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“Philosophischer Sinismus : Herder, Hegel, Karl Marx und Max Weber” (Publication, 1998)

Year

1998

Text

Hsia, Adrian. Philosophischer Sinismus : Herder, Hegel, Karl Marx und Max Weber. In : Komparative Philosophie : Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen. Hrsg. von Rolf Elberfeld, Johann Kreuzer, John Minford, Günter Wohlfahrt. (München : Fink, 1998). (Schriften der Académie du Midi ; Bd. 4). (Hsia30)

Type

Publication

Mentioned People (4)

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  (Stuttgart 1770-1831 Berlin) : Philosoph

Herder, Johann Gottfried  (Mohrungen 1744-1803 Weimar) : Philosoph, Theologe

Marx, Karl  (Trier 1818-1883 London) : Philosoph, Politiker, Marxist, Publizist

Weber, Max  (Erfurt 1864-1920 München) : Wirtschaftwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Professor fur Handelsrecht Universität Berlin, Professor für Nationalökonomie Universität Freiburg i.B. und Heidelberg, Professor für Soziologie Universität Wien, Professor für Nationalökonomie Universität München

Subjects

Philosophy : Europe : Germany / References / Sources

Chronology Entries (2)

# Year Text Linked Data
1 1821-1831.1 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte : Die orientalische Welt [ID D17264]. Vorlesungen 1821/22-1830/31 in Berlin.
Sekundärliteratur siehe Extra-Eintrag

Quellen :
Mailla, Joseph-Anne-Marie de Moyriac de. Histoire générale de la Chine [ID D1868].
Mémoires concernant l'histoire, les sciences, les arts, les moeurs, les usages, & c. des chinois [ID D1867].
Zhu, Xi. Tong jian gang mu.
Grosier, Jean Baptiste Gabriel Alexandre. Description générale de la Chine [ID D1878].
Iu-kiao-li. Trad. par Jean-Pierre Abel-Rémusat. [ID D5232].
Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899].
Kircher, Athanasius. China illustrata [ID D1712].
The imperial epistle from Kien Long, emperor of China, to George the third, king of Great Britain [ID D7549].
Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899].
Ellis, Henry Sir. Journal of the proceedings of the late embassy to China [Amherst] [ID D1944].
La Barbinais le Gentil. Nouveau voyage autour du monde [ID D1816].
Anson, George. A voyage round the world [ID D1897].
Gaubil, Antoine ; Guignes, Joseph de. Le Chou-king [ID D1856].
Marshman, Joshua. The works of Confucius : Lun yu [ID D1909].
Du Halde, Jean-Baptiste. Description géographique... [ID D1819].
Ritter, Carl. Die Erdkunde [ID D2045].

Hegel schreibt :
Wir haben die Aufgabe, mit der orientalischen Welt zu beginnen, und zwar insofern wir Staaten in derselben sehen. Die Verbreitung der Sprache und die Ausbildung der Völkerschaften liegt jenseits der Geschichte. Die Geschichte ist prosaisch, und Mythen enthalten noch keine Geschichte. Das Bewußtsein des äußerlichen Daseins tritt erst ein mit abstrakten Bestimmungen, und sowie die Fähigkeit vorhanden ist Gesetze auszudrücken, so tritt auch die Möglichkeit ein, die Gegenstände prosaisch aufzufassen. Indem das Vorgeschichtliche das ist, was dem Staatsleben vorangeht, liegt es jenseits des selbstbewußten Lebens, und wenn Ahnungen und Vermutungen hier aufgestellt werden, so sind dieses noch keine Fakta. Die orientalische Welt hat als ihr näheres Prinzip die Substantialität des Sittlichen. Es ist die erste Bemächtigung der Willkür, die in dieser Substantialität versinkt. Die sittlichen Bestimmungen sind als Gesetze ausgesprochen, aber so, daß der subjektive Wille von den Gesetzen als von einer äußerlichen Macht regiert wird, daß alles Innerliche, Gesinnung, Gewissen, formelle Freiheit nicht vorhanden ist, und daß insofern die Gesetze nur auf eine äußerliche Weise ausgeübt werden und nur als Zwangsrechtbestehen. Unser Zivilrecht enthält zwar auch Zwangspflichten: ich kann zum Herausgeben eines fremden Eigentums, zum Halten eines geschlossenen Vertrages angehalten werden; aber das Sittliche liegt doch bei uns nicht allein im Zwange, sondern im Gemüte und in der Mitempfindung. Dieses wird im Orient ebenfalls äußerlich anbefohlen, und wenn auch der Inhalt der Sittlichkeit ganz richtig angeordnet ist, so ist doch das Innerliche äußerlich gemacht. Es fehlt nicht an dem Willen, der es befiehlt, wohl aber an dem, welcher es darum tut, weil es innerlich geboten ist. Weil der Geist die Innerlichkeit noch nicht erlangt hat, so zeigt er sich überhaupt nur als natürliche Geistigkeit. Wie Äußerliches und Innerliches, Gesetz und Einsicht noch eins sind, so ist es auch die Religion und der Staat. Die Verfassung ist im ganzen Theokratie, und das Reich Gottes ist ebenso weltliches Reich, als das weltliche Reich nicht minder göttlich ist. Was wir Gott nennen, ist im Orient noch nicht zum Bewußtsein gekommen, denn unser Gott tritt erst in der Erhebung zum Obersinnlichen ein, und wenn wir gehorchen, weil wir das, was wir tun, aus uns selbst nehmen, so ist dort das Gesetz das Geltende an sich, ohne dieses subjektiven Dazutretens zu bedürfen. Der Mensch hat darin nicht die Anschauung seines eignen, sondern eines ihm durchaus fremden Wollens.

Von den einzelnen Teilen Asiens haben wir schon als ungeschichtliche ausgeschieden: Hochasien, soweit und solange die Nomaden desselben nicht auf den geschichtlichen Boden heraustreten, und Sibirien. Die übrige asiatische Welt teilt sich in vier Terrains: Erstens die Stromebenen, gebildet durch den gelben und blauen Strom, und das Hochland Hinterasiens — China und die Mongolen...

Mit China und den Mongolen, dem Reiche der theokratischen Herrschaft, beginnt die Geschichte. Beide haben das Patriarchalische zu ihrem Prinzip, und zwar auf die Weise, daß es in China zu einem organisierten Systeme weltlichen Staatslebens entwickelt ist, während es bei den Mongolen sich in die Einfachheit eines geistigen, religiösen Reichs zusammennimmt. In China ist der Monarch Chef als Patriarch: die Staatsgesetze sind teils rechtliche, teils moralische, so daß das innerliche Gesetz, das Wissen des Subjekts vom Inhalte seines Wollens als seiner eignen Innerlichkeit, selbst als ein äußerliches Rechtsgebot vorhanden ist. Die Sphäre der Innerlichkeit kommt daher hier nicht zur Reife, da die moralischen Gesetze wie Staatsgesetze behandelt werden und das Rechtliche seinerseits den Schein des Moralischen erhält. Alles, was wir Subjektivität nennen, ist in dem Staatsoberhaupt zusammengenommen, der, was er bestimmt, zum Besten, Heil und Frommen des Ganzen tut. Diesem weltlichen Reiche steht nun als geistliches das mongolische gegenüber, dessen Oberhaupt der Lama ist, der als Gott verehrt wird. In diesem Reiche des Geistigen kommt es zu keinem weltlichen Staatsleben…

China
Mit dem Reiche China hat die Geschichte zu beginnen, denn es ist das älteste, soweit die Geschichte Nachricht gibt, und zwar ist sein Prinzip von solcher Substantialität, daß es zugleich das älteste und neueste für dieses Reich ist. Früh schon sehen wir China zu dem Zustande heranwachsen, in welchem es sich heute befindet; denn da der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt, so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wiedererscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte, als die Voraussetzung der Momente, deren Zusammenschließung erst ihr lebendiger Fortgang wird. Die Einheit von Substantialität und subjektiver Freiheit ist so ohne Unterschied und Gegensatz beider Seiten, daß eben dadurch die Substanz nicht vermag, zur Reflexion in sich, zur Subjektivität zu gelangen. Das Substantielle, das als Sittliches erscheint, herrscht somit nicht als Gesinnung des Subjekts, sondern als Despotie des Oberhauptes.

Kein Volk hat eine so bestimmt zusammenhängende Zahl von Geschichtschreibern wie das chinesische. Auch andre asiatische Völker haben uralte Traditionen, aber keine Geschichte. Die Vedas der Inder sind eine solche nicht, die Oberlieferungen der Araber sind uralt, aber sie beruhen nicht auf einem Staat und seiner Entwicklung. Dieser besteht aber in China und hat sich hier eigentümlich herausgestellt. Die chinesische Tradition steigt bis auf 3000 Jahre vor Christi Geburt hinauf und der Schu-king [Shu jing], das Grundbuch derselben, welches mit der Regierung des Yao beginnt, setzt diese 2357 Jahre vor Christi Geburt. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß auch die andern asiatischen Reiche in der Zeitrechnung weit hinaufführen. Nach der Berechnung eines Engländers geht die ägyptische Geschichte z.B. bis auf 2207 Jahre vor Christus, die assyrische bis auf 2221, die indische bis auf 2204 hinauf. Also bis auf ungefähr 2300 Jahre vor Christi Geburt steigen die Sagen in Ansehung der Hauptreiche des Orients. Wenn wir dies mit der Geschichte des Alten Testaments vergleichen, so sind, nach der gewöhnlichen Annahme, von der noachischen Sintflut bis auf Christus 2400 Jahre verflossen. Johannes von Müller hat aber gegen diese Zahl bedeutende Einwendungen gemacht. Er setzt die Sintflut in das Jahr 3473 vor Christus, also ungefähr um 1000 Jahre früher, indem er sich dabei nach der alexandrinischen Obersetzung der Mosaischen Bücher richtet. Ich bemerke dies nur darum, daß, wenn wir Daten von höherem Alter als 2400 Jahre vor Chr. begegnen und doch nichts von der Flut hören, uns das in bezug auf die Chronologie nicht weiter genieren darf.

Die Chinesen haben Ur- und Grundbücher, aus denen ihre Geschichte, ihre Verfassung und Religion erkannt werden kann. Die Vedas, die Mosaischen Urkunden sind ähnliche Bücher, wie auch die Homerischen Gesänge. Bei den Chinesen führen diese Bücher den Namen der Kings und machen die Grundlage aller ihrer Studien aus. Der Schu-king [Shu jing] enthält die Geschichte handelt von der Regierung der alten Könige und gibt die Befehle, die von diesem oder jenem Könige ausgegangen sind. Der Y-king [Yi jing] besteht aus Figuren, die man als Grundlagen der chinesischen Schrift angesehen hat, so wie man auch dieses Buch als Grundlage der chinesischen Meditation betrachtet. Denn es fängt mit den Abstraktionen der Einheit und Zweiheit an und handelt dann von konkreten Existenzen solcher abstrakten Gedankenformen. Der Schi-king [Shi jing] endlich ist das Buch der ältesten Lieder der verschiedensten Art. Alle hohen Beamten hatten früher den Auftrag, bei dem Jahresfeste alle in ihrer Provinz im Jahre gemachten Gedichte mitzubringen. Der Kaiser inmitten seines Tribunals war der Richter dieser Gedichte, und die für gut erkannten erhielten öffentliche Sanktion. Außer diesen drei Grundbüchern, die besonders verehrt und studiert werden, gibt es noch zwei andre, weniger wichtige, nämlich den Li-ki [Li ji] (auch Li-king), welcher die Gebräuche und das Zeremonial gegen den Kaiser und die Beamten enthält, mit einem Anhang Yo-king [Yue jing], welcher von der Musik handelt, und den Tschun-tsin [Chun qiu], die Chronik des Reiches Lu, wo Konfuzius auftrat. Diese Bücher sind die Grundlage der Geschichte, der Sitten und der Gesetze Chinas.

Dieses Reich hat schon früh die Aufmerksamkeit der Europäer auf sich gezogen, wenngleich nur unbestimmte Sagen davon vorhanden waren. Man bewundert es immer als ein Land, das, aus sich selbst entstanden, gar keinen Zusammenhang mit dem Auslande zu haben schien.

