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Year

1803

Text

Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches [ID D17255].
Herder schreibt : Der Anfgang des vorigen Jahrhunderts fand die Europäischen, besonders die Römischen Christen in grosser Erwartung ; ein Welttheil, wie das Kaiserthum Sina ist, der schlaueste Welttheil Asiens, war auf dem Punkt, christlich zu werden, oder war, (so glaubten viele,) es schon geworden. Welch ein Gewinn, sagte man, für den Himmel ! Welch ein Gewinn für Europa in Ansehung der Wissenschaften und – des Handels ! Zu bald zerging diese Hoffnung. Frühe nämlich war das Christenthum schon in das ferne Sina gedungen, und hatte daselbst in die Religion der Bonzen wahrscheinlich mitgewirket. In der neueren Jahrhunderten, seit Missionen nach Asien geschäftig waren, hatte es, der Verschlossenheit des Landes ungeachtet, auch bisher an Emissarien nicht gefehlet. Insonderheit waren die Jesuiten eben so klug, als thätig ; sie ergriffen das einzige und edelste Band, das sie mit Kaiser und Reich verknüpfen konnte, das Band der Wissenschaften, der Künste. Versagen kann man ihnen den Ruhm nicht, dass seit dem Pater Ricci, der ihr Ansehen dort eigentlich gründete, sie eine Rehe gelehrter, weltkluger, unverdrossener Männer dahin gefördert, die auch Europa mit Känntnissen dieses grossen Reichs und seiner anliegenden Länder, mit Känntnissen ihrer Sprache und Bücher, ihrer Verfassung und Gebräuche sehr bekennt gemacht haben. In Europa selbst kennen wir manchen Staat weniger als Sina. Nun war zwar währender Vormundschaft des unmündigen Kaisers Kang-hi [Kangxi] durch einmüthigen Schluss der Reichstände das Christenthum für falsch und dem Reich schädlich erklärt, auch bei Leibes- und Lebensstrafe verboten. Den angesehensten Vorsteher desselben, den Jesuiten Schall, hatte man ins Gefängniss gelegt und die Verfolrung gegen christliche Mandarine weit getrieben. Seit Kann-hi [Kangxi] selbst aber auf den Thron kam und aus Liebe zu den Europäischen Wissenschaften auch ihre Lehrer liebte, seit Er im Jahre 1692 die christliche Religion für gut, seinem Reich heilsam, seinen Unterthanen erlaubt erklärt hatte, den Jesuiten eine prächtige Kirche baute, eine Gesandtschaft an den Papst schickte u.f. ; in wie grosser Hoffnung lebte man ! die Bekehrung des Kaisers und nach ihm des ganzen Reichs erwartend. Diese folgte nun zwar bis an seinen Tod nicht ; da die fremde Religion indess während seiner langen Regierung im Reich geblühet hatte und der Kaiser, trotz aller Feindseligkeiten, die andere Orden den Jesuiten durch den Römischen Hof selbst erregten, seinen Freunden treu geblieben war, so hoffte und wirkte man fort. Unglaublich ist die Geduld, die der Monarch gegen die Eingriffe Roms in die Rechte seiner Herrschaft erwies, indem er sie jederzeit nur gesetzmässig zurücktrieb oder lähmte, übrigens aber den Papst für „unverständig erklärte, dass er in einem ihm fremden Lande gebieten wolle, und über gesetzliche Gebräuche seines Reichs dem Kaiser selbst nicht glaube. Durch wie kleinfügige Streitigkeiten machte man die grosse Unternehmung zunicht, um welche sich damals die Jesuiten so viele und so feine Mühe gaben ! da sie blos ein Ceremoniel betrafen. Tien z.B. heisst der Himmel in jener Sprache, mit welchem Wort die Sinesen auch Gott benennen ; statt dessen sollten sie christlich Tien-Chu, „Herr des Himmel“ sagen. Die Ehre, die