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1842.1

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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von. Philosophie der Mythologie [ID D11898]. 23. und 24. Vorlesung Berlin 1842 und 1845/46.

Quellen :
Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Mémoire sur la vie et les opinions de Lao-tseu [ID D11899].
Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Recherches sur les langues tartares [ID D1954].
Abel-Rémusat, Jean-Pierre. Eléments de la grammaire chinoise [ID D1961].
Lao-tseu. Tao-te-king : le livre de la voie et de la vertu. Trad. de Stanislas Julien [ID D2060].
Kircher, Athanasius. China illustrata [ID D1712].
Bilfinger, Georg Bernhard. Specimen doctrinae veterum sinarum moralis et politicae [ID D1807].
Werke von Etienne Fourmont.

Schelling schreibt : Zum erstenmal wurde bei Gelegenheit der Ausbreitung des Buddismus der Name Chinas erwähnt. Die Buddalehre hat indeß in China erst sehr spät Eingang gefunden. Mit dem bloßen Buddismus ist also das chinesische Wesen nicht erklärt. In seiner Ursprünglichkeit nun aber scheint dieses der entschiedenste Widerspruch gegen die von uns bis jetzt behauptete Allgemeinheit des mythologischen Processes. Keinem der verschiedenen mythologischen Völker hinsichtlich des Alters nachzusetzen, zeigt das chinesische Volk in seinen Vorstellungen nichts, was an die Mythologie der andern Völker erinnerte. Wir können sagen: es ist ein absolut unmythologisches Volk mitten unter den mythologischen, von gleichem Alter mit diesen, gleichwohl ganz außer jener mythologischen Bewegung gestellt und nach einer ganz andern Seite des menschlichen Daseyns hingewendet und entwickelt. Berührt von Ländern und Völkern, unter welchen der mythologische Proceß seine ganze Gewalt ausübt, bildet China allein eine große und in ihrer Art einzige Ausnahme von demselben, und fordert gerade darum unsere ernstlichste Aufmerksamkeit. Ein einziger faktischer Widerspruch ist hinreichend, eine ganze, wenn auch durch eine ununterbrochene Reihe anderweitiger Thatsachen befestigte Theorie über den Haufen zu werfen.

Es ist mit dem chinesischen Wesen nicht etwa wie mit der Zendlehre, nicht wie mit dem Buddismus, welche man betrachten kann als Hemmungen, Antithesen des extremen Polytheismus, die aber durch ihren Gegensatz gegen den mythologischen Proceß selbst die Macht und Gewalt desselben bezeugen. In der Zendlehre, im Buddismus stellt sich dem Polytheismus eine Einheitslehre gegenüber, die man in diesem Verhältniß als Monotheismus aussprechen kann. In China aber scheint an die Stelle des Monotheismus wie des Polytheismus ein entschiedener Atheismus zu treten, eine völlige Abwesenheit des religiösen Princips. Es sind also hier eigentlich zwei Erscheinungen zu erklären, 1) das absolut Unmythologische, 2) das scheinbar sogar völlig Unreligiöse des chinesischen Bewußtseyns.

Das Erste betreffend, wollen wir uns an folgende Sätze unserer früheren Entwicklung erinnern: a) Der Polytheismus ist gleichzeitig, ja gewissermaßen identisch mit dem Proceß der Völkerentstehung; also kein Volk ohne Mythologie, b) Die absolut vorgeschichtliche Zeit, die Zeit vor der Völkerentstehung war auch die relativ unmythologische Zeit, denn Mythologie überhaupt entstand erst mit den Völkern. Diesen Sätzen entsprechend wollen wir nun vor allem aufstellen, erstens: daß es unrichtig ist, von einem chinesischen Volk zu sprechen. Die Chinesen sind gar kein Volk, sie sind eine bloße Menschheit, wie sie sich selbst nicht etwa für eines der Völker, sondern gegenüber von allen Völkern als die eigentliche Menschheit ansehen (worin sie auf gewisse Weise Recht haben, inwiefern sie eben kein Volk sind wie die andern). Weder von innen noch von außen waren sie gedrängt, sich als Volk zu constituiren. Nicht von innen, weil sie, wie wir sehen werden, sich dem mythologischen Proceß entzogen; nicht von außen, da sie ein volles Drittheil der ganzen lebenden Menschheit ausmachen; über 300 Millionen setzen die neuesten Angaben der Engländer die Bevölkerung des chinesischen Reichs. Also: die Chinesen verhalten sich in diesem Betracht (inwiefern sie kein Volk in dem Sinne wie die andern sind) als ein noch erhaltener Theil der absolut vorgeschichtlichen Menschheit. Demnach muß sich in ihnen, es muß sich im chinesischen Bewußtseyn auch noch das Princip finden, von dem die absolut vorgeschichtliche Menschheit beherrscht war. Aber weil dieses Princip im chinesischen Bewußtseyn sich dem religiösen - theogonischen - Proceß versagt hat (nicht zum Anfang und ersten Princip des mythologischen Processes wurde), so kann es im chinesischen Bewußtseyn seine religiöse Bedeutung nicht behalten. Das chinesische Bewußtseyn hätte sich also (denn ich spreche noch immer bloß hypothetisch), wenn unsere Erklärung richtig wäre, so hätte sich das chinesische Bewußtseyn allerdings dem Gesetz des mythologischen Processes entzogen, d.h. das Urprincip in seiner Ausschließlichkeit behauptet, aber nur um den Preis, daß zugleich die religiöse Bedeutung des Urprincips ganz aufgegeben wäre. Ich bemerke, daß das Gesetz des mythologischen Processes doch eigentlich nur hypothetische Bedeutung hat. Es sagt nur so viel: wenn ein theogonischer Proceß oder überhaupt wirkliche Religion entstehen soll, so muß jenes ausschließliche Princip, von dem das erste Bewußtseyn beherrscht ist, eingeschränkt, einem höheren untergeordnet, ihm überwindlich und von ihm wirklich überwunden werden. Wie nun aber, wenn unter den verschiedenen Auswegen, die das menschliche Bewußtseyn im Drang dieses Processes sucht, einmal auch dieser vorkäme, den Proceß als theogonischen oder jenes ausschließliche Princip als Gott setzendes aufzugeben, um es als ausschließliches zu behaupten, so daß von dieser Seite der Proceß gleich anfangs in eine bloße Negation, nicht etwa des Polytheismus, sondern in eine Negation der religiösen Bedeutung des Princips ausschlüge? Also - wenn daher diese von uns angenommene Möglichkeit im chinesischen Bewußtseyn zur Wirklichkeit geworden, so müßte sich in diesem, es müßte sich im chinesischen Bewußtseyn 1) das Urprincip der Religion in seiner ganzen Macht und Ausschließlichkeit, wie es in der noch ungetheilten Menschheit war; es müßte aber 2) mit veränderter Bedeutung sich finden, jedoch in der Art, daß stets noch seine ursprüngliche religiöse Bedeutung hindurch schimmerte; denn sonst wäre die Identität des Princips nicht zu erweisen, es wäre nicht einleuchtend zu machen, daß eben dasselbe Princip, welches in den anderen Völkern die theogonische und religiöse Richtung nahm, hier die andere von Religion abgewendete Richtung genommen habe.

Um mich hierüber deutlich zu machen, will ich bemerken, daß das Wort religio selbst eine allgemeinere und spe-ciellere Bedeutung hat. Ursprünglich bedeutet das Wort religio jede Verpflichtung, mit der ein gewisser Begriff von Heiligkeit oder ein gleiches Gefühl von Unverbrüchlichkeit verbunden ist. Dieß erhellt schon aus dem lateinischen Sprachgebrauch: hoc mihi religio est, hoc mihi religioni duco. Dieß Allgemeine kann man auch das Formelle des Begriffs nennen. In diesem Sinn gibt es Religion in allem, auch in Dingen oder Angelegenheiten, die sich gar nicht, wenigstens nicht unmittelbar und für das nächste Gefühl, auf das Göttliche beziehen. Man kann aber Religion auch im engeren oder materiellen Sinn nehmen, wo dann eine wirkliche und unmittelbare Beziehung auf das Göttliche als solches in ihrem Begriff liegt. Nun haben wir angenommen, es sey möglich, daß jenes ursprüngliche religiöse Princip, welches eigentlich die Voraussetzung alles theogonischen Processes ist, einmal auch eine andere, von der religiösen abgewendete Richtung nehme oder seine religiöse Bedeutung verliere. Genauer werden wir uns nun ausdrücken, indem wir sagen, es sey möglich oder denkbar, daß jenes Princip seine materiell-religiöse Bedeutung verliere, während es die formell-religiöse behalte.