Im dreizehnten Jahrhunderte ergründete es ein Venetianer (Marco Polo) zum ersten Male, allein man hielt seine Aussagen für fabelhaft. Späterhin fand sich alles, was er über seine Ausdehnung und Größe ausgesagt hatte, vollkommen bestätigt. Nach der geringsten Annahme nämlich würde China 150 Millionen Menschen enthalten, nach einer andern 200 und nach der höchsten sogar 300 Millionen. Vom hohen Norden erstreckt es sich gegen Süden bis nach Indien, im Osten wird es durch das große Weltmeer begrenzt, und gegen Westen verbreitet es sich bis nach Persien nach dem Kaspischen Meere zu. Das eigentliche China ist übervölkert. An den beiden Strömen Hoang-ho [Huanghe] und Yangtse-kiang [Yangzi] halten sich mehrere Millionen Menschen auf, die auf Flößen ganz nach ihrer Bequemlichkeit eingerichtet leben. Die Bevölkerung, die durchaus organisierte und bis in die kleinsten Details hineingearbeitete Staatsverwaltung hat die Europäer in Erstaunen gesetzt, und hauptsächlich verwunderte die Genauigkeit, mit der die Geschichtswerke ausgeführt waren. In China gehören nämlich die Geschichtschreiber zu den höchsten Beamten. Zwei sich beständig in der Umgebung des Kaisers befindende Minister haben den Auftrag, alles, was der Kaiser tut, befiehlt und spricht, auf Zettel zu schreiben, die dann von den Geschichtschreibern verarbeitet und benutzt werden. Wir können uns freilich in die Einzelheiten dieser Geschichte weiter nicht einlassen, die, da sie selbst nichts entwickelt, uns in unsrer Entwicklung hemmen würde. Sie geht in die ganz alten Zeiten hinauf, wo als Kulturspender Fohi genannt wird, der zuerst eine Zivilisation über China verbreitete. Er soll im 29. Jahrhundert vor Christus gelebt haben, also vor der Zeit, in welcher der Schu-king anfängt; aber das Mythische und Vorgeschichtliche wird von den chinesischen Geschichtsschreibern ganz wie etwas Geschichtliches behandelt.

Der erste Boden der chinesischen Geschichte ist der nordwestliche Winkel, das eigentliche China, gegen den Punkt hin, wo der Hoang-ho von dem Gebirge herunterkommt; denn erst späterhin erweiterte sich das chinesische Reich gegen Süden, nach dem Yang-tse-kiang zu. Die Erzählung beginnt mit dem Zustande, wo die Menschen in der Wildheit, das heißt in den Wäldern, gelebt, sich von den Früchten der Erde genährt und mit den Fellen wilder Tiere bekleidet haben. Keine Kenntnis von bestimmten Gesetzen war unter ihnen. Dem Fohi (wohl zu unterscheiden von Fo, dem Stifter einer neuen Religion,) wird es zugeschrieben, dass er die Menschen gelehrt habe, sich Hütten zu bauen und Wohnungen zu machen; er habe ihre Aufmerksamkeit an den Wechsel und die Wiederkehr der Jahreszeiten gelenkt, Tausch und Handel eingeführt, das Ehegesetz begründet; er habe gelehrt, dass die Vernunft vom Himmel komme, und Unterricht in der Seidenzucht, im Brückenbau und in dem Gebrauch von Lasttieren erteilt. Über alle diese Anfänge lassen sich die chinesischen Geschichtsschreiber sehr weitläufig aus. Die weitere Geschichte ist dann die Ausbreitung der entstandenen Gesittung nach Süden zu und das Beginnen eines Staates und einer Regierung. Das große Reich, das sich so nach und nach gebildet hatte, zerfiel bald in mehrere Provinzen, die lange Kriege miteinander führten und sich dann wieder zu einem Ganzen vereinigten. Die Dynastien haben in China oft gewechselt, und die jetzt herrschende wird in der Regel als die 22. bezeichnet. Im Zusammenhang mit dem Auf- und Abgehen dieser Herrschergeschlechter wechselten auch die verschiedenen Hauptstädte, die sich in diesem Reiche finden. Lange Zeit war Nanking die Hauptstadt, jetzt ist es Peking, früher waren es noch andre Städte. Viele Kriege hat China mit den Tataren führen müssen, die weit ins Land eindrangen. Den Einfällen der nördlichen Nomaden wurde die von Schi-hoang-ti erbaute lange Mauer entgegengesetzt, welche immer als Wunderwerk betrachtet worden ist. Dieser Fürst hat das ganze Reich in 36 Provinzen geteilt und ist auch dadurch besonders merkwürdig, dass er die alte Literatur und namentlich die Geschichtsbücher und die geschichtlichen Bestrebungen überhaupt verfolgte. Es geschah dieses in der Absicht, die eigne Dynastie zu befestigen durch die Vernichtung des Andenkens der früheren. Nachdem die Geschichtsbücher zusammengehäuft und verbrannt waren, flüchteten sich mehrere hundert Gelehrte auf die Berge, um das, was ihnen an Werken noch übrigblieb, zu erhalten. Jeder von ihnen, der aufgegriffen wurde, hatte ein gleiches Schicksal wie die Bücher. Dieses Bücherverbrennen ist ein sehr wichtiger Umstand, denn trotz demselben haben sich die eigentlichen kanonischen Bücher dennoch erhalten, wie dies überall der Fall ist. Die Verbindung Chinas mit dem Abendland fällt ungefähr in das Jahr 64 nach Christi Geburt. Damals sandte, so heißt es, ein chinesischer Kaiser Gesandte ab, die Weisen des Abendlandes zu besuchen. Zwanzig Jahre später soll ein chinesischer General bis Judäa vorgedrungen sein; im Anfange des achten Jahrhunderts nach Christi Geburt seien die ersten Christen nach China gekommen, wovon spätere Ankömmlinge noch Spuren und Denkmale gefunden haben wollen. Ein im Norden Chinas bestehendes tatarisches Königreich Lyau-tong sei mit Hilfe der westlichen Tataren um 1100 von den Chinesen zerstört und überwunden worden, was jedoch eben diesen Tataren die Gelegenheit gab, festen Fuß in China zu fassen. Auf gleiche Weise habe man den Mandschus Wohnsitze eingeräumt, mit denen man im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Krieg geriet, infolge welcher sich die jetzige Dynastie des Thrones bemächtigte. Eine weitere Veränderung hat jedoch diese neue Herrscherfamilie, so wenig als die frühere Eroberung der Mongolen im J. 1281, im Land nicht hervorgebracht. Die Mandschus, die in China leben, müssen sich genau in die chinesischen Gesetze und Wissenschaften einstudieren.

Wir gehen nunmehr von diesen wenigen Daten der chinesischen Geschichte zur Betrachtung des Geistes der immer gleichgebliebenen Verfassung über. Er ergibt sich aus dem allgemeinen Prinzipe. Dieses ist nämlich die unmittelbare Einheit des substantiellen Geistes und des Individuellen; das aber ist der Familiengeist, welcher hier auf das volkreichste Land ausgedehnt ist. Das Moment der Subjektivität, das will sagen, das sich in sich Reflektieren des einzelnen Willens gegen die Substanz als die ihn verzehrende Macht, oder das Gesetztsein dieser Macht als seiner eignen Wesenheit, in der er sich frei weiß, ist hier noch nicht vorhanden. Der allgemeine Wille betätigt sich unmittelbar durch den einzelnen: dieser hat gar kein Wissen seiner gegen die Substanz, die er sich noch nicht als Macht gegen sich setzt, wie z.B. im Judentum der eifrige Gott als die Negation des Einzelnen gewußt wird. Der allgemeine Wille sagt hier in China unmittelbar, was der Einzelne tun solle, und dieser folgt und gehorcht ebenso reflexions- und selbstlos. Gehorcht er nicht, tritt er somit aus der Substanz heraus, so wird er, da dieses Heraustreten nicht durch ein Insichgehen vermittelt ist, auch nicht in der Strafe an der Innerlichkeit erfaßt, sondern an der äußerlichen Existenz. Das Moment der Subjektivität fehlt daher diesem Staatsganzen ebensosehr, als dieses auch anderseits gar nicht auf Gesinnung basiert ist. Denn die Substanz ist unmittelbar ein Subjekt, der Kaiser, dessen Gesetz die Gesinnung ausmacht. Trotzdem ist dieser Mangel an Gesinnung nicht Willkür, welche selber schon wieder gesinnungsvoll, das heißt subjektiv und beweglich wäre, sondern es ist hier das Allgemeine geltend, die Substanz, die noch undurchweicht sich selber allein gleich ist.

Dieses Verhältnis nun näher und der Vorstellung gemäßer ausgedrückt ist die Familie. Auf dieser sittlichen Verbindung allein beruht der chinesische Staat, und die objektive Familienpietät ist es, welche ihn bezeichnet. Die Chinesen wissen sich als zu ihrer Familie gehörig und zugleich als Söhne des Staates. In der Familie selbst sind sie keine Personen, denn die substantielle Einheit, in welcher sie sich darin befinden, ist die Einheit des Blutes und der Natürlichkeit. Im Staate sind sie es ebensowenig, denn es ist darin das patriarchalische Verhältnis vorherrschend, und die Regierung beruht auf der Ausübung der väterlichen Vorsorge des Kaisers, der alles in Ordnung hält. Als hochgeehrte und unwandelbare Grundverhältnisse werden im Schu-king [Shu jing] fünf Pflichten angegeben: 1) die des Kaisers und des Volkes gegeneinander, 2) des Vaters und der Kinder 3) des älteren und des jüngeren Bruders, 4) des Mannes und der Frau, 5) des Freundes gegen den Freund. Es mag hier gelegentlich bemerkt werden, daß die Zahl fünf überhaupt bei den Chinesen etwas Festes ist und ebensooft wie bei uns die Zahl drei vorkommt, sie haben fünf Naturelemente, Luft, Wasser, Erde, Metall und Holz, sie nehmen vier Himmelsgegenden und die Mitte an, heilige Orte, wo Altäre errichtet sind, bestehen aus vier Hügeln und einem in der Mitte.

Die Pflichten der Familie gelten schlechthin, und es wird gesetzlich auf dieselben gehalten. Der Sohn darf den Vater nicht anreden, wenn er in den Saal tritt, er muß sich an der Seite der Türe gleichsam eindrücken und kann die Stube nicht ohne Erlaubnis des Vaters verlassen. Wenn der Vater stirbt, so muß der Sohn drei Jahre lang trauern, ohne Fleischspeisen und Wein zu sich zu nehmen; die Geschäfte, denen er sich widmete, selbst die Staatsgeschäfte stocken, denn er muß sich von denselben entfernen; der eben zur Regierung kommende Kaiser selbst widmet sich während dieser Zeit seinen Regierungsarbeiten nicht. Keine Heirat darf während der Trauerzeit in der Familie geschlossen werden. Erst das fünfzigste Lebensjahr befreit von der überaus großen Strenge der Trauer, damit der Leidtragende nicht mager werde; das sechzigste mildert sie noch mehr, und das siebzigste beschränkt sie gänzlich auf die Farbe der Kleider. Die Mutter wird ebensosehr wie der Vater verehrt. Als Lord Macartney den Kaiser sah, war dieser achtundsechzig Jahre alt (sechzig Jahre ist bei den Chinesen eine feste Zahl wie bei uns hundert), dessenungeachtet besuchte er seine Mutter alle Morgen zu Fuß, um ihr seine Ehrfurcht zu beweisen. Die Neujahrsgratulationen finden sogar bei der Mutter des Kaisers statt, und der Kaiser kann die Huldigungen der Großen des Hofes erst empfangen, nachdem er die seinigen seiner Mutter gebracht. Die Mutter bleibt stets die erste und beständige Ratgeberin des Kaisers, und alles, was die Familie betrifft, wird in ihrem Namen bekanntgemacht. Die Verdienste des Sohnes werden nicht diesem, sondern dem Vater zugerechnet. Als ein Premierminister einst den Kaiser bat, seinem verstorbenen Vater Ehrentitel zu geben, so ließ der Kaiser eine Urkunde ausstellen, worin es hieß: "Eine Hungersnot verwüstete das Reich: Dein Vater gab Reis den Bedürftigen. Welche Wohltätigkeit! Das Reich war am Rande des Verderbens: Dein Vater verteidigte es mit der Gefahr seines Lebens. Welche Treue! Die Verwaltung des Reiches war deinem Vater anvertraut: Er machte vortreffliche Gesetze, erhielt Friede und Eintracht mit den benachbarten Fürsten und behauptete die Rechte meiner Krone. Welche Weisheit! Also der Ehrentitel, den ich ihm verleihe, ist: Wohltätig, treu und weise". Der Sohn hatte alles das getan, was hier dem Vater zugeschrieben wird. Auf diese Weise gelangen die Voreltern (umgekehrt wie bei uns) durch ihre Nachkommen zu Ehrentiteln. Dafür ist aber auch jeder Familienvater für die Vergehen seiner Deszendenten verantwortlich. Es gibt Pflichten von unten nach oben, aber keine eigentlich von oben nach unten.

