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“Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder” (Publication, 1977)

Year

1977

Text

Faus, Ulrich. Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder. (Münster : Aschendorff, 1977). (Aevum Christianum ; 12). (FauU1)

Type

Publication

Contributors (1)

Faust, Ulrich  (Harburg-Wilhelmsburg 1935-) : Professor für Kirchengeschichte Hildesheim

Mentioned People (1)

Herder, Johann Gottfried  (Mohrungen 1744-1803 Weimar) : Philosoph, Theologe

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Chronology Entries (8)

# Year Text Linked Data
1 1763-1764 Johann Gottfried Herder besucht die Vorlesung über physische Geographie von Immanuel Kant, was ihm die ersten Kenntnisse über die Religionen Asiens vermittelt und sein Interesse geweckt hat. Er erfährt nicht nur eine Einführung in die Naturphilosophie und Kosmologie, sondern auch in Anthropologie und Religionsgeschichte.

Lee, Eun-jeung : In seiner Nachschrift über Kant gibt Herder eine Charakterisierung von China, die auf einen Essai von Voltaire zurückgeht. Kant ist aber nicht unbedingt prägend für Herders Chinabild. Herder hat sich bereits während seiner Studienzeit mit Fragen nach den Gesetzen der Veränderung im Leben der Völker und der Menschheit und nach der Konstanz im Wandel der geschichtlichen Welt beschäftigt. Dabei geht er stets davon aus, dass man gewisse Grundfaktoren der Menschheitsgeschichte erkennen kann, die mit gewissen Triebkräften in der Natur vergleichbar sind.
  • Document: Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 228-229, 231. (LeeE1, Publication)
  • Person: Herder, Johann Gottfried
  • Person: Kant, Immanuel
2 1766 Johann Gottfried Herder schreibt eine Zusammenfassung über Vier Abhandlungen von David Hume. [ID D17071]. Er schreibt darin : Die wilden Geschlechter in Asien, Afrika und Amerika sind alle abgöttisch. Hier ist keine einzige Ausnahme zu machen.

Ulrich Faust : Die wichtigste Erkenntnis Herders in diesem Aufsatz ist die Feststellung, dass die ältesten Urkunden der verschiedenen Völker eine verfeinerte Form ihrer barbarischen Mythologie darstellen. Ihr Inhalt bleibt mythisch. Wichtig ist, dass der Mythos aus der ursprünglichen Stufe der religiösen Entwicklung in die höhere Religionsform tradiert wird, und zwar seinem Inhalt nach wenig verändert.
  • Person: Herder, Johann Gottfried
3 1771 Haller, Albrecht von. Usong [ID D11893].
Zhu Yanbing : Haller setzt sich im Roman Usong mit China auseinander. Der erste Band ist die Geschichte von Usong und dem Geschlecht der Tschengiden, der zweite die Geschichte von Usongs Staat und seine Staatsregierung, der dritte die Geschichte von Usongs Kindern und der vierte das endgültige Bekenntnis Usongs zum Christentum.
Usong ist Sohn des Tschengiden Timurtasch, eines Nachkommen des einst über China herrschenden mongolischen kaiserlichen Hauses. Er erhält eine konfuzianische Erziehung und gerät mit 14 Jahren in einem Krieg gegen China in Gefangenschaft von Liewang, eines chinesischen Unterkönigs. Liewang ist ein Herr, der "alle Gaben des Verstandes vereinigt : ein würdiger Urengkel des Kon-fu-zee" und seine Tocher Liosua "ein konfuzianisches Mustermädchen". Usong ist bei Liewang als Gärtner tätig und wird "in den Gesetzen, den Gebräuchen und den Wissenschaften eines Reiches unterwiesen, das seit so vielen Jahren der Mittelpunkt der Ordnung und der öffentlichen Glückseligkeit ist". Aber seine heimliche Liebe zu Liosua verärgert Liewang und er wird in eine entlegene Provinz verbannt. Er flieht über Ägypten nach Venedig, wo er nicht die knechtische Unterwerfung, die in China herrscht, vorfindet. Dann reist er über die Türkei, Arabien nach Persien. Er kommt auf den persischen Thron und schickt eine Gesandtschaft nach China, um Liosua abzuholen und zu heiraten. Er überlegt, wie er das verkommene Perserreich wieder in Ordnung bringen soll und sammelt alles in seinem Gedächtnis, was er von den alten Weisen in China gelernt, und was er sonst vom erfahrenen Liewang gehört hatte. Er strebt bei seiner Staatsregierung nach einer west-östlichen Synthese, bekennt sich aber letzten Endes zum Christentum.
Die Frankfurter gelehrten Anzeigen kommentieren : Usong, Held des Romans "ist von Anfgang bis Ende höchst tugendhaft, trägt alle zum Throne erforderlichen Qualitäten in einem gelben Gürtel, der Zeuge seiner kaiserlichen Abkunft ist, liefert Schatten, rettet Prinzessinnen, erobert Reiche, macht herrliche Gesetze, am Ende ein Testament und stirbt".
Haller zeigt hinsichtlich der Handlung und des Schauplatzes nur eine äussere Berühung mit konfuzianischen staatsphilosphischen Ideen.

Liu Weijian : Haller schreibt über die Organisation des konfuzianischen Staates, indem er die Lebensgeschichte des persischen Kaisers Usong erzählt. Usong praktiziert das konfuzianische Staatsideal und wird zum musterhaften Herrscher eines Landes. Demgegenüber werden Laozis Anhänger negativ skizziert : Sie glauben nicht an Gott ; sie relativieren den Unterschied zwischen Gut und Böse und streiten die moralische Überlegenheit der Tugend gegenüber dem Laster ab ; sie seien ein Haufen Bonzen und Anhänger des chinesischen Epicurs und schwärmen nur für den leiblichen Genuss.
Damit wird die pauschale moralische Verurteilung des Taoismus durch die Missionare wiederum in die deutsche Literatur aufgenommen.

Ulrich Faust : Die Geschichte des chinesischen Mandarins Oel-fu, eines Jüngers des Konfzius, trägt autobiographische Züge. Aber die Chinabegeisterung ist einer kritischen Haltung gewichen. Haller sagt von Usong : Zu sehr hatte er sich in China überzeugt, dass ohne die Furcht des obersten Wesens die Menschen zwar eine äusserliche Ehrfurcht beobachten, aber ihren Begierden kein genugsam kräftiges Gleichgewicht entgegensetzen können.
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 20. (LiuW1, Publication)
  • Document: Zhu, Yanbing. Die konfuzianischen staatsphilosophischen Ideen in den Staatsromanen von Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland. In : Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive. Symposium, 26.-30.8.1991. In : Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin ; Bd. 12 (1991). (ZhuY2, Publication)
  • Person: Haller, Albrecht von
  • Person: Laozi
4 1772 Wieland, Christoph Martin. Der goldene Spiegel [ID D11894].
Quelle : Du Halde, Jean-Baptiste. Description géographique, historique, chronologique, politique et physique de l'empire de Chine [ID D1819]. [Ji, Junxiang. Zhao shi gu er].

Zhu Yanbing : Wieland bezieht sich folgendermassen auf China : In der Einleitung macht er eine fiktive Bemerkung, dass der Roman ursprünglich eine scheschianische Handschrift war, über chinesische und lateinische Übersetzung zu ihm gelangte und von ihm ins Deutsche übersetzt wurde. Um die Authentizität seiner fiktiven Bemerkung zu bekräftigen, eröffnet er seinen Roman mit einer Zueignungsschrift des fiktiven chinesischen Übersetzers an den Kaiser Tai-Tsu, "den glorwürdigsten Sohn des Himmels", in der Autor seine Forderungen an die deutschen Fürsten dem chinesischen Übersetzer in den Mund legt : "Ihrer Majestät lebhaftestes Verlangen ist, Ihre Völker glücklich zu sehen“. Im Anschluss schreibt er, dass sein Buch "eine Art Auszug aus der Geschichte der Könige von Scheschian" sei, die den Prinzen aus dem Hause des Kaisers Tai-Tsu Begriffe und Maximen einflössen könnte, von deren Gebrauch oder Nichtgebrauch das Glück der sinensischen Provinzen grossenteils abhängen dürfte.
Wieland zeigt den deutschen Fürsten ein "raum- und zeitloses Idealbild". Es wird geschildert, wie dumme Könige das Land Scheschian ruinieren und wie ein weiser und tugendhafter Herrscher es wieder "von der untersten Stufe des Elends bis zum Gipfel der Nationalglückseligkeit" führt. Er verherrlicht die Thronbesteigung Tifans, der von einem Lehrer nach chinesischem Vorbild erzogen worden ist. Schun, "der beste unter allen sinensichen Grosskönigen" war ein sagenhafter König, den Konfuzius und seine Nachfolger hochpriesen und idealisierten und ihren jeweiligen Herrschern als nachahmenswertes Vorbild vorhalten und der Autor führt dieses Vorbild den deutschen Fürsten vor. Der König ist "Statthalter der Gottheit" und vollzieht auf Erden die gesetzgebende und ausübende Macht. Der Adel bildet den ersten Stand und hat "ein angeborenes Recht auf alle obersten Staats- und Kriegsbedienungen" inne. Aber sein Mitspracherecht bei der Staatsregierung wird beschränkt. Die Kinder aller Klassen geniessen eine den "Bedürfnissen einer jeden Klasse" entsprechende Erziehung.

Liu Weijian : Christoph Martin Wieland kritisiert den Missbrauch des Menschenverstandes durch die Verkehrung der "Natur der sittlichen Dinge" und die Beschönigung "lasterhafter, unmenschlicher Handlungen" : Diejenigen, die sich solcher Vergehen schuldig gemacht hätten, wären von Konfuzius als Betrüger verschrieen worden, wohingegen sie bei Laozi aber "Weise" genannt würden.

Adrian Hsia : Das oberste Gebot im Zeitalter der Aufklärung ist die vernünftige Natur. Der chinesische Sagenkönig Shun ist, nach Wieland, der idealste aller Herrsscher, weil er nach dem konfuzianischen Ideal erzogen worden ist : nämlich zur Selbstvervollkommnung und dann als Patriarch der Familie und zuletzt als Landesvater. Dabei ist das Massgebende die 'Güte der Sitten'... Wieland sieht auch Nutzen in der geregelten zeremoniellen Höflichkeit der Chinesen... und will lediglich den Aberglauben beseitigen und einen vernünftigen Gottesdienst eingeführt sehen, um das höchste Wesen zu verehren.