man dem Andenken des grossten Lehrers der Nation, Kung-tse (den wir Confuicus nennen) und dem Andenken der Vorfahren überhaupt nach einem unverbrüchlich gesetzlichen Landesgebrauch erwies, sollte theils abgeschafft, theils verändert, von den Täfelchen der Vorfahren z.B. die Überschrift ausgelassen und nur der Name derselben darauf bemerkt werden u.f. Welche unselige Mühe man sich über Dinge dieser Art gemacht : wie bittre Streitigkeiten darüber geführt, welche Bibliotheken für und wider geschrieben worden, wäre unglaublich, wenn es nicht vor Augen läge, so dass der Papst selbst zuletzt alles Chreiben darüber verbieten musste. Und welche Gesandtschaften von Rom nach Sina, von Sina nach Rom ! welche Congregationen in Rom ! welche Machinationen in Sina ! da dann wie gewöhnlich die Französischen Fechter die lautesten, die Italiäner, Mezzabarba z.B. die vorsichtigeren waren, indem jene sich den Sitten dieses Reichs zuwider eben so unklug als unverständig benahmen, überhaupt aber in Rom selbst die Sache sehr unsinesisch behandelt ward. Könnt ihr die Sprach-Organe einer Nation ändern ? Wenn der Sinese z.E. den Namen Maria nicht aussprechen kann, weil ihm Buchstaben in seinem Alphabet fehlen, die er nach seiner von Kindheit an gewohnten Mundart verändert, wer will es ihm wehren ? Eben so wenig könnet ihr seine Vorstellungsart ändern, die an Gebräuchen und Ceremonien haftet : denn auch diese sind eine Sprache und in Sina mit dem Staat sowohl als der Moral innig verwebet. Vom kindlichen Gehorsam gehet dort alles aus. Durch alle Stände bis zum Oberhaupt des Staats, ja bis auf die entferntesten Vorfahren verbreiten sich diese Ceremonien und Pflichten. Ihre Buchstaben, ihre Regeln und Sprüche, ihre clasischen Bücher, ihre häuslichen und öffentlichen Gebräuche, ihre Lebens- und Staatsweise ist auf dies Principium gegründet, ist darnach geordnet. Entweder musste also der christliche Katechismus den heiligen Büchern gemäss, d.i. clasisch gemacht werden, oder er blieb der Nationa unverständlich, unannehmlich. So auch mit den Gebräuchen. Der an sein Land, an die Sitten seiner Vorfahren gefesselte, von aller Welt abgeschlossene Sinese ist ganz ein Sinese und wird es wahrscheinlich noch Jahrtausende hinab bleiben. Sobald Kang-hi [Kangxi] starb, verbot sein Nachfolger Yong-tsching [Xongzheng] das Christenthum, liess im ganzen Reich, Pekin ausgenommen, die Kirchen niederreissen, und verfolgte die Christen, deren Anzahl die Jesuiten damals auf 300'000 angaben. Der Kaiser schrieb selbst einen Unterricht in der Religion für sein Reich. Der gute Kein-long [Qianlong], Nachfolger Yong-tschings, der seit 1734 das Jahrhundert hinaus eben so billig und gerecht, als klug regiert hat, liebte zwar, die Wissenschaften der Europäer, so fern sie ihm in seinem Reich nützlich schienen, deuldete auch das Christenthum in Pekin, ja gab einigemal günstige Befehle für die Christen in den Provinzen. Da diese aber immer gemissbraucht wurden, schloss er endlich die Kirchenfreiheit auf einige bestimmte Plötze seiner Residenz ein, hielt den fremden Gottesdienst, als gefährlich, unter strengem Gehorsam seiner Reichsgesetze, und liess die Fremden überhaupt nie ohne sorgsame Aufsicht. So lange die Beherrscher Sina’s wie Kine-long denken, wird kein Europäischer Cultus in Sina aufkommen, zumal der nicht, der sich durch Anmaassungen und Unruhen dem Reich so feindlich gezeigt hat. Auch wie viel Verbannungen, Gefängnissen und Stockschlägen christlichgewordner Mandarine sind die fremden Bekehrer Schuld gewesen ! Und wofür litten diese Bekehrte ? Für fremde Worte und Gebräuche.