Ein Hauptbestreben der Chinesen ist es, Kinder zu haben, die ihnen die Ehre des Begräbnisses erweisen können, das Gedächtnis nach dem Tode ehren und das Grab schmücken. Wenn auch ein Chinese mehrere Frauen haben darf, so ist doch nur eine die Hausfrau, und die Kinder der Nebenfrauen haben diese durchaus als Mutter zu ehren. In dem Falle, daß ein Chinese von allen seinen Frauen keine Kinder erzielte, würde er zur Adoption schreiten können, eben wegen der Ehre nach dem Tode. Denn es ist eine unerläßliche Bedingung, daß das Grab der Eltern jährlich besucht werde. Hier werden altjährig die Wehklagen erneut, und manche, um ihrem Schmerz vollen Lauf zu lassen, verweilen bisweilen ein bis zwei Monate daselbst. Der Leichnam des eben verstorbenen Vaters wird oft drei bis vier Monate im Hause behalten, und während dieser Zeit darf keiner sich auf einen Stuhl setzen und im Bette schlafen. Jede Familie in China hat einen Saal der Vorfahren, wo sich alle Mitglieder derselben alle Jahre versammeln; daselbst sind die Bildnisse derer aufgestellt, die hohe Würden bekleidet haben, und die Namen der Männer und Frauen, welche weniger wichtig für die Familie waren, sind auf Täfelchen geschrieben die ganze Familie speist dann zusammen, und die Ärmeren werden von den Reicheren bewirtet. Man erzählt, daß, als ein Mandarin, der Christ geworden war, seine Voreltern auf diese Weise zu ehren aufgehört hatte, er sich großen Verfolgungen von seiten seiner Familie aussetzte. Ebenso genau wie die Verhältnisse zwischen dem Vater und den Kindern sind auch die zwischen dem älteren Bruder und den jüngeren Brüdern bestimmt. Die ersteren haben, obgleich im minderen Grade, doch Ansprüche auf Verehrung.

Diese Familiengrundlage ist auch die Grundlage der Verfassung, wenn man von einer solchen sprechen will. Denn obschon der Kaiser das Recht eines Monarchen hat, der an der Spitze eines Staatsganzen steht, so übt er es doch in der Weise eines Vaters über seine Kinder aus. Er ist Patriarch, und auf ihn gehäuft ist alles, was im Staate auf Ehrfurcht Anspruch machen kann. Denn der Kaiser ist ebenso Chef der Religion und der Wissenschaft, wovon später noch ausführlich die Rede sein wird. - Diese väterliche Fürsorge des Kaisers und der Geist seiner Untertanen, als Kinder, die aus dem moralischen Familienkreise nicht heraustreten und keine selbständige und bürgerliche Freiheit für sich gewinnen können, macht das Ganze zu einem Reiche, Regierung und Benehmen, das zugleich moralisch und schlechthin prosaisch ist, d.h. verständig ohne freie Vernunft und Phantasie.

Die höchste Ehrfurcht muß dem Kaiser erwiesen werden. Durch sein Verhältnis ist er persönlich zu regieren genötigt und muß selbst die Gesetze und Angelegenheiten des Reiches kennen und leiten, wenn auch die Tribunale die Geschäfte erleichtern. Trotzdem hat seine bloße Willkür wenig Spielraum, denn alles geschieht auf Grund alter Reichsmaximen, und seine fortwährend zügelnde Aufsicht ist nicht minder notwendig. Die kaiserlichen Prinzen werden daher aufs strengste erzogen, ihr Körper wird abgehärtet, und die Wissenschaften sind von früh auf ihre Beschäftigung. Unter der Aufsicht des Kaisers wird ihre Erziehung geleitet, und früh wird ihnen gezeigt, daß der Kaiser das Haupt des Reiches sei und in allem auch als der Erste und Beste erscheinen müsse. Jährlich werden die Prinzen geprüft und darüber eine weitläufige Deklaration an das ganze Reich erlassen, welches den ungemeinsten Anteil an diesen Angelegenheiten nimmt. So ist China dazu gekommen, die größten und besten Regenten zu erhalten, auf welche der Ausdruck salomonische Weisheit anwendbar wäre, und besonders die jetzige Mandschudynastie hat sich durch Geist und körperliche Geschicklichkeit ausgezeichnet. Alle Ideale von Fürsten und von Fürstenerziehung, dergleichen seit dem Telemaque von Fenelon so vielfach aufgestellt worden, haben hier ihre Stelle. In Europa kann's keine Salomos geben. Hier aber ist der Boden und die Notwendigkeit von solcher Regierungen, insofern als die Gerechtigkeit, der Wohlstand, die Sicherheit des Ganzen auf dem einen Impuls des obersten Gliedes der ganzen Kette der Hierarchie beruht. Das Benehmen des Kaisers wird uns als höchst einfach, natürlich, edel und verständig geschildert, ohne stummen Stolz, Widrigkeit der Äußerungen und Vornehmtun lebt er im Bewußtsein seiner Würde und in der Ausübung seiner Pflichten, wozu er von Jugend auf ist angehalten worden. Außer dem Kaiser gibt es eigentlich keinen ausgezeichneten Stand, keinen Adel bei den Chinesen. Nur die Prinzen vom Hause und die Söhne der Minister haben einigen Vorrang, mehr durch ihre Stellung als durch ihre Geburt. Sonst gelten alle gleich, und nur diejenigen haben Anteil an der Verwaltung, die die Geschicklichkeit dazu besitzen. Die Würden werden so von den wissenschaftlich Gebildetsten bekleidet. Daher ist oft der chinesische Staat als ein Ideal aufgestellt worden, das uns sogar zum Muster dienen sollte.

Das Weitere ist die Reichsverwaltung. Von einer Verfassung kann hier nicht gesprochen werden, denn darunter wäre zu verstehen, daß Individuen und Korporationen selbständige Rechte hätten, teils in Beziehung auf ihre besonderen Interessen, teils in Beziehung auf den ganzen Staat. Dieses Moment muß hier fehlen, und es kann nur von einer Reichsverwaltung die Rede sein. In China ist das Reich der absoluten Gleichheit, und alle Unterschiede, die bestehen, sind nur vermittelst der Reichsverwaltung möglich und durch die Würdigkeit, die sich jeder gibt, in dieser Verwaltung eine hohe Stufe zu erreichen. Weil in China Gleichheit, aber keine Freiheit herrscht, ist der Despotismus die notwendig gegebene Regierungsweise. Bei uns sind die Menschen nur vor dem Gesetz und in der Beziehung gleich, daß sie Eigentum haben, außerdem haben sie noch viele Interessen und viele Besonderheiten, die garantiert sein müssen, wenn Freiheit für uns vorhanden sein soll. Im chinesischen Reiche sind aber diese besonderen Interessen nicht für sich berechtigt, und die Regierung geht lediglich vom Kaiser aus, der sie als eine Hierarchie von Beamten oder Mandarinen betätigt. Von diesen gibt es zweierlei Arten, gelehrte und Kriegsmandarinen, welche letzteren unsre Offiziere sind. Die gelehrten Mandarinen sind die höheren, denn der Zivilstand überragt in China den Militärstand. Die Beamten werden auf den Schulen gebildet. Es sind Elementarschulen für die Erlangung von Elementarkenntnissen eingerichtet. Anstalten für die höhere Bildung, wie bei uns die Universitäten, sind wohl nicht vorhanden. Die, welche zu hohen Staatsämtern gelangen wollen, müssen mehrere Prüfungen bestehen, in der Regel drei. Zum dritten und letzten Examen, bei dem der Kaiser selbst gegenwärtig ist, kann nur zugelassen werden, wer das erste und zweite gut bestanden hat, und die Belohnung, wenn man dasselbe glücklich absolviert hat, ist die sofortige Zulassung in das höchste Reichskollegium. Die Wissenschaften, deren Kenntnis besonders verlangt wird, sind die Reichsgeschichte, die Rechtswissenschaft und die Kenntnis der Sitten und Gebräuche, sowie der Organisation und Administration. Außerdem sollen die Mandarine das Talent der Dichtkunst in äußerster Feinheit besitzen. Man kann dies besonders aus dem von Abel Remüsat [Abel-Rémusat] übersetzten Romane Ju-Kiao-Li [Yu jiao li] die beiden Cousinen, ersehen, es wird hier ein junger Mensch vorgeführt, der seine Studien absolviert hat und sich nun anstrengt, um zu hohen Würden zu gelangen. Auch die Offiziere in der Armee müssen Kenntnisse besitzen, auch sie werden geprüft; aber die Zivilbeamten stehen, wie schon gesagt worden ist, in weit höherem Ansehen. Bei den großen Festen erscheint der Kaiser mit einer Begleitung von zweitausend Doktoren, das heißt Zivilmandarinen, und ebensoviel Kriegsmandarinen. (Im ganzen chinesischen Staate sind nämlich gegen 15000 Zivil- und 20000 Kriegsmandarine.) Die Mandarine, die noch keine Anstellung erhalten haben, gehören dennoch zum Hofe, und bei den großen Festen, im Frühjahr und im Herbst, wo der Kaiser selbst die Furche zieht, müssen sie erscheinen. Diese Beamten sind in acht Klassen geteilt. Die ersten sind die um den Kaiser stehenden, dann folgen die Vizekönige und so weiter. Der Kaiser regiert durch die Behörden, welche meist aus Mandarinen zusammengesetzt sind. Das Reichskollegium ist die oberste Behörde, es besteht aus den gelehrtesten und geistreichsten Männern. Daraus werden die Präsidenten und andern Collegia gewählt. In den Regierungsangelegenheiten herrscht die größte Öffentlichkeit, die Beamten berichten an das Reichskollegium, und dieses legt dem Kaiser die Sache vor, dessen Entscheidung alsdann in der Hofzeitung bekanntgemacht wird. Oft klagt sich auch der Kaiser selbst wegen der Fehler an, die er begangen hat; und wenn seine Prinzen schlecht im Examen bestanden haben, so tadelt er sie laut. In jedem Ministerium und in den verschiedenen Teilen des Reiches ist ein Zensor Ko-tao, der an den Kaiser über alles Bericht erstatten muß, diese Zensoren werden nicht abgesetzt und sind sehr gefürchtet; sie führen über alles, was die Regierung betrifft, über die Geschäftsführung und das Privatbenehmen der Mandarinen eine strenge Aufsicht und berichten darüber unmittelbar an den Kaiser, auch haben sie das Recht, dem Kaiser Vorstellungen zu machen und ihn zu tadeln. Die chinesische Geschichte liefert viele Beispiele von dem Adel der Gesinnung und dem Mute dieser Ko-tao. So hatte ein Zensor einem tyrannischen Kaiser Vorstellungen gemacht, war aber hart zurückgewiesen worden. Er ließ sich indessen nicht irremachen, sondern verfügte sich abermals zum Kaiser, um seine Vorstellungen zu erneuern. Seinen Tod voraussehend, ließ er sich zugleich den Sarg mit hintragen, in dem er begraben sein wollte. Von andern Zensoren wird erzählt, daß sie von den Henkersknechten ganz zerfleischt, unvermögend einen Laut hervorzubringen, noch mit Blut ihre Bemerkungen in den Sand schrieben. Diese Zensoren bilden selbst wieder ein Tribunal, das die Aufsicht über das ganze Reich hat. Die Mandarinen sind verantwortlich auch für alles, was sie im Notfall unterlassen haben. Wenn eine Hungersnot, Krankheit, Verschwörung, religiöse Unruhe ausbricht, so haben sie zu berichten, aber nicht auf weitere Befehle der Regierung zu warten, sondern sogleich tätig einzugreifen. Das Ganze dieser Verwaltung ist also mit einem Netz von Beamten überspannt. Für die Aufsicht der Landstraßen, der Flüsse, der Meeresufer sind Beamte angestellt. Alles ist aufs genaueste angeordnet; besonders wird auf die Flüsse große Sorgfalt verwendet; im Schu-king [Shu jing] finden sich viele Verordnungen der Kaiser in dieser Hinsicht, um das Land vor Überschwemmungen zu sichern. Die Tore jeder Stadt sind mit Wachen besetzt, und die Straßen werden alle Nacht gesperrt. Die Beamten sind immer dem höheren Kollegium Rechenschaft schuldig. Jeder Mandarin hat ohnehin die Pflicht alle fünf Jahre seine begangenen Fehler anzuzeigen und die Treue seiner Darstellung wird durch das kontrollierende Institut der Zensoren verbürgt. Bei jedem groben unangegebenen Vergehen werden die Mandarine mit ihrer Familie auf das härteste bestraft.