Ulrich Faust : Die Feindschaft gegen den kontemplativen Stand der Ya-faous ist die literarische Spiegelung der Polemik, die der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773 und der 1782 erfolgten Unterdrückung von 700 österreichischen Klöstern vorausging. Die Aversion gegen das "Monchsunwesen" wird auf einem asiatischen Schauplatz gezeigt.
  • Document: Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 47. (Hsia12, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 20-21. (LiuW1, Publication)
  • Document: Zhu, Yanbing. Die konfuzianischen staatsphilosophischen Ideen in den Staatsromanen von Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland. In : Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive. Symposium, 26.-30.8.1991. In : Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin ; Bd. 12 (1991). (ZhuY2, Publication)
  • Person: Wieland, Christoph Martin
5 1785 Herder, Johann Gottfried. Fragment einer Abhandlung über die Mythologie, besonders über die indische.
Herder schreibt : Um zu einem Anblick des Ganzen zu kommen muss man zuerst die allgemeine Vernunft-Charte einzelner Völker wohl aufnehmen ; und offenbar sind unter diesen die unvermischten, alten, policirten Nationen die merkwürdigsten, wenigstens die nächsten für eine allgemeinere Betrachtung. Bei ihnen siehet man nicht nur was man auch bei barbarischen Völkern gewahr wird, Eigenheit und Originalität, sondern auch die Methode des Fortganges in den Wirkungen ihrer Seelenkräfte, bis auf den Punct, über den sie nicht hinauskonnten und also stillstanden oder sich unter einander verwirrten. Das schönste Feld dieser Betrachtung bleibt immer die griechische Mythologie und Dichtkunst : ihm zur Seiten würden die Ägypter und die Mythologien des Vorder-Asiens stehen, wenn wir aus den ältesten Zeiten mehres von ihnen wüssten ; indessen bleiben sie auch in den schmalsten Bruchstücken ihrer Tradition und Zeyt sehr merkwürdig. Die Völker des östlichen Asiens aber geben uns dafür eine desto vollere Ernte. Indien, Tibet, Sina und Japan nebst den angränzenden Ländern sind grosse Götzentempel, in welchen Vernunft und Einbildungskraft, viel sonderbare Formen erdacht, viel ungeheuere Bilder aufgestellt und verewiget haben. Das letzte Volk Asiens, das sich des höchsten Alterthums rühmet, die Sineser, haben nichts historisch-gewisses, das über das 722. Jahr von unsrer Zeitrechnung hinausginge. Die Reiche des Fohi und Hoangti sind Mythologie und was vor Fohi hergeht, das Zeitalter der Geister oder der personificrten Elemente, wird von den Sinesen selbst als dichtende Allegorie betrachtet.

Ulrich Faust : Herder fasst das Shu jing für seine Zwecke kurz zusammen, ohne mit der Verkürzung den Sinn zu ändern oder durch besondere Erkenntnisse zu bereichern.
  • Person: Herder, Johann Gottfried
6 1787 Herder, Johann Gottfried. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [ID D1955].
Quellen :
Le Comte, Louis. Nouveaux mémoires sur l'état de la Chine [ID D1771].
Du Halde, Jean-Baptiste. Description géographique... [ID D1819].
Mémoires concernant l'histoire, les sciences, les arts [ID D1867].
Gaubil, Antoine. Le Chou-king [ID D1856]. [Shu jing].
Pallas, Peter Simon. Sammlung historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften [ID D16796].
Quelle zu Tibet : Georgi, Agustin Antonio. Alphabetum tibetanum [ID D17081].

Herder schreibt zu seinen Quellen : Um die fleissigen Versuche eines Deguignes, Bayers, Gatterers u.a., die kühneren Hypothesen Baillys, Pauws, Delisle u.f., die nützlichen Bemühungen in Sammlung und Bekanntmachung asiatischer Sprache und Schriften sind Vorarbeiten zu einem Gebäude, dessen ersten sichern Grundstein ich zu sehen wünschte.
Im umfangreichen handschriftlichen Nachlass Herders in der Staatbibliothek Berlin, befinden sich eine Reihe von Büchern über China und Ostasien, sowie Zusammenfassungen des Shu jing und Yi jing.

Herder schreibt : Südwärts am Fluss der grossen Asiatischen Gebürge haben sich, so viel uns aus der Geschichte bekannt ist, die ältesten Reiche und Staaten der Welt gebildet ; auch giebt uns die Naturgeschichte dieses Welttheils Ursachen an die Hand, warum sie sich nicht sowohl Nord- als Südwärts bilden konnten… In diesem hohen, zerschnittenen, steilabhängigen Lande, der Steppen- und Bergregion unsrer alten Welt, mussten also lange Zeit und in manchen Strichen vielleicht immer, Sarmaten und Scythen, Mongolen und Tatern, halbwilde Jäger und Nomaden wohnen. Das Bedürfniss und die Gegend machte die Menschen barbarisch : eine einmal gewohnte Gedankenlose Lebensart bevestigte sich in den abgetrennten oder umherziehenden Stämmen und bildete bei roheren Sitten jenen beinah ewigen National-Charakter, der alle Nord-Asiatischen Stämme von den südlichen Völkern so ganz unterscheidet… Da aber, was die Vernunft noch nicht thun kann, der Despotismus thun muss, so entstanden im südlichen Asien jene Gebäude der Policeien und Religionen, die uns wie Pyramiden und Götzentempel der alten Welt in ewigen Traditionen dastehn ; schätzbare Denkmale für die Geschichte der Menschheit, die uns in jeder Trümmer zeigen, wie viel der Bau der Menschen-Vernunft unserm Geschlecht gekostet habe.

Sina

Im östlichen Winkel Asiens unter dem Gebirge liegt ein Land, das an Alter und Kultur sich selbst das Erste aller Länder, die Mittelblume der Welt nennt, gewiß aber eins der ältesten und merkwürdigsten ist: Sina. Kleiner als Europa, rühmt es sich einer größern Anzahl Einwohner, als in Verhältnis dieser volkreiche Weltteil hat; denn es zählt in sich über 25 Millionen und zweimal Hunderttausend steuernde Ackerleute, 1572 große und kleine Städte, 1193 Kastelle, 3158 steinerne Brücken, 2796 Tempel, 2606 Klöster, 10809 alte Gebäude u. f.181, welche alle von den 18 Statthalterschaften, in welche das Reich geteilt ist, samt Bergen und Flüssen, Kriegsleuten und Gelehrten, Produkten und Waren in langen Verzeichnissen jährlich aufgestellt werden. Mehrere Reisende sind darüber einig, daß außer Europa und etwa dem alten Ägypten wohl kein Land so viel an Wege und Ströme, an Brücken und Kanäle, selbst an künstliche Berge und Felsen gewandt habe als Sina, die, nebst der Großen Mauer, alle doch vom geduldigen Fleiß menschlicher Hände zeugen. Von Kanton bis nahe bei Peking kommt man zu Schiff, und so ist das ganze mit Bergen und Wüsten durchschnittene Reich durch Landstraßen, Kanäle und Ströme mühsam verbunden; Dörfer und Städte schwimmen auf Flüssen, und der innere Handel zwischen den Provinzen ist reg und lebendig. Der Ackerbau ist die Grundsäule ihrer Verfassung: man spricht von blühenden Getreide- und Reisfeldern, von künstlich gewässerten Wüsten, von urbar gemachten wilden Gebirgen; an Gewächsen und Kräutern wird gepflegt und genutzt, was genutzt werden kann; so auch Metalle und Mineralien, außer dem Golde, das sie nicht graben. Tierreich ist das Land, fischreich die Seen und Ströme; der einzige Seidenwurm ernährt viele Tausende fleißiger Menschen. Arbeiten und Gewerbe sind für alle Klassen des Volks und für alle Menschenalter, selbst für Abgelebte, Blinde und Taube. Sanftmut und Biegsamkeit, gefällige Höflichkeit und anständige Gebärden sind das Alphabet, das der Sinese von Kindheit auf lernt und durch sein Leben hin unablässig übt. Ihre Polizei und Gesetzgebung ist Regelmäßigkeit und genau bestimmte Ordnung. Das ganze Staatsgebäude in allen Verhältnissen und Pflichten der Stände gegeneinander ist auf die Ehrerbietung gebaut, die der Sohn dem Vater und alle Untertanen dem Vater des Landes schuldig sind, der sie durch jede ihrer Obrigkeiten wie Kinder schützt und regiert: könnte es einen schönern Grundsatz der Menschenregierung geben? Kein erblicher Adel; nur Adel des Verdienstes soll gelten in allen Ständen; geprüfte Männer sollen zu Ehrenstellen kommen, und diese Ehrenstellen allein geben Würde. Zu keiner Religion wird der Untertan gezwungen und keine, die nicht den Staat angreift, wird verfolgt; Anhänger der Lehre Konfuzius', des Laotse und Fo, selbst Juden und Jesuiten, sobald sie der Staat aufnimmt, wohnen friedlich nebeneinander. Ihre Gesetzgebung ist auf Sittenlehre, ihre Sittenlehre auf die heiligen Bücher der Vorfahren unabänderlich gebaut: der Kaiser ihr oberster Priester, der Sohn des Himmels, der Bewahrer der alten Gebräuche, die Seele des Staatskörpers durch alle seine Glieder; könnte man sich, wenn jeder dieser Umstände bewährt und jeder Grundsatz in lebendiger Ausübung wäre, eine vollkommenere Staatsverfassung denken? Das ganze Reich wäre ein Haus tugendhafter, wohlerzogner, fleißiger, sittsamer, glücklicher Kinder und Brüder.

Jedermann kennet die vorteilhaften Gemälde der sinesischen Staatsverfassung, die insonderheit von den Missionarien nach Europa geschickt und daselbst nicht nur von spekulativen Philosophen, sondern von Staatsmännern sogar, beinah als politische Ideale bewundert wurden; bis endlich, da der Strom menschlicher Meinungen sich in entgegengesetzten Winkeln fortbricht, der Unglaube erwachte und ihnen weder ihre hohe Kultur noch selbst ihre sonderbare Eigentümlichkeit zugestehen wollte. Einige dieser europäischen Einwürfe haben das Glück gehabt, in Sina selbst, obgleich ziemlich sinesisch, beantwortet zu werden, und da die meisten Grundbücher ihrer Gesetzgebung und Sittenverfassung samt der weitläuftigen Geschichte ihres Reichs und einigen gewiß unparteiischen Nachrichten vor uns liegen, so wäre es übel, wenn sich nicht endlich ein Mittelweg zwischen dem übertriebnen Lobe und Tadel, wahrscheinlich die richtige Straße der Wahrheit, auffinden ließe. Die Frage über das chronologische Altertum ihres Reichs können wir dabei völlig an ihren Ort gestellt sein lassen; denn so wie der Ursprung aller Reiche des Erdbodens mit Dunkel umhüllt ist, so mag es dem Forscher der Menschengeschichte gleichgültig sein, ob dies sonderbare Volk zu seiner Bildung ein paar Jahrtausende mehr oder minder bedurft habe; genug, wenn es diese Bildung sich selbst gab und wir sogar in seinem langsamen Gange die Hindernisse wahrnehmen, warum es nicht weiterkommen konnte.