Ursprünglich ist alle Verpflichtung nur Verpflichtung gegen Gott, und alle formelle Verpflichtung schreibt sich, und war es durch noch so viele Mittelglieder, von jener materiellen, allein ursprünglichen Verpflichtung her. Jenes reale, erst schließlich hervortretende Princip des Bewußtseyns haben wir früher das materiell Gott setzende genannt. An diesem Princip haftet, wie gezeigt wurde, dem Bewußtsein der Gott. Umgekehrt durch dieses Princip ist allein der Mensch eigentlich, ursprünglich und zwar dem Gott verpflichtet. Diese Urverpflichtung kann nun nicht und nie aufgehoben werden, es sey denn, daß das menschliche Bewußtseyn überhaupt aufgehoben werde, wie dieß denn wirklich geschehen ist in jenen völlig aufgelösten und nur noch äußerlich menschlichen Racen, von denen wir früher gesagt haben, daß sie keine Auktorität, so wenig eine unsichtbare, als eine sichtbare über sich erkennen, und daher auch ohne alle gesellige Verbindung leben. Also jene Urverpflichtung kann nie aufgehoben werden, solang menschliches Bewußtseyn besteht, wie auch übrigens das Princip selbst seine Bedeutung verändere. Wohl möglich aber ist, daß das Princip, gegen welches diese Verpflichtung besteht, oder dem das menschliche Bewußtseyn auf solche Weise, nämlich ursprünglich, verhaftet ist, daß dieses Princip, in welchem ihm (dem Bewußtseyn) ursprünglich der Gott ist, sich ihm in ein anderes verkehre, daß es also dem, welchem es ursprünglich als Gott (in der engeren und materiellen Bedeutung dieses Worts) verpflichtet war, daß es diesem selben als einem andern, doch ebenso wie vorher, d.h. auf dieselbe bindende, religiöse Weise, verpflichtet bleibe.

Wir müßten also — um jetzt zu unserem Gegenstande zurückzukehren — im chinesischen Bewußtseyn ein gleichsam an die Stelle von Gott, und zwar an die Stelle jenes Urgottes, aber mit derselben Ausschließlichkeit und mit derselben Urverpflichtung Getretenes antreffen, daß zwar, inwiefern es nicht mehr unmittelbar Gott, sondern ein anderes ist, auch nicht mehr als eigentlich religiöses Princip erschiene, das aber dadurch, daß in ihm jene Verpflichtung fortdauert, doch seine Abstammung und Herkunft von dem ursprünglichen, auch materiell-religiösen Princip nicht verleugnen kann (dieß ist es, was wir meinten, wenn wir sagten: die ursprünglich religiöse Bedeutung müsse auch in dem nun nicht mehr eigentlich religiösen noch durchschimmern).

Ferner, da nach der Voraussetzung jenes Princip seine materiell-religiöse Bedeutung nur verlieren konnte, oder nur sie aufgab, um sich als ausschließliches zu behaupten, so muß dieses Princip im chinesischen Bewußtseyn, obwohl mit materiell veränderter Bedeutung, doch mit derselben ausschließlichen Gewalt sich wieder finden, die es ursprünglich in seiner religiösen Bedeutung gehabt hatte.

Auf diese Weise hätten wir also eine Möglichkeit gezeigt, das chinesische Wesen, das so ganz, nicht bloß, wie wir uns bisher ausgedrückt haben, unmythologisch, sondern geradezu antimythologisch uns anspricht, gleichwohl mit dem allgemeinen mythologischen Proceß zu vermitteln oder in Verbindung zu bringen.

Dieser Vermittlung zufolge wäre denn das chinesische Wesen nicht im Widerspruch gegen die Annahme eines allgemeinen theogonischen Processes, dem das Bewußtseyn der Menschheit unterworfen worden, sondern nur einer der Auswege, eine der Ausweichungen vor den Folgen dieses Processes, dergleichen wir, wenn auch in anderer Art, auch anderweitig schon erkannt haben; denn China bleibt immer das Einzige in seiner Art. Aber wenn auch die einzige Ausnahme ihrer Art, so ist es genug, die Möglichkeit einer solchen Ausnahme erkannt zu haben, um vorauszusehen, daß sie auch in der Wirklichkeit anzutreffen sey. Denn es ist der Charakter des Weltgeistes überhaupt, daß er alle wahrhaften Möglichkeiten erfüllt, die größtmögliche Totalität der Erscheinungen überall will oder zuläßt, ja es ist im Gang der Welt, dessen Langsamkeit uns schon allein davon überzeugen müßte, recht eigentlich darauf angelegt, daß jede wahrhafte Möglichkeit erfüllt werde. Denn diejenigen, welche gegen den großen Grundsatz, daß alles wahrhaft Mögliche auch wirklich sey, die flache Einwendung vorbringen, daß dann auch jeder Roman einmal eine wirkliche Geschichte gewesen sey oder werden müßte, haben freilich nur die alltägliche Vorstellung des bloß abstrakt und subjektiv Möglichen; sie wissen wenig oder gar nicht, was die Philosophie Möglichkeit nennt.

Aber diese Möglichkeit, auch das der Mythologie so widersprechende chinesische Wesen mit dem allgemeinen mythologischen Proceß in Verbindung zu bringen, ist an gewisse, sehr bestimmte Voraussetzungen gebunden. Die Nachweisung, daß diese Voraussetzungen in dem chinesischen Bewußtseyn sich wirklich finden, ist allerdings eine mehr historische als philosophische Aufgabe.

Wir gehen also davon aus: die Chinesen sind kein Volk, d.h. die Einheit, welche diese unermeßliche Verbindung von Menschen und Völkerschaften zusammenhält, wird von ihnen selbst nicht als eine particulare oder gar individuelle, sondern als eine universelle empfunden. Sie sind das Menschengeschlecht, sie fühlen sich außer und über den Völkern, diese sind ihnen, wenn auch nicht wirklich (was die Chinesen gar nicht für nöthig halten), sie sind ihnen der Idee nach unterworfen. Wenn die Chinesen nicht ein Volk sind, so kann das Princip ihres Seyns und Lebens nur jenes ausschließliche seyn, das im Bewußtseyn der vorgeschichtlichen, noch ungetheilten Menschheit herrschte. Aber dieses Princip hat sich im chinesischen Bewußtseyn dem religiös-theogonischen Proceß versagt, wie wir daraus sehen, daß China ganz außerhalb der mythologischen Bewegung geblieben ist, an ihr keinen Theil hat. In seiner religiösen Bedeutung aber konnte sich jenes Princip nicht behaupten, wenn es dem theogonischen Proceß sich versagte, oder umgekehrt, es konnte sich in seiner absoluten Ausschließlichkeit nur behaupten, wenn es auf die religiöse Bedeutung verzichtete, wenn dieses Princip im Bewußtseyn eine andere Bedeutung annahm. Nur um diesen Preis, sagten wir, konnte sich das ausschließliche Princip dem höheren versagen und so zugleich sich außer dem mythologischen Proceß setzen.

Sehen wir nun, ob das Geforderte im chinesischen Bewußtseyn wirklich nachweislich, d.h. suchen wir dessen eigentlichen Inhalt zu erforschen. Die reine Anführung der Thatsachen wird zeigen, ob unsere Vorstellung etwas bloß Gesuchtes und Gemachtes ist, oder ob sie auch in dem Gegenstand selbst sich erkennen läßt.

Das chinesische Reich nennt sich das himmlische Reich, auch das Reich der himmlischen Mitte, des himmlischen Centrums. (Hier erkennen Sie schon die Centralität des ursprünglichen Princips.) Der Begriff des Himmels ist der höchste in aller chinesischen Weisheit, der höchste Begriff ihrer Moral. Ein zu seiner Zeit berühmter Philosoph, Bil-finger, der ein noch jetzt empfehlenswerthes Werk de Sinarum doctrina morali et politica geschrieben, sagt in demselben: Non est multa mentio Dei in libris sinicis (noch richtiger hätte er gesagt, daß die chinesische Sprache eigentlich gar kein Wort für Gott hat), ejusdemque, fährt er fort, interpretatio inter Europaeos quosdam controversa — also: wie das in chinesischen Schriften etwa als Gott zu Erklärende zu verstehen, sey unter den Europäern ein Gegenstand der Controverse; auf jeden Fall gesteht er damit, daß der Begriff Gott in den chinesischen Schriften nur durch eine Auslegung, die sehr oft vielmehr eine Hineinlegung ist, gefunden werde. Die Bemerkung bezieht sich darauf: die Jesuiten, welche China als eine ihnen besonders anheimgefallene Provinz betrachteten, hatten ein gewisses Interesse dabei, die Ehre der chinesischen Weisheit aufrecht zu erhalten; sie konnten ihrem System nach überhaupt nicht zugeben, daß es ein ganzes großes Reich ohne Religion gebe, sie wollten nicht auf die Chinesen kommen lassen, daß ihre Religion eigentlich auf Atheismus hinauslaufe, was man in Europa früher glaubte und auch späterhin zu behaupten fortfuhr. Darauf bezieht es sich also, wenn Bilfinger sagt: man sey in Europa über die Auslegung der chinesischen Schriften in Bezug auf den Begriff Gott nicht einig. Doch fährt er fort: einige Erwähnung Gottes finde sich in den chinesischen Schriften und als Beleg dafür führt er die Grundlehren ihrer Moral an, welche er so ausdrückt: es werde gelehrt, daß wir die ursprüngliche vom Himmel eingepflanzte Unschuld wieder herzustellen suchen, daß wir den Himmel verehren sollen; daß wir nicht einmal einen Gedanken zulassen sollen, dessen bewußt oder mitwissend wir den Himmel nicht wollen können, daß wir uns allein bei den Fügungen des Himmels beruhigen sollen u.s.w. Ueberall ist also hier der Himmel (und nur dieser) der alles, auch das Leben, beherrschende Begriff, und es wird nach diesen Anführungen, zu welchen im weiteren Verlauf noch andere hinzukommen werden, weiter keiner besonderen Begründung mehr bedürfen, wenn wir behaupten, daß die ursprüngliche Religion Chinas eine reine Himmels-Religion war, daß jene allgemeine Voraussetzung des mythologischen Processes, die allen Völkern gemeinschaftlich war, der chinesischen Menschheit ebenso wenig fehlte, die ursprüngliche astrale Religion (das erste Band der noch ungetrennten Menschheit) auch der Ausgangspunkt für das chinesische Bewußtseyn war. Aber eben hier trat die Katastrophe ein. An die Stelle der bisherigen Einheit sollte eine Zweiheit treten. Dieser Zweiheit widersetzte sich das chinesische Bewußtseyn, es bestand auch jetzt noch auf der Ausschließlichkeit des ersten Princips, aber im eignen Himmel, d.h. was bisher der Himmel gewesen war; in der Region des Göttlichen konnte es sich ihm nicht mehr behaupten, das läßt die Erscheinung der höhern Potenz nicht zu, durch diese war es jedenfalls aus dem Himmel verstoßen: es mußte dem Bewußtseyn aus dem Göttlichen heraustreten, sich veräußerlichen und verweltlichen, und so - in dieser verweltlichten und veräußerlichten Gestalt — finden wir das Himmelsprincip auch als das allwaltende, herrschende Princip des ganzen chinesischen Lebens und Staats, wie sich aus folgenden Angaben herausstellen wird.