Aus allem diesem erhellt, daß der Kaiser der Mittelpunkt ist, um den sich alles dreht, und zu dem alles zurückkehrt, und von dem Kaiser hängt somit das Wohl des Landes und des Volkes ab. Die ganze Hierarchie der Verwaltung ist mehr oder weniger nach einer Routine tätig, die im ruhigen Zustande eine bequeme Gewohnheit wird. Einförmig und gleichmäßig, wie der Gang der Natur, geht sie ihren Weg ein wie allemal nur der Kaiser soll die rege, immer wache und selbsttätige Seele sein. Wenn nun die Persönlichkeit des Kaisers nicht von der geschilderten Beschaffenheit ist, nämlich durchaus moralisch, arbeitsam und bei gehaltener Würde voller Energie, so läßt alles nach, und der Zustand der Regierung ist von oben bis unten gelähmt und der Nachlässigkeit und Willkür preisgegeben. Denn es ist keine andre rechtliche Macht oder Ordnung vorhanden als diese von oben spannende und beaufsichtigende Macht des Kaisers. Es ist nicht das eigne Gewissen, die eigne Ehre, die die Beamten zur Rechenschaft anhielte sondern das äußerliche Gebot und die strenge Aufreithaltung desselben. Bei der Revolution in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts war der letzte Kaiser der damals herrschenden Dynastie sehr sanftmütig und edel, aber bei seinem milden Charakter erschlafften die Zügel der Regierung, und es entstanden notwendigerweise Empörungen. Die Aufrührer riefen die Mandschu ins Land. Der Kaiser selbst entleibte sich, um den Feinden nicht in die Hände zu fallen, und mit seinem Blute schrieb er noch auf den Saum des Kleides seiner Tochter einige Worte, in welchen er sich über das Unrecht seiner Untertanen tief beklagte. Ein Mandarin, der bei ihm war, begrub ihn und brachte sich dann auf seinem Grabe um. Dasselbe taten die Kaiserin und ihr Gefolge; der letzte Prinz des kaiserlichen Hauses, welcher in einer entfernten Provinz belagert wurde, fiel in die Hände der Feinde und wurde hingerichtet. Alle noch um ihn seienden Mandarine starben einen freiwilligen Tod.

Gehen wir nun von der Reichsverwaltung zum Rechtszustande über, so sind durch das Prinzip der patriarchalischen Regierung die Untertanen für unmündig erklärt. Keine selbständigen Klassen oder Stände, wie in Indien, haben für sich Interessen zu beschützen, denn alles wird von obenher geleitet und beaufsichtigt. Alle Verhältnisse sind durch rechtliche Normen festbefohlen: die freie Empfindung, der moralische Standpunkt überhaupt ist dadurch gründlich getilgt. Wie die Familienglieder in ihren Empfindungen zueinander zu stehen haben, ist förmlich durch Gesetze bestimmt, und die Übertretung zieht zum Teil schwere Strafen nach sich. Das zweite hier zu berücksichtigende Moment ist die Äußerlichkeit des Familienverhältnisses, welches fast Sklaverei wird. Jeder kann sich und seine Kinder verkaufen, jeder Chinese kauft seine Frau. Nur die erste Frau ist eine Freie, die Konkubinen dagegen sind Sklavinnen und können wie die Kinder, wie jede andre Sache bei der Konfiskation in Beschlag genommen werden.

Ein drittes Moment ist, daß die Strafen meist körperliche Züchtigungen sind. Bei uns wäre dies entehrend, aber nicht so in China, wo das Gefühl der Ehre noch nicht ist. Eine Tracht Schläge ist am leichtesten verschmerzt, und doch das Härteste für den Mann von Ehre, der nicht für einen sinnlich Berührbaren gehalten werden will, sondern andre Seiten feinerer Empfindlichkeit hat. Die Chinesen aber kennen die Subjektivität der Ehre nicht; sie unterliegen mehr der Zucht als der Strafe, wie bei uns die Kinder; denn Zucht geht auf Besserung, Strafe involviert eine eigentliche Imputabilität. Bei der Züchtigung ist der Abhaltungsgrund nur Furcht vor der Strafe, nicht die Innerlichkeit des Unrechts, denn es ist hier noch nicht die Reflexion über die Natur der Handlung selbst vorauszusetzen. Bei den Chinesen nun werden alle Vergehen, sowohl die in der Familie als die im Staate, auf äußerliche Weise bestraft. Die Söhne, die es gegen den Vater oder die Mutter, die jüngeren Brüder, die es gegen die älteren an Ehrerbietung fehlen lassen, bekommen Stockprügel, und wenn sich ein Sohn beschweren wollte, daß ihm von seinem Vater, oder ein jüngerer Bruder, daß ihm von seinem älteren Unrecht widerfahren sei, so erhält er hundert Bambushiebe und wird auf drei Jahre verbannt, wenn das Recht auf seiner Seite ist, hat er aber Unrecht, so wird er stranguliert. Würde ein Sohn die Hand gegen seinen Vater aufheben, so ist er dazu verurteilt, daß ihm das Fleisch mit glühenden Zangen vom Leibe gerissen wird. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist, wie alle andren Familienverhältnisse, sehr hoch geachtet, und die Untreue, die jedoch wegen der Abgeschlossenheit der Weiber nur sehr selten vorkommen kann, wird hart gerügt. Eine ähnliche Rüge findet statt, wenn der Chinese zu einer seiner Nebenfrauen mehr Zuneigung als zu seiner eignen Hausfrau zeigt und diese ihn darob verklagt. - Jeder Mandarin kann in China Bambusschläge austeilen, und selbst die Höchsten und Vornehmsten, die Minister, Vizekönige, ja die Lieblinge des Kaisers selbst werden mit Bambusschlägen gezüchtigt. Hinterher ist der Kaiser ebensosehr wie früher ihr Freund, und sie selbst scheinen davon gar nicht ergriffen zu sein. Als einst die letzte englische Gesandtschaft in China von den Prinzen und ihrem Gefolge vom Palaste aus nach Hause geführt wurde, so hieb der Zeremonienmeister, um sich Platz zu machen, ohne weiteres auf alle Prinzen und Vornehme mit Peitschenhieben ein. Was die Imputation betrifft, so findet der Unterschied von Vorsatz bei der Tat und kulposem oder zufälligem Geschehen nicht statt, denn der Zufall ist ebenso imputabel als der Vorsatz, und der Tod wird verhängt, wenn man die zufällige Ursache des Todes eines Menschen ist. Dieses Nichtunterscheiden des Zufälligen und Vorsätzlichen veranlaßt die meisten Zwistigkeiten zwischen Engländern und Chinesen, denn wenn die Engländer von Chinesen angegriffen werden, wenn ein Kriegsschiff, das sich angegriffen glaubt, sich verteidigt und ein Chinese umkommt, so verlangen die Chinesen in der Regel, daß der Engländer, der geschossen hat, das Leben verlieren solle. Jeder, der mit dem Verbrechen auf irgendeine Weise zusammenhängt wird, zumal bei Verbrechen gegen den Kaiser, mit ins Verderben gerissen, die ganze höhere Familie wird zu Tode gemartert. Die Drucker einer verwerflichen Schrift, wie die, welche sie lesen, unterliegen auf gleiche Weise der Rache des Gesetzes. Es ist eigentümlich, welche Wendung aus solchem Verhältnis die Privatrachsucht nimmt. Von den Chinesen kann gesagt werden, daß sie gegen Beleidigungen höchst empfindlich und rachsüchtig seien. Um seine Rache zu befriedigen kann nun der Beleidigte seinen Gegner nicht ermorden, weil sonst die ganze Familie des Verbrechers hingerichtet würde, er tut sich also selbst ein Leid an, um dadurch den andern ins Verderben zu stürzen. Man hat in vielen Städten die Brunnenöffnungen verengen müssen, damit die Menschen sich nicht mehr darin ersäufen. Denn wenn jemand sich umgebracht hat, so befehlen die Gesetze, daß die strengste Untersuchung darüber angestellt werde, was die Ursache sei. Alle Feinde des Selbstmörders werden eingezogen und torquiert, und wird endlich der Beleidiger ausgemittelt, so wird er und seine ganze Familie hingerichtet. Der Chinese tötet in solchem Falle lieber sich als seinen Gegner, da er doch sterben muß, in dem ersten Falle aber noch die Ehre des Begräbnisses hat und die Hoffnung hegen darf, daß seine Familie das Vermögen des Gegners erhalten wird. Dies ist das fürchterliche Verhältnis bei der Imputation oder Nichtimputation, daß alle subjektive Freiheit und moralische Gegenwart bei einer Handlung negiert wird. In den Mosaischen Gesetzen, wo auch dolus, culpa und casus noch nicht genau unterschieden werden, ist doch für den kurposen Totschläger eine Freistatt eröffnet, in welche er sich begeben könne. Dabei gilt in China kein Ansehen des hohen oder niedrigen Ranges. Ein Feldherr des Reiches, der sich sehr ausgezeichnet hatte, wurde beim Kaiser verleumdet, und er bekam zur Strafe des Vergehens, dessen man ihn beschuldigte, das Amt, aufzupassen, wer den Schnee in den Gassen nicht wegkehre. - Bei den Rechtsverhältnissen sind auch noch die Veränderungen im Eigentumsrecht und die Einführung der Sklaverei, welche damit verbunden ist, zu erwähnen. Der Grund und Boden, worin das Hauptvermögen der Chinesen besteht, wurde erst spät als Staatseigentum betrachtet. Seit dieser Zeit wurde es festgesetzt, daß der neunte Teil alles Güterertrags dem Kaiser zukomme. Später entstand auch die Leibeigenschaft, deren Einsetzung man dem Kaiser Schi-hoang-ti [Shihuangdi] zugeschrieben hat, demselben, der im Jahre 213 v. Chr. Geburt die Mauer erbaute, der alle Schriften verbrennen ließ, welche die alten Rechte der Chinesen enthielten, und der viele unabhängige Fürstentümer von China unter seine Botmäßigkeit brachte. Seine Kriege eben machten, daß die eroberten Länder Privateigentum wurden und deren Einwohner leibeigen. Doch ist notwendig in China der Unterschied zwischen der Sklaverei und Freiheit nicht groß, da vor dem Kaiser alle gleich, das heißt, alle gleich degradiert sind. Indem keine Ehre vorhanden ist, und keiner ein besonderes Recht vor dem andern hat, so wird das Bewußtsein der Erniedrigung vorherrschend, das selbst leicht in ein Bewußtsein der Verworfenheit übergeht. Mit dieser Verworfenheit hängt die große Immoralität der Chinesen zusammen. Sie sind dafür bekannt, zu betrügen, wo sie nur irgend können; der Freund betrügt den Freund, und keiner nimmt es dem andern übel, wenn etwa der Betrug nicht gelang oder zu seiner Kenntnis kommt. Sie verfahren dabei auf eine listige und abgefeimte Weise, so daß sich die Europäer im Verkehr mit ihnen gewaltig in acht zu nehmen haben. Das Bewußtsein der moralischen Verworfenheit zeigt sich auch darin, daß die Religion des Fo so sehr verbreitet ist, welche als das Höchste und Absolute, als Gott, das Nichts ansieht und die Verachtung des Individuums als die höchste Vollendung aufstellt.