Und diese Hindernisse liegen in seinem Charakter, im Ort seiner Wohnung und in seiner Geschichte uns klar vor Augen. Mongolischer Abkunft ist die Nation, wie ihre Bildung, ihr grober oder verschrobener Geschmack, ja selbst ihre sinnreiche Künstlichkeit und der erste Wohnsitz ihrer Kultur zeigt. Im nördlichen Sina herrschten ihre ersten Könige: hier wurde der Grund zu dem halbtatarischen Despotismus gelegt, der sich nachher, mit glänzenden Sittensprüchen überzogen, durch mancherlei Revolutionen bis ans Südmeer hinab verbreitet. Eine tatarische Lehnverfassung war Jahrhunderte hin das Band, das die Vasallen an den Herrscher knüpfte, und die vielen Kriege dieser Vasallen gegeneinander, die öftern Umstürze des Throns durch ihre Hände, ja selbst die ganze Hofhaltung des Kaisers, seine Regentschaft durch Mandarinen, eine uralte Einrichtung, die nicht erst die Dschengis-Khaniden oder Mandschu nach Sina gebracht haben; alle dies zeigt, welcher Art und welches genetischen Charakters die Nation sei: ein Gepräge, das man bei der Ansicht des Ganzen und seiner Teile, bis auf Kleider, Speisen, Gebräuche, häusliche Lebensart, die Gattungen ihrer Künste und ihres Vergnügens, schwerlich aus den Augen verliert. Sowenig nun ein Mensch seinen Genius, d.i. seine angeborne Stammart und Komplexion, zu ändern vermag, sowenig konnte auch durch jede künstliche Einrichtung, wenn sie gleich jahrtausendelang währte, dies nordöstliche Mongolenvolk seine Naturbildung verleugnen. Es ist auf diese Stelle der Erdkugel hingepflanzt, und wie die Magnetnadel in Sina nicht die europäische Abweichung hat, so konnten aus diesem Menschenstamme in dieser Region auch niemals Griechen und Römer werden. Sinesen waren und blieben sie, ein Volksstamm mit kleinen Augen, einer stumpfen Nase, platter Stirn, wenig Bart, großen Ohren und einem dicken Bauch von der Natur begabt; was diese Organisation hervorbringen konnte, hat sie hervorgebracht, etwas anders kann man von ihr nicht fordern.

Alle Nachrichten sind darüber einig, daß sich die mongolische Völkerschaften auf der nordöstlichen Höhe Asiens durch eine Feinheit des Gehörs auszeichnen, die sich bei ihnen ebensowohl erklären läßt, als man sie bei andern Nationen vergebens suchen würde; die Sprache der Sinesen ist von dieser Feinheit des Gehörs Zeuge. Nur ein mongolisches Ohr konnte darauf kommen, aus dreihundertdreißig Silben eine Sprache zu formen, die sich bei jedem Wort durch fünf und mehrere Akzente unterscheiden muß, um nicht statt Herr eine Bestie zu nennen und jeden Augenblick die lächerlichsten Verwirrungen zu sagen; daher ein europäisches Ohr und europäische Sprachorgane sich äußerst schwer oder niemals an diese hervorgezwungene Silbenmusik gewöhnen. Welch ein Mangel an Erfindungskraft im Großen und welche unselige Feinheit in Kleinigkeiten gehörte dazu, dieser Sprache aus einigen rohen Hieroglyphen die unendliche Menge von achtzigtausend zusammengesetzten Charakteren zu erfinden, in welchen sich nach sechs und mehr Schriftarten die sinesische Nation unter allen Völkern der Erde auszeichnet! Eine mongolische Organisation gehörte dazu, um sich in der Einbildungskraft an Drachen und Ungeheuer, in der Zeichnung an jene sorgsame Kleinfügigkeit unregelmäßiger Gestalten, in den Vergnügungen des Auges an das unförmliche Gemisch ihrer Gärten, in ihren Gebäuden an wüste Größe oder pünktliche Kleinheit, in ihren Aufzügen, Kleidungen und Lustbarkeiten an jene eitle Pracht, an jene Laternenfeste und Feuerwerke, an lange Nägel und zerquetschte Füße, an einen barbarischen Troß von Begleitern, Verbeugungen, Cerimonien, Unterschieden und Höflichkeiten zu gewöhnen. Es herrscht in alle diesem so wenig Geschmack an wahrem Naturverhältnis, so wenig Gefühl von innrer Ruhe, Schönheit und Würde, daß immer nur eine verwahrloste Empfindung auf diesen Gang der politischen Kultur kommen und sich von demselben so durchaus modeln lassen konnte. Wie die Sinesen das Goldpapier und den Firnis, die sauber gemalten Züge ihrer krausen Charaktere und das Geklingel schöner Sentenzen unmäßig lieben, so ist auch die Bildung ihres Geistes diesem Goldpapier und diesem Firnis, den Charakteren und dem Schellenklange ihrer Silben durchaus ähnlich. Die Gabe der freien, großen Erfindung in den Wissenschaften scheint ihnen, wie mehreren Nationen dieser Erdecke, die Natur versagt zu haben; dagegen sie ihren kleinen Augen jenen gewandten Geist, jene listige Betriebsamkeit und Feinheit, jenes Kunsttalent der Nachahmung in allem, was ihre Habsucht nützlich findet, mit reicher Hand zuteilte. In ewigem Gange, in ewiger Beschäftigung gehen und kommen sie des Gewinnes und Dienstes wegen, so daß man sie auch in ihrer höchstpolitischen Form immer noch für ziehende Mongolen halten könnte; denn bei allen ihren unzähligen Einteilungen haben sie die Einteilung noch nicht gelernt, Bewerbsamkeit mit Ruhe also zu gatten, daß jede Arbeit einen jeden auf seiner Stelle finde. Ihre Arzneikunst wie ihr Handel ist ein feines, betrügerisches Pulsfühlen, welches ihren ganzen Charakter in seiner sinnlichen Feinheit und erfindungslosen Unwissenheit malt. Das Gepräge des Volks ist eine merkwürdige Eigenheit in der Geschichte, weil es zeigt, was durch hochgetriebne politische Kultur aus einem Mongolenvolk, unvermischt mit andern Nationen, werden oder nicht werden konnte; denn daß die Sinesen in ihrer Erdecke sich, wie die Juden, von der Vermischung mit andern Völkern frei erhalten haben, zeigt schon ihr eitler Stolz, wenn es sonst nichts zeigte. Einzelne Kenntnisse mögen sie erlangt haben, woher sie wollten; das ganze Gebäude ihrer Sprache und Verfassung, ihrer Einrichtung und Denkart ist ihnen eigen. Wie sie das Einimpfen der Bäume nicht lieben, so stehen auch sie, trotz mancher Bekanntschaft mit andern Völkern, noch jetzt uneingeimpft da, ein mongolischer Stamm, in einer Erdecke der Welt zur sinesischen Sklavenkultur verartet.

Alle Kunstbildung der Menschen geschieht durch Erziehung; die Art der sinesischen Erziehung trug nebst ihrem Nationalcharakter mit dazu bei, warum sie das, was sie sind, und nicht mehr wurden. Da nach mongolischer Nomadenart kindlicher Gehorsam zum Grunde aller Tugenden, nicht nur in der Familie, sondern jetzt auch im Staat, gemacht werden sollte, so mußte freilich daher mit der Zeit jene scheinbare Sittsamkeit, jenes höfliche Zuvorkommen erwachsen, das man als einen Charakterzug der Sinesen auch mit feindlicher Zunge rühmt; allein was gab dieser gute Nomadengrundsatz in einem großen Staat für Folgen? Als in ihm der kindliche Gehorsam keine Grenzen fand, indem man dem erwachsnen Mann der selbst Kinder und männliche Geschäfte hat, dieselbe Pflicht auflegte, die nur dem unerzognen Kinde gebührte, ja, als man diese Pflicht auch gegen jede Obrigkeit festsetzte, die doch nur im bildlichen Verstande durch Zwang und Not nicht aber aus süßem Naturtriebe den Namen des Vaters führt: was konnte, was mußte daher anders entstehen, als daß indem man trotz der Natur ein neues menschliches Herz schaffen wollte, man das wahre Herz der Menschen zur Falschheit gewöhnte? Wenn der erwachsne Mann noch kindischen Gehorsam bezeugen soll, so muß er die selbstwirksame Kraft aufgeben, die die Natur in seinen Jahren ihm zur Pflicht machte; leere Cerimonien treten an die Stelle der herzlichen Wahrheit, und der Sohn, der gegen seine Mutter, solange der Vater lebte, in kindlicher Ergebenheit hinschwamm, vernachlässigt sie nach seinem Tode, sobald nur das Gesetz sie eine Konkubine heißt. Gleichergestalt ist's mit den kindlichen Pflichten gegen die Mandarinen: sie sind kein Werk der Natur, sondern des Befehls; Gebräuche sind sie, und wenn sie gegen die Natur streben, so werden sie entkräftende, falsche Gebräuche. Daher der Zwiespalt der sinesischen Reichs- und Sittenlehre mit ihrer wirklichen Geschichte. Wie oft haben die Kinder des Reichs ihren Vater vom Thron gestoßen, wie oft die Väter gegen ihre Kinder gewütet! Geizige Mandarine lassen Tausende verhungern und werden, wenn ihr Verbrechen vor den höheren Vater kommt, mit elenden Stockschlägen wie Knaben unwirksam gezüchtigt. Daher der Mangel an männlicher Kraft und Ehre, den man selbst in den Gemälden ihrer Helden und Großen wahrnimmt: die Ehre ist kindliche Pflicht geworden, die Kraft ist in modische Achtsamkeit gegen den Staat verartet; kein edles Roß ist im Dienst, sondern ein gezähmter Maulesel, der in Gebräuchen von Morgen bis zum Abende gar oft die Rolle des Fuchses spielt.