Der einzige Gewinn, der Europa durch diese Bemüungen worden ist, sind Känntnisse, die gewissermasse die Ost- und Westwelt binden. Französischen und Deutschen Jesuiten, den Vätern Gerbillon, Gruber, Couplet, Noel, Verbiest, du Hale, Amiot u.f. haben wir Mancherlei zu danken, wodurch Geist und Fleiss Europäischer Gelehrter zum Studium der dortigen Sprache und Literatur, der dortigen Zeitrechnung, Astronomie, Geschichte, Naturgeschichte u.f. erweckt sind. Der einzige Deguignes hat hierüber so viel geleistet, als eine Sinesische Akademie ; auch die von Paw erregten Streitigkeiten über die Sineser haben durch die Beantwortungen der Väter von dort aus zu mehrerem Licht geleitet. Die Philosophie, vorzüglich die politische Sittenlehre jener Nation hat in Europa vielen Beifall gefunden ; Leibnitz, Bilfinger, Wolf nahmen sich ihrer in Deutschland an, der letzte fast mit einem ihm sonst ungewohnten Enthusiasmus. In Frankfreich sind die classischen Bücher der Sinesen in jedem Format erschienen, wie sich denn die SinesischeWeisheit in Französischer Sprache beredt und artig ausnimmt. Die Belehrungen der Kaiser an ihr Volk, die Antworten derselben an ihre Staatsdiener sprechen of so väterlich als majestätisch, und das Lob der reinsten Sitten-Vernunft kann man ihnen schwerlich versagen. Wer sich über den Fortgang der Europäischen Wissenschaften in Sina am lebhaftesten gefreuet hatte, war Leibnitz ; der grosse Mann sah ihre Verpflanzung aus der West- in die Ostwelt mit dem umfassenden Blick an, der dieser Erscheinung gebührte. Den Umsturz seiner Hoffnungen erlebte er nicht ; in den Streitigkeiten, die ihn vorbereiteten, war er stets auf Seiten der vernünftigen, billigen, gelinderen Meinung.
Was lehret dieses Ereigniss, das so weit aussehende Hoffnungen auf Einmal hinwarf ? Die bekannte Regel der Nemesis : "wodurch Jemand sündigt, dadurch wird er gestraft". Despotische Macht stritt hier gegen despotische Macht, Gebräuche gegen Gebräuche ; natürlich mussen in Sina die Römischen unter den alten ewigen Reichsgebräuchen, die Macht des Römischen Bischofs unter der Gewalt des Kaisers, der Oberpriester seines Reichs, ein Sohn des Himmels ist, erliegen. Wenige Pinselstriche eines kaiserlichen Edikts endeten den Handel ; die zankenden Mönche erreichten ihren Zweck, und sofern hatte ihr Neid nicht übel gerechnet. Ob das angetretene Jahrhundert einholen werde, was das vergangene so schnöde verlohr ? ist eine missliche Frage. In Ansehung der Freiheit stehn in Sina die Christen hinter Juden und Mohamedanern. Einen Zug indess macht der politische Scharfsinn der Jesuiten für alle Zeiten merkwürdig, und vielleicht für die künftigen brauchbar. Als gelehrte Mandarine galten sie ; giebts für Europäische Missionare einen edleren Namen ?Ists ihre reine Absicht, Völker aufzuklären, das Wohl der Reiche nicht zu untergraben, sondern durch Wissenschaften und Sitten auf dem Grundstein echter Menschlichkeit zu sichern, welchen Namen können sie edler führen, welch’ Amt Ehrenvoller verwalten, als das Amt gelehrter, sittlicher Mandarine. Dann fliegt der Schwan den dort die Patres aus kaiserlicher Huld als Ehrenzeichen an der Brust tragen, gern Himmel und singt den Völkern der Erde süssen Gesang.