Das chinesische Reich ist auch als Staat, oder rein historisch betrachtet, gleichsam ein Wunder der Geschichte. China ist von allen Reichen der Welt das älteste, das fortwährend sich selbständig erhalten und ein so unüberwindliches Lebensprincip in sich gezeigt hat, daß eine zweimalige Eroberung des Reichs, einmal im 13. Jahrhundert durch die westlichen Tartaren oder die Mongolen, das zweitemal durch die östlichen oder die Mandschu-Tartaren an dem Wesentlichen seiner Verfassung, seiner Sitten, Gebräuche und Einrichtungen nicht das Geringste geändert hat, und der Staat seinem Innern nach heutzutag völlig dasselbe Ansehen hat, wie vor vier Jahrtausenden, und auf denselben Principien fortwährend beruht, die er in seinem Ursprung schon zur Grundlage hatte. Denn obgleich man neuerdings angeführt hat, daß das eigentliche Kaiserthum von China, d.h. die völlig unumschränkte Monarchie, in dem jetzigen Umfang nicht älter sey, als etwa 200 Jahre v. Chr., so zeigt doch die weitere Forschung, daß dieser sogenannte erste Kaiser Chi-hang-thi [Shihuangdi] nur der Wiederhersteller eines früheren, ja des ältesten Zustandes war. Einzelne untergeordnete Fürsten, Glieder eines Feudalsystems, in welchem sie sich als reine Unterthanen verhielten, hatten Mittel gefunden sich auf eine gewisse Weise unabhängig zu machen, aber die Macht selbst, mit der dieser Versuch gegen die Einheit unterdrückt werden konnte, zeigt die Gewalt der ursprünglichen Idee, und obgleich nicht ohne Gegenstrebungen oder ohne Abwechslung in der Ausführung, ist eben diese Idee des unumschränkten, absoluten Kaiserthums so alt als die chinesische Nation selbst, und nicht eine im Lauf der Zeit entstandene, sondern eine vom ersten Ursprung des Volks sich herschreibende Idee. Der Widerspruch gegen sie war nur zufällig, durch zufällige Schlaffheit veranlaßt, aber die Wiederherstellung eben beweist ihre Wesentlichkeit, ihre Immanenz in der Nation, und daß sie mit dieser zugleich geboren ist und nur mit ihr sterben kann. Diese Unerschütterlichkeit des chinesischen Reichs und die Unveränderlichkeit seines wesentlichen Charakters seit Jahrtausenden hat auch einen neueren philosophischen Schriftsteller, der sich über China erklärte, zu dem Schluß veranlaßt: es müsse demnach ein mächtiges Princip seyn, welches dieses Reich von Anfang an beherrscht und durchdrungen, zugleich auch sich selbst vor jeder subjektiven Verwirrung, die sich immer mit der Zeit einfinde, und von allen fremdartigen Einflüssen zu bewahren gewußt habe, - ein Princip, das zugleich stark genug gewesen, mittelst einer ihm inwohnenden assimilirenden Kraft alles Auswärtige, das nur eine Zeit lang in seinem Bildungskreise beharrte, sich zu verähnlichen und zu unterwerfen, wie denn zweimal besiegt und unterworfen die Chinesen durch ihre Gesetze und ihre Lebenseinrichtungen die Sieger selbst wieder besiegt haben. Die Ausdrücke des Verf. zeigen die Einsicht, daß hier etwas anderes als ein aus bloßer subjektiver Meinung oder Uebereinkunft Entstandenes, etwas Mächtigeres, als ein menschlicherweise Erfundenes herrsche. Soweit nun bin ich mit ihm derselben Meinung. Wenn er aber nachher die Frage aufwirft: welches ist nun wohl jenes mächtige Princip, dessen Größe selbst durch das jetzt herabgesunkene, kleinliche, pedantische und zum geistlosen Formalismus gewordene Leben der Nation noch hindurchschimmert, es auch jetzt noch fortdauernd erhält; und wenn er hierauf die Antwort ertheilt: dieses Princip ist kein anderes als das älteste patriarchalische Princip, nämlich das Princip der väterlichen Macht und Auktorität in ihrer ganzen Größe und Stärke, so gebe ich zwar die Stärke jenes Princips der väterlichen Gewalt an sich zu, ich anerkenne auch, daß dieses Princip in China von großer Bedeutung und Wirkung ist, sowie daß dasselbe sich als Princip des Anfangs, als erste Grundlage überall zu erkennen gibt, und die patriarchalische Verfassung überall den Ausgangspunkt bildet: aber, gesetzt es gäbe für die Verfassung Chinas keine höhere Kategorie als die einer patriarchalischen Verfassung, so wäre die Frage gerade diese, warum sich das chinesische Leben von diesem Ausgangspunkt nicht entfernt, warum alle Verhältnisse einer späteren, mannichfaltigeren oder ausgebreiteteren Entwicklung ihm fremd geblieben. Die Frage ist eben, warum das patriarchalische Princip hier seinen Einfluß und seine Macht Jahrtausende hindurch behauptet, und dieß kann man nicht, ohne einen Cirkel im Erklären zu begehen, wieder durch die Macht des patriarchalischen Princips erklären.

Wir haben übrigens bereits von einer Katastrophe des chinesischen Bewußtseyns gesprochen. Auch hier hat eine Umwendung, eine universio statt gefunden, ein äußerlich-Werden des erst innerlichen, das Bewußtseyn ausschließlich einnehmenden Princips, aber nicht ein bloß relativ-äußerlich-Werden, wie in dem Bewußtseyn jener Völker, die dem mythologischen Proceß anheimfielen, sondern ein absolutes äußerlich-Werden. Mit Einem Wort, die wahre Erklärung des chinesischen Wesens, Lebens und Seyns liegt darin, wenn wir sagen, es sey: religio astralis in rempublicam versa, das Princip jener astralen Religion habe sich in einem übrigens noch näher zu erklärenden Vorgang zum Princip des Staates umgewendet. Dieselbe erdrückende Gewalt, welche es als religiöses Princip auf das Bewußtseyn ausübte, dieselbe übt es jetzt als Princip des Staats aus, und aus derselben Ausschließlichkeit, mit der es sich in jener astralen Religion als noch innerliches Princip behauptete, behauptet es sich jetzt in diesem, im Staat, als äußerlich gewordenes Princip.

Das ganze chinesische Staatswesen beruht auf einer ebenso blinden und dem chinesischen Bewußtseyn unüberwindlichen Superstition, als das Religionswesen Indiens, oder irgend eines der andern unter der Last religiöser Ceremonien erdrückten Völker. Der einst ausschließliche Herrscher des Himmels hat sich für das chinesische Bewußtseyn nur in den ebenso ausschließlichen Herrscher des irdischen Reichs verwandelt, welches irdische Reich nur das heraus- oder umgewendete himmlische ist. In ihm ist jenes absolute Centrum, das in dem Urmoment der Umwendung oder universio überwunden werden mußte, wenn ein theogonischer Proceß entstehen sollte, veräußerlicht und verweltlicht, außer Widerspruch gesetzt, darum absolutes und nun fortan »«überwindliches Centrum. Aus diesem Grunde heißt China das Reich der himmlischen Mitte. Die Mitte, das Centrum, die ganze Macht des Himmels ist in ihm.