Notwendig mußte diese kindische Gefangenschaft der menschlichen Vernunft, Kraft und Empfindung auf das ganze Gebäude des Staats einen schwächenden Einfluß haben. Wenn einmal die Erziehung nichts als Manier ist, wenn Manieren und Gebräuche alle Verhältnisse des Lebens nicht nur binden, sondern auch überwältigen: welche Summen von Wirksamkeit verliert der Staat! zumal die edelste Wirksamkeit des menschlichen Herzens und Geistes. Wer erstaunt nicht, wenn er in der sinesischen Geschichte auf den Gang und die Behandlung ihrer Geschäfte merkt, mit wie vielem ein Nichts getan werde! Hier tut ein Kollegium, was nur einer tun muß, damit es recht getan sei; hier wird gefragt, wo die Antwort daliegt; man kommt und geht, man schiebt auf und weicht aus, nur um das Cerimoniel des kindlichen Staatsrespekts nicht zu verfehlen. Der kriegerische sowohl als der denkende Geist sind fern von einer Nation, die auf warmen Öfen schläft und von Morgen bis zum Abende warm Wasser trinkt. Nur der Regelmäßigkeit im gebahnten Wege, dem Scharfsinn in Beobachtung des Eigennutzes und tausend schlauer Künste, der kindischen Vieltätigkeit ohne den Überblick des Mannes, der sich fragt, ob dies auch nötig zu tun sei und ob es nicht besser getan werden möge: nur diesen Tugenden ist in Sina der königliche Weg eröffnet. Der Kaiser selbst ist in dies Joch gespannt; er muß mit gutem Beispiel vorgehen und wie der Flügelmann jede Bewegung übertreiben. Er opfert im Saal seiner Vorfahren nicht nur an Festtagen, sondern soll bei jedem Geschäft, in jedem Augenblick seines Lebens den Vorfahren opfern und wird mit jedem Lobe und jedem Tadel vielleicht gleich ungerecht bestraft.

Kann man sich wundern, daß eine Nation dieser Art nach europäischem Maßstabe in Wissenschaften wenig erfunden, ja, daß sie Jahrtausende hindurch sich auf derselben Stelle erhalten habe? Selbst ihre Moral- und Gesetzbücher gehen immer im Kreise umher und sagen auf hundert Weisen genau und sorgfältig mit regelmäßiger Heuchelei von kindlichen Pflichten immer dasselbe. Astronomie und Musik, Poesie und Kriegskunst, Malerei und Architektur sind bei ihnen, wie sie vor Jahrhunderten waren, Kinder ihrer ewigen Gesetze und unabänderlich-kindischen Einrichtung. Das Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden; ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Wintertiere. Daher die Absonderung, Behorchung und Verhinderung jedes Fremden; daher der Stolz der Nation, die sich nur mit sich selbst vergleicht und das Auswärtige weder kennt noch liebt. Es ist ein Winkelvolk auf der Erde, vom Schicksal außer den Zusammendrang der Nationen gesetzt und eben dazu mit Bergen, Wüsten und einem beinah buchtlosen Meer verschanzt. Außer dieser Lage würde es schwerlich geblieben sein, was es ist; denn daß seine Verfassung gegen die Mandschu standgehalten hat, beweist nichts, als daß sie in sich selbst gegründet war und daß die roheren Überwinder zu ihrer Herrschaft einen solchen Lehnstuhl kindlicher Sklaverei sehr bequem fanden. Sie dorften nichts an ihm ändern, sie setzten sich drauf und herrschten. Dagegen die Nation in jedem Gelenk ihrer selbsterbauten Staatsmaschine so sklavisch dient, als ob es eben zu dieser Sklaverei erfunden wäre.

Alle Nachrichten von der Sprache der Sinesen sind darüber einig, daß sie zur Gestalt dieses Volks in seiner künstlichen Denkart unsäglich viel beigetragen habe; denn ist nicht jede Landessprache das Gefäß, in welchem sich die Ideen des Volks formen, erhalten und mitteilen? Zumal wenn eine Nation so stark als diese an ihrer Sprache hängt und von ihr alle Kultur herleitet. Die Sprache der Sinesen ist ein Wörterbuch der Moral, d.i. der Höflichkeit und guten Manieren: Nicht nur Provinzen und Städte, sondern selbst Stände und Bücher unterscheiden sich in ihr, so daß der größte Teil ihres gelehrten Fleißes bloß auf ein Werkzeug verwandt wird, ohne daß noch mit dem Werkzeuge irgend etwas ausgerichtet werde. An regelmäßigen Kleinigkeiten hängt in ihr alles; sie sagt mit wenigen Lauten viel, um mit vielen Zügen einen Laut und mit vielen Büchern ein und dasselbe herzumalen. Welch ein unseliger Fleiß gehört zum Pinseln und Druck ihrer Schriften! Eben dieser Fleiß aber ist ihre Lust und Kunst, da sie sich an schönen Schriftzügen mehr als an der zaubervollsten Malerei ergötzen und das einförmige Geklingel ihrer Sittensprüche und Komplimente als eine Summe der Artigkeit und Weisheit lieben. Nur ein so großes Reich und die Arbeitseligkeit des Sinesen gehört dazu, um z.B. von der einzigen Stadt Kai-fong-fu vierzig Bücher in acht großen Bänden zu malen186 und diese mühsame Genauigkeit auf jeden Befehl und Lobspruch des Kaisers zu verbreiten. Sein Denkmal über die Auswanderung der Torguts ist ein ungeheures Buch auf Steinen187, und so ist die ganze gelehrte Denkart der Sinesen in künstliche und Staatshieroglyphen vermalt. Unglaublich muß der Unterschied sein, mit dem diese Schriftart allein schon auf die Seele wirkt, die in ihr denkt. Sie entnervt die Gedanken zu Bilderzügen und macht die ganze Denkart der Nation zu gemalten oder in die Luft geschriebenen willkürlichen Charakteren.

Mitnichten ist diese Entwicklung der sinesischen Eigenheit eine feindselige Verachtung derselben; denn sie ist Zug für Zug aus den Berichten ihrer wärmsten Verteidiger geschöpft und könnte mit hundert Proben aus jeder Klasse ihrer Einrichtungen bewiesen werden. Sie ist auch nichts als Natur der Sache, d. i. die Darstellung eines Volks, das sich in einer solchen Organisation und Weltgegend, nach solchen Grundsätzen, mit solchen Hülfsmitteln, unter solchen Umständen im grauen Altertum bildete und wider den gewöhnlichen Lauf des Schicksals unter andern Völkern seine Denkart so lange bewahrte. Wenn das alte Ägypten noch vor uns wäre, so würden wir, ohne von einer gegenseitigen Ableitung träumen zu dürfen, in vielen Studien eine Ähnlichkeit sehen, die nach gegebnen Traditionen nur die Weltgegend anders modifizierte. So wäre es mit mehreren Völkern, die einst auf einer ähnlichen Stufe der Kultur standen; nur diese sind fortgerückt oder untergegangen und mit andern vermischt worden; das alte Sina am Rande der Welt ist wie eine Trümmer der Vorzeit in seiner halbmongolischen Einrichtung stehengeblieben. Schwerlich ist's zu beweisen, daß die Grundzüge seiner Kultur von Griechen aus Baktra oder von Tatern aus Balkh hinübergebracht wären; das Gewebe seiner Verfassung ist gewiß einheimisch und die wenige Einwirkung fremder Völker auf dasselbe leicht zu erkennen und abzusondern. Ich ehre die Kings ihrer vortrefflichen Grundsätze wegen wie ein Sineser, und der Name Konfuzius ist mir ein großer Name, ob ich die Fesseln gleich nicht verkenne, die auch er trug und die er mit bestem Willen dem abergläubigen Pöbel und der gesamten sinesischen Staatseinrichtung durch seine politische Moral auf ewige Zeiten aufdrang. Durch sie ist dies Volk, wie so manche andere Nation des Erdkreises, mitten in seiner Erziehung, gleichsam im Knabenalter, stehengeblieben, weil dies mechanische Triebwerk der Sittenlehre den freien Fortgang des Geistes auf immer hemmte und sich im despotischen Reich kein zweiter Konfuzius fand. Einst, wenn sich entweder der ungeheure Staat teilt oder wenn aufgeklärtere Kien-Longs den väterlichen Entschluß fassen werden, was sie nicht ernähren können, lieber als Kolonien zu versenden, das Joch der Gebräuche zu erleichtern und dagegen eine freiere Selbsttätigkeit des Geistes und Herzens, freilich nicht ohne mannigfaltige Gefahr, einzuführen: alsdenn, aber auch alsdenn werden Sinesen immer nur Sinesen bleiben, wie Deutsche Deutsche sind und am östlichen Ende Asiens keine alten Griechen geboren werden. Es ist die offenbare Absicht der Natur, daß alles auf der Erde gedeihe, was auf ihr gedeihen kann, und daß eben diese Verschiedenheit der Erzeugungen den Schöpfer preise. Das Werk der Gesetzgebung und Moral, das als einen Kinderversuch der menschliche Verstand in Sina gebaut hat, findet sich in solcher Festigkeit nirgend sonst auf der Erde; es bleibe an seinem Ort, ohne daß je in Europa ein abgeschlossenes Sina voll kindlicher Pietät gegen seine Despoten werde. Immer bleibt dieser Nation der Ruhm ihres Fleißes, ihres sinnlichen Scharfsinns, ihrer feinen Künstlichkeit in tausend nützlichen Dingen. Das Porzellan und die Seide, Pulver und Blei, vielleicht auch den Kompaß, die Buchdruckerkunst, den Brückenbau und die Schiffskunst nebst vielen andern feinen Hantierungen und Künsten kannten sie, ehe Europa solche kannte; nur daß es ihnen fast in allen Künsten am geistigen Fortgange und am Triebe zur Verbesserung fehlt. Daß übrigens Sina sich unsern europäischen Nationen verschließt und sowohl Holländer als Russen und Jesuiten äußerst einschränkt, ist nicht nur mit ihrer ganzen Denkart harmonisch, sondern gewiß auch politisch zu billigen, solange sie das Betragen der Europäer in Ostindien und auf den Inseln, in Nordasien und in ihrem eignen Lande um und neben sich sehen. Taumelnd von tatarischem Stolz, verachten sie den Kaufmann, der sein Land verläßt, und wechseln betrügliche Ware gegen das, was ihnen das Sicherste dünkt: sie nehmen sein Silber und geben ihm dafür Millionen Pfunde entkräftenden Tees zum Verderben Europas.