Wir kommen nun zur Betrachtung der religiösen Seite des chinesischen Staates. Im patriarchalischen Zustand ist die religiöse Erhebung des Menschen für sich einfache Moralität und Rechttun. Das Absolute ist selbst teils die abstrakte einfache Regel dieses Rechttuns, die ewige Gerechtigkeit, teils die Macht derselben. Außer diesen einfachen Bestimmungen fallen nun alle weiteren Beziehungen der natürlichen Welt zum Menschen, alle Forderungen des subjektiven Gemütes weg. Die Chinesen in ihrem patriarchalischen Despotismus bedürfen keiner solchen Vermittlung mit dem höchsten Wesen; denn die Erziehung, die Gesetze der Moralität und Höflichkeit, und dann die Befehle und Regierung des Kaisers enthalten dieselbe. Der Kaiser ist wie das Staatsoberhaupt so auch Chef der Religion. Dadurch ist hier die Religion wesentlich Staatsreligion. Von ihr muß man den Lamaismus unterscheiden, indem dieser nicht zum Staate ausgebildet ist, sondern die Religion als freies, geistiges, uninteressiertes Bewußtsein enthält. Jene chinesische Religion kann daher das nicht sein was wir Religion nennen. Denn uns ist dieselbe die Innerlichkeit des Geistes in sich, indem er sich in sich was sein Innerstes Wesen ist, vorstellt. In diesen Sphären ist also der Mensch auch dem Staatsverhältnis entzogen und vermag in die Innerlichkeit hineinflüchtend sich der Gewalt weltlichen Regiments zu entwinden. Auf dieser Stufe aber steht die Religion in China nicht, denn der wahre Glaube wird erst da möglich, wo die Individuen in sich selbst, für sich unabhängig von einer äußeren treibenden Gewalt sind. In China hat das Individuum keine Seite dieser Unabhängigkeit, es ist daher auch in der Religion abhängig, und zwar von Naturwesen, von welchen das Höchste der Himmel ist. Von diesen hängt Ernte, Jahreszeit, Gedeihen, Mißwachs ab. Der Kaiser, als die Spitze, als die Macht, nähert sich allein dem Himmel, nicht die Individuen als solche. Er ist es, der an den vier Festen die Opfer darbringt, an der Spitze des Hofes für die Ernte dankt und Segen für die Saaten herabfleht. Dieser Himmel nun könnte im Sinne unsres Gottes in der Bedeutung des Herrn der Natur genommen werden (wir sagen z.B., der Himmel behüte uns), aber so ist das Verhältnis in China noch nicht, denn hier ist das einzelne Selbstbewußtsein als substantielles, der Kaiser, selbst die Macht. Der Himmel hat daher nur die Bedeutung der Natur. Die Jesuiten gaben zwar in China nach, den christlichen Gott Himmel, Tien, zu nennen, sie wurden aber deshalb beim Papst von andern christlichen Orden verklagt, und der Papst sandte einen Kardinal hin, der dort starb; ein Bischof, der nachgeschickt wurde, verordnete statt Himmel solle Herr des Himmels gesagt werden. Das Verhältnis zum Tien wird nun auch so vorgestellt, als bringe das Wohlverhalten der Individuen und des Kaisers den Segen, ihre Vergehungen aber Not und alles Übel herbei. Es liegt in der chinesischen Religion insofern noch das Moment der Zauberei, als das Benehmen des Menschen das absolut Determinierende ist. Verhält sich der Kaiser gut, so kann es nicht anders als gut gehen, der Himmel muß Gutes geschehen lassen. Eine zweite Seite dieser Religion ist, daß, wie im Kaiser die allgemeine Seite des Verhältnisses zum Himmel liegt, derselbe auch die besondere Beziehung ganz in seinen Händen hat. Dies ist die partikulare Wohlfahrt der Individuen und Provinzen. Diese haben Genien (Schen), welche dem Kaiser unterworfen sind der nur die allgemeine Macht des Himmels verehrt während die einzelnen Geister des Naturreiches seinen Gesetzen folgen. So wird er also auch zugleich der eigentliche Gesetzgeber für den Himmel. Für die Genien, von denen jeder auf seine Weise verehrt wird sind Skulpturbilder festgesetzt. Es sind scheußliche Götzenbilder, die noch nicht Gegenstand der Kunst sind, weil nichts Geistiges darin sich darstellt. Sie sind daher nur erschreckend, furchtbar, negativ und wachen wie bei den Griechen die Flußgötter, die Nymphen und Dryaden, über die einzelnen Elemente und Naturgegenstände. Jedes der fünf Elemente hat seinen Genius und dieser ist durch eine besondere Farbe unterschieden. Auch die Herrschaft der den Thron von China behauptenden Dynastie hängt von einem Genius ab und zwar hat dieser die gelbe Farbe. Aber nicht minder besitzt jede Provinz und Stadt, jeder Berg und Fluß einen bestimmten Genius. Alle diese Geister stehen unter dem Kaiser, und in dem jährlich erscheinenden Reichsadreßbuche sind die Beamten wie die Genien verzeichnet, denen dieser Bach, dieser Fluß usw. anvertraut worden ist. Geschieht ein Unglück, so wird der Genius wie ein Mandarin abgesetzt. Die Genien haben unzählige Tempel (in Peking sind deren gegen 10000) mit einer Menge von Priestern und Klöstern. Diese Bonzen leben unverheiratet und werden in allen Nöten von den Chinesen um Rat gefragt. Außerdem aber werden weder sie noch die Tempel sehr geehrt Die englische Gesandtschaft des Lord Macartney wurde sogar in die Tempel einquartiert, da man dieselben wie Wirtshäuser braucht. Ein Kaiser hat viele Tausende solcher Klöster säkularisiert, die Bonzen ins bürgerliche Leben zurückzukehren genötigt und die Güter mit Abgaben belegt. Die Bonzen sagen wahr und beschwören; denn die Chinesen sind einem unendlichen Aberglauben ergeben: dieser beruht eben auf der Unselbständigkeit des Innern und setzt das Gegenteil von der Freiheit des Geistes voraus. Bei jedem Unternehmen - ist z.B. die Stelle eines Hauses oder eines Begräbnisplatzes und dergleichen zu bestimmen - werden die Wahrsager um Rat gefragt. Im Y-king [Yi jing] sind gewisse Linien angegeben, die die Grundformen und Grundkategorien bezeichnen, weshalb dieses Buch auch das Buch der Schicksale genannt wird. Der Kombination von solchen Linien wird eine gewisse Bedeutung zugeschrieben und die Prophezeiung dieser Grundlage entnommen. Oder eine Anzahl von Stäbchen wird in die Luft geworfen und aus der Art, wie sie fallen, das Schicksal vorherbestimmt. Was uns als zufällig gilt, als natürlicher Zusammenhang, das suchen die Chinesen durch Zauberei abzuleiten oder zu erreichen, und so spricht sich auch hier, ihre Geistlosigkeit aus.

Mit diesem Mangel eigentümlicher Innerlichkeit hängt auch die Bildung der chinesischen Wissenschaft zusammen. Wenn wir von den chinesischen Wissenschaften sprechen, so tritt uns ein großer Ruf hinsichtlich der Ausbildung und des Altertums derselben entgegen. Treten wir näher, so sehen wir, daß die Wissenschaften in sehr großer Verehrung, und zwar öffentlicher von der Regierung ausgehender Hochschätzung und Beförderung stehen. Der Kaiser selbst steht an der Spitze der Literatur. Ein eignes Kollegium redigiert die Dekrete des Kaisers, damit sie im besten Stile verfaßt seien, und so ist dieses denn auch eine wichtige Staatssache. Dieselbe Vollkommenheit des Stils müssen die Mandarine bei Bekanntmachungen beobachten, denn der Vortrefflichkeit des Inhalts soll auch die Form entsprechen. Eine der höchsten Staatsbehörden ist die Akademie der Wissenschaften. Die Mitglieder prüft der Kaiser selbst, sie wohnen im Palaste, sind teils Sekretäre, teils Reichsgeschichtschreiber, Physiker, Geographen. Wird irgendein Vorschlag zu einem neuen Gesetz gemacht, so muß die Akademie ihre Berichte einreichen. Sie muß die Geschichte der alten Einrichtungen einleitend geben, oder wenn die Sache mit dem Auslande in Verbindung steht, so wird eine Beschreibung dieser Länder erfordert. Zu den Werken, die hier verfaßt werden, macht der Kaiser selbst die Vorreden. Unter den letzten Kaisern hat sich besonders Kienlong [Qianlong] durch wissenschaftliche Kenntnisse ausgezeichnet: er selbst hat viel geschrieben, sich aber bei weitem mehr noch durch die Herausgabe der Hauptwerke Chinas hervorgetan. An der Spitze der Kommission, welche die Druckfehler verbessern mußte, stand ein kaiserlicher Prinz, und wenn das Werk durch alle Hände gegangen war, so kam es nochmals an den Kaiser zurück, der jeden Fehler, der begangen wurde, hart bestrafte.

Wenn so einerseits die Wissenschaften aufs höchste geehrt und gepflegt scheinen, so fehlt ihnen auf der andern Seite gerade jener freie Boden der Innerlichkeit und das eigentliche wissenschaftliche Interesse, das sie zu einer theoretischen Beschäftigung macht. Ein freies, ideelles Reich des Geistes hat hier nicht Platz, und das, was hier wissenschaftlich heißen kann, ist empirischer Natur und steht wesentlich im Dienste des Nützlichen für den Staat und für seine und der Individuen Bedürfnisse. Schon die Art der Schriftsprache ist ein großes Hindernis für die Ausbildung der Wissenschaften; oder vielmehr umgekehrt, weil das wahre wissenschaftliche Interesse nicht vorhanden ist, so haben die Chinesen kein besseres Instrument für die Darstellung und Mitteilung des Gedankens. Bekanntlich haben sie neben der Tonsprache eine solche Schriftsprache, welche nicht wie bei uns die einzelnen Töne bezeichnet, nicht die gesprochenen Worte vor das Auge hinstellt, sondern die Vorstellungen selbst durch Zeichen. Dies scheint nun zunächst ein großer Vorzug zu sein und hat vielen großen Männern, unter andern auch Leibniz imponiert; es ist aber gerade das Gegenteil von einem Vorzug. Denn betrachtet man zuerst die Wirkung solcher Schriftweise auf die Tonsprache. so ist diese bei den Chinesen, eben um jener Trennung willen, sehr unvollkommen. Denn unsre Tonsprache bildet sich vornehmlich dadurch zur Bestimmtheit aus, daß die Schrift für die einzelnen Laute Zeichen finden muß, die wir durchs Lesen bestimmt aussprechen lernen. Die Chinesen, welchen ein solches Bildungsmittel der Tonsprache fehlt, bilden deshalb die Modifikationen der Laute nicht zu bestimmten, durch Buchstaben und Silben darstellbaren Tönen aus. Ihre Tonsprache besteht aus einer nicht beträchtlichen Menge von einsilbigen Worten welche für mehr als eine Bedeutung gebraucht werden. Der Unterschied nun der Bedeutung wird allein teils durch den Zusammenhang, teils durch den Akzent, schnelles oder langsames, leiseres oder lauteres Aussprechen bewirkt. Die Ohren der Chinesen sind hierfür sehr fein gebildet. So finde ich, daß Po je nach dem Ton elf verschiedene Bedeutungen hat: Glas; sieden; Getreide; worfeln; zerspalten; wässern; zubereiten; ein alt Weib; Sklave; freigebiger Mensch; kluge Person; ein wenig. — Was nun die Schriftsprache betrifft, so will ich nur das Hindernis hervorheben, das in ihr für die Beförderung der Wissenschaften liegt. Unsre Schriftsprache ist sehr einfach zu lernen, indem wir die Tonsprache in etwa 25 Töne analysieren (und durch diese Analyse wird die Tonsprache bestimmt, die Menge möglicher Töne beschränkt, die unklaren Zwischentöne entfernt); wir haben nur diese Zeichen und ihre Zusammensetzung zu erlernen. Statt solcher 25 Zeichen haben die Chinesen viele Tausende zu lernen, man gibt die für den Gebrauch nötige Anzahl auf 9353 an, ja bis auf 10516, wenn man die neueingeführten hinzurechnet; und die Anzahl der Charaktere überhaupt, für die Vorstellungen und deren Verbindungen, soweit sie in den Büchern vorkommen, beläuft sich auf 80 bis 90 000. -

