (Schen), welche dem Kaiser unterworfen sind der nur die allgemeine Macht des Himmels verehrt während die einzelnen Geister des Naturreiches seinen Gesetzen folgen. So wird er also auch zugleich der eigentliche Gesetzgeber für den Himmel. Für die Genien, von denen jeder auf seine Weise verehrt wird sind Skulpturbilder festgesetzt. Es sind scheußliche Götzenbilder, die noch nicht Gegenstand der Kunst sind, weil nichts Geistiges darin sich darstellt. Sie sind daher nur erschreckend, furchtbar, negativ und wachen wie bei den Griechen die Flußgötter, die Nymphen und Dryaden, über die einzelnen Elemente und Naturgegenstände. Jedes der fünf Elemente hat seinen Genius und dieser ist durch eine besondere Farbe unterschieden. Auch die Herrschaft der den Thron von China behauptenden Dynastie hängt von einem Genius ab und zwar hat dieser die gelbe Farbe. Aber nicht minder besitzt jede Provinz und Stadt, jeder Berg und Fluß einen bestimmten Genius. Alle diese Geister stehen unter dem Kaiser, und in dem jährlich erscheinenden Reichsadreßbuche sind die Beamten wie die Genien verzeichnet, denen dieser Bach, dieser Fluß usw. anvertraut worden ist. Geschieht ein Unglück, so wird der Genius wie ein Mandarin abgesetzt. Die Genien haben unzählige Tempel (in Peking sind deren gegen 10000) mit einer Menge von Priestern und Klöstern. Diese Bonzen leben unverheiratet und werden in allen Nöten von den Chinesen um Rat gefragt. Außerdem aber werden weder sie noch die Tempel sehr geehrt Die englische Gesandtschaft des Lord Macartney wurde sogar in die Tempel einquartiert, da man dieselben wie Wirtshäuser braucht. Ein Kaiser hat viele Tausende solcher Klöster säkularisiert, die Bonzen ins bürgerliche Leben zurückzukehren genötigt und die Güter mit Abgaben belegt. Die Bonzen sagen wahr und beschwören; denn die Chinesen sind einem unendlichen Aberglauben ergeben: dieser beruht eben auf der Unselbständigkeit des Innern und setzt das Gegenteil von der Freiheit des Geistes voraus. Bei jedem Unternehmen - ist z.B. die Stelle eines Hauses oder eines Begräbnisplatzes und dergleichen zu bestimmen - werden die Wahrsager um Rat gefragt. Im Y-king [Yi jing] sind gewisse Linien angegeben, die die Grundformen und Grundkategorien bezeichnen, weshalb dieses Buch auch das Buch der Schicksale genannt wird. Der Kombination von solchen Linien wird eine gewisse Bedeutung zugeschrieben und die Prophezeiung dieser Grundlage entnommen. Oder eine Anzahl von Stäbchen wird in die Luft geworfen und aus der Art, wie sie fallen, das Schicksal vorherbestimmt. Was uns als zufällig gilt, als natürlicher Zusammenhang, das suchen die Chinesen durch Zauberei abzuleiten oder zu erreichen, und so spricht sich auch hier, ihre Geistlosigkeit aus. Mit diesem Mangel eigentümlicher Innerlichkeit hängt auch die Bildung der chinesischen Wissenschaft zusammen. Wenn wir von den chinesischen Wissenschaften sprechen, so tritt uns ein großer Ruf hinsichtlich der Ausbildung und des Altertums derselben entgegen. Treten wir näher, so sehen wir, daß die Wissenschaften in sehr großer Verehrung, und zwar öffentlicher von der Regierung ausgehender Hochschätzung und Beförderung stehen. Der Kaiser selbst steht an der Spitze der Literatur. Ein eignes Kollegium redigiert die Dekrete des Kaisers, damit sie im besten Stile verfaßt seien, und so ist dieses denn auch eine wichtige Staatssache. Dieselbe Vollkommenheit des Stils müssen die Mandarine bei Bekanntmachungen beobachten, denn der Vortrefflichkeit des Inhalts soll auch die Form entsprechen. Eine der höchsten Staatsbehörden ist die Akademie der Wissenschaften. Die Mitglieder prüft der Kaiser selbst, sie wohnen im Palaste, sind teils Sekretäre, teils Reichsgeschichtschreiber, Physiker, Geographen. Wird irgendein Vorschlag zu einem neuen Gesetz gemacht, so muß die Akademie ihre Berichte einreichen. Sie muß die Geschichte der alten Einrichtungen einleitend geben, oder wenn die Sache mit dem Auslande in Verbindung steht, so wird eine Beschreibung dieser Länder erfordert. Zu den Werken, die hier verfaßt werden, macht der Kaiser selbst die Vorreden. Unter den letzten Kaisern hat sich besonders Kienlong [Qianlong] durch wissenschaftliche Kenntnisse ausgezeichnet: er selbst hat viel geschrieben, sich aber bei weitem mehr noch durch die Herausgabe der Hauptwerke Chinas hervorgetan. An der Spitze der Kommission, welche die Druckfehler verbessern mußte, stand ein kaiserlicher Prinz, und wenn das Werk durch alle Hände gegangen war, so kam es nochmals an den Kaiser zurück, der jeden Fehler, der begangen wurde, hart bestrafte. Wenn so einerseits die Wissenschaften aufs höchste geehrt und gepflegt scheinen, so fehlt ihnen auf der andern Seite gerade jener freie Boden der Innerlichkeit und das eigentliche wissenschaftliche Interesse, das sie zu einer theoretischen Beschäftigung macht. Ein freies, ideelles Reich des Geistes hat hier nicht Platz, und das, was hier wissenschaftlich heißen kann, ist empirischer Natur und steht wesentlich im Dienste des Nützlichen für den Staat und für seine und der Individuen Bedürfnisse. Schon die Art der Schriftsprache ist ein großes Hindernis für die Ausbildung der Wissenschaften; oder vielmehr umgekehrt, weil das wahre wissenschaftliche Interesse nicht vorhanden ist, so haben die Chinesen kein besseres Instrument für die Darstellung und Mitteilung des Gedankens. Bekanntlich haben sie neben der Tonsprache eine solche Schriftsprache, welche nicht wie bei uns die einzelnen Töne bezeichnet, nicht die gesprochenen Worte vor das Auge hinstellt, sondern die Vorstellungen selbst durch Zeichen. Dies scheint nun zunächst ein großer Vorzug zu sein und hat vielen großen Männern, unter andern auch Leibniz imponiert; es ist aber gerade das Gegenteil von einem Vorzug. Denn betrachtet man zuerst die Wirkung solcher Schriftweise auf die Tonsprache. so ist diese bei den Chinesen, eben um jener Trennung willen, sehr unvollkommen. Denn unsre Tonsprache bildet sich vornehmlich dadurch zur Bestimmtheit aus, daß die Schrift für die einzelnen Laute Zeichen finden muß, die wir durchs Lesen bestimmt aussprechen lernen. Die Chinesen, welchen ein solches Bildungsmittel der Tonsprache fehlt, bilden deshalb die Modifikationen der Laute nicht zu bestimmten, durch Buchstaben und Silben darstellbaren Tönen aus. Ihre Tonsprache besteht aus einer nicht beträchtlichen Menge von einsilbigen Worten welche für mehr als eine Bedeutung gebraucht werden. Der Unterschied nun der Bedeutung wird allein teils durch den Zusammenhang, teils durch den Akzent, schnelles oder langsames, leiseres oder lauteres Aussprechen bewirkt. Die Ohren der Chinesen sind hierfür sehr fein gebildet. So finde ich, daß Po je nach dem Ton elf verschiedene Bedeutungen hat: Glas; sieden; Getreide; worfeln; zerspalten; wässern; zubereiten; ein alt Weib; Sklave; freigebiger Mensch; kluge Person; ein wenig. — Was nun die Schriftsprache betrifft, so will ich nur das Hindernis hervorheben, das in ihr für die Beförderung der Wissenschaften liegt. Unsre Schriftsprache ist sehr einfach zu lernen, indem wir die Tonsprache in etwa 25 Töne analysieren (und durch diese Analyse wird die Tonsprache bestimmt, die Menge möglicher Töne beschränkt, die unklaren Zwischentöne entfernt); wir haben nur diese Zeichen und ihre Zusammensetzung zu erlernen. Statt solcher 25 Zeichen haben die Chinesen viele Tausende zu lernen, man gibt die für den Gebrauch nötige Anzahl auf 9353 an, ja bis auf 10516, wenn man die neueingeführten hinzurechnet; und die Anzahl der Charaktere überhaupt, für die Vorstellungen und deren Verbindungen, soweit sie in den Büchern vorkommen, beläuft sich auf 80 bis 90 000. - Was nun die Wissenschaften selbst angeht, so begreift die Geschichte der Chinesen nur die ganz bestimmten Fakta in sich, ohne alles Urteil und Räsonnement. Die Rechtswissenschaft gibt ebenso nur die bestimmten Gesetze und die Moral die bestimmten Pflichten an, ohne daß es um eine innere Begründung derselben zu tun wäre. Die Chinesen haben jedoch auch eine Philosophie. deren Grundbestimmungen sehr alt sind, wie denn schon der Y-king [Yi jing], das Buch der Schicksale, von dem Entstehen und Vergehen handelt. In diesem Buche finden sich die ganz abstrakten Ideen der Einheit und Zweiheit, und somit scheint die Philosophie der Chinesen von denselben Grundgedanken, wie die pythagoreische Lehre, auszugehen. Das Prinzip ist die Vernunft, Tao, diese allem zugrunde liegende Wesenheit, die alles bewirkt. Ihre Formen kennenzulernen, gilt auch bei den Chinesen als die höchste Wissenschaft; doch hat diese keinen Zusammenhang mit den Disziplinen, die den Staat näher betreffen. Die Werke des Lao-tse [Laozi] und namentlich sein Werk Tao-te-king [Dao de jing] sind berühmt. Konfuzius besuchte im sechsten Jahrhundert vor Christus diesen Philosophen, um ihm seine Ehrerbietung zu bezeigen. Wenn es nun auch jedem Chinesen freisteht, diese philosophischen Werke zu studieren, so gibt es Jods dazu eine besondere Sekte, die sich Tao-tse nennt oder Verehrer der Vernunft. Diese sondern sich von dem bürgerlichen Leben aus, und es mischt sich viel Schwärmerisches und Mystisches in ihre Vorstellungsweise. Sie glauben nämlich, wer die Vernunft kenne, der besitze ein allgemeines Mittel, das schlechthin für mächtig angesehen werden könne und eine übernatürliche Macht erteile, so daß man dadurch fähig wäre, sich zum Himmel zu erheben und niemals dem Tode unterliege (ungefähr wie man bei uns einmal von einer Universallebenstinktur sprach). Mit den Werken des Konfuzius sind wir nun auch näher bekannt geworden; ihm verdankt China die Redaktion der Kings; außerdem aber viele eigne Werke über Moral, die die Grundlage für die Lebensweise und das Betragen der Chinesen bilden. In dem Hauptwerke des Konfuzius, welches ins Englische übersetzt wurde, finden sich zwar richtige moralische Aussprüche, aber es ist ein Herumreden, eine Reflexion und ein sich Herumwenden darin, welches sich nicht über das Gewöhnliche erhebt. - Was die übrigen Wissenschaften anbelangt, so werden sie nicht als solche, sondern vielmehr als Kenntnisse zum Behufe von nützlichen Zwecken angesehen. Die Chinesen sind weit in der Mathematik, Physik und Astronomie zurück, so groß auch ihr Ruhm früher darin war. Sie haben vieles gekannt, als die Europäer es noch nicht entdeckt hatten, aber sie haben keine Anwendung davon zu machen verstanden, so z.B. den Magnet, so die Buchdruckerkunst. Allein namentlich in Beziehung auf die letztere bleiben sie dabei stehen, die Buchstaben in hölzerne Tafeln zu gravieren und dann abzudrucken, von den beweglichen Lettern wissen sie nichts. Auch das Pulver wollen sie früher wie die Europäer erfunden haben, aber die Jesuiten mußten ihnen die ersten Kanonen gießen. Was die Mathematik anbetrifft, so verstehen sie sehr wohl zu rechnen, aber die höhere Seite der Wissenschaft ist ihnen unbekannt. Auch als große Astronomen haben die Chinesen lange gegolten. La Place hat ihre Kenntnisse darin untersucht und gefunden, daß sie einige alte Nachrichten und Notizen von Mond- und Sonnenfinsternissen besitzen, was freilich die Wissenschaft noch nicht konstituiert. Auch sind die Notizen so unbestimmt, daß sie eigentlich gar nicht als Kenntnisse gelten können; im Schu-king [Shu jing] sind nämlich in einem Zeitraum von 1500 Jahren zwei Sonnenfinsternisse erwähnt. Der beste Beweis, wie es mit der Wissenschaft der Astronomie bei den Chinesen steht, ist, daß schon seit mehreren hundert Jahren die Kalender dort von den Europäern gemacht werden. In früheren Zeiten, als noch chinesische Astronomen den Kalender verfaßten, kam es oft genug vor, daß falsche Angaben von Mond- und Sonnenfinsternissen gemacht wurden und die Hinrichtung der Verfertiger nach sich zogen. Die Fernrohre, welche die Chinesen von den Europäern zum Geschenk erhielten, sind zwar zum Schmucke aufgestellt, aber sie wissen weiter keinen Gebrauch davon zu machen. Auch die Medizin wird von den Chinesen getrieben, aber als etwas bloß Empirisches, woran sich der größte Aberglaube knüpft. Überhaupt hat dieses Volk eine ungemeine Geschicklichkeit in der Nachahmung, welche nicht bloß im täglichen Leben, sondern auch in der Kunst ausgeübt wird. Das Schöne als Schönes darzustellen ist ihm noch nicht gelungen, denn in der Malerei fehlt ihm die Perspektive und der Schatten, und wenn auch der chinesische Maler europäische Bilder wie alles überhaupt gut kopiert, wenn er auch genau weiß, wieviel Schuppen ein Karpfen hat, wieviel Einschnitte in den Blättern sind, wie die Gestalt der verschiedenen Bäume und die Biegung ihrer Zweige beschaffen ist, so ist doch das Erhabene, Ideale und Schöne nicht der Boden seiner Kunst und Geschicklichkeit. Die Chinesen sind anderseits zu stolz, um etwas von den Europäern zu lernen, obgleich sie oft deren Vorzüge anerkennen müssen. So ließ ein Kaufmann in Kanton ein europäisches Schiff bauen, aber auf Befehl des Statthalters wurde es sofort zerstört. Die Europäer werden als Bettler behandelt, da sie genötigt seien, ihre Heimat zu verlassen und sich ihren Unterhalt anderswo als im eignen Lande zu suchen. Dagegen haben wohl auch die Europäer eben weil sie Geist haben, noch nicht vermocht, die äußerliche und vollkommen natürliche Geschicklichkeit der Chinesen nachzuahmen. Denn ihre Firnisse, die Bearbeitung ihrer Metalle und namentlich die Kunst, die selben beim Gießen äußerst dünn zu halten, die Bereitung der Porzellane nebst vielem andern sind noch unerreicht geblieben. – Dies ist der Charakter des chinesischen Volkes nach allen Seiten hin. Das Ausgezeichnete desselben ist, daß alles, was zum Geist gehört, freie Sittlichkeit, Moralität, Gemüt, innere Religion, Wissenschaft und eigentliche Kunst entfernt ist. Der Kaiser spricht immer mit Majestät und väterlicher Güte und Zartheit zum Volke, das jedoch nur das schlechteste Selbstgefühl über sich selber hat und nur geboren zu sein glaubt den Wagen der Macht der kaiserlichen Majestät zu ziehen. Die Last, die es zu Boden drückt, scheint ihm sein notwendiges Schicksal zu sein, und es ist ihm nicht schrecklich, sich als Sklaven zu verkaufen und das saure Brot der Knechtschaft zu essen. Der Selbstmord als Werk der Rache die Aussetzung der Kinder als gewöhnliche und tägliche Begebenheit zeugt von geringer Achtung, die man vor sich selbst, wie vor dem Menschen hat, und wenn kein Unterschied der Geburt vorhanden ist und jeder zur höchsten Würde gelangen kann, so ist eben diese Gleichheit nicht die durchgekämpfte Bedeutung des inneren Menschen sondern das niedrige, noch nicht zu Unterschieden gelangte Selbstgefühl. |
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16 | 1821-1831 |
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Religion : Die chinesische Religion oder die Religion des Masses [ID D11897]. Vorlesungen gelesen 1821/22, 1824/25, 1827/28, 1831 in Berlin. Hegel schreibt : a) Die allgemeine Bestimmtheit derselben Zunächst wird die Substanz noch in derjenigen Bestimmung des Seins gedacht, die zwar dem Wesen am nächsten steht, aber doch noch der Unmittelbarkeit des Seins angehört, und der Geist, der von ihr verschieden ist, ist ein besonderer, endlicher Geist, der Mensch. Dieser Geist ist einerseits der Gewalthabende, der Ausführer jener Macht, andererseits, als jener Macht unterworfen, das Akzidentelle. Wird der Mensch als diese Macht vorgestellt, so dass sie in ihm als wirkend angesehen wird oder dass er durch den Kultus dazu komme, sich mit ihr identisch zu setzen, so hat die Macht die Gestalt des Geistes, aber des endlichen, menschlichen Geistes, und da tritt die Trennung von anderen ein, über die er mächtig ist. b) Die geschichtliche Existenz dieser Religion Aus jener unmittelbaren Religion, welche der Standpunkt der Zauberei war, sind wir zwar herausgetreten, da der besondere Geist sich jetzt von der Substanz unterscheidet und zu ihr in Verhältnis steht, dass er sie als die allgemeine Macht betrachtet. In der chinesischen Religion, welche die nächste geschichtliche Existenz dieses substantiellen Verhältnisses ist, wird die Substanz als der Umfang des wesentlichen Seins, als das Mass gewusst ; das Mass gilt als das Anundfürsichseiende, Unveränderliche, und Tien, der Himmel, ist die objektive Anschauung dieses Anundfürsichseienden. Dennoch zieht sich auch die Bestimmung der Zauberei noch in diese Sphäre herein, insofern in der Wirklichkeit der einzelne Mensch, der Wille und das empirische Bewusstsein desselben das Höchste ist. Der Standpunkt der Zauberei hat sich hier sogar zu einer organisierten Monarchie, deren Anschauung etwas Grossartiges und Majestätitsches hat, ausgebreitet. Tien ist das Höchste, aber nicht nur im geistigen, moralischen Sinn. Es bezeichnet vielmehr die ganz unbestimmte, abstrakte Allgemeinheit, ist der ganz unbestimmte Inbegriff physischen und moralischen Zusammenhangs überhaupt. Daneben ist aber der Kaiser Regent auf Erden, nicht der Himmel ; nicht dieser hat Gesetze gegeben oder gibt sie, welche die Menschen respektieren, göttliche Gesetze, Gesetze der Religion, Sittlichkeit. Nicht Tien regiert die Natur, sondern der Kaiser regiert alles, und er nur ist im Zusammenhang mit diesem Tien. Er nur bringt dem Tien Opfer an den vier Hauptfesten des Jahres ; es ist nur der Kaiser, der sich unterredet mit Tien, seine Gebete richtet an ihn, er steht allein in Konnexion mit ihm und regiert alles auf Erden. Der Kaiser hat auch die Herrschaft über die natürlichen Dinge und ihre Veränderungen in seinen Händen und regiert die Mächte derselben. Wir unterscheiden Welt, weltliche Erscheinung so, dass ausser dieser Welt auch Gott regiert ; hier aber ist nur der Kaiser das Herrschende. Der Himmel der Chinesen, der Tien, ist etwas ganz Leeres ; die Seelen der Verstorbenen existieren zwar in ihm, überleben die Abscheidung vom Körper, aber sie gehören auch zur Welt, da sie als Herren der Naturkreise gedacht werden, und der Kaiser regiert auch über diese, setzt sie in ihre Ämter ein und ab. Wenn die Toten als Vorsteher der natürlichen Reiche vorgestellt werden, so könnte man sagen : sie sind damit erhoben ; in der Tat aber werden sie heruntergesetzt zu Genien des Natürlichen, und da ist es recht, dass der selbstbewusste Wille diese Genien bestimmt. Der Himmel der Chinesen ist daher nicht eine Welt, die über der Erde ein selbständiges Reich bildet und für sich das Reich des Idealen ist, wie wir uns den Himmel mit Engeln und den Seelen der Verstorbenen vorstellen oder wie der griechische Olymp vom Leben auf der Erde unterschieden ist, sondern alles ist auf Erden, und alles, was