Tibet

Zwischen den großen asiatischen Gebirgen und Wüsteneien hat sich ein geistliches Kaisertum errichtet, das in seiner Art wohl das einzige der Welt ist; es ist das große Gebiet der Lamas. Zwar ist die geistliche und weltliche Macht in kleinen Revolutionen bisweilen getrennt gewesen, zuletzt aber sind beide immer wieder vereinigt worden, so daß hier, wie nirgend anders, die ganze Verfassung des Landes auf dem kaiserlichen Hohepriestertum ruht. Der große Lama wird nach der Lehre der Seelenwanderung vom Gott Schaka oder Fo belebt, der bei seinem Tode in den neuen Lama fährt und ihn zum Ebenbilde der Gottheit weiht. In festgesetzten Ordnungen der Heiligkeit zieht sich von ihm die Kette der Lamas herab, und man kann sich in Lehren, Gebräuchen und Einrichtungen kein festgestellteres Priesterregiment denken, als auf dieser Erdhöhe wirklich thront. Der oberste Besorger weltlicher Geschäfte ist nur Statthalter des obersten Priesters, der, den Grundsätzen seiner Religion nach, voll göttlicher Ruhe in einem Palasttempel wohnt. Ungeheuer sind die Fabeln der lamaischen Weltschöpfung, grausam die gedrohten Strafen und Büßungen ihrer Sünden, aufs höchste unnatürlich der Zustand, zu welchem ihre Heiligkeit aufstrebt: er ist entkörperte Ruhe, abergläubische Gedankenlosigkeit und Klosterkeuschheit. Und dennoch ist kaum ein Götzendienst so weit als dieser auf der Erde verbreitet; nicht nur Tibet und Tangut, der größte Teil der Mongolen, die Mandschu, Kalkas, Eluthen u. f. verehrten, den Lama; und wenn sich in neueren Zeiten einige von der Anbetung seiner Person losrissen, so ist doch ein Stückwerk von der Religion des Schaka das einzige, was diese Völker von Glauben und Gottesdienst haben. Aber auch südlich zieht sich diese Religion weit hin; die Namen Sommona-Kodom, Schaktscha-Tuba, Sangol-Muni, Schige-Muni, Buddha, Fo, Schekia sind alle eins mit Schaka, und so geht diese heilige Mönchslehre, wenngleich nicht überall mit der weitläuftigen Mythologie der Tibetaner, durch Indostan, Ceylon, Siam, Pegu, Tonkin bis nach Sina, Korea und Japan. Selbst in Sina sind Grundsätze des Fo der eigentliche Volksglaube; dagegen die Grundsätze Konfuzius' und Laotse nur Gattungen einer politischen Religion und Philosophie sind unter den obern, d. i. den gelehrten Ständen. Der Regierung daselbst ist jede dieser Religionen gleichgültig; ihre Sorge ist nicht weiter gegangen, als daß sie die Lamas und Bonzen dem Staat unschädlich zu machen, sie von der Herrschaft des Dalai-Lama trennte. Japan vollends ist lange Zeit ein halbes Tibet gewesen; der Dairi war der geistliche Oberherr und der Kubo sein weltlicher Diener, bis dieser die Herrschaft an sich riß und jenen zum bloßen Schatten machte: ein Schicksal, das im Lauf der Dinge liegt und gewiß einmal auch das Los des Lamas sein wird. Nur durch die Lage seines Reichs, durch die Barbarei der mongolischen Stämme, am meisten aber durch die Gnade des Kaisers in Sina ist er so lange, was er ist, geblieben. Auf den kalten Bergen in Tibet entstand die lamaische Religion gewiß nicht; sie ist das Erzeugnis warmer Klimate, ein Geschöpf menschlicher Halbseelen, die die Wohllust der Gedankenlosigkeit in körperlicher Ruhe über alles lieben. Nach den rauhen tibetanischen Bergen, ja nach Sina selbst ist sie nur im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung kommen, da sie sich denn in jedem Lande nach des Landes Weise verändert. In Tibet und Japan wurde sie hart und strenge, unter den Mongolen ist sie beinah ein wirksamer Aberglaube worden; dagegen Siam, Indostan und die Länder, die ihnen gleichen, sie als Naturprodukte ihres warmen Klima aufs mildeste nähren. Bei so verschiedner Gestalt hat sie auch ungleiche Folgen auf jeden Staat gehabt, in dem sie lebte. In Siam, Indostan, Tunkin u. f. schläfert sie die Seelen ein; sie macht mitleidig und unkriegerisch, geduldig, sanft und träge. Die Talapoinen streben nicht nach dem Thron; bloße Almosen sind's, um die sie menschliche Sünden büßen. In hartem Ländern, wo das Klima den müßigen Beter nicht so leicht nährt, mußte ihre Einrichtung auch künstlicher werden, und so machte sie endlich den Palast zum Tempel. Sonderbar ist der Unzusammenhang, in welchem die Sachen der Menschen sich nicht nur binden, sondern auch lange erhalten. Befolgte jeder Tibetaner die Gesetze der Lamas, indem er ihren höchsten Tugenden nachstrebte, so wäre kein Tibet mehr. Das Geschlecht der Menschen, die einander nicht berühren, die ihr kaltes Land nicht bauen, die weder Handel noch Geschäfte treiben, hörte auf; verhungert und erfroren lägen sie da, indem sie sich ihren Himmel träumen. Aber zum Glück ist die Natur der Menschen stärker als jeder angenommene Wahn. Der Tibetaner heiratet, ob er gleich damit sündigt; und die geschäftige Tibetanerin, die gar mehr als einen Mann nimmt und fleißiger als die Männer selbst arbeitet, entsagt gerne den hohem Graden des Paradieses, um diese Welt zu erhalten. Wenn eine Religion der Erde ungeheuer und widrig ist, so ist's die Religion in Tibet188, und wäre, wie es wohl nicht ganz zu leugnen ist, in ihre härtesten Lehren und Gebräuche das Christentum hinübergeführt worden, so erschiene dies wohl nirgend in ärgerer Gestalt als auf den tibetanischen Bergen. Glücklicherweise aber hat die harte Mönchsreligion den Geist der Nation sowenig als ihr Bedürfnis und Klima ändern mögen. Der hohe Bergbewohner kauft seine Büßungen ab und ist gesund und munter; er zieht und schlachtet Tiere, ob er gleich die Seelenwanderung glaubt, und erlustigt sich funfzehn Tage mit der Hochzeit, obgleich seine Priester der Vollkommenheit ehelos leben. So hat sich allenthalben der Wahn der Menschen mit dem Bedürfnis abgefunden; er dung so lange, bis ein leidlicher Vergleich wurde. Sollte jede Torheit, die im angenommenen Glauben der Nationen herrscht, auch durchgängig geübt werden: welch ein Unglück! Nun aber werden die meisten geglaubt und nicht befolgt, und dies Mittelding toter Überzeugung heißt eben auf der Erde Glauben. Denke man nicht, daß der Kaimucke nach dem Muster der Vollkommenheit in Tibet lebt, wenn er ein kleines Götzenbild oder den heiligen Kot des Lama verehrt. Aber nicht nur unschädlich, auch nutzlos sogar ist dieses widerliche Regiment der Lamas nicht gewesen. Ein grobes heidnisches Volk, das sich selbst für die Abkunft eines Affen hielt, ist dadurch unstreitig zu einem gesitteten, ja in manchen Stücken feinen Volk erhoben, wozu die Nachbarschaft der Sinesen nicht wenig beitrug. Eine Religion, die in Indien entsprang, liebt Reinlichkeit; die Tibetaner dürfen also nicht wie tatarische Steppenvölker leben. Selbst die überhohe Keuschheit, die ihre Lamas preisen, hat der Nation ein Tugendziel aufgesteckt, zu welchem jede Eingezogenheit, Nüchternheit und Mäßigung, die man an beiden Geschlechtern rühmt, wenigstens als ein Teil der Wallfahrt betrachtet werden mag, bei welcher auch die Hälfte mehr ist als das Ganze. Der Glaube einer Seelenwanderung macht mitleidig gegen die lebendige Schöpfung, so daß rohe Berg- und Felsenmenschen vielleicht mit keinem sanftem Zaum als mit diesem Wahn und dem Glauben an lange Büßungen und Höllenstrafen gebändigt werden konnten. Kurz, die tibetanische ist eine Art päpstlicher Religion, wie sie Europa selbst in seinen dunkeln Jahrhunderten, und sogar ohne jene Ordnung und Sittlichkeit, hatte, die man an Tibetanern und Mongolen rühmt. Auch daß diese Religion des Schaka eine Art Gelehrsamkeit und Schriftsprache unter dies Bergvolk und weiterhin selbst unter die Mongolen gebracht hat, ist ein Verdienst für die Menschheit, vielleicht das vorbereitende Hülfsmittel einer Kultur, die auch diesen Gegenden reift. Wunderbar langsam ist der Weg der Vorsehung unter den Nationen, und dennoch ist er lautre Naturordnung. Gymnosophisten und Talapoinen, d. i. einsame Beschauer, gab es von den ältesten Zeiten her im Morgenlande; ihr Klima und ihre Natur lud sie zu dieser Lebensart ein. Die Ruhe suchend, flohen sie das Geräusch der Menschen und lebten mit dem wenigen vergnügt, was ihnen die reiche Natur gewährte. Der Morgenländer ist ernst und mäßig, so wie in Speise und Trank, so auch in Worten; gern überläßt er sich dem Fluge der Einbildungskraft, und wohin konnte ihn diese als auf Beschauung der allgemeinen Natur, mithin auf Weltentstehung, auf den Untergang und die Erneuung der Dinge führen? Die Kosmogonie sowohl als die Metempsychose der Morgenländer sind poetische Vorstellungsarten dessen, was ist und wird, wie solches sich ein eingeschränkter menschlicher Versland und ein mitfühlendes Herz denkt. »Ich lebe und genieße kurze Zeit meines Lebens; warum sollte, was neben mir ist, nicht auch seines Daseins genießen und von mir ungekränkt leben?« Daher nun die Sittenlehre der Talapoinen, die insonderheit auf die Nichtigkeit aller Dinge, auf das ewige Umwandeln der Formen der Welt, auf die innere Qual der unersättlichen Begierden eines Menschenherzens und auf das Vergnügen einer reinen Seele so rührend und aufopfernd dringt. Daher auch die sanften humanen Gebote, die sie zu Verschonung ihrer selbst und anderer Wesen der menschlichen Gesellschaft gaben und in ihren Hymnen und Sprüchen preisen. Aus Griechenland haben sie solche sowenig als ihre Kosmogonie geschöpft; denn beide sind echte Kinder der Phantasie und Empfindungsart ihres Klima. In ihnen ist alles bis zum höchsten Ziel gespannt, so daß nach der Sittenlehre der Talapoinen auch nur indische Einsiedler leben mögen; dazu ist alles mit so unendlichen Märchen umhüllt, daß, wenn je ein Schaka gelebt hat, er sich schwerlich in einem der Züge erkennen würde, die man dankend und lobend auf ihn häufte. Indessen lernt nicht ein Kind seine erste Weisheit und Sittenlehre durch Märchen? Und sind nicht die meisten dieser Nationen in ihrem sanften Seelenschlaf lebenslang Kinder? Lasst uns also der Vorsehung verzeihen, was nach der Ordnung, die sie fürs Menschengeschlecht wählte, nicht anders als also sein konnte. Sie knüpfte alles an Tradition, und so konnten Menschen einander nicht mehr geben, als sie selbst hatten und wußten. Jedes Ding in der Natur, mithin auch die Philosophie des Buddha, ist gut und böse, nachdem sie gebraucht wird. Sie hat so hohe und schöne Gedanken, als sie auf der andern Seite Betrug und Trägheit erwecken und nähren kann, wie sie es auch reichlich getan hat. In keinem Lande blieb sie ganz dieselbe; allenthalben aber, wo sie ist, steht sie immer doch eine Stufe über dem rohen Heidentum, die erste Dämmerung einer reinem Sittenlehre, der erste Kindestraum einer weltumfassenden Wahrheit.