Ein ausschließliches Princip kann es auf zweierlei Art seyn, 1) nach innen, indem es alles im Oeden des allgemeinen Seyns erhält, keine freie Mannichfaltigkeit zuläßt. Als ein solches zeigt es sich in dem gänzlichen Mangel jedes Unterschiedes und jeder Abstufung der Stände und vorzüglich aller Kasteneintheilung. Es gibt in China weder erblichen Adel noch andere durch die Geburt abgesonderte Stände. Aller Unterschied wird bloß hervorgebracht durch das Amt und durch die Funktion im Staat, zu der jeder ohne Unterschied berufen werden kann. Auch die eignen Verwandten des Kaisers nehmen nur für ihre Person an seiner Herrlichkeit Theil, aber nach seinem Tode treten sie in den Privatstand zurück. Alle Macht, alle Auktorität ist ausschließlich bei dem Kaiser; jeder ist in China nur insofern etwas, als dieser etwas aus ihm macht. Nach der königlichen Familie machen zwar die Zu's, d.h. die Gelehrten, den zweiten Stand oder vielmehr Rang im Reiche aus, aber an Erblichkeit ist hiebei nicht zu denken. Es gibt überall nur Unterschiede des Rangs, aber nie des Standes. Die Gelehrten selbst theilen sich wieder in so viel Rangordnungen oder Grade, als Wissende unter ihnen sind, und diejenigen unter ihnen, deren Gedächtniß ihre Fächer und die zu diesen Fächern gehörigen Zeichen am besten inne haben, bilden das oberste, den Kaiser unmittelbar umgebende Reichscollegium. Wissenschaft und Gelehrsamkeit gelten nur so viel, als der Staat Nutzen davon hat. Seit der Erfindung der Buchdruckerkunst oder einer Art derselben, welche die Chinesen im 10. Jahrhundert gemacht haben, hat jenes oberste Reichscollegium, Han-ti genannt, über das ganze Bücherwesen die Aufsicht, und läßt diejenigen Bücher machen, die man für nöthig hält. Was das für Bücher sind, läßt sich aus dem abnehmen, was darüber von Chinesen erzählt wird, die nach Frankreich geschickt wurden, um dort den Unterricht der Jesuiten zu erhalten, und deren Angaben ich hier, wenn auch etwas verkürzt, aus einem deutschen Buche vorlesen will: "Es gilt nur, sagen sie, die Erhaltung der alten Gedächtnißsache, nur die Sittenlehre, und die Entdeckungen in den Künsten, die sich aber nur auf den unmittelbaren Nutzen beziehen dürfen. Die Jugend soll nur zur Geschäftsführung der Väter tüchtig gemacht, und denen, die sich darin vor dem Haufen auszeichnen, Gelegenheit gegeben werden, dieß in Schriften kund zu thun; denen aber, die nicht fürs Leben sind, sondern nur Geist haben, sollen allerlei Spitzfindigkeiten hingeworfen, allerlei Grübeleien freigelassen werden, damit ihr unseliger Hang zum Denken über menschliche Verhältnisse unschädlich werde. Jede Wissenschaft, jedes Geschäft des Staates ist in Regeln gebracht, die man auswendig lernt. Poesie, freie Erfindung, jede eigentlich schöne Kunst geben kein Ansehen, wenn sie nicht höheren Orts approbirt sind. — Die Gelehrten haben sich ganz in den Ton der Regierung gefügt. - Wetteifer findet nicht statt, man arbeitet einerlei auf einerlei Weise. - Ein Kaufmann, ein Künstler darf es sich noch viel weniger als ein Gelehrter herausnehmen, etwas für sich behaupten oder bedeuten, oder einen Willen und einen Stolz auf unabhängige Existenz, kurz Selbständigkeit haben zu wollen. — Die Religion des Kaisers muß jeder geradezu als Formalität annehmen, wie er in England die Testacte beschwören muß, ob er daran glaubt, ist gleichgültig. Alles, selbst die Kultur des Bodens und die Industrie ist von Büchern, Tradition und Polizei abhängig."

Sie sehen aus diesen Erzählungen, daß wenn zu verschiedenen Zeiten auch europäische Länder den Versuch gemacht haben, die Wissenschaft und jede Geisteskultur auf diesen Fuß zu setzen, doch keines derselben das Urbild China je ganz erreichen konnte. Doch es ist nicht dieser Bemerkung wegen, daß ich die Stelle vorgelesen habe, sondern um Ihnen ein anschauliches Bild zu geben von jener ausschließlichen Gewalt des Staats in China und von der erdrückenden Gewalt, mit der er alle freie Entwicklung hemmt und seit Jahrtausenden niederhält. - Wie das dem höheren Princip (A) unterworfene B Grund eines Processes, der Veränderlichkeit, so das absolut gesetzte (außer allem Gegensatz) Grund absoluter Stabilität und Unveränderlichkeit.

China ist wirklich auch darum der sichtbar gewordene Himmel, weil es so unveränderlich ist und still steht wie der Himmel. Alle einheimischen Kriege, Unordnungen, selbst auswärtige Eroberungen haben es immer nur auf kurze Zeit erschüttert, stets stellt es sich in seinem alten Zustand wieder her. Die ältesten Reiche sind verschwunden; längst sind die Reiche der Assyrier, der Meder, der Perser, der Griechen und Römer untergegangen, indeß China., jenen Strömen gleich, die aus unerforschlichen Quellen entspringend immer gleich majestätisch dahinfließen, in einer so langen Folge von Jahrhunderten nichts von seinem Glanz und seiner Macht verloren hat.

Das Ausschließliche des Princips zeigt sich also 1) nach innen; allein nicht bloß nach innen zeigt sich dieses Princip des chinesischen Staats als ein ausschließliches, sondern nicht weniger 2) nach außen völlig absolut.

Derjenige würde sich eine viel zu vage und den chinesischen Begriffen ganz unangemessene Vorstellung des chinesischen Kaisers machen, der ihn bloß als Kaiser von China dächte, - er ist Weltherrscher, nicht in dem Sinn, wie wohl auch der Padischah der Osmanen oder der persische Schah oder der lächerliche Hochmuth selbst kleinerer morgenländischer Herrscher, z.B. in Indien, sich so betitelt, sondern im eigentlichen und wörtlichen Verstande. Er ist der Weltherrscher, weil die Mitte, das Centrum, die Macht des Himmels in ihm ist, und weil gegen das Reich der himmlischen Mitte sich alles nur als passive Peripherie verhält. Bei den Chinesen sind dieß nicht bloß orientalische Uebertreibungen oder bloße Formeln eines morgenländischen Ceremoniels. Es ist nicht zufällig, es ist der ihm inwohnenden Natur nach unmöglich, daß es zwei solche Kaiser gebe. Der chinesische Kaiser ist der schlechthin einzige, weil in ihm wirklich die Macht des Himmels ruht, von welcher alle himmlischen Bewegungen abhängen, gleichwie durch diese alle irdischen Bewegungen bestimmt sind. Daß sie mit dieser Einheit des obersten Herrschers wirklich einen solchen physischen Begriff verbinden, erhellt daraus, daß nach ihrer Ueberzeugung in seinen Gedanken, seinem Wollen, seinem Thun die ganze Natur sich mitbewegt. Wenn eine große Calamität über das Volk hereinbricht, wenn drohende Himmelszeichen, ungewohnte Stürme oder Regen sich einstellen, so bezieht dieß der Kaiser auf sich, er sucht die Ursache dieser unordentlichen Bewegungen der Natur in irgend einem seiner Gedanken, seiner Wünsche oder in einer seiner Gewohnheiten: denn wenn Er in der Ordnung ist und sich in der rechten Mitte erhält, so kann auch nichts in der Natur aus seinem Gleis und aus der gewohnten Bahn weichen. Aus sehr alter Zeit ist das Gebet eines der berühmtesten Kaiser erhalten, das er bei siebenjähriger Dürre nach vielen zur Versöhnung des Himmels vergeblich dargebrachten Opfern gesprochen, und wo er sagt: Herr, alle Opfer, die ich bisher dargebracht, sind unnütz gewesen; ich bin es ohne Zweifel selbst, der dem Volk so viel Unglück zugezogen. Dürfte ich Dich um das befragen, was Dir an meiner Person mißfallen hat? Ist es die Pracht meines Palastes, ist es meine reichliche Tafel, ist es die Zahl der Frauen, die mir die Gesetze gleichwohl erlauben? Ich will alle diese Fehler durch Eingezogenheit, durch Sparsamkeit, durch Enthaltsamkeit wieder gut machen. Und wenn dieß nicht genügt, so übergebe ich mich selbst Deiner Gerechtigkeit u.s.w. Dieses Gebet, sagt die Geschichte, sey sogleich erhört worden, ein reicher Regen sey gefallen und die darauffolgende Erndte eine der gesegnetsten gewesen. Vor noch nicht allzu langer Zeit, als am 14. Mai des Jahres 1818 ein furchtbarer Sturm aus Südosten in Peking [Beijing] wüthete, der Regen in Strömen floß, eine unheimliche Finsterniß die ganze Stadt umhüllte, erließ der Kaiser eine Bekanntmachung, worin er erklärte, wie er die ganze vorige Nacht nicht geschlafen, und sich nicht erholen könne von dem Schrecken, den dieses furchtbare Ereigniß ihm verursacht. Er habe nachgeforscht, ob er nicht durch irgend eine Vernachlässigung in der Regierung die Schuld davon trage, oder ob er Vergehungen seiner Mandarinen übersehen und nicht inne geworden sey. Er befehle daher seinen ergebensten Unterthanen, ihm aufrichtig und ohne Leidenschaft seine oder seiner Mandarinen Vergehen zu eröffnen u.s.w. Ich führe diese Thatsachen an zum Beweis der Meinung, daß auf dem Kaiser, seinem Thun und Wollen nach chinesischen Begriffen die Ruhe und Ordnung der ganzen Natur beruht, daß er nicht bloß Herr des von ihm beherrschten Landes, sondern Weltherr ist. In dem Schreiben, das wegen des in der letzten Zeit besonders stark nach China getriebenen Opiumschmuggels ein kaiserlicher Commissär und Vicepräsident von Hu-Kwang, Namens Lin, in Gemeinschaft mit einigen anderen höheren Beamten aus Kanton unter dem 13. Juli 1839 erließ, auf daß die Königin Victoria ihn kenne und darnach handle, sagt der Chinese: "Wir vom himmlischen Reich haben, die 10,000 Königreiche der Erde uns unterwerfend, einen Grad göttlicher Majestät, den ihr nicht ergründen könnt". Von dem Kaiser heißt es in eben demselben Schreiben: "Unser großer Kaiser mit einer Güte, grenzenlos wie die des Himmels selbst, überschattet alle Dinge, so daß selbst die entlegensten und entferntesten Dinge (vorher war gesagt, England sey vom Reich der Mitte mehr als 20 Millionen chinesische Meilen entfernt) in den Bereich seiner lebenspendenden und nährenden Einflüsse fallen".