Macht hat, ist dem Kaiser unterworfen, und es ist dies einzelne Selbstbewusstsein, das auf bewusste Weise diese vollkommene Regentschaft führt. Was das Mass betrifft, so sind es feste Bestimmungen, die Vernunft (Tao) heissen. Die Gesetze des Tao oder die Masse sind Bestimmungen, Figurationen, nicht das abstrakte Sein oder abstrakte Substanz, sondern Figurationen der Substanz, die abstrakter aufgefasst werden können, aber auch die Bestimmungen für die Natur und für den Geist des Menschen, Gesetze seines Willens und seiner Vernunft sind. – Die ausführliche Angabe und Entwicklung dieser Masse begriffe die ganze Philosophie und Wissenschaft der Chinesen. Hier sind nur die Hauptpunkte hervorzuheben. Die Masse in der abstrakten Allgemeinheit sind ganz einfache Kategorien : Sein und Nichtsein, das Eins und Zwei, welches denn das Viele überhaupt ist. Diese allgemeinen Kategorien sind von den Chinesen mit Strichen bezeichnet worden : der Grundstrich ist die Linie ; ein einfacher Strich (-) bedeutet das Eins und die Affirmation : ja, der gebrochene (- -) Zwei, die Entzweiung und die Negation : nein. Diese Zeichen heissen Kua (die Chinesen erzählen, sie seien ihnen auf der Schale der Schildkröte erschienen). Es gibt vielfache Verbindungen derselben, die dann konkretere Bedeutungen von jenen ursprünglichen Bestimmungen haben. Unter diesen konkreteren Bedeutungen sind besonders die vier Weltgegenden und die Mitte, vier Berge, die diesen Weltgegenden entsprechen, und einer in der Mitte, fünf Elemente : Erde, Feuer, Wasser, Holz und Metall. Ebenso gibt es fünf Grundfarben, wovon jede einem Element angehört. Jede chinesische regierende Dynastie hat eine besondere Farbe, Element usw. : so gibt es auch fünf Grundtöne in der Musik ; fünf Grundbestimmungen für das Tun des Menschen in seinem Verhalten zu anderen. Die erste und höchste ist das Verhalten der Kinder zu den Eltern, die zweite die Verehrung der verstorbenen Voreltern und der Toten, die dritte der Gehorsam gegen den Kaiser, die vierte das Verhalten der Geschwister zueinander, die fünfte das Verhalten gegen andere Menschen. Diese Massbestimmungen machen die Grundlage, die Vernunft aus. Die Menschen haben sich denselben gemäss zu halten ; was die Naturelemente betrifft, so sind die Genien derselben vom Menschen zu verehren. Es gibt Menschen, die sich dem Studium dieser Vernunft ausschliesslich widmen, sich von allem praktischen Leben fernhalten und in der Einsamkeit leben ; doch ist es immer die Hauptsache, dass diese Gesetze im praktischen Leben gehandhabt werden. Wenn sie aufrechtgehalten sind, wenn die Pflichten von den Menschen beobachtet werden, so ist alles in Ordnung, in der Natur wie im Reiche ; es geht dem Reiche und den Individuen wohl. Dies ist ein moralischer Zusammenhang zwischen dem Tun des Menschen und dem, was in der Natur geschieht. Betrifft das Reich Unglück, sei es durch Überschwemmung oder durch Erdbeben, Feuersbrünste, trockene Witterung usw., so kommt dies allein daher, dass der Mensch nicht die Vernunftgesetze befolgt hat, dass die Massbestimmungen im Reiche nicht gut aufrechterhalten worden sind. Dadurch wird das allgemeine Mass zerstört, und es bricht solches Unglück herein. – Das Mass wird hier also als das Anundfürsichseiende gewusst. Dies ist die allgemeine Grundlage. Das Weitere betrifft nur die Betätigung des Masses. Die Aufrechterhaltung der Gesetze kommt dem Kaiser zu, dem Kaiser als dem Sohne des Himmels, welcher das Ganze, die Totalität der Masse ist. Der Himmel als das sichtbare Himmelsgewölbe ist zugleich die Macht der Masse. Der Kaiser ist unmittelbar der Sohn des Himmels (Tien-tse), er hat das Gesetz zu ehren und demselben Anerkennung zu verschaffen. In einer sorgfältigen Erziehung wird der Thronfolger mit allen Wissenschaften und den Gesetzen bekannt gemacht. Der Kaiser erzeigt allein dem Gesetze die Ehre ; seine Untertanen haben ihm nur die Ehre zu erweisen, die er dem Gesetz erweist. Der Kaiser bringt Opfer. Dies ist nichts anderes, als dass der Kaiser sich niederwirft und das Gesetz verehrt. Ein Hauptfest unter den wenigen chinesischen Festen ist das des Ackerbaues. Der Kaiser steht demselben vor ; an dem Festtage pflügt er selbst den Acker ; das Korn, welches auf diesem Felde wächst, wird zum Opfer gebraucht. Die Kaiserin hat den Seidenbau unter sich, der den Stoff zur Bekleidung hergibt, wie der Ackerbau die Quelle aller Nahrung ist. – Wenn Überschwemmungen, Seuchen und dgl. das Land verwüsten und plagen, so geht das allein den Kaiser an ; er bekennt als Ursache des Unglücks seine Beamten und vorzüglich sich selbst : wenn er und seine Magistratspersonen das Gesetz ordentlich aufrechterhalten hätten, so wäre das Unglück nicht eingetreten. Der Kaiser empfiehlt daher den Beamten, in sich zu gehen und zu sehen, worin sie gefehlt hätten, so wie er selbst der Meditation und Busse sich hingibt, weil er nicht recht gehandelt habe. – Von der Pflichterfüllung hängt also die Wohlfahrt des Reiches und der Individuen ab. Auf diese Weise reduziert sich der ganze Gottesdienst für die Untertanen auf ein moralisches Leben ; die chinesische Religion ist so eine moralische Religion zu nennen (in diesem Sinne hat man den Chinesen Atheismus zuschreiben können). – Diese Massbestimmungen und Angaben der Pflichten rühren meistenteils von Konfuzius her : seine Werke sind überwiegend solchen moralischen Inhalts. Diese Macht der Gesetze und der Massbestimmungen ist ein Aggregat von vielen besonderen Bestimmungen und Gesetzen. Diese besonderen Bestimmungen müssen nun auch als Tätigkeiten gewusst werden ; als Besonderes sind sie der allgemeinen Tätigkeit unterworfen, nämlich dem Kaiser, welcher die Macht der gesamten Tätigkeiten ist. Diese besonderen Mächte werden nun auch als Menschen vorgestellt, besonders sind es die abgeschiedenen Voreltern der existierenden Menschen ; denn der Mensch wird besonders als Macht gewusst, wenn er abgeschieden, d.h. nicht mehr in das Interesse des täglichen Lebens verwickelt ist. Derjenige kann aber auch als abgeschieden betrachtet werden, der sich selbst von der Welt ausscheidet, indem er sich in sich vertieft, seine Tätigkeit bloss auf das Allgemeine, auf die Erkenntnis dieser Mächte richtet, dem Zusammenhange des täglichen Lebens entsagt und sich von allen Genüssen fernhält ; dadurch ist der Mensch auch dem konkreten menschlichen Leben abgeschieden, und er wird daher auch als besondere Macht gewusst. – Ausserdem gibt es auch noch Geschöpfe der Phantasie, welche diese Macht innehaben : dies ist ein sehr weit ausgebildetes Reich von solchen besonderen Mächten. Sie stehen sämtlich unter der allgemeinen Macht, unter der des Kaisers, der sie einsetzt und ihnen Befehle erteilt. Dieses weite Reich der Vorstellung lernt man am besten aus einem Abschnitt der chinesischen Geschichte kennen, wie er sich in den Berichten der Jesuiten, in dem gelehrten Werke Mémoires concernant les Chinois findet. An die Einsetzung einer neuen Dynastie knüpft sich unter anderem die Beschreibung von dem Folgenden. Ums Jahr 1122 v. Chr., eine Zeit, die in der chinesischen Geschichte noch ziemlich bestimmt ist, kam die Dynastie der Tschou [Zhou] zur Regierung. Wu-wang [Wuwang] war aus dieser der erste Kaiser ; der letzte der vorhergehenden Dynastie Tschou-sin [Zhou Xin] hatte wie seine Vorgänger schlecht regiert, so dass die Chinesen sich vorstellten, der böse Genius, der sich ihm einverleibt, habe regiert. Mit einer neuen Dynastie muss sich alles erneuen auf Erden und am Himmel ; dies wurde vom neuen Kaiser mit Hilfe des Generalissimus seiner Armee vollbracht. Es wurden nun neue Gesetze, Musik, Tänze, Beamte usf. eingeführt, und so mussten auch die Lebenden und die Toten vom Kaiser neue Vorsteher erhalten. Ein Hauptpunkt war die Zerstörung der Gräber der vorhergehenden Dynastie, d.h. die Zerstörung des Kultus gegen die Ahnherrn, die bisher Mächte über die Famlien und über die Natur gewesen waren. Da nun aber in dem neuen Reiche Familien vorhanden sind, die der alten Dynastie anhänglich waren, deren Verwandte höhere Ämter, besonders Kriegsämter hatten, welche zu verletzen jedoch unpolitisch wäre, so musste ein Mittel gefunden werden, ihren verstorbenen Verwandten die Ehre zu lassen. Wu-wang führte dies auf folgende Weise aus. Nachdem in der Hauptstadt, Peking war es noch nicht, die Flammen gelöscht waren, Flammen, die der letzte Fürst hatte anzünden lassen, um den kaiserlichen Palast mit allen Schätzen, Weibern usf. zu vernichten, so war das Reich, die Herrschaft dem Wu-wang unterworfen und der Moment gekommen, dass er als Kaiser in die Kaiserstadt einziehen, sich dem Volk darstellen und Gesetze geben sollte. Er machte jedoch bekannt, dass er dies nicht eher könne, als bis zwischen ihm und dem Himmel alles auf angemessene Weise in Ordnung gebracht sei. Von dieser Reichskonstitution zwischen ihm und dem Himmel wurde gesagt, sie sei in zwei Büchern enthalten, die auf einem Berge bei einem alten Mister niedergelegt seien. Das eine enthalte die neuen Gesetze und das zweite die Namen und die Ämter der Genien, Schen genannt, welche die neuen Vorsteher des Reichs in der natürlichen Welt sind, so wie die Mandarine in der bewussten Welt. Diese Bücher abzuholen wurde der General des Wu-wang abgeschickt ; dieser war selbst schon ein Schen, ein gegenwärtiger Genius, wozu er es bei seinem Leben schon durch mehr als vierzigjährige Studien und Übungen gebracht hatte. Die Bücher wurden gebracht. Der Kaiser reinigt sich, fastete drei Tage ; am vierten Tage mit Aufgang der Sonne trat er in Kaiserkleidung hervor mit dem Buch der neuen Gesetze. Dies wurde auf dem Altar niederglegt, Opfer dargebracht und dem Himmel dafür gedankt. Hierauf wurden die Gesetze bekannt gemacht, und zur grössten Überraschung und Satisfaktion des Volkes fand es sich, dass sie ganz so waren wie die vorigen. Überhaupt bleiben bei einem Dynastienwechsel mit wenigen Abänderungen die alten Gesetze. Das zweite Buch wurde nicht geöffnet, sondern der General damit auf einen Berg geschickt, um es den Schen bekanntzumachen und ihnen zu eröffnen, was der Kaiser gebiete. Es war darin ihre Ein- und Absetzung enthalten. Es wird nun weiter erzählt, auf dem Berge habe der General die Schen zusammenberufen ; dieser Berg lag in dem Gebiete, aus dem das Haus der neuen Dynastie stammte. Die Abgeschiedenen hätten sich am Berge versammelt, höher oder niedriger nach dem Range, der General habe auf einem Thron in der Mitte gesessen, der zu diesem Behuf errichtet und herrlich geschmückt gewesen sei ; er sei geziert gewesen mit den acht Kua, vor demselben habe die Reichsstandarte und das Zepter, der Kommandostab über die Schen, auf einem Altar gelegen, ebenso das Diplom des alten Meisters, der dadurch den General bevollmächtigte, den Schen die neuen Befehle bekanntzumachen. Der General las das Diplom ; die Schen, die unter der vorigen Dynastie geherrscht hatten, wurden wegen ihrer Nachlässigkeit, welche Ursache des eingebrochenen Unglücks sei, für unwürdig erklärt, weiter zu herrschen, und ihres Amtes entlassen. Es wurde ihnen gesagt, sie könnten hingehen, wohin sie wollten, sogar ins menschliche Leben wieder eintreten, um auf diese Weise von neuem Belohnungen zu verdienen. Nun ernannte der abgeordnete Generalissimus die neuen Schen und befahl einem der Anwesende, das Register zu nehmen und es vorzulesen. Dieser gehorchte und fand seinen Namen zuerst genannt. Der Generalissimus gratulierte ihm, dass seine Tugenden diese Anerkennung erhalten hätten. Es war ein alter General. Sodann wurden die anderen aufgerufen, teils solche, die im Interesse der neuen Dynastie umgekommen waren, teils solche, die im Interesse der früheren Dynastie gefochten und sich aufgeopfert hatten. Unter ihnen besonders ein Prinz, Generalissimus der Armee der früheren Dynastie. Er war im Kriege ein tüchtiger und grosser General, im Frieden ein treuer und pünktlicher Minister gewesen und hatte der neuen Dynastie die meisten Hindernisse in den Weg gelegt, bis er endlich im Kriege umgekommen war. Sein Name war der fünfte, nachdem nämlich die Vorsteher über die vier Berge, welche die vier Weltteile und die vier Jahreszeiten vorstellten, ernannt waren. Als sein Amt sollte er die Inspektion über alle Schen, die mit dem Regen, Wind, Donner und den Wolken beauftragt waren, erhalten. Sein Name musste aber zweimal gerufen und ihm erst der Kommandostab gezeigt werden, ehe er nähertrat ; er kam mit einer verächtlichen Miene und blieb stolz stehen. Der General redete ihn an : "Du bist nicht mehr, was du unter den Menschen warst, bist nichts als ein gemeiner Schen, der noch kein Amt hat ; ich soll dir vom Meister eins übertragen, ehre diesen Befehl". Hierauf fiel der Schen nieder, und es wurde ihm eine lange Rede gehalten und er zum Chef jener Schen ernannt, welche das Geschäft haben, den Regen und Donner zu besorgen. So wurde nun sein Geschäft, Regen zur rechten Zeit zu machen, die Wolken zu zerteilen, wenn sie eine Überschwemmung verursachen könnten, den Wind nicht zum Sturm werden zu lassen und den Donner nur walten zu lassen, um die Bösen zu erschrecken und sie zu veranlassen, in sich zurückzukehren. Er erhielt vierundzwanzig Adjutanten, derer jeder seine besondere Inspektion bekam, welche alle vierzehn Tage wechselte ; unter diesen erhielten andere andere Departements. Die Chinesen haben fünf Elemente, - auch diese bekamen Chefs. Ein Schen bekam die Aufsicht über das Feuer in Rücksicht auf Feuersbrünste, sechs Schen wurden über die Epidemien gesetzt und erhielten den Auftrag, zur Erleichterung der menschlichen Gesellschaft sie zuweilen vom Überfluss an Menschen zu reinigen. Nachdem alle Ämter verteilt waren, wurde das Buch dem Kaiser wieder übergeben, und es macht noch den astrologischen Teil des Kalenders aus. Es erscheinen in China jährlich zwei Adresskalender, der eine über die Mandarine, der andere über die unsichtbaren Beamten, die Schen. Bei Misswachs, Feuersbrünsten, Überschwemmungen usf. werden die betreffenden Schen abgeschafft, ihre Bilder gestürzt und neue ernannt. Hier ist also die Herrschaft des Kaisers über die Natur eine vollkommen organisierte Monarchie. Es gab unter den Chinesen auch schon eine Klasse von Menschen, die sich innerlich beschäftigten, die nicht nur zur allgemeinen Staatsreligion des Tien gehörten, sondern eine Sekte [bildeten], die sich dem Denken ergab, in sich zum Bewusstsein zu bringen suchte, was das Wahre sei. Die nächste Stufe aus dieser ersten Gestaltung der natürlichen Religion, welche eben war, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein sich als das Höchste, als das Regierende weiss nach dieser Unmittelbarkeit, ist die Rückkehr des Bewusstseins in sich selbst, die Forderung, dass das Bewusstsein in sich selbst meditierend ist ; und das ist die Sekte des Tao. – Damit ist verbunden, dass diese Menschen, die in den Gedanken, das Innere zurückgehen, auf die Abstraktion des Gedankens sich legen, zugleich die Absicht hatten, unsterbliche, für sich reine Wesen zu werden, teils indem sie erst eingeweiht waren, teils indem sie die Meisterschaften, das Ziel erlangt [hatten], sich selbst für höhere Wesen, auch der Existenz, der Wirklichkeit nach, hielten. Diese Richtung zum Innern, dem abstrahierenden reinen Denken, finden wir also schon im Altertum bei den Chinesen. Eine Erneuerung, Verbesserung der Lehre des Tao fällt in spätere Zeit, und diese wird vornehmlich dem Lao-tse [Laozi] zugeschrieben, einem Weisen, etwas älter, aber gleichzeitig mit Konfuzius und Pythagoras. Konfuzius ist durchaus moralisch, kein spekulativer Philosoph. Der Tien, diese allgemeine Naturmacht, welche Wirklichkeit durch die Gewalt des Kaisers ist, ist verbunden mit moralischem Zusammenhang, und diese moralische Seite hat Konfuzius vornehmlich ausgebildet. Bei der Sekte des Tao ist der Anfang, in den Gedanken, das reine Element überzugehen. Merkwürdig ist in dieser Beziehung, dass in dem Tao, der Totalität, die Bestimmung der Dreiheit vorkommt. Das Eins hat das Zwei hervorgebracht, das Zwei das Drei, dieses das Universum. Sobald sich also der Mensch denkend verhielt, ergab sich auch sogleich die Bestimmung der Dreiheit. Das Eins ist das Bestimmungslose und leere Abstraktion. Soll es das Prinzip der Lebendigkeit und Geistigkeit haben, so muss zur Bestimmung fortgegangen werden. Einheit ist nur wirklich, insofern sie zwei in sich enthält, und damit ist die Dreiheit gegeben. Mit diesem Fortschritt zum Gedanken hat sich aber noch keine höhere geistige Religion begründet : die Bestimmungen des Tao bleiben vollkommene Abstraktionen, und die Lebendigkeit, das Bewusstsein, das Geistige fällt sozusagen nicht in den Tao selbst, sondern durchaus noch in den unmittelbaren Menschen. Für uns ist Gott das Allgemeine, aber in sich bestimmt ; Gott ist Geist, seine Existenz ist die Geistigkeit. Hier ist die Wirklichkeit, Lebendigkeit des Tao noch das wirkliche, unmittelbare Bewusstsein, dass er zwar ein Totes ist wie Lao-tse [Laozi], sich aber transformiert in andere Gestalten, in seinen Priestern legendig und wirklich vorhanden ist. Wie Tien, dieses Eine, das Herrschende, aber nur diese abstrakte Grundlage, [und] der Kaiser die Wirklichkeit dieser Grundlage, das eigentlich Herrschende ist, so ist dasselbe der Fall bei der Vorstellung der Vernunft. Diese ist ebenso die abstrakte Grundlage, die erst im existierenden Menschen ihre Wirklichkeit hat. c. Der Kultus Kultus ist in der Religion des Masses eigentlich ihre ganze Existenz, da die Macht der Substanz sich in ihr selbst noch nicht zu fester Objektivität gestaltet hat und selbst das Reich der Vorstellung, soweit es sich in dem Reiche der Schen entwickelt hat, der Macht des Kaisers unterworfen ist, welcher selbst nur die wirkliche Betätigung des Substantiellen ist. Fragen wir daher nach dem Kultus im engeren Sinne, so ist nur noch das Verhältnis der allgemeinen Bestimmtheit dieser Religion zur Innerlichkeit und zum Selbstbewusstsein zu untersuchen. Da das Allgemeine nur die abstrakte Grundlage ist, so bleibt der Mensch darin ohne eigentlich immanentes, erfülltes Inneres, er hat keinen Halt in sich. Halt hat er erst in sich, wenn die Freiheit, Vernünftigkeit eintritt, indem er das Bewusstsein ist, frei zu sein, und diese Freiheit als Vernunft sich ausbildet. Diese ausgebildete Vernunft gibt absolute Grundsätze, Pflichten, und der Mensch, der sich dieser absoluten Bestimmungen in seiner Freiheit, seinem Gewissen bewusst ist, wenn sie in ihm immanente Bestimmungen sind, hat erst in sich, seinem Gewissen einen Halt. Erst insofern