Sekundärliteratur

Adrian Hsia : Die Menschen seien, davon ist Herder überzeugt, von der Vorsehung dazu bestimmt, sich zu höheren Wesen zu entwickeln. Daher gibt es für ihn nur eine Menschheit und er lehnt jegliche Rassentheorie ab. In der Praxis scheint es aber Ausnahmen zu geben : In der antiken Welt nimmt er anscheinend die Ägypter aus, in der modernen die Mongolen und Kalmücken. Die Klimatheorie eines Montesquieu zitierend, den Herder bewundert und als gross bezeichnet, und mit der Hinzuziehung des Begriffs 'des inneren Klimas', d.h. der genetischen Kraft, sucht er die innenwohnenden Mängel der beiden und verwandten Völker zu beweisen. Zu ihnen zählt er auch die Chinesen… Er will vermitteln zwischen den extrem positiven Jesuiten-Berichten über China und der extrem negativen Meinung der Zeit, den mittleren Weg gehen und China so beschreiben, wie es war. Seine Objektivität ist aber relativ, denn er kann die Kalmücken aus unbekannten Gründen und Ägypter der Hieroglyphen wegen, nicht ausstehen. Die Chinesen gebrauchen auch eine Art Bilderschrift. Für Herder ist die Sprache eine besondere Gabe Gottes, welche die Aufklärung der Menschheit, eine Voraussetzung zum höheren Wesen, erst möglich macht. Er glaubt, die fehlerhafte Sprache sei auf die chinesischen Eigenschaften, nämlich auf den 'Mangel von Erfindungskraft im Grossen' und die 'Unselige Feinheit in Kleinigkeiten' zurückzuführen. Dazu kämen noch die 80'000 Schriftzeichen von mindestens sechs Schriftarten… Herder glaubt, die mongolische Abkunft der Chinesen beeinträchtige nicht nur das Gehör, die Sprache und das Aussehen der Chinesen, sondern auch ihre Mentalität und Denkweise. Es sei unmöglich für so ein Volk, einen Sinn von 'innerer Ruhe, Schönheit und Würde' zu besitzen. Die verwahrloste mongolische Empfindung bringe es mit sich, dass den Chinesen die 'Gabe der freien, grossen Erfindung in den Wissenschaften, die Natur versagt zu haben'. Die Grundtugend dieser Kultur sei der kindliche Gehorsam, der auf Befehl ruht, sowohl in der Familie als auch im Staat. Männliche Kraft und Ehre seien den Chinesen fremd, es sei alles nur kindliche Pflicht und leere Zeremonien. Er spricht das Urteil aus, dass die chinesische Kultur im 'Knabenalter' stehen geblieben ist. In diesem Zusammenhang macht er seinen bekannten und oft zitierten Spruch über China : "Das Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden ; ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Wintertiere"… Er bekennt, dass er die 'kings', die konfuzianischen Kanons, und Konfuzius verehre, aber auch dieser sei durch die mongolische Abkunft bestimmt… Erst im Vergleich mit den Nachbarländern Chinas, nämlich 'Kotschinchina, Tongking, Laos, Korea, die östliche Tartarei, Japan', werden die Chinesen in positiverem Licht dargestellt. Dies bedeutet jedoch, dass die Einwohner und Kulturen in jenen Ländern umso negativer wegkommen…
Herder beschreibt Tibet aus folgendem Grund : Tibet ist die Heimat des Buddhismus, der Sitz von Dalai Lama, eine Art Kaiser-Hohepriester, der für Herder Buddha verkörpert. Herder betrachtet die 'Lama Religion' als die grösste der ganzen Welt, eine Religion der Massen, die vom Katholizismus beeinflusst worden ist, während Konfuzianismus und Taoismus die Religion der Oberschicht ist.

Lee Eun-jeung : Die durch die Berichte der Chinamissionare ausgelöste Begeisterung für die chinesische Moral- und Staatsphilosophie hat unter dem Einfluss von Montesquieu und Rousseau in Ablehnung umgeschlagen. Herder will hier keine Positition beziehen, sondern beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er sieht in China keineswegs einen idealen Musterstaat. Dabei erkennt er durchaus die durch die Jesuiten vermittelten Einsichten an und findet die konfuzianische Sittenlehre in der Theorie sogar bewundernswert. Aber er hegt Zweifel, ob die Berichte der Jseuiten der chinesischen Wirklichkeit auch entsprechen… Im Grunde spricht er den Chinesen die Fähigkeit ab, sich mittels Vernunft und politischer Aktivität von der Tradition, dem Despotismus und anderen Einschränkungen zu befreien… Während Leibniz die chinesische Schrift als Vorbild für eine 'lingua universalis' betrachtet, scheint Herder in ihr nur das Abstossend-Fremde zu sehen… Betrachtet man Herders China- und Konfuzianismusdarstellung im gesamten Kontext seines geschichtsphilosophischen Denkens, kann man darin zwei wichtige politische Überlegungen finden, die vor allem an der Gegenwart seiner Zeit orientiert sind. Die eine ist die grundsätzliche Absage Herders an die despotische Herrschaft und damit verbunden die Forderung nach politischer Reform. Seine andere Überlegung lässt sich mit dem Begriff 'Wunschbild eines pazifistischen Föderalismus' der Kulturen der Menschheit charakterisieren.

Rudolf Franz Merkel : Weil Herder’s Massstäbe beinahe ausschliesslich europäische Ideale wie Fortschritt, Individualismus und Haumanität waren, so vermochte er nicht bis zu den chinesischen Idealen des Traditionalismus, des Universismus und der chinesischen Humanität vordringen ; sonst hätte er China an dessen eigenen Massstäben messen oder vom höheren Standpunkt einer Synthese der chinesischen und der europäischen Ideale aus beurteilen müssen.

Andreas Pigulla : Herder ist überzeugt, dass es schon sehr viel früher ein gut organisiertes Staatsgebilde in China vorhanden gewesen sein muss… Mit der ständigen Wiederholung der Unwandelbarkeit der Grundpositionen des chinesischen Volkscharakters im Zusammenhang äusserer Faktoren und der Zuordnung zur 'Kindheit' des Menschengeschlechts ist bei Herder keine Diskriminierung der chinesischen Geschichte intendiert. Er lässt Mitleid für die chinesische Zivilisation durchscheinen. Es fehle ihr nur an den 'Triebfedern' zur Weiterentwicklung, aber auch die europäische Entwicklung habe schliesslich lange gedauert. Er hält die Entwicklungsmöglichkeiten Chinas durchaus für gegeben, denn es fehle der Nation nicht an 'Fähigkeiten zur Wissenschaft'. Er favorisiert eine Teilung Chinas, damit sich konkurrierende Kräfte, die Europa zur Entwicklung gebracht hätten, auch in China herausbilden können… Die geographische Lage, die zur Entstehung der Menschheit ideal war, wird im Verlauf der Geschichte zur Falle. Sie bedingt die Isolation des chinesischen Staates… Regierungsformen werden bei Herder nach dem Freiheitsraum beurteilt, den sie dem Individuum zubilligen. In diesen Bezugsrahmen kann die chinesische Geschichte nur als negatives Gegenbild einbezogen werden… Die Sprachentwicklung in Asien ist für ihn auch wichtigste Begründung für die kulturelle Andersartigkeit im Vergleich zu Europa. Dabei ist seine Einschätzung durchaus nicht undifferenziert. Er erkennt an, dass die einsilbigen, aus 'wenigen Wurzeln' gebildeten Sprachformen gegenüber den ‚unnützen Hülfsworten und langweiligen Flexionen’ der meisten Sprachen zu einer 'fein-durchdachten, leise-geregelten Hieroglyphik der unsichtbaren Gedankensprache' führen. Er erkennt die ästhetisch reizvolle Seite der chinesischen Sprache an, doch bedeutsamer für sein Konzept von Kulturentwicklung ist ihre Funktion. Aus 'fast kindischem Kunstwerk' erscheint ihm eine Sprachbildung, die aus '330 Silben achtzigtausend zusammengesetzte Charaktere' bildet. Sie macht Chinesisch für Herder einzigartig. Die Bewertung fällt allerdings negativ aus… Die chinesische Erziehung sieht er vom Prinzip der 'kindlichen Pietät' beherrscht und hält es für die gesellschaftliche Ordnung eines Nomadenvolks für angemessen. In China seien dadurch aber auch das Erwachsenenleben, die staatlichen Strukturen und das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten bestimmt… Mit der Dichotomie zwischen menschlicher Natur und gesellschaftlicher Ordnungskonzeption hat Herder den für ihn massgeblichen Grundwiderspruch der chinesischen Kultur und Geschichte herausgearbeitet… Sein umfassender Menschheitsbegriff verbietet aber die völlige Ausgrenzung des chinesischen Volkes aus der Menschheitsgeschichte, auch wenn er diese als Fortentwicklung versteht, an der China keinen Anteil hat… Da Herders Vorstellung von Menschheitsentwicklung nicht von einem engen Fortschrittsbegriff ausgehen soll und er Rationalisierungsprozesse nicht als seine einzige Komponente begreift, lassen sich in der Chinabeschreibung auch die Verluste, die bei der fortschreitenden Weiterentwicklung Europas erkannt werden, widerspiegeln. Die Struktur der Chinabeschreibungen ist an der Schilderung des faktisch Bestehenden orientiert und nicht an der Vermittlung historischer Verläufe. Jahreszahlen werden in den China betreffenden Abshnitten nicht genannt. Da China ausserhalb der für Herder am menschlichen Fortschritt beteiligten Nationen steht, kommen nicht die Veränderungen in der chinesischen Geschichte in den Blick… Nach einer kurzen topographischen Bestimmung und einer Beschreibung der Raumstruktur entsteht zunächst ein positives Bild Chinas mit ‚florierender Landwirtschaft, 'Höflichkeit', 'öffentlicher Ordnung', 'Pietät', 'Religionsfreiheit' und 'Moral'. Doch diese den Jesuitenbeschreibungen entnommenen idealisierten Zuschreibungen dienen ihm nur zur Kontrasierung seiner eigenen Version. Die erwähnten Merkmale chinesischer Kultur werden zu Hindernissen in der Entwicklung menschlicher Vernunft… An China werden die politischen und gesellschaftlichen Faktoren exemplarisch ausgeführt, die Fortschritt verhindern. Die Wiederverwendung der Begriffe 'Despotismus' und 'Isolation' in bezug auf europäische Geschichte macht deutlich, dass China als Beispiel für Zustände, die für Herder auch in der eigenen Geschichte noch überwunden werden müssen, herangezogen wird. Despotische Regierungen sind innerhalb der europäischen und der asiatischen Geschichte für ihn nicht naturbedingt, sondern von Menschen veränderbar.