Lee Eun-jeung : Herder geht es vor allem um die Würdigung der wissenschaftlichen und philosophischen Leistung der Jesuitenmissionare in China. Er versucht, unter Zuhilfenahme seines einfühlenden Empfindens, die theoretisch-philosophische Sittenlehre des Konfuzianismus als geistige Grundlage des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und die Wirklichkeit Chinas auseinanderzuhalten.

Subjects

Philosophy : Europe : Germany / Religion : Christianity

Documents (4)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1977 Faus, Ulrich. Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder. (Münster : Aschendorff, 1977). (Aevum Christianum ; 12). S. 182. Publication / FauU1
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Faust, Ulrich
  • Person: Herder, Johann Gottfried
2 1985 Deutsche Denker über China. Hrsg. von Adrian Hsia. (Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 1985). (Insel Taschenbuch ; 852). S. 135-140. Publication / Hsia6
  • Source: Hagdorn, Christian W. Aequan, oder der Grosse Mogol : das ist Chinesische und Indische Stahts- Kriegs- und Liebes-geschichte. In unterschiedliche Teile verfasset durch Christ. W. Hagdorn ; duchgehents mit viel schönen Kupferstücken verziert. (Amsterdam : Bey Jacob von Mörs, 1670). (HagCh1, Publication)
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1-4. (Riga : Hartknoch, 1784-1791). [Bd. 3 (1787) enthält das Kapitel Sina und Tibet]. (Herd1, Publication)
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches. In : Adrastea. Bd. 4. (1803). (Herd3, Publication)
  • Source: Mehring, Franz. Kiautschou. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit (1898). [Jiaozhou (Shandong)]. (Mehr1, Publication)
  • Source: Mehring, Franz. Die reifende Ernte. In : Mehring, Franz. Politische Publizistik 1891 bis 1904. (Berlin, Dietz, 1964). In : Die neue Zeit ; Jg. 18. Bd. 2. 1899-1900.
    https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/mehring
    /1900/franz-mehring-die-reifende-ernte
    . (Mehr2, Publication)
3 2003 Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 229-230, 251. Publication / LeeE1
  • Source: Leibniz, Gottfried Wilhelm. De cultu Confucii civili. In : Brief an Antoine Verjus. (Leib40, Publication)
  • Source: Justi, Johann Heinrich Gottlob von. Gesammelte Politische und Finanzschriften über wichtige Gegenstände der Staatskunst, der Kriegswissenschaften und des Cameral- und Finanzwesens. Bd. 1. (Kopenhagen : Rothe, 1761). [Enthält] : Die Nothwendigkeit einer genauen Belohnung und Bestrafung der Bedienten eies Staats ; Vortrefliche Einrichtung der Sineser in Ansehung der Belohnung und Bestrafung vor die Staatsbedienten. [Artikel über das chinesische Verwaltungssystem ; zweiter Artikel ist die Übersetzung von Lamberts, Claude. Recueil d'observations curieuses. (Paris : 1749) ; Artikel geschrieben 1754]. (JusJ2, Publication)
  • Source: Weber, Max. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen : Der Konfuzianismus. In : Archiv für Sozialpolitik ; Bd. 41, Heft 1, S. 1-87 ; Heft 2, S. 335-421 (1915). Erstabdruck der ersten Fassung. (Web66, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Gatterer, Johann Christoph
  • Person: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
  • Person: Herder, Johann Gottfried
  • Person: Kant, Immanuel
  • Person: Lee, Eun-jeung
  • Person: Leibniz, Gottfried Wilhelm
  • Person: Marx, Karl
  • Person: Schlözer, August Ludwig von
  • Person: Weber, Max
  • Person: Wittfogel, Karl A.
  • Person: Wolff, Christian
4 2008 http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/adrastea/index.htm. Web / UBi2
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Das Buch der gerechten Mitte, Tshong-Yong genannt. In : Adrastea. Bd. 4 (1802). [Zhong yong]. (Herd4, Publication)
  • Source: Montesquieu, Charles de Secondat de. Von den Sinesen. [Übersetzt von Johann Gottfried Herder]. In : Adrastea ; Bd. 4 (1802). Übersetzung von Montesquieu, Charles de Secondat de. Propriété particulière au gouvernement de la Chine. In : Esprit des loix [ID D1829]. (Herd6, Publication)
  • Source: Herder, Johann Gottfried. Sinesische Exempel der Tage. In : Adrastea. Bd. 6 (1803). (Herd5, Publication)