der Mensch von Gott weiss als Geist und von den Bestimmungen des Geistes, sind diese göttlichen Bestimmungen wesentliche, absolute Bestimmungen der Vernünftigkeit, überhaupt dessen, was Pflicht in ihm und ihm seinerseits immanent ist. Wo das Allgemeine nur diese abstrakte Grundlage überhaupt ist, hat der Mensch in sich keine immanente, bestimmte Innerlichkeit : darum ist alles Äusserliche für ihn ein Innerliches ; alles Äusserliche hat Bedeutung für ihn, Beziehung auf ihn, und zwar praktische Beziehung. Im allgemeinen Verhältnis ist dies die Staatsverfassung, das Regiertwerden von aussen. Mit dieser Religion ist keine eigentliche Moralität, keine immanente Vernünftigkeit verbunden, wodurch der Mensch Wert, Würde in sich und Schutz gegen das Äusserliche hätte. Alles, was eine Beziehung auf ihn hat, ist eine Macht für ihn, weil er in seiner Vernünftigkeit, Sittlichkeit keine Macht hat. Daraus folgt diese unbestimmbare Abhängigkeit von allem Äusserlichen, dieser höchste, zufälligste Aberglaube. Diese äussere Abhängigkeit ist überhaupt darin begründet, dass alles Besondere mit dem Allgemeinen, das nur abstrakt bleibt, nicht in inneres Verhältnis gesetzt werden kann. Die Interessen der Individuen liegen ausserhalb der allgemeinen Bestimmungen, die der Kaiser in Ausübung bringt. In Rücksicht auf die besonderen Interessen wird vielmeht eine Macht vorgestellt, die für sich vorhanden ist. Das ist nicht die allgemeine Macht der Vorsehung, die sich auch über die besonderen Schicksale erstreckt, das Besondere ist vielmehr einer besonderen Macht unterworfen. Das sind die Schen, und es tritt damit ein grosses Reich des Aberglaubens ein. So sind die Chinesen in ewiger Furcht und Angst vor allem, weil alles Äusserliche eine Bedeutung, Macht für sie ist, das Gewalt gegen sie brauchen, sie affizieren kann. Besonders die Wahrsagerei ist dort zu Hause : in jedem Ort sind eine Menge Menschen, die sich mit Prophezeien abgeben. Die rechte Stelle zu finden für ihr Grab, die Lokalität, das Verhältnis im Raum – damit haben sie es ihr ganzes Leben zu tun. Wenn beim Bau eines Hauses ein anderes das ihrige flankiert, die Front einen Winkel gegen dasselbe hat, so werden alle möglichen Zeremonien vorgenommen und die besonderen Mächte durch Geschenke günstig gemacht. Das Individuum ist ohne alle eigene Entscheidung und ohne subjektive Freiheit. Sekundärliteratur Rudolf Franz Merkel : Da Hegel auf Grund seiner Quellen keine klare Vorstellung über die drei chinesischen Religionsformen Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus gewinnen konnte, so glaubte er, dass die scheusslichen Götzenbilder in den unzähligen Tempeln Darstellungen der Genien, Schen, seien. Religionsphilosophisch betrachtet er die chinesische Religion als 'Religion des Masses'. Die massvolle Harmonie bildet die Auswirkung des Tao, das auch im praktischen Leben die kosmische Ordnung erhält. Die Betätigung des Masses, die Ausstrahlung des Tao wird durch den Kaiser zur gesetzlichen Macht ; auch in den Ahnen und in den nur dem Tao hingegebenen Taoisten lebt diese geheimnisvoll-magische Kraft. Die Einführung des philosophischen Begriffs Tao gibt Hegel weiterhin die Veranlassung, auf Laozi näher einzugehen. Lee Eun-jeung : Wenn Hegel die chinesische Religion als ‚Religion des Masses’ bezeichnet, liegt dies wohl vor allem daran, dass er dank seiner neuen Beschäftigung mit dem Taoismus auf die Bedeutung des Begriffs Tao im Denken der Chinesen gestossen ist. Er hält trotzdem weiterhin am Gedanken der 'Zauberei' fest und bleibt auch bei seiner philosophischen Konstruktion. Das Bild Hegels von China und vom Konfuzianismus wird im Laufe der Jahre zwar kompakter, doch wird immer mehr durch seine eigenen Vorstellungen von der orientalischen Gesellschaft geformt. Günter Wohlfahrt : Hegel begreift die chinesische Religion als 'Religion des Masses'. Unter Massen versteht er dabei die 'Gesetze des Tao', wobei er im Anschluss an Abel-Rémusat, 'Tao' durch 'Vernunft', beziehungsweise durch 'Logos' übersetzt. Hegels Ausführungen über die chinesische Religion schliessen mit den Worten : "Das Individuum ist ohne alle eigene Entscheidung und ohne subjektive Freiheit". Das Prinzip der Individualität ist für Hegel in der chinesischen Welt noch nicht erreicht ; dem Individuum fehlt die Unabhängigkeit. Der höhere Standpunkt der Freiheit des Individuums wird für ihn erst in der griechischen, und noch mehr in der christlichen Welt erreicht. Liu Weijian : Hegel gelangt zum Ergebnis, dass das Tao im Gegensatz zum sowohl allgemeinen, wie auch in sich bestimmten Geist Gottes nur ein geistloses Prinzip ist. Mit diesen Argumenten stellt er Laozis Lehre als geistig unterentwickelt hin und wertet sie ab. |
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17 | 1842.1 |
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von. Philosophie der Mythologie [ID D11898]. 23. und 24. Vorlesung Berlin 1842 und 1845/46. Quellen : Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899]. Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Recherches sur les langues tartares [ID D1954]. Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Eléments de la grammaire chinoise [ID D1961]. Lao-tseu. Tao-te-king : le livre de la voie et de la vertu. Trad. de Stanislas Julien [ID D2060]. Kircher, Athanasius. China illustrata [ID D1712]. Bilfinger, Georg Bernhard. Specimen doctrinae veterum sinarum moralis et politicae [ID D1807]. Werke von Etienne Fourmont. Schelling schreibt : Zum erstenmal wurde bei Gelegenheit der Ausbreitung des Buddismus der Name Chinas erwähnt. Die Buddalehre hat indeß in China erst sehr spät Eingang gefunden. Mit dem bloßen Buddismus ist also das chinesische Wesen nicht erklärt. In seiner Ursprünglichkeit nun aber scheint dieses der entschiedenste Widerspruch gegen die von uns bis jetzt behauptete Allgemeinheit des mythologischen Processes. Keinem der verschiedenen mythologischen Völker hinsichtlich des Alters nachzusetzen, zeigt das chinesische Volk in seinen Vorstellungen nichts, was an die Mythologie der andern Völker erinnerte. Wir können sagen: es ist ein absolut unmythologisches Volk mitten unter den mythologischen, von gleichem Alter mit diesen, gleichwohl ganz außer jener mythologischen Bewegung gestellt und nach einer ganz andern Seite des menschlichen Daseyns hingewendet und entwickelt. Berührt von Ländern und Völkern, unter welchen der mythologische Proceß seine ganze Gewalt ausübt, bildet China allein eine große und in ihrer Art einzige Ausnahme von demselben, und fordert gerade darum unsere ernstlichste Aufmerksamkeit. Ein einziger faktischer Widerspruch ist hinreichend, eine ganze, wenn auch durch eine ununterbrochene Reihe anderweitiger Thatsachen befestigte Theorie über den Haufen zu werfen. Es ist mit dem chinesischen Wesen nicht etwa wie mit der Zendlehre, nicht wie mit dem Buddismus, welche man betrachten kann als Hemmungen, Antithesen des extremen Polytheismus, die aber durch ihren Gegensatz gegen den mythologischen Proceß selbst die Macht und Gewalt desselben bezeugen. In der Zendlehre, im Buddismus stellt sich dem Polytheismus eine Einheitslehre gegenüber, die man in diesem Verhältniß als Monotheismus aussprechen kann. In China aber scheint an die Stelle des Monotheismus wie des Polytheismus ein entschiedener Atheismus zu treten, eine völlige Abwesenheit des religiösen Princips. Es sind also hier eigentlich zwei Erscheinungen zu erklären, 1) das absolut Unmythologische, 2) das scheinbar sogar völlig Unreligiöse des chinesischen Bewußtseyns. Das Erste betreffend, wollen wir uns an folgende Sätze unserer früheren Entwicklung erinnern: a) Der Polytheismus ist gleichzeitig, ja gewissermaßen identisch mit dem Proceß der Völkerentstehung; also kein Volk ohne Mythologie, b) Die absolut vorgeschichtliche Zeit, die Zeit vor der Völkerentstehung war auch die relativ unmythologische Zeit, denn Mythologie überhaupt entstand erst mit den Völkern. Diesen Sätzen entsprechend wollen wir nun vor allem aufstellen, erstens: daß es unrichtig ist, von einem chinesischen Volk zu sprechen. Die Chinesen sind gar kein Volk, sie sind eine bloße Menschheit, wie sie sich selbst nicht etwa für eines der Völker, sondern gegenüber von allen Völkern als die eigentliche Menschheit ansehen (worin sie auf gewisse Weise Recht haben, inwiefern sie eben kein Volk sind wie die andern). Weder von innen noch von außen waren sie gedrängt, sich als Volk zu constituiren. Nicht von innen, weil sie, wie wir sehen werden, sich dem mythologischen Proceß entzogen; nicht von außen, da sie ein volles Drittheil der ganzen lebenden Menschheit ausmachen; über 300 Millionen setzen die neuesten Angaben der Engländer die Bevölkerung des chinesischen Reichs. Also: die Chinesen verhalten sich in diesem Betracht (inwiefern sie kein Volk in dem Sinne wie die andern sind) als ein noch erhaltener Theil der absolut vorgeschichtlichen Menschheit. Demnach muß sich in ihnen, es muß sich im chinesischen Bewußtseyn auch noch das Princip finden, von dem die absolut vorgeschichtliche Menschheit beherrscht war. Aber weil dieses Princip im chinesischen Bewußtseyn sich dem religiösen - theogonischen - Proceß versagt hat (nicht zum Anfang und ersten Princip des mythologischen Processes wurde), so kann es im chinesischen Bewußtseyn seine religiöse Bedeutung nicht behalten. Das chinesische Bewußtseyn hätte sich also (denn ich spreche noch immer bloß hypothetisch), wenn unsere Erklärung richtig wäre, so hätte sich das chinesische Bewußtseyn allerdings dem Gesetz des mythologischen Processes entzogen, d.h. das Urprincip in seiner Ausschließlichkeit behauptet, aber nur um den Preis, daß zugleich die religiöse Bedeutung des Urprincips ganz aufgegeben wäre. Ich bemerke, daß das Gesetz des mythologischen Processes doch eigentlich nur hypothetische Bedeutung hat. Es sagt nur so viel: wenn ein theogonischer Proceß oder überhaupt wirkliche Religion entstehen soll, so muß jenes ausschließliche Princip, von dem das erste Bewußtseyn beherrscht ist, eingeschränkt, einem höheren untergeordnet, ihm überwindlich und von ihm wirklich überwunden werden. Wie nun aber, wenn unter den verschiedenen Auswegen, die das menschliche Bewußtseyn im Drang dieses Processes sucht, einmal auch dieser vorkäme, den Proceß als theogonischen oder jenes ausschließliche Princip als Gott setzendes aufzugeben, um es als ausschließliches zu behaupten, so daß von dieser Seite der Proceß gleich anfangs in eine bloße Negation, nicht etwa des Polytheismus, sondern in eine Negation der religiösen Bedeutung des Princips ausschlüge? Also - wenn daher diese von uns angenommene Möglichkeit im chinesischen Bewußtseyn zur Wirklichkeit geworden, so müßte sich in diesem, es müßte sich im chinesischen Bewußtseyn 1) das Urprincip der Religion in seiner ganzen Macht und Ausschließlichkeit, wie es in der noch ungetheilten Menschheit war; es müßte aber 2) mit veränderter Bedeutung sich finden, jedoch in der Art, daß stets noch seine ursprüngliche religiöse Bedeutung hindurch schimmerte; denn sonst wäre die Identität des Princips nicht zu erweisen, es wäre nicht einleuchtend zu machen, daß eben dasselbe Princip, welches in den anderen Völkern die theogonische und religiöse Richtung nahm, hier die andere von Religion abgewendete Richtung genommen habe. Um mich hierüber deutlich zu machen, will ich bemerken, daß das Wort religio selbst eine allgemeinere und spe-ciellere Bedeutung hat. Ursprünglich bedeutet das Wort religio jede Verpflichtung, mit der ein gewisser Begriff von Heiligkeit oder ein gleiches Gefühl von Unverbrüchlichkeit verbunden ist. Dieß erhellt schon aus dem lateinischen Sprachgebrauch: hoc mihi religio est, hoc mihi religioni duco. Dieß Allgemeine kann man auch das Formelle des Begriffs nennen. In diesem Sinn gibt es Religion in allem, auch in Dingen oder Angelegenheiten, die sich gar nicht, wenigstens nicht unmittelbar und für das nächste Gefühl, auf das Göttliche beziehen. Man kann aber Religion auch im engeren oder materiellen Sinn nehmen, wo dann eine wirkliche und unmittelbare Beziehung auf das Göttliche als solches in ihrem Begriff liegt. Nun haben wir angenommen, es sey möglich, daß jenes ursprüngliche religiöse Princip, welches eigentlich die Voraussetzung alles theogonischen Processes ist, einmal auch eine andere, von der religiösen abgewendete Richtung nehme oder seine religiöse Bedeutung verliere. Genauer werden wir uns nun ausdrücken, indem wir sagen, es sey möglich oder denkbar, daß jenes Princip seine materiell-religiöse Bedeutung verliere, während es die formell-religiöse behalte. Ursprünglich ist alle Verpflichtung nur Verpflichtung gegen Gott, und alle formelle Verpflichtung schreibt sich, und war es durch noch so viele Mittelglieder, von jener materiellen, allein ursprünglichen Verpflichtung her. Jenes reale, erst schließlich hervortretende Princip des Bewußtseyns haben wir früher das materiell Gott setzende genannt. An diesem Princip haftet, wie gezeigt wurde, dem Bewußtsein der Gott. Umgekehrt durch dieses Princip ist allein der Mensch eigentlich, ursprünglich und zwar dem Gott verpflichtet. Diese Urverpflichtung kann nun nicht und nie aufgehoben werden, es sey denn, daß das menschliche Bewußtseyn überhaupt aufgehoben werde, wie dieß denn wirklich geschehen ist in jenen völlig aufgelösten und nur noch äußerlich menschlichen Racen, von denen wir früher gesagt haben, daß sie keine Auktorität, so wenig eine unsichtbare, als eine sichtbare über sich erkennen, und daher auch ohne alle gesellige Verbindung leben. Also jene Urverpflichtung kann nie aufgehoben werden, solang menschliches Bewußtseyn besteht, wie auch übrigens das Princip selbst seine Bedeutung verändere. Wohl möglich aber ist, daß das Princip, gegen welches diese Verpflichtung besteht, oder dem das menschliche Bewußtseyn auf solche Weise, nämlich ursprünglich, verhaftet ist, daß dieses Princip, in welchem ihm (dem Bewußtseyn) ursprünglich der Gott ist, sich ihm in ein anderes verkehre, daß es also dem, welchem es ursprünglich als Gott (in der engeren und materiellen Bedeutung dieses Worts) verpflichtet war, daß es diesem selben als einem andern, doch ebenso wie vorher, d.h. auf dieselbe bindende, religiöse Weise, verpflichtet bleibe. Wir müßten also — um jetzt zu unserem Gegenstande zurückzukehren — im chinesischen Bewußtseyn ein gleichsam an die Stelle von Gott, und zwar an die Stelle jenes Urgottes, aber mit derselben Ausschließlichkeit und mit derselben Urverpflichtung Getretenes antreffen, daß zwar, inwiefern es nicht mehr unmittelbar Gott, sondern ein anderes ist, auch nicht mehr als eigentlich religiöses Princip erschiene, das aber dadurch, daß in ihm jene Verpflichtung fortdauert, doch seine Abstammung und Herkunft von dem ursprünglichen, auch materiell-religiösen Princip nicht verleugnen kann (dieß ist es, was wir meinten, wenn wir sagten: die ursprünglich religiöse Bedeutung müsse auch in dem nun nicht mehr eigentlich religiösen noch durchschimmern). Ferner, da nach der Voraussetzung jenes Princip seine materiell-religiöse Bedeutung nur verlieren konnte, oder nur sie aufgab, um sich als ausschließliches zu behaupten, so muß dieses Princip im chinesischen Bewußtseyn, obwohl mit materiell veränderter Bedeutung, doch mit derselben ausschließlichen Gewalt sich wieder finden, die es ursprünglich in seiner religiösen Bedeutung gehabt hatte. Auf diese Weise hätten wir also eine Möglichkeit gezeigt, das chinesische Wesen, das so ganz, nicht bloß, wie wir uns bisher ausgedrückt haben, unmythologisch, sondern geradezu antimythologisch uns anspricht, gleichwohl mit dem allgemeinen mythologischen Proceß zu vermitteln oder in Verbindung zu bringen. Dieser Vermittlung zufolge wäre denn das chinesische Wesen nicht im Widerspruch gegen die Annahme eines allgemeinen theogonischen Processes, dem das Bewußtseyn der Menschheit unterworfen worden, sondern nur einer der Auswege, eine der Ausweichungen vor den Folgen dieses Processes, dergleichen wir, wenn auch in anderer Art, auch anderweitig schon erkannt haben; denn China bleibt immer das Einzige in seiner Art. Aber wenn auch die einzige Ausnahme ihrer Art, so ist es genug, die Möglichkeit einer solchen Ausnahme erkannt zu haben, um vorauszusehen, daß sie auch in der Wirklichkeit anzutreffen sey. Denn es ist der Charakter des Weltgeistes überhaupt, daß er alle wahrhaften Möglichkeiten erfüllt, die größtmögliche Totalität der Erscheinungen überall will oder zuläßt, ja es ist im Gang der Welt, dessen Langsamkeit uns schon allein davon überzeugen müßte, recht eigentlich darauf angelegt, daß jede wahrhafte Möglichkeit erfüllt werde. Denn diejenigen, welche gegen den großen Grundsatz, daß alles wahrhaft Mögliche auch wirklich sey, die flache Einwendung vorbringen, daß dann auch jeder Roman einmal eine wirkliche Geschichte gewesen sey oder werden müßte, haben freilich nur die alltägliche Vorstellung des bloß abstrakt und subjektiv Möglichen; sie wissen wenig oder gar nicht, was die Philosophie Möglichkeit nennt. Aber diese Möglichkeit, auch das der Mythologie so widersprechende chinesische Wesen mit dem allgemeinen mythologischen Proceß in Verbindung zu bringen, ist an gewisse, sehr bestimmte Voraussetzungen gebunden. Die Nachweisung, daß diese Voraussetzungen in dem chinesischen Bewußtseyn sich wirklich finden, ist allerdings eine mehr historische als philosophische Aufgabe. Wir gehen also davon aus: die Chinesen sind kein Volk, d.h. die Einheit, welche diese unermeßliche Verbindung von Menschen und Völkerschaften zusammenhält, wird von ihnen selbst nicht als eine particulare oder gar individuelle, sondern als eine universelle empfunden. Sie sind das Menschengeschlecht, sie fühlen sich außer und über den Völkern, diese sind ihnen, wenn auch nicht wirklich (was die Chinesen gar nicht für nöthig halten), sie sind ihnen der Idee nach unterworfen. Wenn die Chinesen nicht ein Volk sind, so kann das Princip ihres Seyns und Lebens nur jenes ausschließliche seyn, das im Bewußtseyn der vorgeschichtlichen, noch ungetheilten Menschheit herrschte. Aber dieses Princip hat sich im chinesischen Bewußtseyn dem religiös-theogonischen Proceß versagt, wie wir daraus sehen, daß China ganz außerhalb der mythologischen Bewegung geblieben ist, an ihr keinen Theil hat. In seiner religiösen Bedeutung aber konnte sich jenes Princip nicht behaupten, wenn es dem theogonischen Proceß sich versagte, oder umgekehrt, es konnte sich in seiner absoluten Ausschließlichkeit nur behaupten, wenn es auf die religiöse Bedeutung