Fang Weigui : Was in der Geschichte Herder in erster Linie anspricht, sind Sitten und Charaktere, sowohl der Völker als auch einzelner Menschen. Er hat in seiner Ausführung seine genetische Betrachtungsmethode nicht konsequent durchgeführt, besser gesagt, nicht persisten durchführen können. In dem Moment, als er mit einigen Beispielen, die er aus den Kaufmanns- und Jesuitenberichten geschöpft hat, aufzuzeigen versucht, dass die Natur den Chinesen die Gabe der freien, grossen Erfindung in den Wissenschaften versagt zu haben scheine, dass das ganze Gebäude ihrer Sprache, Verfassung und Denkart ihnen eigen sei, kommt diese 'neue' Betrachtungsweise in der Tat ganz klar zum Vorschein. Sobald er dann zur chinesischen Erziehung übergeht und im beträchtlichen Umfang seinen Vorgänern jene eigentlich nicht angeborenen sondern erworbenen ‚Charaktere’ der Chinesen nachbetet, stellt er automatisch seine eigene Methode in Frage. Bei der Bewertung der chinesischen Kultur sind Herders Massstäbe letzten Endes die europäischen Ideale wie Fortschriftt, Individualimus, Humanität und christliche Anschauungen, die ihn hier und da zu eurozentrischen Schlussfolgerungen veranlassen. Ausgehend von seiner genetischen Betrachtungsweise folgert Herder, dass die chinesische Sprache 'zur Gestalt dieses Volks in seiner künstlichen Denkart unsäglich viel beigetragen habe'. Dass es den Chinesen an Erfindungskraft mangelt, wie es seine Vorgänger in Europa in Umlauf setzten, ist für Herder auch den 'rohen Hieroglyphen' zuzuschreiben. Er hat die chinesische Reichs- und Sittenlehre angeprangert, die für ihn schliesslich nur eine 'Sklavencultur' darstellt. Die kindische Gehorsamkeit, scheinbare Sittsamkeit und höfliche Zuvorkommenheit führe nur dazu, dass man das wahre Herz des Menschen an Falschheit gewöhnen und die von der Natur bescherte selbstwirksame Kraft aufgeben müsse. Diese Grundtugenden der Chinesen seinen nicht anderes als entkräftende falsche Gebräuche, die durch kindische Gefangenschaft der menschlichen Vernunft, Kraft und Empfindung gekennzeichnet seien.

Werner Lühmann : Dass Herder zum Zeitpunkt der gedanklichen Konzeption seiner Ideen die chinesischen Klassiker, allen voran Konfuzius, wenn überhaupt dann nur höchst beiläufig zur Kenntnis genommen haben dürfte, wird bei der Lektüre jener Passagen deutlich, die sich mit der Geistesgeschichte Chinas befassen… Dass er sich dann in den letzten Jahren seines Lebens instensiv mit der Geistesgeschichte auseinandergesetzt hat, geht auch aus einem Hinweis auf Joseph de Guignes und Corneille de Pauw hervor.

Ulrich Faust : Der Buddhismus scheidet für Herder bei der Behandlung Chinas und Indiens aus, obleich er ihn für den eigentlichen Volksglauben hält. Das 18. Jahrhundert hatte nur eine sehr unzureichende Kenntnis vom Buddhismus. Im Nachlass von Herder finden sich einige Aufzeichnungen, die von dem Bemühen zeugen, sich auch eine Kenntnis über diese Religion zu verschaffen. Herder über Tibet : Er nimmt als erster eine klare Trennung von Mythos und Religion vor. Seine negative Bewertung der tibetanischen Mythologie ist erstaunlich, da die nicht weniger abstrusen Mythologien Indiens von ihm positiv bewertet werden. Er nennt diese asiatische Religion nicht Buddhismus, sondern spricht von der Religion des Schaka oder Fo. Er hat richtig erkannt, dass die Ursprünge der tibetischen Religion in Indien liegen. Er tadelt die Untätigkeit der Mönche, anerkennt aber ihre kulturellen Verdienste.

Willy Richard Berger : Herders China-Bild ist weniger die goldene Mitte zwischen idealisierendem Lob und absprechender Verzeichnung als vielmehr doch ein entschieden negatives Bild. Gefangen im eurozentrischen Denken, gelingt es ihm nicht, sich in die ganz andere Kultur so einzufühlen, dass er sie 'massstabgerecht' hätte erfassen können. Fixiert auf europäische Ideale wie Fortschritt, Individualismus, Humanität – nämlich auf eine christlich-antik geprägte Humanität –, bleibt es ihm verwehrt, bis zu den chinesischen Idealen des Traditionalismus, des Universismus und chinesischer Humanität vorzudringen. Beherrscht von einem religiösen Gefühl, das in der 'Fülle des Herzens' seinen Mittelpunkt hat, muss ihm das fromme Zeremoniell des chinesischen Kults kalt und sinnentleert erscheinen, und in fast völliger Unkenntnis schliesslich der literarischen und künstlerischen Originalwerke selbst macht er sich ästhetische Urteile zu eigen, die entweder an den Chinoiserien abgelesen oder aus religionspolitischen Tendenzschriften abgezogen sind. Dabei ist Herder selbst eine willkürliche Tendenz nirgendwo anzulasten, es ist nur die historisch und subjektiv bedingte Unzulänglikeit des menschlichen Urteils, die wir heute doch wahrzunehmen berechtigt sind.
  • Document: Deutsche Denker über China. Hrsg. von Adrian Hsia. (Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 1985). (Insel Taschenbuch ; 852). S. 117-134, http://www.textlog.de/5636.html, FauU1. (Hsia6, Publication)
  • Document: Berger, Willy Richard. China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung. (Köln ; Wien : Böhlau, 1990). S. 125. (Berg, Publication)
  • Document: Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 109-110. (FanW1, Publication)
  • Document: Pigulla, Andreas. China in der deutschen Weltgeschichtsschreibung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. (Wiesbaden : O. Harrassowitz, 1996). (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum ; Bd. 43). Diss. Univ. Bochum, 1995. S. 178, 180-181, 190, 196-199, 206, 210-212, 223. (Pig1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Protestant philosophers and the construct of China : Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder and Georg Wilhelm Friedrich Hegel. In : East-West dialogue ; vol. 2 (2000). (Hsia22, Publication)
  • Document: Lühmann, Werner. Konfuzius : aufgeklärter Philosoph oder reaktionärer Moralapostel ? : der Bruch in der Konfuzius-Rezeption der deutschen Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. (Wiesbaden : Harrassowitz, 2003). [Confucius]. S. 85, 87. (Lüh1, Publication)
  • Document: Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 230, 245, 247, 249, 259-260. (LeeE1, Publication)
  • Document: Hsia, Adrian. Kant, Herder und Hegel über das fremde Indien und China. Vortrag Internationales Symposium "Topographie des Fremden : Grenzen und Übergänge", Goethe-Institut Rom, 1.-2. Dez 2005. (Hsia20, Publication)
  • Document: http://www.textlog.de/5636.html. (Textlog, Web)
  • Person: Herder, Johann Gottfried
7 1802 Herder, Johann Gottfried. Das Buch der gerechten Mitte, Tshong-Yong genannt [ID D17258].
Übersetzung des Zhong yong. Die ersten 12 Kapitel hat er aus dem Lateinischen oder Französischen übersetzt.
Quellen : Intorcetta, Prospero. Sinarum scientia politico-moralis [ID D1732]. Confucius sinarum philosophus [ID D1758]. Tchong-yong ou juste milieu [ID D1867].

Herder schreibt u.a. : "Was vom Himmel hinab dem Herzen angeformt ist, heisst die vernünftige Natur ; was dieser Natur gemäss ist, heisst Regel ; die Herstellung dieser Regel heisst Erziehung". Von Kaiser Xua sagt Confucius : "Er fragte die Seinigen um Rath, prüfte auch die gewöhnlichen Antworten ; zu bösen Rathschlägen schwieg er, die guten lobte er und wählte zwischen beiden äussersten, sein Volk zu regieren, die Mitte, das Beste… Weisheit, wie glänzest du in Himmel und Erde ! Noch will der Mensch dich verkennen und murrt über deine Gaben. So erkenne er dich dann mindstens in den erwählten Seelen, die du bewohnest. Die Welt ist zu klein für ihre Tugend ; die Bosheit der Welt zu schwach gegen dieselbe".

Ulrich Faust : Das Humane und Naturgemässe dieser Ethik muss Herder besonders beeindruckt haben. Der Optimismus in der Morallehre des Konfuzius kommt Herders Abneigung gegenüber der Lehre von der Erbsünde entgegen.