Was nun die Wissenschaften selbst angeht, so begreift die Geschichte der Chinesen nur die ganz bestimmten Fakta in sich, ohne alles Urteil und Räsonnement. Die Rechtswissenschaft gibt ebenso nur die bestimmten Gesetze und die Moral die bestimmten Pflichten an, ohne daß es um eine innere Begründung derselben zu tun wäre. Die Chinesen haben jedoch auch eine Philosophie. deren Grundbestimmungen sehr alt sind, wie denn schon der Y-king [Yi jing], das Buch der Schicksale, von dem Entstehen und Vergehen handelt. In diesem Buche finden sich die ganz abstrakten Ideen der Einheit und Zweiheit, und somit scheint die Philosophie der Chinesen von denselben Grundgedanken, wie die pythagoreische Lehre, auszugehen. Das Prinzip ist die Vernunft, Tao, diese allem zugrunde liegende Wesenheit, die alles bewirkt. Ihre Formen kennenzulernen, gilt auch bei den Chinesen als die höchste Wissenschaft; doch hat diese keinen Zusammenhang mit den Disziplinen, die den Staat näher betreffen. Die Werke des Lao-tse [Laozi] und namentlich sein Werk Tao-te-king [Dao de jing] sind berühmt. Konfuzius besuchte im sechsten Jahrhundert vor Christus diesen Philosophen, um ihm seine Ehrerbietung zu bezeigen. Wenn es nun auch jedem Chinesen freisteht, diese philosophischen Werke zu studieren, so gibt es Jods dazu eine besondere Sekte, die sich Tao-tse nennt oder Verehrer der Vernunft. Diese sondern sich von dem bürgerlichen Leben aus, und es mischt sich viel Schwärmerisches und Mystisches in ihre Vorstellungsweise. Sie glauben nämlich, wer die Vernunft kenne, der besitze ein allgemeines Mittel, das schlechthin für mächtig angesehen werden könne und eine übernatürliche Macht erteile, so daß man dadurch fähig wäre, sich zum Himmel zu erheben und niemals dem Tode unterliege (ungefähr wie man bei uns einmal von einer Universallebenstinktur sprach). Mit den Werken des Konfuzius sind wir nun auch näher bekannt geworden; ihm verdankt China die Redaktion der Kings; außerdem aber viele eigne Werke über Moral, die die Grundlage für die Lebensweise und das Betragen der Chinesen bilden. In dem Hauptwerke des Konfuzius, welches ins Englische übersetzt wurde, finden sich zwar richtige moralische Aussprüche, aber es ist ein Herumreden, eine Reflexion und ein sich Herumwenden darin, welches sich nicht über das Gewöhnliche erhebt. - Was die übrigen Wissenschaften anbelangt, so werden sie nicht als solche, sondern vielmehr als Kenntnisse zum Behufe von nützlichen Zwecken angesehen. Die Chinesen sind weit in der Mathematik, Physik und Astronomie zurück, so groß auch ihr Ruhm früher darin war. Sie haben vieles gekannt, als die Europäer es noch nicht entdeckt hatten, aber sie haben keine Anwendung davon zu machen verstanden, so z.B. den Magnet, so die Buchdruckerkunst. Allein namentlich in Beziehung auf die letztere bleiben sie dabei stehen, die Buchstaben in hölzerne Tafeln zu gravieren und dann abzudrucken, von den beweglichen Lettern wissen sie nichts. Auch das Pulver wollen sie früher wie die Europäer erfunden haben, aber die Jesuiten mußten ihnen die ersten Kanonen gießen. Was die Mathematik anbetrifft, so verstehen sie sehr wohl zu rechnen, aber die höhere Seite der Wissenschaft ist ihnen unbekannt. Auch als große Astronomen haben die Chinesen lange gegolten. La Place hat ihre Kenntnisse darin untersucht und gefunden, daß sie einige alte Nachrichten und Notizen von Mond- und Sonnenfinsternissen besitzen, was freilich die Wissenschaft noch nicht konstituiert. Auch sind die Notizen so unbestimmt, daß sie eigentlich gar nicht als Kenntnisse gelten können; im Schu-king [Shu jing] sind nämlich in einem Zeitraum von 1500 Jahren zwei Sonnenfinsternisse erwähnt. Der beste Beweis, wie es mit der Wissenschaft der Astronomie bei den Chinesen steht, ist, daß schon seit mehreren hundert Jahren die Kalender dort von den Europäern gemacht werden. In früheren Zeiten, als noch chinesische Astronomen den Kalender verfaßten, kam es oft genug vor, daß falsche Angaben von Mond- und Sonnenfinsternissen gemacht wurden und die Hinrichtung der Verfertiger nach sich zogen. Die Fernrohre, welche die Chinesen von den Europäern zum Geschenk erhielten, sind zwar zum Schmucke aufgestellt, aber sie wissen weiter keinen Gebrauch davon zu machen. Auch die Medizin wird von den Chinesen getrieben, aber als etwas bloß Empirisches, woran sich der größte Aberglaube knüpft. Überhaupt hat dieses Volk eine ungemeine Geschicklichkeit in der Nachahmung, welche nicht bloß im täglichen Leben, sondern auch in der Kunst ausgeübt wird. Das Schöne als Schönes darzustellen ist ihm noch nicht gelungen, denn in der Malerei fehlt ihm die Perspektive und der Schatten, und wenn auch der chinesische Maler europäische Bilder wie alles überhaupt gut kopiert, wenn er auch genau weiß, wieviel Schuppen ein Karpfen hat, wieviel Einschnitte in den Blättern sind, wie die Gestalt der verschiedenen Bäume und die Biegung ihrer Zweige beschaffen ist, so ist doch das Erhabene, Ideale und Schöne nicht der Boden seiner Kunst und Geschicklichkeit. Die Chinesen sind anderseits zu stolz, um etwas von den Europäern zu lernen, obgleich sie oft deren Vorzüge anerkennen müssen. So ließ ein Kaufmann in Kanton ein europäisches Schiff bauen, aber auf Befehl des Statthalters wurde es sofort zerstört. Die Europäer werden als Bettler behandelt, da sie genötigt seien, ihre Heimat zu verlassen und sich ihren Unterhalt anderswo als im eignen Lande zu suchen. Dagegen haben wohl auch die Europäer eben weil sie Geist haben, noch nicht vermocht, die äußerliche und vollkommen natürliche Geschicklichkeit der Chinesen nachzuahmen. Denn ihre Firnisse, die Bearbeitung ihrer Metalle und namentlich die Kunst, die selben beim Gießen äußerst dünn zu halten, die Bereitung der Porzellane nebst vielem andern sind noch unerreicht geblieben. –

Dies ist der Charakter des chinesischen Volkes nach allen Seiten hin. Das Ausgezeichnete desselben ist, daß alles, was zum Geist gehört, freie Sittlichkeit, Moralität, Gemüt, innere Religion, Wissenschaft und eigentliche Kunst entfernt ist. Der Kaiser spricht immer mit Majestät und väterlicher Güte und Zartheit zum Volke, das jedoch nur das schlechteste Selbstgefühl über sich selber hat und nur geboren zu sein glaubt den Wagen der Macht der kaiserlichen Majestät zu ziehen. Die Last, die es zu Boden drückt, scheint ihm sein notwendiges Schicksal zu sein, und es ist ihm nicht schrecklich, sich als Sklaven zu verkaufen und das saure Brot der Knechtschaft zu essen. Der Selbstmord als Werk der Rache die Aussetzung der Kinder als gewöhnliche und tägliche Begebenheit zeugt von geringer Achtung, die man vor sich selbst, wie vor dem Menschen hat, und wenn kein Unterschied der Geburt vorhanden ist und jeder zur höchsten Würde gelangen kann, so ist eben diese Gleichheit nicht die durchgekämpfte Bedeutung des inneren Menschen sondern das niedrige, noch nicht zu Unterschieden gelangte Selbstgefühl.
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2 1821-1831.2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte : Die orientalische Welt [ID D17264].
Sekundärliteratur
1922
Johannes Witte : Kraft seines Genies hat er aus den Kenntnissen über China die Grundzüge seines innersten Wesens so fein herausgearbeitet, wie das bisher vorher noch nicht geschehen war und auch bisher nach ihm nicht wieder geschehen ist. Tiefer als der Rationalismus, der einseitig bewundernd Chinas Vorzüge heraushob, hat er Chinas Eigenart für sich, kritisch Vorzüge und Schwächen abwägend und den Geist des Ganzen klar erfassend, festgestellt und hat China seinen richtigen Platz angewiesen in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geisteslebens : Er stellt China über die primitiven Völker, aber er stellt es tiefer, als die in der christlichen-europäischen Entwicklung erreichte Stufe. Sehr richtig hat Hegel gesehen und hervorgehoben, dass diese geistige Zuständlichkeit Chinas nicht eine Entwicklungsstufe darstellt, aus der sich eine höhere Geistigkeit, eine Befreiung des Geistes aus der Knechtung unter Natur- und Moralgesetzen entwickeln würden und könnten. Es handelt sich vielmeht um eine grundsätzlich andere Ausprägungsform des Geisteslebens von dauernder Art, die über sich selbst weder hinausgelangen will noch kann. Dieser Dauercharakter der chinesischen Welt ist durch seine 4000jährige Geschichte hinreichend bestätigt. China war vor 4000 Jahren wesentlich das gleiche, wie es bis in die neueste Zeit war. Aber über eine gewisse Stufe konnten sie nicht hinaus und empor. Daher hat China eigentlich, wie Hegel gleichfalls richtig betont, keine Entwicklung und keine Geschichte. Der chinesische Geist bleibt gebunderer Geist. Er hat alle richtigen Gedanken, aber er hat sie nicht zusammengefasst. Hier hat die neuere Forschung grössere Klarheit geschaffen, Die Chinesen sind überhaupt kein Volk von Denkern. Es kommt nie zu systematischen, wissenschaftlichen Herausarbeitung eines Systems auf irgendeinem Gebiet. China wollte bleiben und blieb, was es seit Jahrtausenden war. Ja, selbst ehrlich ist der Chinese nur im festen Kontrakt, da, wo er durch den gesetzlichen Zwang gebunden ist. Denn dies riesige Volk, das im Vergangenen so viel geleistet, hat sicher noch eine grosse Zukunft. Abgesehen von Einzelkenntnissen hat Hegel die Welt Chinas nicht nur in ihrem Tatbestande richtig dargestellt, sondern er hat sie, was viel wertvoller ist, in ihrer geistigen Grundart scharf erfasst, ihr Wesen aufgezeigt und es in das Gesamtleben der Menschheit richtig eingeordnet. Ja, man möchte wünschen, dass seine Gedanken von allen Chinaforschern ernst beachtet würde. Man würde China dann besser verstehen. Aus Hegels Darlegungen ergibt sich zunächst das Recht, ja die Pflicht zur Missionsarbeit in China überhaupt. Es gilt, diese Welt auf unsere Stufe der Geistigkeit, der grundätzlich höchsten Form des Menschendaseins emporzuheben. Die Mission muss sich dauernd klar bewusst bleiben, dass China trotz seiner alten Kultur auf einer niederen Stufe der Entwicklung des menschlichen Geisteslebens steht, und muss es als erste Aufgabe ansehen, zur Überwindung des Systems Vorarbeit zu leisten für die Emporhebung Chinas auf unsere Stufe entwickelter Geistigkeit, weil nur auf ihrem Boden volles Verständnis des Christentums möglich ist.
Martin Müller zu Witte : Wittes Artikel sind vermutlich die ersten, die man als 'wissenschaftlich' betrachten kann, enthalten jedoch bereits Stereotypen. Der erste Aspekt, mit dem Witte beginnt, berührt die Fakten über China, auf deren Grundlage Hegel seine Urteile fällt. Obleich er entschieden darauf hinweist, dass vieles mittlerweile überholt sei, lägen die Fehler dennoch nicht bei Hegel, sondern seien der mangelhaften Kenntnis seiner Zeit zuzuschreiben. Witte sieht eine Aufgabe der 'Wissenschaft' darin, Hegels grundätzlich richtige Ausführungen durch neue Erkenntnisse zu systematisieren und zu belegen.