Dunkel bleibt dabei allerdings, wie die chinesische Lehre sich vorstellt, daß die ganze Macht des Himmels in diesen irdischen Herrscher gekommen sey, der nicht nur sterblich, sondern Fehlern, Irrthümern und Unvollkommenheiten unterworfen ist. Diese Frage aber kommt auf die zurück, wie man sich den Umsturz, diese Heraus- oder Umwendung einer erst geistig himmlischen Welt in dieses irdische Reich zu denken habe. Hier ist denn allerdings ein dunkler Punkt, welchen selbst die Spürkraft der Jesuiten nicht aufzuklären vermocht hat. Wir werden also kaum erwarten dürfen, hierüber einen historischen Aufschluß zu finden. Eine Erinnerung indeß jener Katastrophe könnte sich noch in dem allgemeinen Symbol des chinesischen Reichs finden.

Dieses ist nämlich der starke und kluge Lung, der eine geflügelte Schlange oder ein Drache ist, unter dem man sich die ganze Kraft der materiellen Welt, den starken Geist aller Elemente - den Geist dieser Welt selbst — vorstellt, und der als das geheiligte Sinnbild des chinesischen Staats selbst, seiner Macht und Herrlichkeit betrachtet wurde. Von diesem wird in einem der heiligen Bücher, dem I-King [Yi jing], gesagt: "Er seufzet über seinen Stolz, denn der Stolz hat ihn blind gemacht; er wollte hinauffahren in den Himmel und stürzte in den Schooß der Erde herab". Der starke und kluge Drache ist das bereits relativ gewordene Princip, das sich aber noch als absolutes behaupten will; darin liegt der Stolz, die Erhebung, das Hinauffahren in den Himmel. Wenn das im religiösen Proceß (also in religiöser Hinsicht) bereits relativ Gewordene sich dennoch als absolutes noch behaupten will, erhebt es sich an den ihm nicht mehr zustehenden Ort, den Himmel: es wird also herabgestürzt; um sich als absolut zu behaupten, mußte es den Himmel verlassen; zur Erde herabkommen, wo es indeß nun aber das irdischgewordene, herabgesetzte Himmlische ist. Es ist dasselbe Bild, dessen sich auch ein christliches Buch bedient, wenn es sagt: "Es erhub sich ein Streit im Himmel — und der alte Drache ward herabgeworfen und seine Stätte nicht mehr funden im Himmel", und Christus sagt: "Ich sähe den Satan (denselben, der sonst auch Fürst der Welt heißt) vom Himmel fallen, wie einen Blitz"; um so eher zu vergleichen, als dasselbe bedeutend, denn eben mit dem Christenthum war jenes Princip, das bisher ein religiöses war, genöthigt sich als weltliches zu erklären. Man sieht also: es ist in dem chinesischen Bewußtseyn doch selbst das Gefühl eines Umsturzes, eines Herabgekommenseyns, eines Processes, durch den das rein Himmlische zum irdisch Himmlischen geworden. Das ist gleichsam die dunkle und düstere Seite der chinesischen Weltansicht. Der ursprüngliche himmlische Herrscher ist nur noch in der Person des Kaisers des sichtbaren Herrschers, so daß dieser allein ein unmittelbares Verhältniß zu jenem hat, die ganze übrige Welt aber nur ein durch ihn vermitteltes, wie Er es ist, der dem Herrn des Himmels das einzige feierliche Opfer darbringt. Dieser Herr des Himmels hat also keinen Priester zu seinem Repräsentanten, sondern einen Monarchen. Die Jesuiten haben sich aus begreiflichen Ursachen alle Mühe gegeben, das chinesische System als eine ursprüngliche Theokratie vorzustellen. Aber gerade das Gegentheil liegt am Tage; man kann nur sagen, die Macht des chinesischen Kaisers sey eine in Kosmokratie, in völlig weltliche Herrschaft verwandelte Theokratie. Un univers sans Dieu ist das einzig Richtige von China. Den Geist des Himmels beten nach den Chinesen die anderen occidentalischen Sekten an, sie selbst also nur den Himmel, dessen Persönlichkeit nur im Kaiser ist; über ihm nur das unpersönliche Princip der Weltordnung, des Himmels. (Wird das Princip absolut aus relativ nach der Katabole, so kann es nur aus persönlich unpersönlich werden). Der chinesische Kaiser ist nicht wie der Dalailama Tibets, der zugleich mit der weltlichen Macht bekleidete Oberpriester, er ist bloß und rein weltlicher Herrscher. In Eusebii praeparatio evangelica findet sich eine sehr merkwürdige Stelle, wo gesagt ist, daß es ein Volk gebe, die Serer genannt (daß dieß der Name der Chinesen bei den Griechen und Römern sey, ist zwar von einigen gewichtigen Auktoritäten bezweifelt worden, allein nach den neueren Untersuchungen von Klaproth, Abel Remusat u. A. ist es außer allen Zweifel gesetzt), unter diesem Volk der Serer also seyen keine Diebe, keine Mörder, keine Ehebrecher u.s.w., aber auch weder Tempel, noch Priester. In der That gab es bis zu der Zeit der Einwanderung des Buddismus keine Priester in China; wie auch unter den ältesten Charakteren und Schriftzeichen keines sich findet, das einen Priester bedeutet. Das ursprüngliche China war ein völlig priesterloses, absolut unpriesterliches Land, und man muß dieß wohl im Auge behalten, um seine Eigentümlichkeit richtig und genau zu fassen. Dadurch eben unterscheidet sich China, daß es so frühe zu einer vollkommen und bloß weltlichen Verfassung gelangt, ohne alle priesterliche Einrichtung geblieben ist. Wenn man indeß das Wort Thian oder Himmel, welches in der chinesischen Sprache allein statt Gott genannt wird, von dem materiellen Himmel verstehen wollte, so war dieß nur möglich in Folge der falschen Begriffe, die man sich von der Himmelsverehrung überhaupt machte. Gegenstand der ursprünglichen Himmelsverehrung ist der alles durchdringende und bewegende Geist des Himmels, der freilich noch himmelweit verschieden ist von einem freien, mit Willen und Vorsehung handelnden, nicht bloß immateriellen, sondern über-materiellen Schöpfer. Was ein anderes Wort, Schang-thi [Shangdi], betrifft, so ist seine Erklärung sehr zweifelhaft; es bedeutet wohl höchster Kaiser (supreme seigneur); Thian-tsoi aber, was Meister, Herr des Himmels bedeutet, ist ein von den Jesuiten gemachtes und beim christlichen Unterricht erst eingeführtes Wort, das die chinesischen Schriften nicht kennen. In diesem Sinn also wird Gottes in den chinesischen Religionsbüchern, in der ganzen chinesischen Lehre und Weisheit nicht gedacht. Die Religion hat, wie der schon erwähnte Historiker sagt, nach den Chinesen und ihrem Orakel und Gesetzgeber Cong-fu-tsee (Confucius) mit der Phantasie durchaus nichts zu schaffen, d.h. aber eben: sie ist ganz unmythologisch (den Dionysos ausschließend). Das chinesische Bewußtseyn hat sich durch jene absolute Umwendung und Verweltlichung des religiösen Princips den religiösen Proceß ganz erspart, es ist gleich ursprünglich auf jenen Standpunkt reiner Vernünftigkeit gelangt, zu dem andere Völker erst durch den mythologischen Proceß hindurch gelangten, ja eigentlich sind die Chinesen das wahre Urbild jenes geistigen Zustandes, auf den gewisse neuere Bestrebungen, wahrscheinlich ohne zu wissen, wie chinesisch dadurch die ganze Welt werden würde, mit großem Fleiß hinarbeiteten, daß nämlich alle Religion nur noch in der Ausübung gewisser moralischer Pflichten bestehe, vorzugsweise aber zur Beförderung der Zwecke des Staats wirken sollte. In diesem Sinn kann man die chinesische Nation allerdings eine irreligiöse nennen, man kann sogar sagen: sie habe die Freiheit vom mythologischen oder theogonischen Proceß um den Preis eines völligen Atheismus erkauft, wo ich jedoch unter Atheismus nicht das positive Leugnen oder Verneinen Gottes verstehe, sondern daß Gott überhaupt kein Gegenstand der Erörterung oder auch eines unmittelbaren Bewußtseyns für die Chinesen ist. Der Gott ist ihnen in etwas ganz anderes, nämlich eben in das Princip des Staats und des bloß äußeren Lebens verwandelt. Aber diese Umwandlung selbst konnte nur die Folge eines Umsturzes seyn, der zeigt, daß das chinesische Bewußtseyn auch nicht ohne Anwandlung zum mythologischen Proceß geblieben war, eines Umsturzes, dessen Folgen sich das chinesische Bewußtseyn mit ruhiger Ergebung unterworfen hat. Denn daß sie übrigens das irdische Reich doch nur als ein herabgekommenes oder sich entfremdetes himmlisches ansehen, zeigt außer dem Reichssymbol auch die Verehrung, ja der Cultus, den sie den Geistern der Voreltern erzeigen, und der ein sehr wesentlicher Theil der chinesischen Sitten, ja ihres ganzen Lebens ist, und sich nicht wohl denken läßt, wenn man nicht voraussetzt, daß sie die Geister der Verstorbenen in ein himmlisches Reich zurückgehen lassen, mit welchem nach ihrer Vorstellung der lebende Mensch nur noch durch den sichtbaren Herrscher zusammenhängt.

Wir haben bis jetzt das Unmythologische der Religion und der ganzen Denkweise des chinesischen Volks auf der einen und die Beständigkeit und Unerschütterlichkeit der Verfassung des chinesischen Reichs - trotz innerer Empörung und zweimaliger vollständiger Eroberung - auf der andern Seite betrachtet. Beide bieten ein Problem dar, das nur durch einen Vorgang sich erklären läßt, in welchem das vormythologische Princip des Bewußtseyns in seiner ganzen Starrheit, Unbeweglichkeit und alles Mannichfaltige ausschließenden Einheit durch Veränderung seiner Bedeutung oder, was dasselbe ist, durch eine absolute Umwendung ins Aeußerliche, ebensowohl erhalten, nämlich in seiner Absolutheit erhalten, als zum bloßen Princip des äußern Gesammtseyns der Nation, d.h. zum Princip des Staats geworden ist. Aber die chinesische Bildung bietet noch von einer andern Seite ein Räthsel dar, welches bis jetzt nicht in seiner ganzen Tiefe erfaßt seyn möchte, und das gehörig betrachtet wohl auch keine andere Auflösung als in eben dem von uns angenommenen Vorgang finden möchte.

Auch in der chinesischen Sprache nämlich scheint noch die ganze Kraft des Himmels, der ursprünglich alles durchwaltenden und jede Einzelheit absolut beherrschenden und sich unterwerfenden Macht zu wohnen. Denken Sie sich eine Sprache, die 1) aus lauter Monosyllabis, einsylbigen Elementen, besteht, deren jedes ohne Ausnahme außerdem die Eigenthümlichkeit hat, daß es mit einem einfachen oder doppelten Consonanten anfängt und mit einem einfachen oder doppelten Vokal oder auch einem Nasalen aufhört. Denken Sie sich 2) daß der ganze Reichthum dieser Sprache zuletzt auf nicht viel mehr als 300 und bei weitem nicht 400, nach dem neuesten kritischen Forscher sogar auf nicht mehr als 272 einsylbige Grundwörter sich reducirt, mit denen der Chinese den ungeheuren Bedarf aller Bezeichnungen, deren er für Gegenstände der Natur, des sittlichen oder geselligen Lebens in ihren unzähligen Abstufungen und Nuancen benöthigt ist, wirklich bestreitet, natürlich nicht ohne daß er desselben Lautes für ganz verschiedene Gegenstände sich bedienen muß, nicht ohne daß Ein Grundwort, z.B. La, Ki oder Pe oder Tsche, Tschen, Tschi u.s.w. zehnerlei verschiedene und schlechterdings nichts miteinander gemein habende Bedeutungen hat, welche in der mündlichen Sprache nur durch die Verschiedenheit der Intonation, der Modulation, der musikalischen Erhebung oder Senkung, oder durch den Zusammenhang, in der Schrift aber allerdings durch verschiedene Charaktere unterschieden werden, deren Zahl eigentlich unbestimmt ist, wenigstens aber 80,000. Der ausgesprochenen Worte sind also nach Abel Remusat nur 272, die durch die vier verschiedenen Tonarten (weil nicht alle derselben susceptibel sind) nicht einmal auf 1600 erhöht werden. Welch ein ungeheurer Unterschied also zwischen der Armuth der gesprochenen und dem Reichthum der geschriebenen Sprache!

Was nun freilich die monosyllabische Natur der chinesischen Sprache betrifft, so will A. Remusat diese nicht unbedingt zugeben. Er sagt nämlich, es werden freilich niemals mehrere aufeinander folgende Sylben gehört, wenn man Einen Charakter (ein Wortzeichen) ausspreche, da aber gar viele Charaktere einzeln genommen alles Sinns entbehren und erst in der Verdopplung mit sich selbst oder mit andern verbunden einen Sinn annehmen, so müssen diese für zweisylbig gehalten werden, und eben dahin gehören auch diejenigen Charaktere, die zwar einzeln oder jeder für sich einen Sinn haben, aber den sie in der Zusammensetzung verlieren. Allein die Beispiele, die Abel Remusat anführt, beweisen zwar, daß es in der chinesischen Sprache zusammengehörige Wörter gibt, nicht aber daß die eigentlichen radices, die Wurzelwörter, mehrsylbig seyen. Er meint ferner, daß die chinesische Sprache, wenn sie, wie andere Sprachen, die besondern Wörter, durch welche bei den Declinationen oder bei den Conjugationen die Personen und tempora bezeichnet werden, mit dem Hauptwort verschmolzen hätte, alsdann zum Theil ebenso polysyllabisch wie andere Idiome erscheinen würde. Allein, wenn es freilich leicht ist, im Hebräischen z.B. in der zweiten Person des Präsens Katalta das Grundwort, die radix, und die Bezeichnung der zweiten Person atta (du) als verschmolzen zu erkennen, so ist eben hier das Grundwort nach Abzug aller Affixen und Suffixen oder aller Zusätze, die es zur Bezeichnung einer Modification erhalten hat, an sich selbst polysyllabisch. Denn was die Versuche betrifft, auch in anderen Sprachen, z.B. eben der hebräischen, die gegenwärtigen radices auf monosyllabische Anfänge zurückzuführen, so z.B. daß die zwei ersten Consonanten einer hebräischen Wurzel die Grundbedeutung allein enthalten, der dritte Consonant nur einen Modus der allgemeinen oder Grundbedeutung ausdrückte: diese Art, die mehrsylbigen radices z.B. der hebräischen Sprache auf einsylbige zurückzuleiten, läßt sich bei keiner einzigen der so entstehenden einsylbigen radicum durch alle Verba durchführen, und auch da, wo sie anwendbar scheint, ist der Zusammenhang ein viel tieferer, als diese Erklärung voraussetzt, die offenbar einem System angehört, das alles bloß mechanisch, eintönig fortschreiten läßt und für alles nur Eine Erklärung hat, während erst diejenigen Theorien aus der wahren Quelle geschöpft sind, deren Erklärungen so reich und mannichfaltig als die Gegenstände selbst sind.

Gesetzt es wäre möglich, irgend eine mehrsylbige Sprache, wie z.B. die hebräische, auf einsylbige Wurzeln zurückzuführen, so wäre die dorthin zurückgeführte Sprache eben nicht mehr die hebräische. Denn das Charakteristische der hebräischen Sprache ist eben dieß, daß das ganze System derselben auf zweisylbige Wurzeln gebaut ist. Dieser Dissyllabismus ist das Fundament ihrer ganzen Grammatik und aller ihrer Eigentümlichkeiten, so daß man ihn nicht hinwegnehmen kann, ohne sie selbst aufzuheben. Nimmt man in der Entstehung der Sprache überhaupt einen Fortgang von Monosyllaben zu Polysyllaben an, so ist in den mehrsylbigen Sprachen gerade dieses Mehrsylbige das Moment ihrer Differenz, das Moment ihres Ausgangs von der Ursprache. Nimmt man dieses Mehrsylbige einer Sprache hinweg, so ist sie überhaupt nicht mehr diese Sprache; indem man sie erklären will, verliert man das Objekt der Erklärung, gerade so wie der Indier, dessen Mythologie man auf einen reinen Urmonotheismus zurückführt, nicht mehr Indier ist, denn Indier ist er gerade nur durch seinen Polytheismus. Diese Mode (denn mehr ist es nicht), alle polysyllabischen Sprachen auf monosyllabische Anfänge zurückzuführen, schreibt sich hauptsächlich von Bewunderern des Chinesischen her. Allein der Grund der sogenannten Einsylbigkeit liegt in der chinesischen Sprache selbst nur darin, daß hier das einzelne Wort gleichsam nichts ist, und keine Freiheit hat sich auszubreiten. Jene Wortatome der chinesischen Sprache sind erst durch Abstraktion entstanden; sie sind ursprünglich und in der Entstehung gar nicht als abstrakte Theile gemeint — gerade so, wie wir zwar einen gegebenen Körper in Theile mechanisch zerlegen können, aber diese Theile waren von der Natur nicht als Theile gemeint, die Intention der Natur ging nur auf das Ganze als solches - das einzelne Wort der chinesischen Sprache hat eigentlich keine Bedeutung sowie keine Existenz für sich, seine Bedeutung erhält jedes erst im Sprechen selbst (durch Intonation u. s. w.), abstrakt genommen hat es zehnerlei, ja vierzigerlei Bedeutung, d.h. es hat gar keine Bedeutung; nehmen wir es aus dem Ganzen heraus, so verliert es sich in eine leere Unendlichkeit. Denn hieher gehört eigentlich, was man insgemein von einem gänzlichen Mangel der Grammatik oder grammatikalischer Formen in der chinesischen Sprache sagt. Dieser beruht bloß darauf, daß man dem einzelnen Wort außer dem Zusammenhang und losgetrennt vom Ganzen nicht so wie in andern Sprachen ansehen kann, zu welcher grammatischen Kategorie es gehört, es kann ebensowohl Substantivum als Verbum, Adjectivum oder Adverbium seyn, d.h. eben weil es alles seyn kann, ist es eigentlich nichts; nämlich für sich, einzeln genommen oder in der Abstraktion. Es ist nur etwas im Zusammenhang und in der Verbindung mit dem Ganzen. Wir sind so sehr gewöhnt an die selbständige Ausbildung der Wörter in andern Sprachen, daß wir gleichsam vor lauter Wörtern die Sprache selbst nicht sehen, oder diese nur als eine Verbindung zum voraus gleichsam vorhandener Wörter ansehen, da doch umgekehrt die Sprache, nicht der Zeit nach, aber doch natura, vor den einzelnen Wörtern sein muß. Um so mehr muß uns die chinesische Sprache erwünscht seyn, welche uns die Worte noch in ihrer ganzen Abhängigkeit von der Sprache, gleichsam in ihrer absoluten Innerlichkeit und Involution zeigt. Die Sprache erscheint hier in ihrer Priorität vor den Worten, die Worte sind in ihr eigentlich keine Wörter. Denn unter Wörtern versteht man selbständig gebildete und für sich bestehende Redetheile. Insofern ist es allerdings auch nicht ganz richtig zu sagen, daß die chinesische Sprache aus einsylbigen Wörtern bestehe, man setzt dabei etwas voraus, was im Grunde nicht stattfindet; denn, wie gesagt, die Worte sind eigentlich keine Wörter, sie sind nur Spuren oder Momente der Rede, und ebendarum bloße Laute oder Töne, denen gegen die Sprache keine Selbständigkeit zukommt, als wären sie etwas für sich; sie sind nur Elemente, die ihre Bedeutung bloß vom Ganzen erhalten. William Jones, der unstreitig bei weitem weniger chinesische Gelehrsamkeit besaß als Abel Remusat, aber gewiß durch seinen längeren Aufenthalt und seine Stellung in Indien mehr Gelegenheit gehabt hatte Chinesen sprechen zu hören, sagt, die Sprache der Chinesen sey so musikalisch accentuirt, daß sie einem musikalischen Recitativ gleiche, dagegen fehle es ihr ganz an dem grammatikalischen Accent. Der grammatikalische Accent aber ist eben der, durch welchen ein Wort als Ganzes für sich besteht, dieser gibt dem Wort seine Selbständigkeit. Ohne grammatikalischen Accent muß jede Sprache einsylbig erscheinen, daher sich dem Chinesen auch fremde Wörter in einsylbige auflösen, wie z.B. in der chinesischen Übersetzung des Neuen Testaments der Name Jesus Christus durch Ye-sou-ki-li-sse-tou wiedergegeben ist. Denn die Chinesen kennen in ihrer Sprache das R nicht, und Klistus statt Christus können sie auch nicht sagen, sie müssen aus jedem der Anfangsbuchstaben zwei Sylben Ki-li machen, und ebenso aus dem stus zwei Sylben sse und tou. Man sieht, es ist in der chinesischen Sprache eine Gewalt, welche dem Wort schlechthin keine selbständige Bildung erlaubt, die selbst fremde Wörter ihrer Selbständigkeit als Wörter beraubt und jener musikalischen Einheit unterwirft, welche wie ein magnetischer Strom alle Elemente der chinesischen Sprache ordnet und gleichsam gefangen hält, aber zugleich in ein solches Verhältniß setzt, daß eines dem anderen zur nothwendigen Ergänzung wird, eines das andere trägt und hält, wie jedes Stäubchen der magnetisch geordneten Eisenfeile nur in diesem Ganzen ist und für den Augenblick kein Seyn außer demselben hat. Das Ganze behauptet seine absolute Priorität vor den Theilen. In der chinesischen Sprache ist das Wort noch nicht zur Selbständigkeit entfesselt, und darum ist in ihr kein Ueberfluß möglich, wie in den späteren entfesselten Sprachen, in denen er nur durch Kunst und Aufmerksamkeit vermieden wird, weil hier die Wörter sich so breit machen und eine Gewalt für sich ausüben. Die Anordnung der Elemente ist in der chinesischen Sprache eine durchaus nothwendige, daher ist sie die gedrungenste Sprache der Welt, wenigstens in ihrem reinsten und ältesten Styl. Nichts gleicht der nervösen Kürze der ältesten chinesischen Bücher. Die Gedanken erscheinen nach der Aussage der Jesuiten wie ineinander gekeilt. Man kann auf die chinesische Sprache, da sie wesentlich mehr eine musikalische als eine articulirte ist, mit der nöthigen Unterscheidung anwenden, was ein chinesisches Buch von der Musik sagt: die Musik bringt die Stimmen der Völker zur Eintracht (in der Musik verstehen sich alle Völker), die Musik hebt die Discordanz und den Gegensatz der Worte auf.

Von dieser Stelle unserer Untersuchung fällt daher zugleich ein Licht zurück auf die unvermeidliche Annahme einer dem Menschengeschlecht gemeinschaftlichen Ursprache, ferner auf die Sprachenverwirrung, die sich in dem Uebergang von der vorgeschichtlichen Zeit der noch einigen zu der geschichtlichen Zeit der in Völker zertrennten Menschheit ereignete. Die durchgängige Einheit der Sprache konnte nur erhalten werden, inwiefern die freie Entwicklung zu einzelnen Wörtern gehemmt war. Die alles durchwaltende Kraft, von welcher das Bewußtseyn beherrscht war, hielt auch die Elemente der Sprache unterworfen. Wie die himmlischen Sphären in dem Wirbel, von dem sie fortgerissen werden, nur Elemente sind, nicht selbständige, für sich oder frei bewegliche Körper, so mußte auch die Ursprache des Menschengeschlechtes eine gleichsam astralisch bewegte seyn; noch war sie nicht zu der Einzelheit des Worts fortgezogen, das Einzelne trat in ihr nicht aus dem Ganzen heraus; noch entwickelte es sich nach einem eignen, ihm besonders inwohnenden Gesetz. Die Sprachverwirrung entstand, sowie die einzelnen Elemente sich gegen die Macht empörten, der sie bisher ganz unterworfen waren, die ihnen keine Entwicklung verstattete. Verwirrung mußte entstehen in dem Verhältniß, als jedes Element sich zu einem selbständigen Körper, zum für sich bestehenden und organischer Veränderungen in sich fähigen Worte ausbildete, und so paradox dieser Satz außer seinem Zusammenhang erscheinen würde, so einleuchtend ist in dem Ganzen unserer Untersuchung, daß der Polysyllabismus der Sprache und der Polytheismus gleichzeitige, miteinander gesetzte, parallele Erscheinungen sind.