verzichtete, wenn dieses Princip im Bewußtseyn eine andere Bedeutung annahm. Nur um diesen Preis, sagten wir, konnte sich das ausschließliche Princip dem höheren versagen und so zugleich sich außer dem mythologischen Proceß setzen. Sehen wir nun, ob das Geforderte im chinesischen Bewußtseyn wirklich nachweislich, d.h. suchen wir dessen eigentlichen Inhalt zu erforschen. Die reine Anführung der Thatsachen wird zeigen, ob unsere Vorstellung etwas bloß Gesuchtes und Gemachtes ist, oder ob sie auch in dem Gegenstand selbst sich erkennen läßt. Das chinesische Reich nennt sich das himmlische Reich, auch das Reich der himmlischen Mitte, des himmlischen Centrums. (Hier erkennen Sie schon die Centralität des ursprünglichen Princips.) Der Begriff des Himmels ist der höchste in aller chinesischen Weisheit, der höchste Begriff ihrer Moral. Ein zu seiner Zeit berühmter Philosoph, Bil-finger, der ein noch jetzt empfehlenswerthes Werk de Sinarum doctrina morali et politica geschrieben, sagt in demselben: Non est multa mentio Dei in libris sinicis (noch richtiger hätte er gesagt, daß die chinesische Sprache eigentlich gar kein Wort für Gott hat), ejusdemque, fährt er fort, interpretatio inter Europaeos quosdam controversa — also: wie das in chinesischen Schriften etwa als Gott zu Erklärende zu verstehen, sey unter den Europäern ein Gegenstand der Controverse; auf jeden Fall gesteht er damit, daß der Begriff Gott in den chinesischen Schriften nur durch eine Auslegung, die sehr oft vielmehr eine Hineinlegung ist, gefunden werde. Die Bemerkung bezieht sich darauf: die Jesuiten, welche China als eine ihnen besonders anheimgefallene Provinz betrachteten, hatten ein gewisses Interesse dabei, die Ehre der chinesischen Weisheit aufrecht zu erhalten; sie konnten ihrem System nach überhaupt nicht zugeben, daß es ein ganzes großes Reich ohne Religion gebe, sie wollten nicht auf die Chinesen kommen lassen, daß ihre Religion eigentlich auf Atheismus hinauslaufe, was man in Europa früher glaubte und auch späterhin zu behaupten fortfuhr. Darauf bezieht es sich also, wenn Bilfinger sagt: man sey in Europa über die Auslegung der chinesischen Schriften in Bezug auf den Begriff Gott nicht einig. Doch fährt er fort: einige Erwähnung Gottes finde sich in den chinesischen Schriften und als Beleg dafür führt er die Grundlehren ihrer Moral an, welche er so ausdrückt: es werde gelehrt, daß wir die ursprüngliche vom Himmel eingepflanzte Unschuld wieder herzustellen suchen, daß wir den Himmel verehren sollen; daß wir nicht einmal einen Gedanken zulassen sollen, dessen bewußt oder mitwissend wir den Himmel nicht wollen können, daß wir uns allein bei den Fügungen des Himmels beruhigen sollen u.s.w. Ueberall ist also hier der Himmel (und nur dieser) der alles, auch das Leben, beherrschende Begriff, und es wird nach diesen Anführungen, zu welchen im weiteren Verlauf noch andere hinzukommen werden, weiter keiner besonderen Begründung mehr bedürfen, wenn wir behaupten, daß die ursprüngliche Religion Chinas eine reine Himmels-Religion war, daß jene allgemeine Voraussetzung des mythologischen Processes, die allen Völkern gemeinschaftlich war, der chinesischen Menschheit ebenso wenig fehlte, die ursprüngliche astrale Religion (das erste Band der noch ungetrennten Menschheit) auch der Ausgangspunkt für das chinesische Bewußtseyn war. Aber eben hier trat die Katastrophe ein. An die Stelle der bisherigen Einheit sollte eine Zweiheit treten. Dieser Zweiheit widersetzte sich das chinesische Bewußtseyn, es bestand auch jetzt noch auf der Ausschließlichkeit des ersten Princips, aber im eignen Himmel, d.h. was bisher der Himmel gewesen war; in der Region des Göttlichen konnte es sich ihm nicht mehr behaupten, das läßt die Erscheinung der höhern Potenz nicht zu, durch diese war es jedenfalls aus dem Himmel verstoßen: es mußte dem Bewußtseyn aus dem Göttlichen heraustreten, sich veräußerlichen und verweltlichen, und so - in dieser verweltlichten und veräußerlichten Gestalt — finden wir das Himmelsprincip auch als das allwaltende, herrschende Princip des ganzen chinesischen Lebens und Staats, wie sich aus folgenden Angaben herausstellen wird. Das chinesische Reich ist auch als Staat, oder rein historisch betrachtet, gleichsam ein Wunder der Geschichte. China ist von allen Reichen der Welt das älteste, das fortwährend sich selbständig erhalten und ein so unüberwindliches Lebensprincip in sich gezeigt hat, daß eine zweimalige Eroberung des Reichs, einmal im 13. Jahrhundert durch die westlichen Tartaren oder die Mongolen, das zweitemal durch die östlichen oder die Mandschu-Tartaren an dem Wesentlichen seiner Verfassung, seiner Sitten, Gebräuche und Einrichtungen nicht das Geringste geändert hat, und der Staat seinem Innern nach heutzutag völlig dasselbe Ansehen hat, wie vor vier Jahrtausenden, und auf denselben Principien fortwährend beruht, die er in seinem Ursprung schon zur Grundlage hatte. Denn obgleich man neuerdings angeführt hat, daß das eigentliche Kaiserthum von China, d.h. die völlig unumschränkte Monarchie, in dem jetzigen Umfang nicht älter sey, als etwa 200 Jahre v. Chr., so zeigt doch die weitere Forschung, daß dieser sogenannte erste Kaiser Chi-hang-thi [Shihuangdi] nur der Wiederhersteller eines früheren, ja des ältesten Zustandes war. Einzelne untergeordnete Fürsten, Glieder eines Feudalsystems, in welchem sie sich als reine Unterthanen verhielten, hatten Mittel gefunden sich auf eine gewisse Weise unabhängig zu machen, aber die Macht selbst, mit der dieser Versuch gegen die Einheit unterdrückt werden konnte, zeigt die Gewalt der ursprünglichen Idee, und obgleich nicht ohne Gegenstrebungen oder ohne Abwechslung in der Ausführung, ist eben diese Idee des unumschränkten, absoluten Kaiserthums so alt als die chinesische Nation selbst, und nicht eine im Lauf der Zeit entstandene, sondern eine vom ersten Ursprung des Volks sich herschreibende Idee. Der Widerspruch gegen sie war nur zufällig, durch zufällige Schlaffheit veranlaßt, aber die Wiederherstellung eben beweist ihre Wesentlichkeit, ihre Immanenz in der Nation, und daß sie mit dieser zugleich geboren ist und nur mit ihr sterben kann. Diese Unerschütterlichkeit des chinesischen Reichs und die Unveränderlichkeit seines wesentlichen Charakters seit Jahrtausenden hat auch einen neueren philosophischen Schriftsteller, der sich über China erklärte, zu dem Schluß veranlaßt: es müsse demnach ein mächtiges Princip seyn, welches dieses Reich von Anfang an beherrscht und durchdrungen, zugleich auch sich selbst vor jeder subjektiven Verwirrung, die sich immer mit der Zeit einfinde, und von allen fremdartigen Einflüssen zu bewahren gewußt habe, - ein Princip, das zugleich stark genug gewesen, mittelst einer ihm inwohnenden assimilirenden Kraft alles Auswärtige, das nur eine Zeit lang in seinem Bildungskreise beharrte, sich zu verähnlichen und zu unterwerfen, wie denn zweimal besiegt und unterworfen die Chinesen durch ihre Gesetze und ihre Lebenseinrichtungen die Sieger selbst wieder besiegt haben. Die Ausdrücke des Verf. zeigen die Einsicht, daß hier etwas anderes als ein aus bloßer subjektiver Meinung oder Uebereinkunft Entstandenes, etwas Mächtigeres, als ein menschlicherweise Erfundenes herrsche. Soweit nun bin ich mit ihm derselben Meinung. Wenn er aber nachher die Frage aufwirft: welches ist nun wohl jenes mächtige Princip, dessen Größe selbst durch das jetzt herabgesunkene, kleinliche, pedantische und zum geistlosen Formalismus gewordene Leben der Nation noch hindurchschimmert, es auch jetzt noch fortdauernd erhält; und wenn er hierauf die Antwort ertheilt: dieses Princip ist kein anderes als das älteste patriarchalische Princip, nämlich das Princip der väterlichen Macht und Auktorität in ihrer ganzen Größe und Stärke, so gebe ich zwar die Stärke jenes Princips der väterlichen Gewalt an sich zu, ich anerkenne auch, daß dieses Princip in China von großer Bedeutung und Wirkung ist, sowie daß dasselbe sich als Princip des Anfangs, als erste Grundlage überall zu erkennen gibt, und die patriarchalische Verfassung überall den Ausgangspunkt bildet: aber, gesetzt es gäbe für die Verfassung Chinas keine höhere Kategorie als die einer patriarchalischen Verfassung, so wäre die Frage gerade diese, warum sich das chinesische Leben von diesem Ausgangspunkt nicht entfernt, warum alle Verhältnisse einer späteren, mannichfaltigeren oder ausgebreiteteren Entwicklung ihm fremd geblieben. Die Frage ist eben, warum das patriarchalische Princip hier seinen Einfluß und seine Macht Jahrtausende hindurch behauptet, und dieß kann man nicht, ohne einen Cirkel im Erklären zu begehen, wieder durch die Macht des patriarchalischen Princips erklären. Wir haben übrigens bereits von einer Katastrophe des chinesischen Bewußtseyns gesprochen. Auch hier hat eine Umwendung, eine universio statt gefunden, ein äußerlich-Werden des erst innerlichen, das Bewußtseyn ausschließlich einnehmenden Princips, aber nicht ein bloß relativ-äußerlich-Werden, wie in dem Bewußtseyn jener Völker, die dem mythologischen Proceß anheimfielen, sondern ein absolutes äußerlich-Werden. Mit Einem Wort, die wahre Erklärung des chinesischen Wesens, Lebens und Seyns liegt darin, wenn wir sagen, es sey: religio astralis in rempublicam versa, das Princip jener astralen Religion habe sich in einem übrigens noch näher zu erklärenden Vorgang zum Princip des Staates umgewendet. Dieselbe erdrückende Gewalt, welche es als religiöses Princip auf das Bewußtseyn ausübte, dieselbe übt es jetzt als Princip des Staats aus, und aus derselben Ausschließlichkeit, mit der es sich in jener astralen Religion als noch innerliches Princip behauptete, behauptet es sich jetzt in diesem, im Staat, als äußerlich gewordenes Princip. Das ganze chinesische Staatswesen beruht auf einer ebenso blinden und dem chinesischen Bewußtseyn unüberwindlichen Superstition, als das Religionswesen Indiens, oder irgend eines der andern unter der Last religiöser Ceremonien erdrückten Völker. Der einst ausschließliche Herrscher des Himmels hat sich für das chinesische Bewußtseyn nur in den ebenso ausschließlichen Herrscher des irdischen Reichs verwandelt, welches irdische Reich nur das heraus- oder umgewendete himmlische ist. In ihm ist jenes absolute Centrum, das in dem Urmoment der Umwendung oder universio überwunden werden mußte, wenn ein theogonischer Proceß entstehen sollte, veräußerlicht und verweltlicht, außer Widerspruch gesetzt, darum absolutes und nun fortan »«überwindliches Centrum. Aus diesem Grunde heißt China das Reich der himmlischen Mitte. Die Mitte, das Centrum, die ganze Macht des Himmels ist in ihm. Ein ausschließliches Princip kann es auf zweierlei Art seyn, 1) nach innen, indem es alles im Oeden des allgemeinen Seyns erhält, keine freie Mannichfaltigkeit zuläßt. Als ein solches zeigt es sich in dem gänzlichen Mangel jedes Unterschiedes und jeder Abstufung der Stände und vorzüglich aller Kasteneintheilung. Es gibt in China weder erblichen Adel noch andere durch die Geburt abgesonderte Stände. Aller Unterschied wird bloß hervorgebracht durch das Amt und durch die Funktion im Staat, zu der jeder ohne Unterschied berufen werden kann. Auch die eignen Verwandten des Kaisers nehmen nur für ihre Person an seiner Herrlichkeit Theil, aber nach seinem Tode treten sie in den Privatstand zurück. Alle Macht, alle Auktorität ist ausschließlich bei dem Kaiser; jeder ist in China nur insofern etwas, als dieser etwas aus ihm macht. Nach der königlichen Familie machen zwar die Zu's, d.h. die Gelehrten, den zweiten Stand oder vielmehr Rang im Reiche aus, aber an Erblichkeit ist hiebei nicht zu denken. Es gibt überall nur Unterschiede des Rangs, aber nie des Standes. Die Gelehrten selbst theilen sich wieder in so viel Rangordnungen oder Grade, als Wissende unter ihnen sind, und diejenigen unter ihnen, deren Gedächtniß ihre Fächer und die zu diesen Fächern gehörigen Zeichen am besten inne haben, bilden das oberste, den Kaiser unmittelbar umgebende Reichscollegium. Wissenschaft und Gelehrsamkeit gelten nur so viel, als der Staat Nutzen davon hat. Seit der Erfindung der Buchdruckerkunst oder einer Art derselben, welche die Chinesen im 10. Jahrhundert gemacht haben, hat jenes oberste Reichscollegium, Han-ti genannt, über das ganze Bücherwesen die Aufsicht, und läßt diejenigen Bücher machen, die man für nöthig hält. Was das für Bücher sind, läßt sich aus dem abnehmen, was darüber von Chinesen erzählt wird, die nach Frankreich geschickt wurden, um dort den Unterricht der Jesuiten zu erhalten, und deren Angaben ich hier, wenn auch etwas verkürzt, aus einem deutschen Buche vorlesen will: "Es gilt nur, sagen sie, die Erhaltung der alten Gedächtnißsache, nur die Sittenlehre, und die Entdeckungen in den Künsten, die sich aber nur auf den unmittelbaren Nutzen beziehen dürfen. Die Jugend soll nur zur Geschäftsführung der Väter tüchtig gemacht, und denen, die sich darin vor dem Haufen auszeichnen, Gelegenheit gegeben werden, dieß in Schriften kund zu thun; denen aber, die nicht fürs Leben sind, sondern nur Geist haben, sollen allerlei Spitzfindigkeiten hingeworfen, allerlei Grübeleien freigelassen werden, damit ihr unseliger Hang zum Denken über menschliche Verhältnisse unschädlich werde. Jede Wissenschaft, jedes Geschäft des Staates ist in Regeln gebracht, die man auswendig lernt. Poesie, freie Erfindung, jede eigentlich schöne Kunst geben kein Ansehen, wenn sie nicht höheren Orts approbirt sind. — Die Gelehrten haben sich ganz in den Ton der Regierung gefügt. - Wetteifer findet nicht statt, man arbeitet einerlei auf einerlei Weise. - Ein Kaufmann, ein Künstler darf es sich noch viel weniger als ein Gelehrter herausnehmen, etwas für sich behaupten oder bedeuten, oder einen Willen und einen Stolz auf unabhängige Existenz, kurz Selbständigkeit haben zu wollen. — Die Religion des Kaisers muß jeder geradezu als Formalität annehmen, wie er in England die Testacte beschwören muß, ob er daran glaubt, ist gleichgültig. Alles, selbst die Kultur des Bodens und die Industrie ist von Büchern, Tradition und Polizei abhängig." Sie sehen aus diesen Erzählungen, daß wenn zu verschiedenen Zeiten auch europäische Länder den Versuch gemacht haben, die Wissenschaft und jede Geisteskultur auf diesen Fuß zu setzen, doch keines derselben das Urbild China je ganz erreichen konnte. Doch es ist nicht dieser Bemerkung wegen, daß ich die Stelle vorgelesen habe, sondern um Ihnen ein anschauliches Bild zu geben von jener ausschließlichen Gewalt des Staats in China und von der erdrückenden Gewalt, mit der er alle freie Entwicklung hemmt und seit Jahrtausenden niederhält. - Wie das dem höheren Princip (A) unterworfene B Grund eines Processes, der Veränderlichkeit, so das absolut gesetzte (außer allem Gegensatz) Grund absoluter Stabilität und Unveränderlichkeit. China ist wirklich auch darum der sichtbar gewordene Himmel, weil es so unveränderlich ist und still steht wie der Himmel. Alle einheimischen Kriege, Unordnungen, selbst auswärtige Eroberungen haben es immer nur auf kurze Zeit erschüttert, stets stellt es sich in seinem alten Zustand wieder her. Die ältesten Reiche sind verschwunden; längst sind die Reiche der Assyrier, der Meder, der Perser, der Griechen und Römer untergegangen, indeß China., jenen Strömen gleich, die aus unerforschlichen Quellen entspringend immer gleich majestätisch dahinfließen, in einer so langen Folge von Jahrhunderten nichts von seinem Glanz und seiner Macht verloren hat. Das Ausschließliche des Princips zeigt sich also 1) nach innen; allein nicht bloß nach innen zeigt sich dieses Princip des chinesischen Staats als ein ausschließliches, sondern nicht weniger 2) nach außen völlig absolut. Derjenige würde sich eine viel zu vage und den chinesischen Begriffen ganz unangemessene Vorstellung des chinesischen Kaisers machen, der ihn bloß als Kaiser von China dächte, - er ist Weltherrscher, nicht in dem Sinn, wie wohl auch der Padischah der Osmanen oder der persische Schah oder der lächerliche Hochmuth selbst kleinerer morgenländischer Herrscher, z.B. in Indien, sich so betitelt, sondern im eigentlichen und wörtlichen Verstande. Er ist der Weltherrscher, weil die Mitte, das Centrum, die Macht des Himmels in ihm ist, und weil gegen das Reich der himmlischen Mitte sich alles nur als passive Peripherie verhält. Bei den Chinesen sind dieß nicht bloß orientalische Uebertreibungen oder bloße Formeln eines morgenländischen Ceremoniels. Es ist nicht zufällig, es ist der ihm inwohnenden Natur nach unmöglich, daß es zwei solche Kaiser gebe. Der chinesische Kaiser ist der schlechthin einzige, weil in ihm wirklich die Macht des Himmels ruht, von welcher alle himmlischen Bewegungen abhängen, gleichwie durch diese alle irdischen Bewegungen bestimmt sind. Daß sie mit dieser Einheit des obersten Herrschers wirklich einen solchen physischen Begriff verbinden, erhellt daraus, daß nach ihrer Ueberzeugung in seinen Gedanken, seinem Wollen, seinem Thun die ganze Natur sich mitbewegt. Wenn eine große Calamität über das Volk hereinbricht, wenn drohende Himmelszeichen, ungewohnte Stürme oder Regen sich einstellen, so bezieht dieß der Kaiser auf sich, er sucht die Ursache dieser unordentlichen Bewegungen der Natur in irgend einem seiner Gedanken, seiner Wünsche oder in einer seiner Gewohnheiten: denn wenn Er in der Ordnung ist und sich in der rechten Mitte erhält, so kann auch nichts in der Natur aus seinem Gleis und aus der gewohnten Bahn weichen. Aus sehr alter Zeit ist das Gebet eines der berühmtesten Kaiser erhalten, das er bei siebenjähriger Dürre nach vielen zur Versöhnung des Himmels vergeblich dargebrachten Opfern gesprochen, und wo er sagt: Herr, alle Opfer, die ich bisher dargebracht, sind unnütz gewesen; ich bin es ohne Zweifel selbst, der dem Volk so viel Unglück zugezogen. Dürfte ich Dich um das befragen, was Dir an meiner Person mißfallen hat? Ist es die Pracht meines Palastes, ist es meine reichliche Tafel, ist es die Zahl der Frauen, die mir die Gesetze gleichwohl erlauben? Ich will alle diese Fehler durch Eingezogenheit, durch Sparsamkeit, durch Enthaltsamkeit wieder gut machen. Und wenn dieß nicht genügt, so übergebe ich mich selbst Deiner Gerechtigkeit u.s.w. Dieses Gebet, sagt die Geschichte, sey sogleich erhört worden, ein reicher Regen sey gefallen und die darauffolgende Erndte eine der gesegnetsten gewesen. Vor noch nicht allzu langer Zeit, als am 14. Mai des Jahres 1818 ein furchtbarer Sturm aus Südosten in Peking [Beijing] wüthete, der Regen in Strömen floß, eine