1931-1932
Karl A. Wittfogel : Die Extensität, mit der Hegel das Problem China erörtert, ist Ausdruck der Bedeutung, die er diesem Problem beimisst. Es ist bekannt, dass in der mit Hegel gehenden Periode der philosophischen Vorbereitung, Rechtfertigung und Erklärung der bürgerlichen Revolution in Mittel- und Westeuropa die Mehrzahl der führenden Denker sich ausgiebig mit China beschäftigt hat. Hegel selbst nennt die Gründe. Chinas Anblick interessierte damals die Europäer keineswegs als exotisches Kuriosum, sondern aus klassenmässig politischen Ursachen. Die Klassifizierung Chinas im Vergleich zu den übrigen orientalischen Reichen geschieht nach idealistischen Prinzipien, wie die Aufstellung des ganzen Systems (was nicht ausschliesst, dass teilweise faktisch materialistisch dialektische Zusammenhänge die idealistisch dialektische Anordnung bestimmen. Die von den damaligen Chinareisenden in Anlehnung an die konfuzianische Legende behauptete Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Kaiser stellt China in den Augen Hegels an den Anfang einer Differenzierung von Innerem und Äusserem, Geistigem und Natürlichem, die der Weltgeist in vielen Stufen erst durchlaufen muss, um zum Bewusstsein und zur Verwirklichung seiner Freiheit zu kommen. So wird denn, trotz der niedrigen Stellung, die Hegel China im geschichtlichen Gesamtbilde anweist, die Analyse des ostasiatischen Lebensgefüges für ihn keineswegs unnötig, sondern vielmehr doppelt bedeutsam und wichtig. Angesichts der idealistischen Art, in der Hegel diesen allseitigen Zusammenhang der Gesellschaft Chinas herstellt, wirft sich sofort die Frage nach dem Wie einer materialistischen Umstülpung dieser idealistischen Ableitung auf. Hegels Analyse Chinas steht vielleicht in irgendeinem Zusammenhang mit einer wichtigen Konzeption Marxens, mit derjenigen nämlich von einer spezifischen 'asiatischen, orientalischen' Gesellschaft oder Produktionsweise. Die Äusserung Hegels, China habe 'eigentlich keine Geschichte', ist von einzelnen Gelehrten so interpretiert worden, als sehe Hegel in China einen stets gleichartigen Staatszustand, d.h., den Staat, wie ihn die konfuzianischen Quellen als von jeher bestehend schildern. Die konfuzianischen Quellen lassen, gesellschaftswissenschaftlich untersucht, zwei durchaus verschiedenartige Staaatsverfassungen, eine feudale und eine bürokratisch despotische, und ausserdem einen vorstaatlichen Frühzustand erkennen. Hegel muss immer wieder feststellen, dass auch in China Wachstum, Entwicklung vor sich gegangen ist. Enorm waren die Transformationen der Frühgeschichte, deren Skizze Hegel den Quellen entnahm. In der Tat stehen die Erinnerungen die die prähistorischen Frühzeiten auf verblüffende Weise im Einklang nicht nur mit den Prinzipien der modernen Psychologie, sondern vor allem mit denjenigen der allerjüngsten Völkerkunde. Die Entwicklung Chinas 'in sich' hat also, auch nach Hegels Bericht, zwei, ja nach ihm eigentlich : drei spezifische Stufen der Agrarverfassung durchlaufen. Durch die konfuzianisch orientierten Quellen bestimmt, hat Hegel vom Anfang an in China ein Land ohne Klassen und Stände gesehen. Da ist zunächst einmal ‚die Einführung der Sklaverei, die als zweites Moment der chinesischen Unfreiheit zu erwähnen ist, [dann] das Bauerntum, dessen formale Freiheit er betont. Sodann das Beamtentum, das literarisch gebildete Mandarinat. Nun ist angeblich der Zugang zum Mandarinat, ausser den Sklaven, allen Staatsbürgern gleichmässig offen. Allein die Qualifikation findet sich an die harten Bedingungen einer langwierigen literarischen Schulung gebunden, und diese Schulung wiederum ist, auch nach Hegels Darstellung, schwer zu erreichen. Unterschätzt Hegel das Klassenmoment in der Sozialgeschichte Chinas, so überschätzt er die gesellschaftsbestimmende Bedeutung der chinesischen Familie. Die feudale Welt Chinas transformiert sich in die scheinbare Menschlichkeit einer patriarchalischen Despotie des Oberhauptes. Die Vorstellung des Substantiellen ist selbstherrschen ; das Allgemeine, das hier als Substantielles, Sittliches erscheint, ist mittels einer solchen Despotie so herrisch, dass die subjektive Freiheit, damit die Veränderung, nicht hat eintreten können. Daher zieht Hegel aus jener substantiellen natürlichen Geistigkeit die Konsequenzen der despotischen Regierungsformen der orientalischen Welt.
Die Weltgeschichte ist nach Hegel 'der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit', und diese subjektive Freiheit wird jeweils nach den Stufen der Weltgeschichte vermehrt. Von hier aus kommt Hegel zur Analyse des unfreien Geisteszustandes unter den Lasten des Despotismus und bringt dafür die Verstaatlichung der Moralität als Beispiel. Die höchste Idee der Regierung ist auch nie durch die Gesetze geleistete Ordnung, sondern die durch die ausserrechtliche Sitte herbeigeführt. So glaubt Hegel von dieser Begriffsvorstellung der Gesetze aus daran, dass alle moralischen Handlungen durch die despotischen Rechtsgebräuche bezwungen werden sollten. Und darüber hinaus hat er konsequent mit dieser unfreien Geistigkeit auf die Vorstellung der Sklaverei Bezug genommen. Diese von Hegel allgemein ausgedrückte 'Sklaverei' zeigt uns jedoch seine zweifachen Irrtümer oder mangelnden Kenntnisse ; es handelt sich einmal um die bloss idealistische aufgefasste abstrakte Sklaverei, die im Grunde auf die 'Sklaverei' die falsche Begriffsanwendung des Verhältnisses von 'Herrschaft und Knechtschaft' der antiken 'Sklavenhaltergesellschaft oder der mittelalterlichen Leibeigenschaft' zugrunde. Die chinesische 'Sklaverei' ist nicht das im Begriff 'Sklaverei' oder 'Leibeigenschaft' konzipierte 'Produktionsmittel', sondern nur die sekundäre 'Haus- und Luxussklaverei'.
Hegel anerkennt das Ideal der Gleichheit, jedoch ist die Freiheit für ihn das letzte Kriterium, um festzustellen, ob eine Regierung despotisch ist oder nicht. Die Freiheit ist für ihn nicht nur die Substanz des Geistes, sondern die des Willens. Er sieht dialektisch die Kehrseite der staatlichen Institutionalisierung der Technik und Wissenschaft als den Grund für die paralysierte Forschungsfreiheit des Individuums an, wie er die Trennung der Wissenschaft von der katholischen Kirche als erstes Moment der geistigen Bildung Europas ansieht. Er sucht den Hintergrund des verschwundenen Ruhms der chinesischen Wissenschaft besonders in Astronomie, Physik, Geometrie und mechanischen Vorrichtungen, in dem Mangel an innerer Freiheit des Geistes im Prozess der Verstaatlichung der Wissenschaft. Hegel sieht zwar die Produktionsvermehrung innerhalb der 'bürgerlichen Gesellschaft', vernachlässigt aber den Zusammenhang mit der eminentesten Problematik der stagnierten Technik und Wissenschaft in seiner geschichtsphilosophischen Überprüfung der 'Stagnation' der orientalischen Welt.
Wenn Hegel China und Indien vom weltgeschichtlichen Entwicklungsprozess nicht ausnimmt, so zeigt sich dabei der schwächste Punkt seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion der 'Weltgeschichte'. Weil er trotzdem mit diesem zusammenhanglosen 'Anfang' seinen Entwicklungsprozess beginnt, muss er selbst folglich seine geschichtsphilosophische Konstruktion als die 'im Begriffe' charakterisieren. Er stellt den begrifflichen ideenhaften Übergang nicht nur von Indien nach Persien dar, sondern auch schon früher von China nach Indien, als ob das chinesische Prinzip der 'Gleichheit' in das indische des 'Unterschiedes' übergegangen sei. Er zieht also China und Indien in den weltgeschichtlichen Entwicklungsprozess ein und zeigt so, dass die selbständig nebeneianderstehenden lokalhistorischen Besonderheiten zu den nacheinander geordneten 'Prinzipien' der jeweiligen Völker werden. Das geschieht durch die 'ideologische' oder 'psychologische' Historisierung. Dabei erklärt er die weltgeschichtliche Entwicklung mittels der Metamorphose der 'Ost-West-Bewegung' des 'Weltgeistes' wie der sichtbaren Sonnenbewegung und der biologischen Periodisierung von 'Kindesalter (orientalische Welt), Jünglingsalter (griechische Welt), Mannesalter (römische Welt), Greisenalter (germanische Welt)'. Diese Geschichtsauffassung stützt sich im Grunde auf den Parallelismus zwischen dem logosartigen ‚Weltgeist’ und dem gegenständlich-prinzipiellen 'Volksgeist'. Soweit die 'orientalische Welt' nur 'im Begriffe' und 'an sich und für uns' in die Weltgeschichte eintritt, liegt sie für Hegel jenseits der geschichtlichen Dimensionen.

1996
Andreas Pigulla : China wird innerhalb einer vergleichenden Betrachtung des Orients behandelt. Dabei geht Hegel deduktiv vor. Allen Völkern des Orients gemein ist das Prinzip der 'Substantialität des Sittlichen'. Dies schliesst ein, 'dass der subjective Wille von den Gesetzen als von einer äusserlichen Macht regiert wird, dass alles Innerliche, Gesinnung, Gewissen, formelle Freiheit nicht vorhanden ist'. China liegt 'gleichsam noch ausserhalb der Weltgeschichte', denn da 'Substantialität' und 'subjective Freiheit' noch eine Einheit bilden, ist das Innere und Äussere, das Geistige und das Natürliche nicht voneinander getrennt, der schöpferische Geist nicht vorhanden, der sich von der Macht der Natur löslösen könnte, um Veränderung zu bewirken. Hegel übernimmt unkritisch die Übersetzung de Maillas. Sie passt in sein Konzept, da er davon ausgeht, dass jedes der orientalischen Völker sein 'Grundbuch' habe. China erhält allerdings eine Sonderstellung, da seine Historiographie am weitesten zurückreicht.
Die patriarchalische Grundstruktur des Reiches und seiner Gesellschaft, in der das Individuum noch 'reflexions- und selbstlos' ist, erklärt für Hegel die chinesische Zivilisation vollständig. Hegels Resumée zeugt von Anerkennung des indivuduellen chinesischen Charakters wie auch von der abgrenzenden Funktion, sie die chinesische Zivilisation zur Folie macht, auf der sich der Entwicklungsprozess zur Freiheit konstruieren lässt. Er hat mit seinen Chinainterpretationen ein komplettes, leicht verwendbares Bild geschaffen, das diese Kultur anhand einer Leitvorstellung, die a priori festgelegt scheint, verständlich macht. Plausibilität gewinnt sein Vorgehen dadurch, dass die leitende Hinsicht nicht ohne weiteres als dem Gegenstand unangemessen erscheint. Die Perspektive wirkt erst dann verkürzt, wenn Hegels geschlossenes Bild mit China-Informationen in Beziehung gesetzt wird, die ihm schon zur Verfügung standen. und kommt unter anderem zu einer unzutreffenden Konfuzianismus-Interpretation. So ist er scheinbar nicht bereit, die Vielschichtigkeit der chinesischen Philosophie wahrzunehmen