Sie sehen nun also, daß der Uebergang von Sprachen, deren Elemente als einsylbige Wörter erscheinen, zu Sprachen, in denen die Wörter selbständige, gleichsam nach allen Dimensionen ausgebildete Körper, und darum polysyllabisch sind, ein ganz anderer ist, als jener mechanische, wo die Vielsylbigkeit der Sprachen durch einen bloßen Zuwachs zu ursprünglich einsylbigen Wortstämmen entstünde. Die entwickelten Sprachen sind von den ursprünglich gebundenen nicht durch ein bloßes Hinzufügen, sondern durch ihren innern Charakter verschieden. Die Bewegung der Ursprache verhält sich zur Bewegung der frei entwickelten Sprachen, wie sich die Bewegung des Himmels zu den freiwilligen, willkürlichen und mannichfaltigen Bewegungen der Thiere verhält. Diejenige Sprache aber ist die am meisten menschliche, welche am meisten dem menschlichen Gang ähnlich ist, mit der Majestät die Sanftheit, mit der Bestimmtheit die vollkommene Freiheit der Bewegung vereinigt. Darum haben auch nur diese Sprachen erst eigentlich eine Grammatik oder ein grammatisches System. Die Ursprache bedarf der grammatischen Formen nicht, so wenig als der Weltkörper der Füße bedarf um zu gehen. Züge der Ursprache, auch was die materielle Beschaffenheit betrifft, mögen noch in der chinesischen enthalten seyn. Dahin möchte gehören, daß in dieser jeder Laut mit einem Consonanten anfängt und in einem Vocal endet. Die Freiheit, auch mit dem Vocal anzufangen (welche erst der befreiten, aus der Einheit entkommenen Sprache eigen ist), setzt den Widerstand, welchen das chinesische Wort noch zu überwinden hat, als schon überwunden voraus. Aber nicht das Materiale, nur das Gesetz der Ursprache ist in der chinesischen Sprache erhalten, und schon über diese Erhaltung dürfen wir als über ein Wunder erstaunen, das zur Bestätigung jenes Glaubens gereicht, von dem jeder wahre Forscher erfüllt und begeistert seyn muß, des Glaubens, daß nichts absolut unerforschlich ist — nil mortalibus arduum — und daß von allem, was auf dem großen und langen Weg, den die Natur und Geschichte bis zur Gegenwart zurückgelegt hat, als ein wesentliches Moment, und daher als ein wahrhaft wissenswürdiges erachtet werden kann, stets so viel erhalten worden, daß der wahre Forscher es noch zu erkennen hoffen darf.

Auch die chinesische Sprache also legt Zeugniß ab für den Fortgang, durch den wir uns das chinesische Wesen überhaupt erklärt haben. Das rein Materielle der Ursprache ist im Chinesischen nicht erhalten, wohl aber die siderische Kraft derselben. Das Chinesische ist für uns wie eine Sprache aus einer andern Welt, und wenn man eine Definition der Sprache nach dem Sinn geben wollte, in welchem die andern Idiome Sprache heißen, so würde man in die Nothwendigkeit kommen zu gestehen, daß die chinesische Sprache gar keine Sprache ist, wie die chinesische Menschheit kein Volk ist. Indeß kann ich am Schlusse dieser Erörterung nicht unterlassen, wenigstens meine Verwunderung darüber auszudrücken, daß Herr Abel Remusat am Ende der Abhandlung, worin er den monosyllabischen Charakter der chinesischen Sprache zu leugnen versucht, im Grunde aber nur einschränkt und mit Einschränkung zugesteht, daß er dieses Zugeständniß mit folgenden Worten macht: Rectius sentiunt, qui, sermonem veterum Sinarum e verbis non omnibus quidem monosyllabis, sedplerisque, et, ut gentium barbararum mos est, brevissimis constitisse, pronunciant. Wie kann er nämlich 1) unbestimmter und unbedingter Weise sagen, monosyllabische Laute seyen den Sprachen barbarischer Völker gemein, da jeder z.B. die unmäßig langen Wörter der amerikanischen Ureinwohner kennt, die doch gewiß einen gegründeten Anspruch haben auf den Namen Barbarenvölker. Diese Sprachen scheinen das Gegenstück, die andern Extreme zu dem Monosyllabismus der Chinesen. In diesen hat sich die Macht des Urprincips erhalten, in jenen ist sie ganz zerstört und die Sprachen sind einem sinnlosen Polysyllabismus hingegeben. 2) Liegt hiebei die Voraussetzung zu Grunde, als wäre das chinesische Volk ebenfalls aus einem Zustand von Barbarei hervorgegangen und allmählich erst zu seiner gegenwärtigen Verfassung gelangt, während alles uns überzeugt, daß China, wie es ist, durch ein unvordenkliches Ereigniß ist, und seit seinem Ursprung wesentlich unverändert, immer dasselbe gewesen ist. Ein System wie das, welches bis auf den heutigen Tag im Ganzen China beherrscht, entsteht nicht im Lauf der Zeit; es kann einem Volke nur durch eine plötzliche Katastrophe auferlegt werden. Diese Erklärung Abel Remusats, nach welcher nämlich die Einsylbigkeit aus einem barbarischen Zustand sich herschreiben soll, erinnert an die Annahme einer früheren Sprachtheorie, nach welcher die ersten oder die Grundwörter aller Sprachen in bloßen Interjektionen, Ausrufungen des Erstaunens, des Schreckens u.s.w. bestanden haben sollten. Damit wäre dann die monosyllabische Natur (denn so muß man sich ausdrücken; es ist nicht die Frage, ob im Chinesischen Wörter vorkommen, welche so wie sie jetzt sind als zusammengesetzt und insofern polysyllabisch erscheinen, es ist nicht die Frage, ob sich zufällig vielsylbige Wörter in der chinesischen Sprache finden, sondern ob sie ihrer Natur nach monosyllabisch sey), nach jener Erklärung wäre also freilich die monosyllabische Natur der chinesischen Sprache gleich und leicht begriffen. Barbarei = Kindheit: man könnte daher sich noch etwa eher darauf berufen, daß es auch Kinder, die zuerst sprechen lernen, in der Art haben, vielsylbige Wörter sich auf einsylbige zu reduciren, sowie sie sich auch die ganze Grammatik, besonders die Conjugation ersparen, und sich statt aller Temporum des Infinitivs bedienen, womit man denn die grammatikalische Unbestimmtheit der chinesischen Verben vergleichen könnte. Ich will aber dabei nur bemerken, daß man auf diese Art die ältesten Völker in die Lage von Kindern setzt, welche das Sprechen und die Sprache erst lernen. Kinder werden völlig sprachlos geboren. Kann man sich aber in irgend einem Augenblick ein Volk ohne alle Sprache denken? Kinder verkürzen die gegebenen vielsylbigen Wörter, die sie hören, zu einsylbigen, weil sie des grammatikalischen Accents nicht mächtig sind, durch welche eine Mehrheit von Sylben zum Ganzen eines Worts wird. Aber die Chinesen haben ja keine vielsylbigen Wörter erst abgekürzt, und die Einsylbigkeit ihrer Sprache aus der Unfähigkeit zum grammatikalischen Accent zu erklären, hieße eine Wirkung zur Ursache machen. Wenn der Monosyllabismus der chinesischen Sprache aus der bloßen Schwäche der Kindheit oder der anfänglichen Barbarei zu erklären ist, die man zugleich als den ersten Zustand aller Völker voraussetzt, warum haben die andern Völker, aber nicht das chinesische, aus diesem Zustand sich losgerissen? Herr Abel Remusat sucht diesen Grund seltsam genug in der Schrift der Chinesen. Denn so einzig ihre Sprache, so einzig ist auch ihre Schrift. Zwar hatte man in früherer Zeit die chinesischen Charaktere mit den ägyptischen Hieroglyphen verglichen und darauf selbst ziemlich ungereimte Vermuthungen über einen Zusammenhang zwischen Aegypten und China gebaut. Allein schon die bei weitem geringere Zahl der Hieroglyphen - man hat deren höchstens 800 gezählt, während die chinesischen Charaktere sich uf 80,000 belaufen - hätte die Vermuthung erwecken können, daß die ägyptischen Hieroglyphen vielmehr auf die Seite der Buchstabenschrift sich neigen, als auf die Seite der chinesischen Gedankenschrift. Heutzutage, da diese Vermuthung in Ansehung der Hieroglyphen zur Gewißheit erhoben ist, kann man, ohne Widerspruch zu befürchten, behaupten, daß die chinesische Schrift in ihrer Art so einzig sey als die chinesische Sprache und von dieser nicht zu trennen. Denn sie ist nicht eine bloß zufällige, sondern die nothwendige Folge derselben.

Mentioned People (1)

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von  (Leonberg 1775-1854 Bad Ragaz) : Philosoph

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Documents (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1985 Deutsche Denker über China. Hrsg. von Adrian Hsia. (Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 1985). (Insel Taschenbuch ; 852). S. 189-242. Publication / Hsia6
  • Source: Hagdorn, Christian W. Aequan, oder der Grosse Mogol : das ist Chinesische und Indische Stahts- Kriegs- und Liebes-geschichte. In unterschiedliche Teile verfasset durch Christ. W. Hagdorn ; duchgehents mit viel schönen Kupferstücken verziert. (Amsterdam : Bey Jacob von Mörs, 1670). (HagCh1, Publication)
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1-4. (Riga : Hartknoch, 1784-1791). [Bd. 3 (1787) enthält das Kapitel Sina und Tibet]. (Herd1, Publication)
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches. In : Adrastea. Bd. 4. (1803). (Herd3, Publication)
  • Source: Mehring, Franz. Kiautschou. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit (1898). [Jiaozhou (Shandong)]. (Mehr1, Publication)
  • Source: Mehring, Franz. Die reifende Ernte. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit ; Jg. 18. Bd. 2. 1899-1900.
    https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/mehring
    /1900/franz-mehring-die-reifende-ernte
    . (Mehr2, Publication)