Lee Eun-jeung : Die darin gelehrte Ethik ist anthropozentrisch und zugleich gesellschaftsbezogen. Die vom Himmel verliehene Natur wird der ethischen Kategorie ‚Mitte’ gleichgestellt. Die praktische Ethik des Zhong yong enthält nicht nur die Idee der Humanität, sondern auch den Gedanken, dass die Kultur einer Nation durch das Klima eine bestimmte Ausrichtung erhält.
  • Document: Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 254. (LeeE1, Publication)
  • Document: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/adrastea/index.htm. (UBi2, Web)
  • Person: Herder, Johann Gottfried
8 1803 Herder, Johann Gottfried. Christianisirung des Sinesischen Reiches [ID D17255].
Herder schreibt : Der Anfgang des vorigen Jahrhunderts fand die Europäischen, besonders die Römischen Christen in grosser Erwartung ; ein Welttheil, wie das Kaiserthum Sina ist, der schlaueste Welttheil Asiens, war auf dem Punkt, christlich zu werden, oder war, (so glaubten viele,) es schon geworden. Welch ein Gewinn, sagte man, für den Himmel ! Welch ein Gewinn für Europa in Ansehung der Wissenschaften und – des Handels ! Zu bald zerging diese Hoffnung. Frühe nämlich war das Christenthum schon in das ferne Sina gedungen, und hatte daselbst in die Religion der Bonzen wahrscheinlich mitgewirket. In der neueren Jahrhunderten, seit Missionen nach Asien geschäftig waren, hatte es, der Verschlossenheit des Landes ungeachtet, auch bisher an Emissarien nicht gefehlet. Insonderheit waren die Jesuiten eben so klug, als thätig ; sie ergriffen das einzige und edelste Band, das sie mit Kaiser und Reich verknüpfen konnte, das Band der Wissenschaften, der Künste. Versagen kann man ihnen den Ruhm nicht, dass seit dem Pater Ricci, der ihr Ansehen dort eigentlich gründete, sie eine Rehe gelehrter, weltkluger, unverdrossener Männer dahin gefördert, die auch Europa mit Känntnissen dieses grossen Reichs und seiner anliegenden Länder, mit Känntnissen ihrer Sprache und Bücher, ihrer Verfassung und Gebräuche sehr bekennt gemacht haben. In Europa selbst kennen wir manchen Staat weniger als Sina. Nun war zwar währender Vormundschaft des unmündigen Kaisers Kang-hi [Kangxi] durch einmüthigen Schluss der Reichstände das Christenthum für falsch und dem Reich schädlich erklärt, auch bei Leibes- und Lebensstrafe verboten. Den angesehensten Vorsteher desselben, den Jesuiten Schall, hatte man ins Gefängniss gelegt und die Verfolrung gegen christliche Mandarine weit getrieben. Seit Kann-hi [Kangxi] selbst aber auf den Thron kam und aus Liebe zu den Europäischen Wissenschaften auch ihre Lehrer liebte, seit Er im Jahre 1692 die christliche Religion für gut, seinem Reich heilsam, seinen Unterthanen erlaubt erklärt hatte, den Jesuiten eine prächtige Kirche baute, eine Gesandtschaft an den Papst schickte u.f. ; in wie grosser Hoffnung lebte man ! die Bekehrung des Kaisers und nach ihm des ganzen Reichs erwartend. Diese folgte nun zwar bis an seinen Tod nicht ; da die fremde Religion indess während seiner langen Regierung im Reich geblühet hatte und der Kaiser, trotz aller Feindseligkeiten, die andere Orden den Jesuiten durch den Römischen Hof selbst erregten, seinen Freunden treu geblieben war, so hoffte und wirkte man fort. Unglaublich ist die Geduld, die der Monarch gegen die Eingriffe Roms in die Rechte seiner Herrschaft erwies, indem er sie jederzeit nur gesetzmässig zurücktrieb oder lähmte, übrigens aber den Papst für „unverständig erklärte, dass er in einem ihm fremden Lande gebieten wolle, und über gesetzliche Gebräuche seines Reichs dem Kaiser selbst nicht glaube. Durch wie kleinfügige Streitigkeiten machte man die grosse Unternehmung zunicht, um welche sich damals die Jesuiten so viele und so feine Mühe gaben ! da sie blos ein Ceremoniel betrafen. Tien z.B. heisst der Himmel in jener Sprache, mit welchem Wort die Sinesen auch Gott benennen ; statt dessen sollten sie christlich Tien-Chu, „Herr des Himmel“ sagen. Die Ehre, die man dem Andenken des grossten Lehrers der Nation, Kung-tse (den wir Confuicus nennen) und dem Andenken der Vorfahren überhaupt nach einem unverbrüchlich gesetzlichen Landesgebrauch erwies, sollte theils abgeschafft, theils verändert, von den Täfelchen der Vorfahren z.B. die Überschrift ausgelassen und nur der Name derselben darauf bemerkt werden u.f. Welche unselige Mühe man sich über Dinge dieser Art gemacht : wie bittre Streitigkeiten darüber geführt, welche Bibliotheken für und wider geschrieben worden, wäre unglaublich, wenn es nicht vor Augen läge, so dass der Papst selbst zuletzt alles Chreiben darüber verbieten musste. Und welche Gesandtschaften von Rom nach Sina, von Sina nach Rom ! welche Congregationen in Rom ! welche Machinationen in Sina ! da dann wie gewöhnlich die Französischen Fechter die lautesten, die Italiäner, Mezzabarba z.B. die vorsichtigeren waren, indem jene sich den Sitten dieses Reichs zuwider eben so unklug als unverständig benahmen, überhaupt aber in Rom selbst die Sache sehr unsinesisch behandelt ward. Könnt ihr die Sprach-Organe einer Nation ändern ? Wenn der Sinese z.E. den Namen Maria nicht aussprechen kann, weil ihm Buchstaben in seinem Alphabet fehlen, die er nach seiner von Kindheit an gewohnten Mundart verändert, wer will es ihm wehren ? Eben so wenig könnet ihr seine Vorstellungsart ändern, die an Gebräuchen und Ceremonien haftet : denn auch diese sind eine Sprache und in Sina mit dem Staat sowohl als der Moral innig verwebet. Vom kindlichen Gehorsam gehet dort alles aus. Durch alle Stände bis zum Oberhaupt des Staats, ja bis auf die entferntesten Vorfahren verbreiten sich diese Ceremonien und Pflichten. Ihre Buchstaben, ihre Regeln und Sprüche, ihre clasischen Bücher, ihre häuslichen und öffentlichen Gebräuche, ihre Lebens- und Staatsweise ist auf dies Principium gegründet, ist darnach geordnet. Entweder musste also der christliche Katechismus den heiligen Büchern gemäss, d.i. clasisch gemacht werden, oder er blieb der Nationa unverständlich, unannehmlich. So auch mit den Gebräuchen. Der an sein Land, an die Sitten seiner Vorfahren gefesselte, von aller Welt abgeschlossene Sinese ist ganz ein Sinese und wird es wahrscheinlich noch Jahrtausende hinab bleiben. Sobald Kang-hi [Kangxi] starb, verbot sein Nachfolger Yong-tsching [Xongzheng] das Christenthum, liess im ganzen Reich, Pekin ausgenommen, die Kirchen niederreissen, und verfolgte die Christen, deren Anzahl die Jesuiten damals auf 300'000 angaben. Der Kaiser schrieb selbst einen Unterricht in der Religion für sein Reich. Der gute Kein-long [Qianlong], Nachfolger Yong-tschings, der seit 1734 das Jahrhundert hinaus eben so billig und gerecht, als klug regiert hat, liebte zwar, die Wissenschaften der Europäer, so fern sie ihm in seinem Reich nützlich schienen, deuldete auch das Christenthum in Pekin, ja gab einigemal günstige Befehle für die Christen in den Provinzen. Da diese aber immer gemissbraucht wurden, schloss er endlich die Kirchenfreiheit auf einige bestimmte Plötze seiner Residenz ein, hielt den fremden Gottesdienst, als gefährlich, unter strengem Gehorsam seiner Reichsgesetze, und liess die Fremden überhaupt nie ohne sorgsame Aufsicht. So lange die Beherrscher Sina’s wie Kine-long denken, wird kein Europäischer Cultus in Sina aufkommen, zumal der nicht, der sich durch Anmaassungen und Unruhen dem Reich so feindlich gezeigt hat. Auch wie viel Verbannungen, Gefängnissen und Stockschlägen christlichgewordner Mandarine sind die fremden Bekehrer Schuld gewesen ! Und wofür litten diese Bekehrte ? Für fremde Worte und Gebräuche.
Der einzige Gewinn, der Europa durch diese Bemüungen worden ist, sind Känntnisse, die gewissermasse die Ost- und Westwelt binden. Französischen und Deutschen Jesuiten, den Vätern Gerbillon, Gruber, Couplet, Noel, Verbiest, du Hale, Amiot u.f. haben wir Mancherlei zu danken, wodurch Geist und Fleiss Europäischer Gelehrter zum Studium der dortigen Sprache und Literatur, der dortigen Zeitrechnung, Astronomie, Geschichte, Naturgeschichte u.f. erweckt sind. Der einzige Deguignes hat hierüber so viel geleistet, als eine Sinesische Akademie ; auch die von Paw erregten Streitigkeiten über die Sineser haben durch die Beantwortungen der Väter von dort aus zu mehrerem Licht geleitet. Die Philosophie, vorzüglich die politische Sittenlehre jener Nation hat in Europa vielen Beifall gefunden ; Leibnitz, Bilfinger, Wolf nahmen sich ihrer in Deutschland an, der letzte fast mit einem ihm sonst ungewohnten Enthusiasmus. In Frankfreich sind die classischen Bücher der Sinesen in jedem Format erschienen, wie sich denn die SinesischeWeisheit in Französischer Sprache beredt und artig ausnimmt. Die Belehrungen der Kaiser an ihr Volk, die Antworten derselben an ihre Staatsdiener sprechen of so väterlich als majestätisch, und das Lob der reinsten Sitten-Vernunft kann man ihnen schwerlich versagen. Wer sich über den Fortgang der Europäischen Wissenschaften in Sina am lebhaftesten gefreuet hatte, war Leibnitz ; der grosse Mann sah ihre Verpflanzung aus der West- in die Ostwelt mit dem umfassenden Blick an, der dieser Erscheinung gebührte. Den Umsturz seiner Hoffnungen erlebte er nicht ; in den Streitigkeiten, die ihn vorbereiteten, war er stets auf Seiten der vernünftigen, billigen, gelinderen Meinung.
Was lehret dieses Ereigniss, das so weit aussehende Hoffnungen auf Einmal hinwarf ? Die bekannte Regel der Nemesis : "wodurch Jemand sündigt, dadurch wird er gestraft". Despotische Macht stritt hier gegen despotische Macht, Gebräuche gegen Gebräuche ; natürlich mussen in Sina die Römischen unter den alten ewigen Reichsgebräuchen, die Macht des Römischen Bischofs unter der Gewalt des Kaisers, der Oberpriester seines Reichs, ein Sohn des Himmels ist, erliegen. Wenige Pinselstriche eines kaiserlichen Edikts endeten den Handel ; die zankenden Mönche erreichten ihren Zweck, und sofern hatte ihr Neid nicht übel gerechnet. Ob das angetretene Jahrhundert einholen werde, was das vergangene so schnöde verlohr ? ist eine missliche Frage. In Ansehung der Freiheit stehn in Sina die Christen hinter Juden und Mohamedanern. Einen Zug indess macht der politische Scharfsinn der Jesuiten für alle Zeiten merkwürdig, und vielleicht für die künftigen brauchbar. Als gelehrte Mandarine galten sie ; giebts für Europäische Missionare einen edleren Namen ?Ists ihre reine Absicht, Völker aufzuklären, das Wohl der Reiche nicht zu untergraben, sondern durch Wissenschaften und Sitten auf dem Grundstein echter Menschlichkeit zu sichern, welchen Namen können sie edler führen, welch’ Amt Ehrenvoller verwalten, als das Amt gelehrter, sittlicher Mandarine. Dann fliegt der Schwan den dort die Patres aus kaiserlicher Huld als Ehrenzeichen an der Brust tragen, gern Himmel und singt den Völkern der Erde süssen Gesang.

Lee Eun-jeung : Herder geht es vor allem um die Würdigung der wissenschaftlichen und philosophischen Leistung der Jesuitenmissionare in China. Er versucht, unter Zuhilfenahme seines einfühlenden Empfindens, die theoretisch-philosophische Sittenlehre des Konfuzianismus als geistige Grundlage des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens und die Wirklichkeit Chinas auseinanderzuhalten.
  • Document: Deutsche Denker über China. Hrsg. von Adrian Hsia. (Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 1985). (Insel Taschenbuch ; 852). S. 135-140. (Hsia6, Publication)
  • Document: Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 229-230, 251. (LeeE1, Publication)
  • Document: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/adrastea/index.htm. (UBi2, Web)

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)