unheimliche Finsterniß die ganze Stadt umhüllte, erließ der Kaiser eine Bekanntmachung, worin er erklärte, wie er die ganze vorige Nacht nicht geschlafen, und sich nicht erholen könne von dem Schrecken, den dieses furchtbare Ereigniß ihm verursacht. Er habe nachgeforscht, ob er nicht durch irgend eine Vernachlässigung in der Regierung die Schuld davon trage, oder ob er Vergehungen seiner Mandarinen übersehen und nicht inne geworden sey. Er befehle daher seinen ergebensten Unterthanen, ihm aufrichtig und ohne Leidenschaft seine oder seiner Mandarinen Vergehen zu eröffnen u.s.w. Ich führe diese Thatsachen an zum Beweis der Meinung, daß auf dem Kaiser, seinem Thun und Wollen nach chinesischen Begriffen die Ruhe und Ordnung der ganzen Natur beruht, daß er nicht bloß Herr des von ihm beherrschten Landes, sondern Weltherr ist. In dem Schreiben, das wegen des in der letzten Zeit besonders stark nach China getriebenen Opiumschmuggels ein kaiserlicher Commissär und Vicepräsident von Hu-Kwang, Namens Lin, in Gemeinschaft mit einigen anderen höheren Beamten aus Kanton unter dem 13. Juli 1839 erließ, auf daß die Königin Victoria ihn kenne und darnach handle, sagt der Chinese: "Wir vom himmlischen Reich haben, die 10,000 Königreiche der Erde uns unterwerfend, einen Grad göttlicher Majestät, den ihr nicht ergründen könnt". Von dem Kaiser heißt es in eben demselben Schreiben: "Unser großer Kaiser mit einer Güte, grenzenlos wie die des Himmels selbst, überschattet alle Dinge, so daß selbst die entlegensten und entferntesten Dinge (vorher war gesagt, England sey vom Reich der Mitte mehr als 20 Millionen chinesische Meilen entfernt) in den Bereich seiner lebenspendenden und nährenden Einflüsse fallen". Dunkel bleibt dabei allerdings, wie die chinesische Lehre sich vorstellt, daß die ganze Macht des Himmels in diesen irdischen Herrscher gekommen sey, der nicht nur sterblich, sondern Fehlern, Irrthümern und Unvollkommenheiten unterworfen ist. Diese Frage aber kommt auf die zurück, wie man sich den Umsturz, diese Heraus- oder Umwendung einer erst geistig himmlischen Welt in dieses irdische Reich zu denken habe. Hier ist denn allerdings ein dunkler Punkt, welchen selbst die Spürkraft der Jesuiten nicht aufzuklären vermocht hat. Wir werden also kaum erwarten dürfen, hierüber einen historischen Aufschluß zu finden. Eine Erinnerung indeß jener Katastrophe könnte sich noch in dem allgemeinen Symbol des chinesischen Reichs finden. Dieses ist nämlich der starke und kluge Lung, der eine geflügelte Schlange oder ein Drache ist, unter dem man sich die ganze Kraft der materiellen Welt, den starken Geist aller Elemente - den Geist dieser Welt selbst — vorstellt, und der als das geheiligte Sinnbild des chinesischen Staats selbst, seiner Macht und Herrlichkeit betrachtet wurde. Von diesem wird in einem der heiligen Bücher, dem I-King [Yi jing], gesagt: "Er seufzet über seinen Stolz, denn der Stolz hat ihn blind gemacht; er wollte hinauffahren in den Himmel und stürzte in den Schooß der Erde herab". Der starke und kluge Drache ist das bereits relativ gewordene Princip, das sich aber noch als absolutes behaupten will; darin liegt der Stolz, die Erhebung, das Hinauffahren in den Himmel. Wenn das im religiösen Proceß (also in religiöser Hinsicht) bereits relativ Gewordene sich dennoch als absolutes noch behaupten will, erhebt es sich an den ihm nicht mehr zustehenden Ort, den Himmel: es wird also herabgestürzt; um sich als absolut zu behaupten, mußte es den Himmel verlassen; zur Erde herabkommen, wo es indeß nun aber das irdischgewordene, herabgesetzte Himmlische ist. Es ist dasselbe Bild, dessen sich auch ein christliches Buch bedient, wenn es sagt: "Es erhub sich ein Streit im Himmel — und der alte Drache ward herabgeworfen und seine Stätte nicht mehr funden im Himmel", und Christus sagt: "Ich sähe den Satan (denselben, der sonst auch Fürst der Welt heißt) vom Himmel fallen, wie einen Blitz"; um so eher zu vergleichen, als dasselbe bedeutend, denn eben mit dem Christenthum war jenes Princip, das bisher ein religiöses war, genöthigt sich als weltliches zu erklären. Man sieht also: es ist in dem chinesischen Bewußtseyn doch selbst das Gefühl eines Umsturzes, eines Herabgekommenseyns, eines Processes, durch den das rein Himmlische zum irdisch Himmlischen geworden. Das ist gleichsam die dunkle und düstere Seite der chinesischen Weltansicht. Der ursprüngliche himmlische Herrscher ist nur noch in der Person des Kaisers des sichtbaren Herrschers, so daß dieser allein ein unmittelbares Verhältniß zu jenem hat, die ganze übrige Welt aber nur ein durch ihn vermitteltes, wie Er es ist, der dem Herrn des Himmels das einzige feierliche Opfer darbringt. Dieser Herr des Himmels hat also keinen Priester zu seinem Repräsentanten, sondern einen Monarchen. Die Jesuiten haben sich aus begreiflichen Ursachen alle Mühe gegeben, das chinesische System als eine ursprüngliche Theokratie vorzustellen. Aber gerade das Gegentheil liegt am Tage; man kann nur sagen, die Macht des chinesischen Kaisers sey eine in Kosmokratie, in völlig weltliche Herrschaft verwandelte Theokratie. Un univers sans Dieu ist das einzig Richtige von China. Den Geist des Himmels beten nach den Chinesen die anderen occidentalischen Sekten an, sie selbst also nur den Himmel, dessen Persönlichkeit nur im Kaiser ist; über ihm nur das unpersönliche Princip der Weltordnung, des Himmels. (Wird das Princip absolut aus relativ nach der Katabole, so kann es nur aus persönlich unpersönlich werden). Der chinesische Kaiser ist nicht wie der Dalailama Tibets, der zugleich mit der weltlichen Macht bekleidete Oberpriester, er ist bloß und rein weltlicher Herrscher. In Eusebii praeparatio evangelica findet sich eine sehr merkwürdige Stelle, wo gesagt ist, daß es ein Volk gebe, die Serer genannt (daß dieß der Name der Chinesen bei den Griechen und Römern sey, ist zwar von einigen gewichtigen Auktoritäten bezweifelt worden, allein nach den neueren Untersuchungen von Klaproth, Abel Remusat u. A. ist es außer allen Zweifel gesetzt), unter diesem Volk der Serer also seyen keine Diebe, keine Mörder, keine Ehebrecher u.s.w., aber auch weder Tempel, noch Priester. In der That gab es bis zu der Zeit der Einwanderung des Buddismus keine Priester in China; wie auch unter den ältesten Charakteren und Schriftzeichen keines sich findet, das einen Priester bedeutet. Das ursprüngliche China war ein völlig priesterloses, absolut unpriesterliches Land, und man muß dieß wohl im Auge behalten, um seine Eigentümlichkeit richtig und genau zu fassen. Dadurch eben unterscheidet sich China, daß es so frühe zu einer vollkommen und bloß weltlichen Verfassung gelangt, ohne alle priesterliche Einrichtung geblieben ist. Wenn man indeß das Wort Thian oder Himmel, welches in der chinesischen Sprache allein statt Gott genannt wird, von dem materiellen Himmel verstehen wollte, so war dieß nur möglich in Folge der falschen Begriffe, die man sich von der Himmelsverehrung überhaupt machte. Gegenstand der ursprünglichen Himmelsverehrung ist der alles durchdringende und bewegende Geist des Himmels, der freilich noch himmelweit verschieden ist von einem freien, mit Willen und Vorsehung handelnden, nicht bloß immateriellen, sondern über-materiellen Schöpfer. Was ein anderes Wort, Schang-thi [Shangdi], betrifft, so ist seine Erklärung sehr zweifelhaft; es bedeutet wohl höchster Kaiser (supreme seigneur); Thian-tsoi aber, was Meister, Herr des Himmels bedeutet, ist ein von den Jesuiten gemachtes und beim christlichen Unterricht erst eingeführtes Wort, das die chinesischen Schriften nicht kennen. In diesem Sinn also wird Gottes in den chinesischen Religionsbüchern, in der ganzen chinesischen Lehre und Weisheit nicht gedacht. Die Religion hat, wie der schon erwähnte Historiker sagt, nach den Chinesen und ihrem Orakel und Gesetzgeber Cong-fu-tsee (Confucius) mit der Phantasie durchaus nichts zu schaffen, d.h. aber eben: sie ist ganz unmythologisch (den Dionysos ausschließend). Das chinesische Bewußtseyn hat sich durch jene absolute Umwendung und Verweltlichung des religiösen Princips den religiösen Proceß ganz erspart, es ist gleich ursprünglich auf jenen Standpunkt reiner Vernünftigkeit gelangt, zu dem andere Völker erst durch den mythologischen Proceß hindurch gelangten, ja eigentlich sind die Chinesen das wahre Urbild jenes geistigen Zustandes, auf den gewisse neuere Bestrebungen, wahrscheinlich ohne zu wissen, wie chinesisch dadurch die ganze Welt werden würde, mit großem Fleiß hinarbeiteten, daß nämlich alle Religion nur noch in der Ausübung gewisser moralischer Pflichten bestehe, vorzugsweise aber zur Beförderung der Zwecke des Staats wirken sollte. In diesem Sinn kann man die chinesische Nation allerdings eine irreligiöse nennen, man kann sogar sagen: sie habe die Freiheit vom mythologischen oder theogonischen Proceß um den Preis eines völligen Atheismus erkauft, wo ich jedoch unter Atheismus nicht das positive Leugnen oder Verneinen Gottes verstehe, sondern daß Gott überhaupt kein Gegenstand der Erörterung oder auch eines unmittelbaren Bewußtseyns für die Chinesen ist. Der Gott ist ihnen in etwas ganz anderes, nämlich eben in das Princip des Staats und des bloß äußeren Lebens verwandelt. Aber diese Umwandlung selbst konnte nur die Folge eines Umsturzes seyn, der zeigt, daß das chinesische Bewußtseyn auch nicht ohne Anwandlung zum mythologischen Proceß geblieben war, eines Umsturzes, dessen Folgen sich das chinesische Bewußtseyn mit ruhiger Ergebung unterworfen hat. Denn daß sie übrigens das irdische Reich doch nur als ein herabgekommenes oder sich entfremdetes himmlisches ansehen, zeigt außer dem Reichssymbol auch die Verehrung, ja der Cultus, den sie den Geistern der Voreltern erzeigen, und der ein sehr wesentlicher Theil der chinesischen Sitten, ja ihres ganzen Lebens ist, und sich nicht wohl denken läßt, wenn man nicht voraussetzt, daß sie die Geister der Verstorbenen in ein himmlisches Reich zurückgehen lassen, mit welchem nach ihrer Vorstellung der lebende Mensch nur noch durch den sichtbaren Herrscher zusammenhängt. Wir haben bis jetzt das Unmythologische der Religion und der ganzen Denkweise des chinesischen Volks auf der einen und die Beständigkeit und Unerschütterlichkeit der Verfassung des chinesischen Reichs - trotz innerer Empörung und zweimaliger vollständiger Eroberung - auf der andern Seite betrachtet. Beide bieten ein Problem dar, das nur durch einen Vorgang sich erklären läßt, in welchem das vormythologische Princip des Bewußtseyns in seiner ganzen Starrheit, Unbeweglichkeit und alles Mannichfaltige ausschließenden Einheit durch Veränderung seiner Bedeutung oder, was dasselbe ist, durch eine absolute Umwendung ins Aeußerliche, ebensowohl erhalten, nämlich in seiner Absolutheit erhalten, als zum bloßen Princip des äußern Gesammtseyns der Nation, d.h. zum Princip des Staats geworden ist. Aber die chinesische Bildung bietet noch von einer andern Seite ein Räthsel dar, welches bis jetzt nicht in seiner ganzen Tiefe erfaßt seyn möchte, und das gehörig betrachtet wohl auch keine andere Auflösung als in eben dem von uns angenommenen Vorgang finden möchte. Auch in der chinesischen Sprache nämlich scheint noch die ganze Kraft des Himmels, der ursprünglich alles durchwaltenden und jede Einzelheit absolut beherrschenden und sich unterwerfenden Macht zu wohnen. Denken Sie sich eine Sprache, die 1) aus lauter Monosyllabis, einsylbigen Elementen, besteht, deren jedes ohne Ausnahme außerdem die Eigenthümlichkeit hat, daß es mit einem einfachen oder doppelten Consonanten anfängt und mit einem einfachen oder doppelten Vokal oder auch einem Nasalen aufhört. Denken Sie sich 2) daß der ganze Reichthum dieser Sprache zuletzt auf nicht viel mehr als 300 und bei weitem nicht 400, nach dem neuesten kritischen Forscher sogar auf nicht mehr als 272 einsylbige Grundwörter sich reducirt, mit denen der Chinese den ungeheuren Bedarf aller Bezeichnungen, deren er für Gegenstände der Natur, des sittlichen oder geselligen Lebens in ihren unzähligen Abstufungen und Nuancen benöthigt ist, wirklich bestreitet, natürlich nicht ohne daß er desselben Lautes für ganz verschiedene Gegenstände sich bedienen muß, nicht ohne daß Ein Grundwort, z.B. La, Ki oder Pe oder Tsche, Tschen, Tschi u.s.w. zehnerlei verschiedene und schlechterdings nichts miteinander gemein habende Bedeutungen hat, welche in der mündlichen Sprache nur durch die Verschiedenheit der Intonation, der Modulation, der musikalischen Erhebung oder Senkung, oder durch den Zusammenhang, in der Schrift aber allerdings durch verschiedene Charaktere unterschieden werden, deren Zahl eigentlich unbestimmt ist, wenigstens aber 80,000. Der ausgesprochenen Worte sind also nach Abel Remusat nur 272, die durch die vier verschiedenen Tonarten (weil nicht alle derselben susceptibel sind) nicht einmal auf 1600 erhöht werden. Welch ein ungeheurer Unterschied also zwischen der Armuth der gesprochenen und dem Reichthum der geschriebenen Sprache! Was nun freilich die monosyllabische Natur der chinesischen Sprache betrifft, so will A. Remusat diese nicht unbedingt zugeben. Er sagt nämlich, es werden freilich niemals mehrere aufeinander folgende Sylben gehört, wenn man Einen Charakter (ein Wortzeichen) ausspreche, da aber gar viele Charaktere einzeln genommen alles Sinns entbehren und erst in der Verdopplung mit sich selbst oder mit andern verbunden einen Sinn annehmen, so müssen diese für zweisylbig gehalten werden, und eben dahin gehören auch diejenigen Charaktere, die zwar einzeln oder jeder für sich einen Sinn haben, aber den sie in der Zusammensetzung verlieren. Allein die Beispiele, die Abel Remusat anführt, beweisen zwar, daß es in der chinesischen Sprache zusammengehörige Wörter gibt, nicht aber daß die eigentlichen radices, die Wurzelwörter, mehrsylbig seyen. Er meint ferner, daß die chinesische Sprache, wenn sie, wie andere Sprachen, die besondern Wörter, durch welche bei den Declinationen oder bei den Conjugationen die Personen und tempora bezeichnet werden, mit dem Hauptwort verschmolzen hätte, alsdann zum Theil ebenso polysyllabisch wie andere Idiome erscheinen würde. Allein, wenn es freilich leicht ist, im Hebräischen z.B. in der zweiten Person des Präsens Katalta das Grundwort, die radix, und die Bezeichnung der zweiten Person atta (du) als verschmolzen zu erkennen, so ist eben hier das Grundwort nach Abzug aller Affixen und Suffixen oder aller Zusätze, die es zur Bezeichnung einer Modification erhalten hat, an sich selbst polysyllabisch. Denn was die Versuche betrifft, auch in anderen Sprachen, z.B. eben der hebräischen, die gegenwärtigen radices auf monosyllabische Anfänge zurückzuführen, so z.B. daß die zwei ersten Consonanten einer hebräischen Wurzel die Grundbedeutung allein enthalten, der dritte Consonant nur einen Modus der allgemeinen oder Grundbedeutung ausdrückte: diese Art, die mehrsylbigen radices z.B. der hebräischen Sprache auf einsylbige zurückzuleiten, läßt sich bei keiner einzigen der so entstehenden einsylbigen radicum durch alle Verba durchführen, und auch da, wo sie anwendbar scheint, ist der Zusammenhang ein viel tieferer, als diese Erklärung voraussetzt, die offenbar einem System angehört, das alles bloß mechanisch, eintönig fortschreiten läßt und für alles nur Eine Erklärung hat, während erst diejenigen Theorien aus der wahren Quelle geschöpft sind, deren Erklärungen so reich und mannichfaltig als die Gegenstände selbst sind. Gesetzt es wäre möglich, irgend eine mehrsylbige Sprache, wie z.B. die hebräische, auf einsylbige Wurzeln zurückzuführen, so wäre die dorthin zurückgeführte Sprache eben nicht mehr die hebräische. Denn das Charakteristische der hebräischen Sprache ist eben dieß, daß das ganze System derselben auf zweisylbige Wurzeln gebaut ist. Dieser Dissyllabismus ist das Fundament ihrer ganzen Grammatik und aller ihrer Eigentümlichkeiten, so daß man ihn nicht hinwegnehmen kann, ohne sie selbst aufzuheben. Nimmt man in der Entstehung der Sprache überhaupt einen Fortgang von Monosyllaben zu Polysyllaben an, so ist in den mehrsylbigen Sprachen gerade dieses Mehrsylbige das Moment ihrer Differenz, das Moment ihres Ausgangs von der Ursprache. Nimmt man dieses Mehrsylbige einer Sprache hinweg, so ist sie überhaupt nicht mehr diese Sprache; indem man sie erklären will, verliert man das Objekt der Erklärung, gerade so wie der Indier, dessen Mythologie man auf einen reinen Urmonotheismus zurückführt, nicht mehr Indier ist, denn Indier ist er gerade nur durch seinen Polytheismus. Diese Mode (denn mehr ist es nicht), alle polysyllabischen Sprachen auf monosyllabische Anfänge zurückzuführen, schreibt sich hauptsächlich von Bewunderern des Chinesischen her. Allein der Grund der sogenannten Einsylbigkeit liegt in der chinesischen Sprache selbst nur darin, daß hier das einzelne Wort gleichsam nichts ist, und keine Freiheit hat sich auszubreiten. Jene Wortatome der chinesischen Sprache sind erst durch Abstraktion entstanden; sie sind ursprünglich und in der Entstehung gar nicht als abstrakte Theile gemeint — gerade so, wie wir zwar einen gegebenen Körper in Theile mechanisch zerlegen können, aber diese Theile waren von der Natur nicht als Theile gemeint, die Intention der Natur ging nur auf das Ganze als solches - das einzelne Wort der chinesischen Sprache hat eigentlich keine Bedeutung sowie keine Existenz für sich, seine Bedeutung erhält jedes erst im Sprechen selbst (durch Intonation u. s. w.), abstrakt genommen hat es zehnerlei, ja vierzigerlei Bedeutung, d.h. es hat gar keine Bedeutung; nehmen wir es aus dem Ganzen heraus, so verliert es sich in eine leere Unendlichkeit. Denn hieher gehört eigentlich, was man insgemein von einem gänzlichen Mangel der Grammatik oder grammatikalischer Formen in der chinesischen Sprache sagt. Dieser beruht bloß darauf, daß man dem einzelnen Wort außer dem Zusammenhang und losgetrennt vom Ganzen nicht so wie in andern Sprachen ansehen kann, zu welcher grammatischen Kategorie es gehört, es kann ebensowohl Substantivum als Verbum, Adjectivum oder Adverbium seyn, d.h. eben weil es alles seyn kann, ist es eigentlich nichts; nämlich für sich, einzeln genommen oder in der Abstraktion. Es ist nur etwas im Zusammenhang und in der Verbindung mit dem Ganzen. Wir sind so sehr gewöhnt an die selbständige Ausbildung der Wörter in andern Sprachen, daß wir gleichsam vor lauter Wörtern die Sprache selbst nicht sehen, oder diese nur als eine Verbindung zum voraus gleichsam vorhandener Wörter ansehen, da doch umgekehrt die Sprache, nicht der Zeit nach, aber doch natura, vor den einzelnen Wörtern sein muß. Um so mehr muß uns die chinesische Sprache erwünscht seyn, welche uns die Worte noch in ihrer ganzen Abhängigkeit von der Sprache, gleichsam in ihrer absoluten Innerlichkeit und Involution zeigt. Die Sprache erscheint hier in ihrer Priorität vor den Worten, die Worte sind in ihr eigentlich keine Wörter. Denn unter Wörtern versteht man selbständig gebildete und für sich bestehende Redetheile. Insofern ist es allerdings auch nicht ganz richtig zu sagen, daß die chinesische Sprache aus einsylbigen Wörtern bestehe, man setzt dabei etwas voraus, was im Grunde nicht stattfindet; denn, wie gesagt, die Worte sind eigentlich keine Wörter, sie sind nur Spuren oder Momente der Rede, und ebendarum bloße Laute oder Töne, denen gegen die Sprache keine Selbständigkeit zukommt, als wären sie etwas für sich; sie sind nur Elemente, die ihre Bedeutung bloß vom Ganzen erhalten. William Jones, der unstreitig bei weitem weniger chinesische Gelehrsamkeit besaß als Abel Remusat, aber gewiß durch seinen längeren Aufenthalt und seine Stellung in Indien mehr Gelegenheit gehabt hatte Chinesen sprechen zu hören, sagt, die Sprache der Chinesen sey so musikalisch accentuirt, daß sie einem musikalischen Recitativ gleiche, dagegen fehle es ihr ganz an dem grammatikalischen Accent. Der grammatikalische Accent aber ist eben der, durch welchen ein Wort als Ganzes für sich besteht, dieser gibt dem Wort seine Selbständigkeit. Ohne grammatikalischen Accent muß jede Sprache einsylbig erscheinen, daher sich dem Chinesen auch fremde Wörter in einsylbige auflösen, wie z.B. in der chinesischen Übersetzung des Neuen Testaments der Name Jesus Christus durch Ye-sou-ki-li-sse-tou wiedergegeben ist. Denn die Chinesen kennen in ihrer Sprache das R nicht, und Klistus statt Christus können sie auch nicht sagen, sie müssen aus jedem der Anfangsbuchstaben zwei Sylben Ki-li machen, und ebenso aus dem stus zwei Sylben sse und tou. Man sieht, es ist in der chinesischen Sprache eine Gewalt, welche dem Wort schlechthin keine selbständige Bildung erlaubt, die selbst fremde Wörter ihrer Selbständigkeit als Wörter beraubt und jener musikalischen Einheit unterwirft, welche wie ein magnetischer Strom alle Elemente der chinesischen Sprache ordnet und gleichsam gefangen hält, aber zugleich in ein solches Verhältniß setzt, daß eines dem anderen zur nothwendigen Ergänzung wird, eines das andere trägt und hält, wie jedes Stäubchen der magnetisch geordneten Eisenfeile nur in diesem Ganzen ist und für den Augenblick kein Seyn außer demselben hat. Das Ganze behauptet seine absolute Priorität vor den Theilen. In der chinesischen Sprache ist das Wort noch nicht zur Selbständigkeit entfesselt, und darum ist in ihr kein Ueberfluß möglich, wie in den späteren entfesselten Sprachen, in denen er nur durch Kunst und Aufmerksamkeit vermieden wird, weil hier die Wörter sich so breit machen und eine Gewalt für sich ausüben. Die Anordnung der Elemente ist in der chinesischen Sprache eine durchaus nothwendige, daher ist sie die gedrungenste Sprache der Welt, wenigstens in ihrem reinsten und ältesten Styl. Nichts gleicht der nervösen Kürze der ältesten chinesischen Bücher. Die Gedanken erscheinen nach der Aussage der Jesuiten wie ineinander gekeilt. Man kann auf die chinesische Sprache, da sie wesentlich mehr eine musikalische als eine articulirte ist, mit der nöthigen Unterscheidung anwenden, was ein chinesisches Buch von der Musik sagt: die Musik bringt die Stimmen der Völker zur Eintracht (in der Musik verstehen sich alle Völker), die Musik hebt die Discordanz und den Gegensatz der Worte auf. Von dieser Stelle unserer Untersuchung fällt daher zugleich ein Licht zurück auf die unvermeidliche Annahme einer dem Menschengeschlecht gemeinschaftlichen Ursprache, ferner auf die Sprachenverwirrung, die sich in dem Uebergang von der vorgeschichtlichen Zeit der noch einigen zu der geschichtlichen Zeit der in Völker zertrennten Menschheit ereignete. Die durchgängige Einheit der Sprache konnte nur erhalten werden, inwiefern die freie Entwicklung zu einzelnen Wörtern gehemmt war. Die alles durchwaltende Kraft, von welcher das Bewußtseyn beherrscht war, hielt auch die Elemente der Sprache unterworfen. Wie die himmlischen Sphären in dem Wirbel, von dem sie fortgerissen werden, nur Elemente sind, nicht selbständige, für sich oder frei bewegliche Körper, so mußte auch die Ursprache des Menschengeschlechtes eine gleichsam astralisch bewegte seyn; noch war sie nicht zu der Einzelheit des Worts fortgezogen, das Einzelne trat in ihr nicht aus dem Ganzen heraus; noch entwickelte es sich nach einem eignen, ihm besonders inwohnenden Gesetz. Die Sprachverwirrung entstand, sowie die einzelnen Elemente sich gegen die Macht empörten, der sie bisher ganz unterworfen waren, die ihnen keine Entwicklung verstattete. Verwirrung mußte entstehen in dem Verhältniß, als jedes Element sich zu einem selbständigen Körper, zum für sich bestehenden und organischer Veränderungen in sich fähigen Worte ausbildete, und so paradox dieser Satz außer seinem Zusammenhang erscheinen würde, so einleuchtend ist in dem Ganzen unserer Untersuchung, daß der Polysyllabismus der Sprache und der Polytheismus gleichzeitige, miteinander gesetzte, parallele Erscheinungen sind. Sie sehen nun also, daß der Uebergang von Sprachen, deren Elemente als einsylbige Wörter erscheinen, zu Sprachen, in denen die Wörter selbständige, gleichsam nach allen Dimensionen ausgebildete Körper, und darum polysyllabisch sind, ein ganz anderer ist, als jener mechanische, wo die Vielsylbigkeit der Sprachen durch einen bloßen Zuwachs zu ursprünglich einsylbigen Wortstämmen entstünde. Die entwickelten Sprachen sind von den ursprünglich gebundenen nicht durch ein bloßes Hinzufügen, sondern durch ihren innern Charakter verschieden. Die Bewegung der Ursprache verhält sich zur Bewegung der frei entwickelten Sprachen, wie sich die Bewegung des Himmels zu den freiwilligen, willkürlichen und mannichfaltigen Bewegungen der Thiere verhält. Diejenige Sprache aber ist die am meisten menschliche, welche am meisten dem menschlichen Gang ähnlich ist, mit der Majestät die Sanftheit, mit der Bestimmtheit die vollkommene Freiheit der Bewegung vereinigt. Darum haben auch nur diese Sprachen erst eigentlich eine Grammatik oder ein grammatisches System. Die Ursprache bedarf der grammatischen Formen nicht, so wenig als der Weltkörper der Füße bedarf um zu gehen. Züge der Ursprache, auch was die materielle Beschaffenheit betrifft, mögen noch in der chinesischen enthalten seyn. Dahin möchte gehören, daß in dieser jeder Laut mit einem Consonanten anfängt und in einem Vocal endet. Die Freiheit, auch mit dem Vocal anzufangen (welche erst der befreiten, aus der Einheit entkommenen Sprache eigen ist), setzt den Widerstand, welchen das chinesische Wort noch zu überwinden hat, als schon überwunden voraus. Aber nicht das Materiale, nur das Gesetz der Ursprache ist in der chinesischen Sprache erhalten, und schon über diese Erhaltung dürfen wir als über ein Wunder erstaunen, das zur Bestätigung jenes Glaubens gereicht, von dem jeder wahre Forscher erfüllt und begeistert seyn muß, des Glaubens, daß nichts absolut unerforschlich ist — nil mortalibus arduum — und daß von allem, was auf dem großen und langen Weg, den die Natur und Geschichte bis zur Gegenwart zurückgelegt hat, als ein wesentliches Moment, und daher als ein wahrhaft wissenswürdiges erachtet werden kann, stets so viel erhalten worden, daß der wahre Forscher es noch zu erkennen hoffen darf. Auch die chinesische Sprache also legt Zeugniß ab für den Fortgang, durch den wir uns das chinesische Wesen überhaupt erklärt haben. Das rein Materielle der Ursprache ist im Chinesischen nicht erhalten, wohl aber die siderische Kraft derselben. Das Chinesische ist für uns wie eine Sprache aus einer andern Welt, und wenn man eine Definition der Sprache nach dem Sinn geben wollte, in welchem die andern Idiome Sprache heißen, so würde man in die Nothwendigkeit kommen zu gestehen, daß die chinesische Sprache gar keine Sprache ist, wie die chinesische Menschheit kein Volk ist. Indeß kann ich am Schlusse dieser Erörterung nicht unterlassen, wenigstens meine Verwunderung darüber auszudrücken, daß Herr Abel Remusat am Ende der Abhandlung, worin er den monosyllabischen Charakter der chinesischen Sprache zu leugnen versucht, im Grunde aber nur einschränkt und mit Einschränkung zugesteht, daß er dieses Zugeständniß mit folgenden Worten macht: Rectius sentiunt, qui, sermonem veterum Sinarum e verbis non omnibus quidem monosyllabis, sedplerisque, et, ut gentium barbararum mos est, brevissimis constitisse, pronunciant. Wie kann er nämlich 1) unbestimmter und unbedingter Weise sagen, monosyllabische Laute seyen den Sprachen barbarischer Völker gemein, da jeder z.B. die unmäßig langen Wörter der amerikanischen Ureinwohner kennt, die doch gewiß einen gegründeten Anspruch haben auf den Namen Barbarenvölker. Diese Sprachen scheinen das Gegenstück, die andern Extreme zu dem Monosyllabismus der Chinesen. In diesen hat sich die Macht des Urprincips erhalten, in jenen ist sie ganz zerstört und die Sprachen sind einem sinnlosen Polysyllabismus hingegeben. 2) Liegt hiebei die Voraussetzung zu Grunde, als wäre das chinesische Volk ebenfalls aus einem Zustand von Barbarei hervorgegangen und allmählich erst zu seiner gegenwärtigen Verfassung gelangt, während alles uns überzeugt, daß China, wie es ist, durch ein unvordenkliches Ereigniß ist, und seit seinem Ursprung wesentlich unverändert, immer dasselbe gewesen ist. Ein System wie das, welches bis auf den heutigen Tag im Ganzen China beherrscht, entsteht nicht im Lauf der Zeit; es kann einem Volke nur durch eine plötzliche Katastrophe auferlegt werden. Diese Erklärung Abel Remusats, nach welcher nämlich die Einsylbigkeit aus einem barbarischen Zustand sich herschreiben soll, erinnert an die Annahme einer früheren Sprachtheorie, nach welcher die ersten oder die Grundwörter aller Sprachen in bloßen Interjektionen, Ausrufungen des Erstaunens, des Schreckens u.s.w. bestanden haben sollten. Damit wäre dann die monosyllabische Natur (denn so muß man sich ausdrücken; es ist nicht die Frage, ob im Chinesischen Wörter vorkommen, welche so wie sie jetzt sind als zusammengesetzt und insofern polysyllabisch erscheinen, es ist nicht die Frage, ob sich zufällig vielsylbige Wörter in der chinesischen Sprache finden, sondern ob sie ihrer Natur nach monosyllabisch sey), nach jener Erklärung wäre also freilich die monosyllabische Natur der chinesischen Sprache gleich und leicht begriffen. Barbarei = Kindheit: man könnte daher sich noch etwa eher darauf berufen, daß es auch Kinder, die zuerst sprechen lernen, in der Art haben, vielsylbige Wörter sich auf einsylbige zu reduciren, sowie sie sich auch die ganze Grammatik, besonders die Conjugation ersparen, und sich statt aller Temporum des Infinitivs bedienen, womit man denn die grammatikalische Unbestimmtheit der chinesischen Verben vergleichen könnte. Ich will aber dabei nur bemerken, daß man auf diese Art die ältesten Völker in die Lage von Kindern setzt, welche das Sprechen und die Sprache erst lernen. Kinder werden völlig sprachlos geboren. Kann man sich aber in irgend einem Augenblick ein Volk ohne alle Sprache denken? Kinder verkürzen die gegebenen vielsylbigen Wörter, die sie hören, zu einsylbigen, weil sie des grammatikalischen Accents nicht mächtig sind, durch welche eine Mehrheit von Sylben zum Ganzen eines Worts wird. Aber die Chinesen haben ja keine vielsylbigen Wörter erst abgekürzt, und die Einsylbigkeit ihrer Sprache aus der Unfähigkeit zum grammatikalischen Accent zu erklären, hieße eine Wirkung zur Ursache machen. Wenn der Monosyllabismus der chinesischen Sprache aus der bloßen Schwäche der Kindheit oder der anfänglichen Barbarei zu erklären ist, die man zugleich als den ersten Zustand aller Völker voraussetzt, warum haben die andern Völker, aber nicht das chinesische, aus diesem Zustand sich losgerissen? Herr Abel Remusat sucht diesen Grund seltsam genug in der Schrift der Chinesen. Denn so einzig ihre Sprache, so einzig ist auch ihre Schrift. Zwar hatte man in früherer Zeit die chinesischen Charaktere mit den ägyptischen Hieroglyphen verglichen und darauf selbst ziemlich ungereimte Vermuthungen über einen Zusammenhang zwischen Aegypten und China gebaut. Allein schon die bei weitem geringere Zahl der Hieroglyphen - man hat deren höchstens 800 gezählt, während die chinesischen Charaktere sich uf 80,000 belaufen - hätte die Vermuthung erwecken können, daß die ägyptischen Hieroglyphen vielmehr auf die Seite der Buchstabenschrift sich neigen, als auf die Seite der chinesischen Gedankenschrift. Heutzutage, da diese Vermuthung in Ansehung der Hieroglyphen zur Gewißheit erhoben ist, kann man, ohne Widerspruch zu befürchten, behaupten, daß die chinesische Schrift in ihrer Art so einzig sey als die chinesische Sprache und von dieser nicht zu trennen. Denn sie ist nicht eine bloß zufällige, sondern die nothwendige Folge derselben. |
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18 | 1842.2 |
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von. Philosophie der Mythologie [ID D11898]. 23. und 24. Vorlesung Berlin 1842 und 1845/46. Die chinesische Schrift besteht nämlich nicht, wie die Buchstabenschrift, aus Bildern, welche die Aussprache einzelner Töne oder Laute bezeichnen, sondern aus Bildern, welche die durch die Worte bezeichneten Gegenstände selbst darstellen. Wir haben hier also wieder zwei einander entgegenstehende Schriftarten, und es ist natürlich zu erwarten, daß diese Schriftarten sich ebenso zueinander verhalten werden, wie sich die Sprachen verhalten, denen jede derselben eigen ist. Ich will dabei nur zum voraus gestehen, daß ich an den neueren Untersuchungen über den Ursprung und das Alter der Buchstabenschrift, zu denen besonders Wolf durch seine Kritik des Homer Veranlassung gegeben hat, kein großes Gefallen finden kann. Mir scheint, daß gleich, sowie die Unveränderlichkeit der Ursprache zu verschwinden anfing, sobald die bisher gebundenen Elemente lebendig wurden, und, um alle Bestimmungen des Gedankens abzudrücken, sich in sich selbst organisch veränderten, ja bis zur Unkenntlichkeit verwandelten, Buchstabenschrift nothwendig war, so daß also die erste Erfindung der Buchstabenschrift so alt ist als jene Krisis, durch welche die polysyllabischen, organischer Veränderungen in sich selbst fähigen Sprachen entstanden. Es ist dabei als etwas Verkehrtes anzusehen, wenn man die Buchstabenschrift selbst wieder von der hieroglyphischen ableiten will, inwiefern man nämlich unter Hieroglyphen nicht überhaupt nur Bilder sich vorstellt. In diesem Fall ist es wohl nicht zu bezweifeln, daß neben der einfachsten Art einzelne Laute zu bezeichnen, wie sie in der Keilschrift wahrzunehmen ist, sobald nur das Talent sichtbare Gegenstände nachzuahmen sich äußerte, die Laut-Zeichen bildliche, und in diesem Sinn hieroglyphische wurden, wobei es natürlich war, daß man einen Laut durch Abbildung desjenigen Gegenstandes zu bezeichnen suchte, in dessen Benennung dieser Laut der hervorstechendste war, und da der hervorstechendste Laut immer der erste oder Anfangslaut ist, so war es natürlich, daß man die bildliche Bezeichnung eines Lauts von einem Gegenstand hernahm, dessen gewöhnliche Benennung mit eben diesem Laut anfing. In diesem Sinn kann man die hebräischen Schriftzeichen gar wohl abgekürzte Hieroglyphen nennen. Der Laut B heißt hebräisch beth, das Haus, und die rohe abgekürzte Abbildung eines orientalischen, auf der linken, d.h. auf der Nordseite offenen Hauses ist auch das Zeichen, womit der Laut angezeigt wird. Sehen heißt im Hebräischen Zahn, und mit dem Bild eines Backzahnes wird auch der Laut Seh in der hebräischen Schrift ausgedrückt. Um so leichter war von hier der Uebergang zur Erklärung der ägyptischen Hieroglyphen nach einem analogen System, worauf nämlich die Entdeckung von Champollion hauptsächlich beruht. In diesem Sinn also könnte man etwa und zum Theil wenigstens die Lautzeichen der ältesten Schriftarten von Hieroglyphen ableiten. Versteht man aber unter den Hieroglyphen eine Gedankenschrift, oder vielmehr eine die Gegenstände selbst bezeichnende Schrift, so sind beide so entgegengesetzter Natur, daß man unmöglich die eine von der andern ableiten kann. In einer Sprache, wo das einzelne Wort nichts gilt, konnte eigentlich das Wort auch nicht geschrieben werden. Dagegen mußte die Tendenz einer Sprache, alle Gedankenbestimmungen an dem Wort selbst auszuprägen, ungemein erleichtert und befördert werden durch die Möglichkeit, den flüchtigsten Hauch, jede feinste Nuance des flexibel gewordenen Organs durch ein eignes Zeichen festzuhalten, besonders nachdem erst auch die Vocale durch eigne Zeichen ausgedrückt wurden, die in den semitischen (ihrem substantiellen Charakter nach dissyllabischen), und, wie es scheint, auch in der ägyptischen Sprache, noch fehlten, dagegen aber in den Sprachen, die zu dem persischindisch-griechischen Stamme gehören, wie es scheint, von jeher gebräuchlich waren. Durch die Buchstabenschrift wurde die Sprache gleichsam beflügelt, zur höchsten Volubilität, Flüchtigkeit und Veränderlichkeit befähigt. Die einzige Sprache, in welcher sich das Gesetz der Urzeit und der Ursprache erhalten, mußte also, um sich in ihrer reinen Wesentlichkeit, Substantialität und Innerlichkeit zu bewahren, dieses Mittel zurückweisen. Ihr ziemte nur Charakter-, nicht Buchstabenschrift zu seyn. Uebrigens hat man, wie früher in den ägyptischen Hieroglyphen, ebenso in den chinesischen Schriftzeichen lange Zeit eine gewisse Heiligkeit und eine tiefmystische Grundlage gesucht. Es gehört mit zu dem Glück unserer Zeit, daß so manche Phantome verschwunden sind. Man kann den neueren Entdeckungen und Ansichten nicht genug danken, welche uns gelehrt haben, die ägyptischen Hieroglyphen, an welchen der falsche Tiefsinn erfindungsarmer Köpfe vergebens sich abmühte, ebenso wie die chinesische Schrift, einfacher und gelassener anzusehen. Man hat nämlich in dem System der chinesischen Schrift die größten wissenschaftlichen Geheimnisse gesucht; nicht bloß der bekannte Athanasius Kircher, dem man mit dem Prädicat eines Phantasten gewiß nicht zu nahe tritt, sondern selbst Fourmont war auf solche Weise von der chinesischen Schrift bezaubert, daß letzterer in den 214 sogenannten Schlüsseln der chinesischen Schriftzeichen, die aber von den Lexikographen im Grunde ganz willkürlich angenommen sind, die hieroglyphischen oder repräsentativen Zeichen aller menschlichen Fundamentalideen zu sehen glaubte, wobei es vor allem nicht leicht seyn möchte zu sagen, warum es gerade 214 Fundamentalideen, nicht mehr und besonders nicht weniger, gebe. Es gibt der wahren Geheimnisse genug, man braucht sich keine willkürlichen zu erschaffen und speculative Ideen da zu suchen, wo die gewöhnlichen Mittel ausreichen. Allerdings hat die chinesische Schrift einen eignen Reiz, und es ist unmöglich in irgend einer Sprache zugleich die Wirkung dieser malerischen Charaktere wiederzugeben, welche, statt der an sich unfruchtbaren und bloß willkürlichen Zeichen der Pronunciation, die Gegenstände selbst dargestellt vor Augen bringen. Uebrigens deutet die Wahl der Charaktere sehr oft auf nichts weniger als sehr tiefe Ideen; z.B. wenn der Begriff Glückseligkeit durch einen Zug ausgedrückt wird, in welchem ein offener Mund und eine mit Reis gefüllte Hand vereinigt sind, so sieht man wohl, worein hier die Glückseligkeit gesetzt wird. Andere Verbindungen gehen ganz ins Triviale, wie denn der Charakter, welcher eine Person weiblichen Geschlechts bedeutet, zweimal nebeneinander gestellt Zank und Streit, dreimal wiederholt völlige Unordnung bedeutet. In der Wahl solcher bildlichen Darstellungen verschwindet doch alle Spur von Notwendigkeit. Die chinesische Schrift an sich ist eine nothwendige Folge der Beschaffenheit ihrer Sprache, und niemals könnte ich umgekehrt mit Abel Remusat annehmen, die Chinesen seyen darum, weil sie sich außer Stand gesehen, die verschiedenen Combinationen von Lauten, die sich ihnen darbieten konnten, durch Buchstaben zu malen oder auszudrücken, also eigentlich der engen Schranken ihrer Schrift wegen seyen sie bei den wenigen zahlreichen Lauten, die sie in der ersten Zeit gehabt haben, bei jenen, wie er sagt, sehr kurzen oder gar monosyllabischen Wörtern stehen geblieben. Wenn diese Erklärung etwas erklären sollte, so müßte man zugleich voraussetzen, daß die Schrift noch vor dem Anfang der Cultur, d.h. noch während der Fortdauer jenes barbarischen Zustandes, erfunden worden, aus dem man die Beschaffenheit der Sprache ableitet. Wer aber möchte wohl voraussetzen, daß ein in dem Grad, als hier angenommen wird, beschränktes Volk schon eine Schrift und zwar eine so künstliche gehabt habe? Es liegt in der Natur der Sache, daß die Schrift überall nur als Mittel und in der Abhängigkeit von der Sprache erscheint, und es ist gegen die Natur, dem bloßen Mittel, der Schrift, eine solche Rückwirkung auf die Sprache zuzuschreiben. Weit einleuchtender ist offenbar das umgekehrte Verhältniß anzunehmen, daß nämlich durch die Beschaffenheit der Sprache die Art der Schrift bestimmt ist. In der chinesischen Sprache ist das Wort selbst nicht zu jener Selbständigkeit gelangt, welche allein auffordern kann, das Wort als Wort darzustellen, was eben in der Buchstabenschrift geschieht. An dem chinesischen Wort hat man nichts Accidentelles auszudrücken. Das Wort ist noch zu innerlich, um Gegenstand der Reflexion und der Darstellung zu seyn. Hier bleibt also keine andere sichtbare Darstellung, als die der Sache, des Gegenstandes, des Gedankens selbst übrig. Ferner erklärt die Beschaffenheit der chinesischen Sprache auch die Beibehaltung der chinesischen Schrift. Bei der großen Einförmigkeit des materiellen Theils der chinesischen Sprache, die auf eine verhältnismäßig kleine Anzahl sehr kurzer und darum selbst untereinander nicht auffallend unterschiedener Grundlaute beschränkt ist; bei dieser Einförmigkeit ist es unvermeidlich, daß manche Sylben, die gebräuchlicher als andere sind, bis an dreißig oder vierzig verschiedene Ideen oder Gegenstände ausdrücken. Wird nun der Gegenstand selbst dargestellt, so ist kein Zweifel, welche von den dreißig- oder vierzigerlei Bedeutungen z.B. der Sylbe Li oder La gemeint sey, während dem mit Buchstaben geschriebenen Wort nicht anzusehen seyn würde, welche dieser Bedeutungen beabsichtigt worden, es wäre denn, daß man zu den Lautzeichen noch figurative, d. h. den Gegenstand selbst abbildende, hinzufügte. Wenn man aber einmal diese zuläßt, so kann man sich die Buchstaben oder Lautzeichen ganz ersparen. Ich kehre also auf meine Behauptung zurück: die chinesische Schrift ist an sich eine nothwendige Folge der Beschaffenheit der Sprache. Aber die Erfindung dieser Schrift braucht darum in keine höhere Vergangenheit gesetzt zu werden, als in welche auch schon die Entstehung der Buchstabenschrift sich setzen läßt, und in kein höheres Alter-thum, als die großentheils willkürliche und conventionelle Beschaffenheit dieser Schriftzeichen ihnen zuzuschreiben erlaubt. Indem ich von dem Alterthum der chinesischen Schrift gesprochen, ist es wohl ein natürlicher Uebergang, wenn ich noch einige allgemeine historische Bemerkungen beifüge über die Stellung der chinesischen Nation im Ganzen der Menschheit und der Völker. China ist im Grunde selbst jetzt noch, wo es gegen Norden und Westen von der englischen Herrschaft und der Rußlands berührt wird, ein von der übrigen Welt fast vollkommen abgesonderter Theil der Erde. Im fernen abgelegenen Osten Asiens hat sich seit undenklicher Zeit dieser Theil der Menschheit erhalten, der im Vergleich mit den andern, näheren und ferneren Völkern wirklich eine andere und zweite Menschheit bildet. Von den 1000 Millionen, welche die ganze Erde bevölkern sollen, fallen 300 auf China. Während das übrige Menschengeschlecht, wie es gegen Westen und Norden fortschreitet, auf dem ganzen Weg, den die Cultur genommen, sich mehr und mehr in Völker zersplittert, stellt im äußersten Osten Asiens China eine compakte Masse vor, deren Größe und Gediegenheit, wie ihre innere Abgeschiedenheit und Unähnlichkeit, erlaubt, sie im Gegensatz der ganzen übrigen zerstreuten Menschheit als eine zweite Menschheit anzusehen. Man hat über den Ursprung oder die Herkunft der Chinesen verschiedene Hypothesen aufgestellt. Nach dem Gesichtspunkt früherer Zeiten kann man den Missionarien zu gut halten, wenn sie die Chinesen von Einem Stamm mit Hebräern und Arabern hielten, oder zu halten wenigstens vorgaben. In der That, von allem, was die Literatur der ältesten Völker aufzuweisen hat, steht die Denkweise und selbst der Styl der alltestamentlichen Schriften den chinesischen ältesten Monumenten am nächsten. Nach unserer Erklärung der Entstehung des chinesischen Volks und seiner Eigenthümlichkeit kann uns dieß nicht befremden. Diese Uebereinstimmung, soweit sie stattfindet, ist ganz natürlich. Eine spätere Hypothese war die, welche sie für Tartaren erklärt, die von den Anhöhen des Imans herabgekommen. Die neueste ist die, welche sie aus Indien herleitet. W. Jones erklärt sie für Indier von der Kriegerklasse, die, die Privilegien ihres Stammes aufgebend, in verschiedenen Haufen nach dem Nordosten von Bengalen zogen, und stufenweis die Gebräuche und die Religion ihrer Vorväter vergessend, besondere Herrschaften errichteten, die sich endlich zu dem Gesammtreich China vereinigten. Diese Meinung scheint die Meinung der Indier selbst zu seyn, wenigstens behauptet man, daß in dem Gesetzbuch Menüs eine Stelle vorkomme des Inhalts: Eine Anzahl Familien von der Klasse der Krieger, nachdem sie stufenweis die Vorschriften der Vedas verlassen, leben in einem Zustand von Herabwürdigung wie das Volk — hier werden dann nacheinander mehrere Völkernamen genannt und unter anderm auch der Chinas. Hoffentlich hat W. Jones, der diese Stelle anführt, den Namen Chinas (als Völkername) nicht statt Dschainas gelesen. Uebrigens haben von jeher alle Völker die Herkunft der anderen Völker von ihrem Standpunkt aus zu erklären sich bemüht, und selbst die durch Sitten und der Denkweise nach fremdesten Völker mit sich in Verbindung zu bringen gesucht. Eigentlich aber kann für jeden, welcher nur sein Auge nicht für das chinesische Wesen verschließt, nichts unzweifelhafter seyn, als daß das sogenannte chinesische Volk ein von Anfang, vom Anbeginn der Geschichte schon abgesonderter Theil der Menschheit ist, der eben auch darum von jeher seinen gegenwärtigen Wohnplatz inne hatte, und fast aller Theilnahme an dem Proceß, der die übrige Menschheit erschütterte und bewegte, sich entzog. Wenn chinesische Tradition den Urmenschen selbst für den Stifter ihres Reichs angeben, von welchem sie sagen, sie wissen gar nicht, wann seine Existenz begonnen habe, wenn sie auf diese Art den Anfang des Menschengeschlechts und ihres Reichs gleichsam der Zeitlichkeit entrücken, und beide als von Ewigkeit seyend vorstellen, so drückt sich darin, sowie in den Millionen von Jahrhunderten ihrer fabelhaften Zeitrechnung, nichts anderes als die bewußte Ueberzeugung aus, daß die Geschichte für sie mit dem Anfang ihres Reichs begonnen, daß ihr Reich nicht ein Erzeugniß der Geschichte, sondern ein im Anfang der Geschichte dagewesenes sey, und darin müssen wir ihnen nach dem Sinn unserer ganzen Erklärung völlig beistimmen. Man könnte aber die Frage aufwerfen, warum, wenn wir das Alter des chinesischen Reichs selbst in den Anfang der Geschichte setzen, warum wird denn nicht unsere Entwicklung mit China angefangen haben; denn fast allem, was sich Philosophie der Geschichte betitelt, ist jetzt nach dem Vorgang einer Philosophie, die in ihren Formen selbst etwas chinesisch ist, China der Anfang. Allein wenn das, womit sich wirklich anfangen läßt, nur etwas seyn kann, von dem sichfortschreiten läßt, das den Grund einer nothwendigen und natürlichen Fortschreitung enthält, so sieht man leicht, daß mit China, das vielmehr eine Negation der Bewegung ist, nicht sich anfangen läßt, daß man von einem solchen Anfang nicht weiter zu kommen, also eigentlich auch nicht anzufangen vermag. China liegt nur insofern im Anfang aller Geschichte, als es sich aller Bewegung versagt hat. Zwar der Zustand der Menschheit, wie wir ihn vor aller Geschichte gedacht, ist in dem Zustand der chinesischen Menschheit festgehalten, aber er ist in ihm nur als ein erstarrter, und eben auch darum nicht mehr in seinem ursprünglichen Sinn festgehalten. Das chinesische Bewußtseyn ist nicht mehr der vorgeschichtliche Zustand selbst, sondern ein todter Abdruck, gleichsam eine Mumie desselben. Aus demselben Grunde, weil es nicht der vorgeschichtliche Zustand selbst, sondern der fixirte, dadurch aber zugleich in seiner Bedeutung veränderte ist, eben deßwegen kann man auch nicht sagen, China sey das Aelteste. Das Aelteste ist wohl in ihm, aber erstarrt, und das erstarrte Aelteste ist nicht mehr das wirkliche Aelteste; insofern ist, wenn man von Volk sprechen will, das chinesische Volk nicht älter als derjenige Theil der Menschheit, in welchem sich dieser ursprüngliche Zustand fortschreitend verwandelt hat. Zu derselben Zeit und nicht eher, als die anderen asiatischen Völker den Weg des mythologischen Processes zu betreten anfingen, versagte sich ihm der Theil der Menschheit, welcher jetzt als chinesisches Volk erscheint; aber eben darum ist das chinesische Volk als solches, als das, in welchem der ursprüngliche Zustand sich fixirt hat, nicht älter als z. B. die Babylonier, wenn gleich das, was in ihm sich fixirt hat, allerdings das Aelteste ist. Aber das, was in dem Bewußtseyn der Babylonier und der andern Völker als verwandelt erscheint, ist auch das Aelteste: auf der einen Seite ist nur das fixirte, auf der andern das lebendig verwandelte Aelteste. Es ist leicht von einer solchen Negation wie China anzufangen, aber nur auf höchst queren und krummen Wegen läßt sich von ihm aus ein weiterer Zusammenhang finden. Es muß nun vielmehr im Gegentheil einleuchten, daß die richtige und einzig angemessene Stellung für China diejenige ist, welche ihm in dieser Entwicklung angewiesen worden. In manchen auch allgemeinen Darstellungen der Mythologie wird China ganz übergangen; z.B. in Creuzers übrigens so umfassendem Werk wird Chinas mit keinem Wort gedacht; insofern ganz richtig, als China keine Mythologie hat. Aber es hat nicht nur keine, sondern es stellt auf gewisse Weise die der Mythologie entgegengesetzte Seite dar. Da nun die Mythologie auf jeden Fall eine excentrische, nach Einer Seite gehende Bewegung ist, die insofern nothwendig einen Gegensatz fordert, so verlangt es die Totalität oder Allseitigkeit der Weltentwicklung, daß dieser Gegensatz wirklich da sey (existire), die Totalität der Darstellung, daß man diesen Gegensatz nicht ausschließe, sondern ihm allerdings auch eine Stelle in der Betrachtung gönne, gleichsam um der positiven Seite ein Gegengewicht zu geben. Wenn aber einmal von einer wissenschaftlichen Entwicklung der Mythologie China nicht auszuschließen ist, so kann ihm keine andere als die von uns angewiesene Stelle gegeben werden. Denn das chinesische Wesen verhält sich, wie gesagt, negativ gegen den mythologischen Proceß, und zwar noch in einem ganz andern Sinne, als dieß auch etwa von der persischen Lehre und von dem Buddismus gesagt werden kann. Denn jene hält den mythologischen Proceß in seiner Bewegung an, das chinesische Bewußtseyn aber kommt dieser Bewegung zuvor. Das chinesische Bewußtseyn kennt nur den absolut-Einen, nicht wie die persische Lehre das Zwei-Eine. Von dem Buddismus ist es ohnedieß klar, daß er im Schooße der Mythologie selbst sich erzeugt hat, daß er eine Formation ist, die ohne den mythologischen Proceß gar nicht gedacht werden könnte. Wenn nun aber das chinesische Wesen nicht in die Mythologie selbst hereinfällt, sondern völlig außer der Mythologie als ihr reiner Gegensatz steht und zur Mythologie sich als ihre absolute Negation verhält, so ist klar, daß, weil jede Negation nur Sinn hat als Negation des ihm entgegenstehenden Positiven und durch dieses selbst erst einen Inhalt erhält, daß auch von jener Negation, die im chinesischen Bewußtseyn gesetzt ist, nicht eher die Rede seyn kann, als nachdem das Positive vorhanden und entwickelt ist. Daraus also erhellt, daß die rechte Stelle für das Verständniß des chinesischen Wesens erst da ist, wo der ganze Inhalt der Mythologie schon vorliegt, also etwa am Ende der asiatischen Entwicklung und da, wo die Mythologie nun schon im Begriff steht den Orient zu verlassen und in die Abendlande überzugehen. Das chinesische Wesen steht nicht Einem Moment des mythologischen Processes, sondern dem Ganzen entgegen. Aber eben darum kann da, wo eine Darstellung des ganzen Processes beabsichtigt ist, die Darstellung des Gegensatzes nicht fehlen. Inzwischen werden am Schlusse dieser Untersuchung über China, und nachdem wir insbesondere erklärt haben, daß das religiöse Princip hier nur als ein ganz veräußerlichtes und verweltlichtes existire, werden nun übrigens diejenigen, welche gleichwohl von der Existenz mehrerer Religionssysteme in China gehört haben, zu wissen verlangen, wie sich diese zu dem von uns angenommenen Grund des chinesischen Wesens, und wie sie sich zueinander verhalten. Gewöhnlich spricht man von drei gegenwärtig in China herrschenden Religionssystemen: 1) der Religion des Cong-fu-tsee oder, wie er gewöhnlich heißt, des Confucius; 2) der Lehre oder Religion des Lao-tsee [Laozi] oder, wie er gewöhnlich genannt wird, Tao-sse; und endlich 3) dem Buddismus. Es wäre eine irrige Vorstellung, wenn man sich den Cong-fu-tsee als Stifter, sey es einer Philosophie oder einer Religion, denken wollte. Die Schriften des Confucius enthalten in der That nichts anderes als die ursprünglichen Grundlagen des chinesischen Reichs, und weit entfernt ihn als einen Neuerer betrachten zu können, ist er vielmehr derjenige, der in einem, wie es scheint, sehr bewegten Moment, in einer Zeit, wo die alten Grundsätze schwankend geworden zu seyn scheinen, sie wieder aufrichtete und auf ihrem alten Fundament befestigte. Es ist daher eine sehr unhistorische Vergleichung, wenn ein neuerer Schriftsteller vermeintlich geistreich von ihm sagt: er sey ein Sokrates, der keinen Platon gefunden habe. Der Sokrates der Athener wurde bekanntlich als ein Neuerer hingerichtet, und gewiß, er war der Verkünder einer neuen Zeit, gleichsam eines Evangeliums des Wissens und der Erkenntniß, das auch Platon, wenigstens in seinen bekannten Werken, nicht sowohl darstellte und aussprach, als einleitete und vorbereitete. Das einzige tertium comparationis, das sich bei dieser Vergleichung etwa denken ließe, wäre, was man gewöhnlich zu sagen pflegt, Sokrates habe sich von speculativen Untersuchungen ganz abgewendet, seine Geistesthätigkeit und Wirkung ausschließlich auf das sittliche Leben und auf praktische Weisheit gerichtet. Dasselbe sey bei Confucius der Fall. Der Inhalt seiner Schriften sey weder eine buddistische Kosmogonie, noch eine Metaphysik im Sinn des Lao-tsee, sondern bloß praktische Lebens- und Staatsweisheit. Was aber den Sokrates betrifft, so wäre diese Abwendung von der Speculation und diese praktische Richtung, vorausgesetzt, daß es sich wirklich ganz so verhielte wie man gewöhnlich annimmt, etwas ihm Eigenthümliches. Dagegen ist Confucius nur der geistige Repräsentant, gleichsam der Ausdruck seines Volks; daß er alle Weisheit bloß auf das öffentliche Leben und den Staat bezog, dieß war eben darum nichts Eigenthümliches oder ihn individuell Charakterisirendes; er sprach dadurch nur die Natur seines Volks aus, welchem der Staat alles ist, so daß es weder eine Wissenschaft, noch eine Religion, noch eine Sittenlehre außer dem Staat kennt. Eben durch diese ausschließliche Beziehung aller moralischen und geistigen Interessen auf den Staat ist aber Confucius vielmehr ein Gegensatz von Sokrates; denn wenn er (Confucius) den ganzen Menschen für den Staat in Anspruch nimmt, wenn er Theilnahme und Thätigkeit für denselben besonders fordert und empfiehlt, entfernt von einer quietistischen Moral, die sich später mit dem Buddismus auch in China eingefunden, so fand Sokrates in der Beschaffenheit der Staatsverfassung und Verwaltung seiner Zeit vielmehr Ursache, den Philosophen von der Theilnahme der öffentlichen Angelegenheiten abzumahnen. Freilich sind die Lehren des Confucius frei von aller mythologischen Farbe und von kosmogonischen Bestandtheilen, aber auch dieß ist nichts, das ihn insbesondere bezeichnete; er ist auch darin nur der freie Abdruck des nüchternen, alles, was über den einmal vorhandenen Zustand der Dinge hinausstrebt, gleichsam fliehenden und abweichenden Charakters seiner Nation. Ein neuerer Schriftsteller bedient sich des Ausdrucks: die chinesische Philosophie von Confucius sey die Mythologie der Griechen, Inder, Aegypter ohne ihre allegorische Sprache. Dieser Ausdruck scheint aus der herkömmlichen Meinung entsprungen, als gehöre die Sprache in der Mythologie nicht mit zu der Sache, als würde, wenn man den bildlichen allegorischen Ausdruck hinwegnähme, an der Stelle der Mythologie eine reine bloße Philosophie, und zwar in dem abstrakten Sinn der neuern Zeit, erscheinen. Diese Meinung ist in der Einleitung zur Philosophie der Mythologie hinlänglich widerlegt worden. Die Wahrheit ist, daß die chinesische Lehre auch vor Confucius keine Spur weder von indischer, noch ägyptischer, noch griechischer Mythologie an sich hat. Daher Confucius hierin nichts gemein hat mit den griechischen Philosophen. Die eben genannten Mythologien sind entstanden durch eine fortschreitende Bewegung, welche für das chinesische Bewußtseyn absolut unterbrochen worden. In diesem hat das Princip, welches in allen andern Mythologien zu einer bloß relativen wurde, sich als absolutes behauptet, aber dadurch und durch die hiemit gesetzte Ausschließung der höhern Potenz — derjenigen, welche allein die Wiederherstellung des den wahren Gott erkennenden Bewußtseyns vermittelt —, dadurch hat auch das vorausgegangene, allein festgehaltene Princip seine theogonische Bedeutung verloren. Das nothwendige Resultat dieser absoluten Veräußerlichung oder Verweltlichung war nicht nur ein überhaupt in der Welt existirender, sondern zugleich unbeweglicher Gott, der wirklich nur noch die Funktion eines Gesetzes, einer Weltordnung, einer alles regelnden und zusammenhaltenden Vernunft hat, dessen Persönlichkeit ganz gleichgültig ist, weil sie ohne Einfluß ist; kurz das Resultat ist ein Rationalismus, dessen sich die modernsten Philosophen und Aufklärer nicht zu schämen hätten, und in den Schranken dieses Rationalismus hält sich dann nun auch ganz und gar die Lehre des Confucius. Der höchste religiöse Ausdruck des volkbeherrschenden Princips ist auch bei Confucius Himmel. Unstreitig ist der Geist des Himmels gemeint, aber dieß ist im Wesentlichen ohne Folge, denn auch dieser Geist des Himmels wirkt nur als ein Fatum, als ein immer sich gleichbleibendes, unbewegliches und unveränderliches Gesetz. Alle Beweglichkeit ist in den Menschen gelegt, der Himmel ist das immer Gleiche, Unbewegliche. Aus einem andern Gesichtspunkt ist allerdings die Lehre des Lao-tsee (Lao-Kium) [Laozi] zu betrachten; diese ist wirklich speculativ in einem ganz andern Sinn als die politische Moral des Confucius. Beide (Confucius und Lao-tsee) waren Zeitgenossen, beide lebten im sechsten Jahrhundert v. Chr. Wenn Confucius bestrebt ist alle Lehre und Weisheit auf die alten Grundlagen des chinesischen Staats zurückzuführen, so dringt Lao-tsee ganz unbedingt und allgemein in den tiefsten Grund des Seyns. Um jedoch erst das Literarhistorische über seine Lehre beizubringen, so ist der gelehrten Welt in langer Zeit keine solche Mystification widerfahren, als ihr durch die vor ungefähr 20 Jahren erschienene Abhandlung des Hrn. A. Remusat sur la vie et la doctrine de Lao-tse bereitet wurde. Der Verfasser versichert 1) die beinahe unüberwindliche Unverständlichkeit der chinesischen Texte des Lao-tsee, des Tao-te-King (dieß ist der Titel eines Hauptwerks); 2) will Hr. A. Remusat glauben machen, es sey zwischen den Ideen des Lao-tsee und der mehr westlichen Völker Asiens eine Uebereinstimmung, durch welche beglaubigt werde, was die Sage von einer Reise desselben nach Westen erzähle. Die Legende erzählt zwar nur (und auch dieß müssen wir auf Treu und Glauben von Abel Remusat annehmen), daß Lao-tsee nach Herausgabe des Tao-te-King in die Länder gegen Westen und zwar in eine große Entfernung von China gezogen sey, ohne zurückzukehren. Hr. A. Remusat benutzt die Sage, um den Lao-tsee vor der Herausgabe seines Hauptwerks die Reise nach Westen unternehmen zu lassen, die sich nach seinen Ver-muthungen nicht nur nach Balk oder Baktrien, sondern bis nach Syrien und Palästina erstreckt hätte, ja Hr. A. Remusat ist nicht abgeneigt, ihn bis nach Griechenland kommen zu lassen. Zu weiterer Beglaubigung wird dann eine Stelle aus dem Tao-te-King [Dao de jing] angeführt, in welcher Hr. A. Remusat die deutliche und unwidersprechliche Spur des geheiligten Namens Jehovah erkennen will, von dem Lao-tsee in Palästina Kunde erhalten habe. Wenn nach Erscheinung dieser Abhandlung es Philosophen oder andere Schriftsteller gab, die ohne eigentlich gelehrte und kritische Durchbildung eine solche Versicherung gläubig aufnahmen, so kann man sich darüber nicht wundern. Hr. A. Remusat hatte aber durch seine anderen verdienstvollen Untersuchungen kritische Uebung und Erfahrung genug erworben, daß man sich in der peinlichsten Verlegenheit sieht, an der Aufrichtigkeit seiner Versicherung zweifeln und wenigstens annehmen zu müssen, daß mehr oder weniger bewußte Rücksicht auf die damals in Frankreich mächtigen Jesuiten den sonst hellen Geist des Mannes verblendet habe. Von dem Allem nämlich, was Hr. A. Remusat über Lao-tsee und seine Lehre behauptet, hat sich nichts als wahr erwiesen, seit das Buch, von welchem eigne Einsicht zu erhalten ich z.B. nie eigentlich Verzicht geleistet hatte, durch die Bemühungen des Hrn. Stanislaus Julien in einer französischen Uebersetzung mit Anmerkungen und Commentaren, welche zugleich die volle Ueberzeugung von der Gewissenhaftigkeit des Uebersetzers gewähren, uns zugänglich geworden ist - verständlich freilich nicht jedem, sondern nur dem, der selbst in den tiefsten Grund der Philosophie eingedrungen. Da zeigt sich nun aber, daß die Tao-Lehre so ganz im Geist des entferntesten Ostens gedacht und erfunden ist, daß von westlicher Weisheit - ich will nicht sagen, von griechisch-pythagorischer - aber auch von syrisch-palästinensischer oder auch nur indischer Denkart und Weisheit nicht eine Spur ist. Tao heißt nicht Vernunft, wie man es bisher übersetzt hat, Tao-Lehre nicht Vernunftlehre. Tao heißt Pforte, Tao-Lehre die Lehre von der großen Pforte in das Seyn, von dem Nichtseyenden, dem bloß seyn Könnenden, durch das alles endliche Seyn in das wirkliche Seyn eingeht. (Sie erinnern sich ganz ähnlicher Ausdrücke, der wir uns für die erste Potenz bedient haben.) Die große Kunst oder Weisheit des Lebens ist eben, dieses lautere Können, das ein Nichts und doch zugleich Alles ist, sich zu bewahren. Der ganze Tao-te-King bewegt sich nur darum, durch eine große Abwechslung der sinnreichsten Wendungen diese große und unüberwindliche Macht des nicht Seyenden zu zeigen. Ich bedaure sehr, tiefer und umständlicher nicht eingehen zu können, theils nach Maßgabe der mir noch gegönnten Zeit, theils weil die Darstellung einer solchen rein philosophischen Erscheinung wie die Tao-Lehre, wäre sie auch übrigens vom höchsten Interesse, nicht in den Kreis unserer gegenwärtigen Untersuchung gehört. Ich bemerke nur noch: die Tao-Lehre ist nicht ein ausgeführtes System, das z.B. ausführlichen Aufschluß über die Entstehung der Dinge zu geben sucht; sie ist mehr Auseinandersetzung eines Princips, aber in den mannichfaltigsten Formen, und der auf dieses Princip gebauten praktischen Lehre. Die Anhänger des Tao heißen Tao-sse, aber es ist aus der Natur der Lehre schon zu schließen, daß sie weder zahlreich noch mächtig sind und von den nüchternen Anhängern des Confucius als Ekstatiker, Mystiker u.s.w. angesehen werden. Größer ist in China die Macht des Buddismus, zu dem ich nun fortgehe. Wie schon bemerkt, hat er sich um die Zeit des anfangenden Christenthums im ersten Jahrhundert n. Chr. erst nach China verbreitet. Es ist, als ob das Princip der Mythologie durch das Christenthum im Innersten angegriffen und erschüttert die Nothwendigkeit gefühlt hätte, diesem sich in einer neuen und mächtigen Gestalt entgegenzusetzen. Wenn man die plötzliche Erhebung und Ausbreitung der Buddalehre in Indien um eben diese Zeit sieht, kann man sich eines solchen Gedankens nicht erwehren. So viel ist gewiß, daß den Lehr- und Bekehrungsversuchen der christlichen Missionarien der Buddismus im Orient das unüberwindlichste Hinderniß entgegensetzt. Weit eher wäre zu erwarten, daß das ganze Volk der Bramanenanbeter sich änderte, als daß die Anhänger des Budda ihre Religion ablegten und die christliche annähmen. Der Name, unter welchem Budda in China verehrt wird, ist Fa. Fo ist der nur auf chinesische Art verstümmelte Name Budda, den ihre Organe nicht auszusprechen erlauben. Wenn auch diese Lehre in China das Thor oder die Pforte des Nichts oder der Leere genannt wird, so stimmt hier Budda mit Lao-tsee nur soweit überein, als allerdings das, was vor dem Seyn, und das, was über dem Seyn, beides frei vom Seyn als lautere Macht oder Potenz erscheint. Die Lehre des Lao-tsee bezieht sich indeß mehr auf den Anfang, und ist insofern vorzugsweise speculativ, die Lehre des Budda auf das Ende, also auf das Ueberseyende, auf die letzte Ueberwindung alles Seyns. Manche chinesische Schriftsteller legen indeß auf den Unterschied der drei Lehren selbst nur wenig Gewicht, sie halten die Weltordnung des Confucius, das Tao des Lao-tsee und das Nichts des Buddismus nur für verschiedene Ausdrücke einer und derselben Idee. Es gibt sogar ein bekanntes chinesisches Sprüchwort, daß die drei Lehren nur Eine seyen. Die Kaiser der gegenwärtigen, der Mandschu-Dynastie, werden selbst gewissermaßen zu diesen Eklektikern gezählt, die nämlich die drei Lehren verbinden. Im Uebrigen ist es nicht zu leugnen, daß der Buddismus gerade in China bis auf jene Spitze sich treiben mußte, wo er zum völligen Atheismus wird. Die Fo-lehre in ihrer höchsten Steigerung spricht ausdrücklich den Satz aus, daß weil Religion ihren Sitz im menschlichen Herzen habe, das menschliche Herz aber eigentlich auch nichts sey, wie alles, auch die Religion selbst nichts sey. (Gipfel aller Mystik - Versenkung - Annihilation des Subjekts = Annihilation des Objekts.) Der Buddismus, der erst mit der jetzt herrschenden Dynastie seit dem 17. Jahrhundert als eine mit den andern vollkommen gleichberechtigte Religion in China erscheint, hat sich übrigens stets dem Staatszwecke unterordnen müssen, wie dieß insbesondere auch aus dem Verhältniß der lamaischen Hierarchie in Tibet erhellt, über welche ich, da so viele falsche Vorstellungen darüber verbreitet worden, noch einiges bemerken will. - Die ersten Missionarien, die dorthin drangen, mußten nicht wenig verwundert seyn, im Centrum Asiens wieder zu finden, was sie nur in Europa und dem christlichen Orient gekannt hatten, zahlreiche Klöster, feierliche Processionen, Wallfahrten, religiöse Feste, ein Collegium von Oberlamas, die ihr Oberhaupt selbst erwählen, einen kirchlichen Souverain und geistlichen Vater der Tibetaner und der tartarischen Völkerschaften. Diese seltsame Uebereinstimmung zu erklären, betrachteten sie den Lamaismus als ein entartetes Christenthum. Die Einzelheiten, über die sie staunten, waren für sie ebenso viele Spuren eines ehemaligen Aufenthalts syrischer Gemeinden in diesen Gegenden. Dieser Meinung war besonders Georgii, dessen Alphabetum Tibetanum als ein Hauptwerk über tibetanische Sprache und Literatur gilt. Selbst Desguignes, Lacroze - die sogenannten Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts bedienten sich dieser Uebereinstimmungen im umgekehrten Sinn, nämlich die lamaische Hierarchie als das ursprüngliche Muster darzustellen, nach welchem ähnliche und selbst die christlichen Institutionen gebildet worden. Dieß bedarf nun zwar keiner Widerlegung; allein es ist doch wichtig, sich einen genauen geschichtlichen Begriff von dem Ursprung der lamaischen Theokratie zu machen, wie er sich aus den neueren Untersuchungen, besonders A. Remusats, ergibt. Die ersten Vorsteher der buddistischen Kirche waren eine Art Patriarchen, in welchen die Seele des Budda fortlebte und die man als seine wirklichen Nachfolger ansah. Als späterhin der Buddismus genöthigt wurde Indien zu verlassen, und mit reißender Schnelligkeit nach China, Siam, Targum, Japan und in die Tartarei sich verbreitete, fanden die Fürsten, welche diese Religion angenommen hatten, glorreich, Oberhäupter des buddistischen Glaubens an ihren Höfen zu besitzen, und die Titel "Lehrer des Reichs, Fürst der Lehre oder des Glaubens" wurden an einheimische und ausländische Geistliche verliehen, je nachdem einer geeignet dazu schien. Auf diese Art bildete sich die Hierarchie unter dem Einfluß der Politik, und jederzeit nur das politische Uebergewicht eines Fürsten ertheilte einem der lebenden Buddas die geistliche Oberherrlichkeit. Aber der eigentliche Ursprung der tibetanischen Theokratie schreibt sich erst aus dem dreizehnten Jahrhundert, und zwar von den Eroberungen Dschingiskhans und seiner ersten Nachfolger her. Nie hatte ein Fürst des Orients über so weite Länder geherrscht als Dschingis, dessen Feldherrn zugleich Japan und Aegypten, Java und Schlesien bedrohten. Natürlich also erhielten auch die Fürsten des Glaubens nun höhere Titel. Der erste Budda wurde zum Königsrang erhoben, und weil der erste zufällig ein Tibetaner war, so wurden ihm seine Domänen in Tibet angewiesen. Der erste jedoch, der den Rang und Titel eines Großlama trug, erhielt ihn von einem Enkel des großen Eroberers; der Titel Dalailama ist sogar noch um einige Jahrhundert später als Dschingiskhan und erst um die Zeit Franz I. von Frankreich aufgekommen. Es bedeutet der Lama, der wie das Weltall ist, der universelle Lama, womit nicht seine wirkliche Macht, die nie weder sehr ausgedehnt noch eine vollkommen unabhängige war, sondern die Größe seiner geistigen, übernatürlichen Vollkommenheit angedeutet wird, welche begreiflicherweise die Eifersucht der tartarischen und chinesischen Fürsten nicht erregen konnte. Um die Zeit, als die buddistischen Patriarchen ihren Sitz in Tibet nahmen, waren die benachbarten Gegenden der Tartarei voll von Christen. Nestorianer hatten dort Metropolen gegründet und ganze Völkerschaften bekehrt. Die Eroberungen des Dschingis riefen Fremde aus allen Ländern dorthin. Der heilige Ludwig und der Papst sendeten um dieselbe Zeit katholische Priester in jene Gegenden, welche kirchliche Ornamente, Altäre, Reliquien u.s.w. mit sich führten und die Ceremonien ihres Cultus in Gegenwart der tartarischen Prinzen celebrirten. Syrische, römische, schismatische Christen, Muselmänner und Götzendiener lebten damals untereinander am Hofe der mongolischen Kaiser, die sich im höchsten Grade tolerant erwiesen. Unter diesen Umständen wurde der neue Sitz der buddistischen Patriarchen in Tibet gegründet. Es ist nicht zu verwundern, wenn sie - bemüht die Pracht ihres Cultus zu erhöhen - einige liturgische Gebräuche, vielleicht selbst einige von den Einrichtungen des Occidents einführten, die ihnen die Abgesandten der Päpste angerühmt hatten. Seitdem die chinesischen Kaiser von der Mandschu-Dynastie mit ihren Armeen in Tibet eindrangen, die festesten Positionen militärisch besetzten, und Militärcommandos beauftragt waren, den oft gestörten Frieden in der tibetanischen Hierarchie zu erhalten, ist das Haupt derselben völlig in dem Verhältniß eines Vasallen, obgleich das Collegium des Ritus ihm erlaubte, sich "den durch sich selbst lebenden Budda" zu nennen und die prachtvollsten Titel zu führen. Bei dem vor einigen Jahren erfolgten Tode des letzten Großlama behaupteten die Tibetaner, dieser habe seine Seele einem in Tibet geborenen Kind hinterlassen. Die kaiserlichen Minister in Peking dagegen erklärten, versichert zu seyn, daß der Verstorbene bereits in der Person eines jungen Prinzen der kaiserlichen Familie wiedergeboren sey. Unstreitig haben sie dieß durchgesetzt, und man sieht also dadurch das Großpriesterthum von Tibet gänzlich der weltlichen Macht von China untergeordnet. Wenn man übrigens den Zustand jener Gegenden betrachtet, so kann man nicht umhin zu erkennen, daß die buddistische Religion der Menschheit einen wesentlichen Dienst geleistet hat. Sie eigentlich ist es, welche die Sitten der tartarischen Nomaden friedlich gemacht hat; ihre Apostel wagten es zuerst, dem wilden Eroberer von Moral zu sprechen; ihr ist zu danken, daß sie Asien und Europa nicht mehr bedrohen. Zur Zeit des Dschingis waren die Völker von türkischer und mongolischer Abkunft, welche seine Gewalt eine Zeit lang vereinigt hatte, gleich wild. Die ersten hat der Islam, dem sie anhängig blieben, nicht verändert, im Gegentheil hat der Fanatismus einer intoleranten Religion ihre natürliche Neigung zu Raub und Mord nur erhöht. Die mongolischen Nationen, die nacheinander den lamaischen Cultus annahmen, haben ihre Sitten völlig verändert. Ebenso friedlich, als zuvor kriegerisch, sieht man bei ihnen außer ihren Heerden, die ihre Hauptbeschäftigung sind, Klöster, Bücher, ja Büchersammlungen; selbst Druckereien fanden sich unter ihnen. Freilich muß man die Hauptursache der Bezähmung der mongolischen Race in der entnervenden Wirkung suchen, welche diese von Indien aus verbreitete, contemplative, unspeculative, das unthätige Leben begünstigende Religion überall hin mit sich bringt. Der Buddismus führt uns also jetzt nach Indien und damit in den Zusammenhang unserer Entwicklung zurück. |
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# | Year | Bibliographical Data | Type / Abbreviation | Linked Data |
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1 | 1670 | Hagdorn, Christian W. Aequan, oder der Grosse Mogol : das ist Chinesische und Indische Stahts- Kriegs- und Liebes-geschichte. In unterschiedliche Teile verfasset durch Christ. W. Hagdorn ; duchgehents mit viel schönen Kupferstücken verziert. (Amsterdam : Bey Jacob von Mörs, 1670). | Publication / HagCh1 |
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2 | 1784-1791 | Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1-4. (Riga : Hartknoch, 1784-1791). [Bd. 3 (1787) enthält das Kapitel Sina und Tibet]. | Publication / Herd1 |
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3 | 1803 | Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches. In : Adrastea. Bd. 4. (1803). | Publication / Herd3 |
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4 | 1898 | Mehring, Franz. Kiautschou. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit (1898). [Jiaozhou (Shandong)]. | Publication / Mehr1 |
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5 | 1900 |
Mehring, Franz. Die reifende Ernte. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit ; Jg. 18. Bd. 2. 1899-1900. https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/mehring /1900/franz-mehring-die-reifende-ernte. |
Publication / Mehr2 |
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