1996
Donghie Rhie : Es geht bei Hegel um die Idee des modernen Staates, die auf der individuellen Freiheit basiert. Die individuelle subjektive Freiheit kann für Hegel nur dann entstehen, wenn sich der individuelle Wille mit dem allgemeinen Wille vermitteln kann. Das Prinzip der individuellen Freiheit wird im Staat verwirklicht, wo der individuelle Wille mit dem allgemeinen Wille identifiziert wird. Hegel sieht in China ein festes Staatsystem, das vom moralischen Despotismus getrieben wird. Die sittliche Substantialität beherrscht Hegel zufolge den chinesischen Staat, der auf dem Familiengeist beruht.
Die Einheit des Geistes mit der Natur bedeutet für Hegel nichts anderes als ‚die niedrigste und unwahrste Stufe’ der Geistesentwicklung. Hiermit wird der Ort der chinesischen Walt als die erste Stufe der schematisch durchgehaltenen Dreiteilung der Geistentwicklung vorgestellt. Wegen dieser kritischen Einstellung Hegels zu China wird ihm vorgeworfen, dass er den chinesischen, im weiteren Sinne den orientalischen Geist von vornherein abwertend eingeschätzt hat, indem er ihn in sein 'spekulatives' geschichtlich-philosophisches Schema, wo Natur und Geist gegenübergestellt sind, eingeordnet hat. Dieser Vorworf fragt allerdings nicht nach dem geschichtlichen Hintergrund, aus der Hegels Bestimmung Chinas erwächst und vor dem er sein kritisches Urteil über China fällt. Die geschichtliche Erkenntnis, die Hegel aus der spekulativen Philosophie ableitet, ist weit entfernt von den 'apriorischen Erdichtungen' in der Geschichte, welche die damaligen Historiker den Philosophen vorwarfen. Der enge Naturbezug im geistigen Leben in China ist für Hegel der Leitfaden, das chinesische Reich wirklich zu verstehen.
Hegel versteht unter dem chinesischen Begriff 'Himmel' die Natur überhaupt. Er erkennt dabei, dass der Himmel bei den Chinesen einen besonderen religiösen Sinn hat. Aus dem abhängigen Verhältnis des Geistes zur Natur versucht er, die enge Beziehung der Chinesen zum Himmel aufzuklären. Der Himmel gilt zugleich als 'innere Macht' in einem moralischen Zusammenhang. Weil es für Hegel die himmlische Vorstellung in dem geistigen Sinne in China noch nicht gibt, bezieht er die allgemeine Naturmacht auf die Naturgewalt des Kaisers. Der Kaiser ist Vermittler zwischen Himmel und seinen Untertanen.

1998
Adrian Hsia : Im Bereich der Religion unterscheidet Hegel drei Phasen der linearen Evolution, die natürliche, die künstliche und die Offenbarungsreligion. Weil sich die Chinesen in einem substanitellen Stadium befänden und ihr oberstes Wesen tian, Himmel, sei, gehörten sie einer natürlichen Religion an. Folgerichtig beteten sie Gott nur in seiner natürlichen Erscheinung an. Diese Naturreligion sei weit enfernt vom Weltgeist, der nur in der christlich-germanischen Welt zu seiner vollen Entfaltung komme, in der die Substantialität in jeglicher Form vollständig überwunden sei. Dieser reine Geist, der zu seiner vollkommenen Realisation gekommen sei, beherrsche nun die Welt. Im Laufe dieser Entwicklung des Weltgeistes zu sich selbst würden alle asiatischen Nationen von Europa unterworfen werden.

2000
Reinhard Sonnenschmidt : 'Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang' : Für Hegel ist der 'Anfang' das An-sich, das, was sich noch entwickeln wird hin zu seiner Wesensbestimmung. Das 'Ende' ist das, was sich entwickelt hat, d.h. über die Realisierung des An-sich zu einem Für-sich geworden ist. Asien bewegt sich somit auf einem niedrigeren Niveau als Europa, was durch das Wort 'schlechthin' untermauert wird. Hiermit setzt Hegel insofern einen durch sein philosophisches System abgesicherten Akzent, als Europa zivilisatorisch und kulturell gesehen höherwertiger ist als Asien. Das zeigt sich besonders prägnant in seiner Darstellung des Kaisers, und zwar im Kontext von Substanz und Subjektivität. Subjektivität und Substanz bzw. einzelner Wille und allgemeiner Wille sind nun nach Hegel in China unmittelbar verbunden, was ein denkbar schlechtes Zeichen ist. Denn die Unmittelbarkeit der Verbindung bedeutet, dass Substanz und Subjekt nicht geschieden waren und sind und demgemäss die Bildung eines dialektischen Verhältnisses gänzlich fehlt. Unmittelbares Gehorchen ist ohne Reflexion und daher ohne Selbst. Was fehlt, ist also Selbstreflexion oder Innerlichkeit des Subjekts, die auch Gesinnung heisst. Diese Gesinnung aber wird durch das unmittelbare Substanz-Subjekt, den Kaiser, per Gesetz festgelegt. Die Härte des Substanz-Kaisers zeigt sich in ihrer mangelnden 'Undurchweichtheit', weshalb sie 'sich selber allein gleich ist', also auf einer Stufe stehenbleibt, die Hegel 'Familie' oder patriarchisch nennt, wobei Despotismus und Vorsorge diejenigen Grössen sind, die die Unmündigkeit und Unselbständigkeit der Chinesen dokumentieren. Daher sind, so Hegel, die Chinesen in der Familie selbst 'keine Personen'.
Weil China 'das Reich der absoluten Gleichheit' ist, herrscht in ihm 'keine Freiheit', und daher ist der Unterschied zwischen der Sklaverei und der Freiheit nicht gross, da vor dem Kaiser alle gleich, d.h. alle gleich degradiert sind. Als Mitglieder sind die Chinesen also nicht nur Sklaven, Unfreie, Unmündige, Unpersonen, weil despotisch degradiert. Das Fehlen von Freiheit verschärft Hegels Kritik an China. Was aber unselbständig, unfrei und daher reflexions- wie selbstlos ist, befindet sich im Zustand der Natur.

2003
Lee Eun-jeung : Hegel unternimmt den Versuch, das Frühe und Ewig-Gleichbleibende Chinas geschichtsphilosophisch zu begründen. Für ihn tritt die Geschichte Chinas hinter die Bedeutung seiner sich nicht verändernden Verfassung zurück. Der sittliche Zustand in China bestehe auf dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern, also auf dem der Familie. Dieses patriarchalische Verhältnis ist nach Hegel das Grundelement des chinesischen Staates. In China komme alles auf die Persönlichkeit des Kaisers an und so sehr hier auch Vernachlässigung und Willkür möglich sind, so kann sich doch auch hohe moralische Würde ausbilden. Der chinesische Staat möge zwar im Hinblick auf die Individualität des Kaisers und seine geregelte Verwaltung glänzend dastehen, aber es fehle 'in diesem Ideale die Würdigkeit des Individuums'. Es ist bemerkenswert, welch weitreichende Thesen Hegel aus der kindlichen Pietät, also aus dem Sittenkodex der konfuzianischen Lehre entwickelt. Seiner Meinung nach ist es 'der Mangel des ganzen Prinzipis der Chinesen', dass bei ihnen 'das Rechtliche vom Moralischen' nicht getrennt ist. Da er von vornherein davon ausgeht, dass die ganze Reichsverwaltung Chinas auf dem sittlichen Verhältnis der Familie beruht, beginnt er auch hier mit der chinesischen Familie. Es gebe Pflichten von unten nach oben, aber eigentlich keine von oben nach unten ; nichts werde so hart verurteilt wie der Mangel an Ehrbietung. Für Hegel ist die Tatsache, dass in China 'körperliche Züchtigung' als Strafe einsesetzt wird, der Beweis für das Fehlen des Ehrgefühls bei den Chinesen überhaupt. Die Berichte der Missionare über die Häufigkeit von Selbstmorden betrachtet er als den Beweis dafür, dass die Chinesen 'kein moralisches Inneres' haben. Die Chinesen werden als 'ein unmündiges Volk' regiert ; ihre Sitten haben infolgedessen den Charakter der 'Unselbständigkeit'.
Hegel nimmt Beispiele chinesisch-konfuzianischer Gebräuche, die in Europa – auf welche Weise auch immer – bekannt geworden sind, für seine philosophisch formulierte Geist-Deutung in Anspruch. Dabei interessiert ihn die Frage kaum, in welchem sozio-ökonomischen und politischen Kontext solche Gebräuche entstanden sind ; welche Rolle sie tatsächlich spielen. Es geht ihm in aller erster Linie um empirische Belege für seine philosophische Konstruktion. Ausserdem passiert es häufig, dass er andere Zahlen angibt als die von ihm verwendeten Quellenwerke.
Er versucht, die dialektische Katagorie der Totalität in seiner Darstellung aufrechtzuerhalten, indem er auf allen Gebieten, also auch in der Kunst und Wissenschaft stets die Verbindung mit dem Ganzen der Verfassung des Staates herstellt. Die Wissenschaft bleibe in China dem Staatsdiener vorbehalten und ihr Studium beschränke sich auf die Jings und deren Kommentare, die Gesetze des Reichs, die Moral und die Geschichte. Hegel sieht in der staatlichen Institutionalisierung der Wissenschaften den Grund für die paralysierte Forschungsfreiheit des Individuums. Er hat keine hohe Meinung von den verschiedentlich gerühmten wissenschaftlichen Errungenschaften der Chinesen auf den Gebieten der Astronomie, Geometrie, Mathematik, Medizin und Physik.
Es ist auffällig, wie Hegel versucht, die kausalen Faktoren, aus denen er die Immobilität des chinesischen Geistes ableitet, sämtlich aus den besonderen Zügen der Herrschaftsstruktur des chinesischen Reiches bestimmt. Nur im Falle der Schriftstprache der Chinesen scheint er eine Ausnahme zu machen, wenn er sie als 'ein grosses Hindernis für die Ausbildung der Wissenschaften' bezeichnet.
Hegel sammelt geistige, religiöse, politische, kulturelle und gesellschaftliche Tatsachen, um die in allen Bereichen als selbstverständlich angenommene Überlegenheit des neuzeitlichen Eruopa zu belegen und damit seine Konstruktion des Gangs der Weltgeschichte zu rechtfertigen. Er hat dafür umfangreiche, im Fluss der Forschung seiner Zeit stehende Literatur einbezogen, leider aber geht er mit diesem Material selektiv um. Zudem berücksichtigt er einige wichtige Materialien wie lateinische Übersetzungen der konfuzianischen Klassiker kaum. Er spricht wiederholt von der absoluten Gehorsamkeit der Untertanen dem Kaiser gegenüber und der moralischen Unselbständigkeit der Chinesen, obleich er weiss, dass es in der chinesischen Geschichte immer wieder zu Aufständen gekommen ist. Hegel beurteilt aber nicht nur kulturelle und sittliche Erscheinungen, sondern auch philosophische Aspekte nach seinen eigenen Massstäben. China ist für ihn das Land schlechthin, das sich als das genaue Gegenteil des sich zur Freiheit emanizpierenden Europas offenbart. Dadurch erhält China in Hegels geschichtsphilosophischer Konstruktion ein grosses politisches Gewicht. Er rechtfertigt nicht nur die europäischen Eroberungen in Asien, sondern auch die von ihm – im Namen des Weltgeistes – prophezeite Unterwerfung Chinas durch Europa.
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  • Document: Merkel, R[udolf] F[ranz]. Herder und Hegel über China. In : Sinica ; Jg. 17 (1942). (Merk2, Publication)
  • Document: Schoeps, Hans Joachim. Die ausserchristlichen Religionen bei Hegel. In : Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte ; Jg. 7, H. 1 (1955). (Schoe1, Publication)
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  • Document: Müller, Martin. Chinas Hegel und Hegels China : Überlegungen zu "Rezeption" als Interpretationskonstellation am Beispiel der chinesischen Beschäftigung mit Hegels China-Sicht. In : Jahrbuch für Hegelforschung ; Bd. 10-11 (2004-2005). S. 149-155. (MülM11, Publication)
  • Person: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich