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“Hermetik, Naturrecht und christliche Wahrheit : 'Wandlungen' der chinesischen Weisheit im Spannungsfeld der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Claudius)” (Publication, 2005)

Year

2005

Text

Kemper, Hans-Georg. Hermetik, Naturrecht und christliche Wahrheit : 'Wandlungen' der chinesischen Weisheit im Spannungsfeld der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Claudius). In : "Wenn Freunde aus der Ferne kommen" : eine west-östliche Freundschaftsgabe für Zhang Yushu zum 70. Geburtstag. Naoji Kimura & Horst Thomé (Hrsg.). (Bern : P. Lang, 2005). (Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft ; Bd. 3). (KemH1)

Type

Publication

Mentioned People (2)

Leibniz, Gottfried Wilhelm  (Leipzig 1646-1716 Hannover) : Universalgelehrter, Philosoph, Kenntnisse der Mathematik, Jurisprudenz, Geschichte, Geologie, Physik, Technik

Wolff, Christian  (Breslau 1679-1754 Halle/Saale) : Philosoph, Professor für Mathematik

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Chronology Entries (4)

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1 1716 Gottfried Wilhelm Leibniz. Lettre à Rémond sur la philosophie chinoise [ID D1716].
Leibniz schreibt : Es gibt in China eine in mancher Hinsicht bewundernswerte öffentliche Moral, verbunden mit einer philosophischen Lehre, oder richtiger, mit einer natürlichen Theologie, die ehrwürdig ist durch ihr Alter, eingeführt und zur Autorität gekommen vor etwa 3000 Jahren, also lange vor der Philosophie der Griechen, auch wenn diese letztere, abgesehen von unseren heiligen Büchern, die erste ist, von der die übrige Welt Werke besitzt. Es wäre daher von uns, die wir im Vergleich mit den Chinesen neu hinzugekommen sind, sehr unklug und anmassend, wollten wir eine so alte Lehre verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind, übereinzustimmen scheint.

Es ist die richtige Art, um ganz behutsam, ohne es merken zu lassen, diejenigen, die sich von der Wahrheit und noch dazu von ihrem eigenen Altertum entfernt haben, zu korrigieren. Hier zeigt sich, dass man sich nicht von vornherein durch Schwierigkeiten abschrecken lassen soll, und dass P. Martinus und alle, die seine Auffassung vertreten, gut daran getan haben, der Meinung P. Riccis und anderer bedeutender Männer zu folgen und trotz des Widerstandes der Jesuiten P. Emanuel Diaz und P. Nicolas Longobardo, und des Franziskaners P. Antoine de Sainte Marie, und trotz der Verachtung verschiedener Mandarine auf ihren Erklärungen zu beharren. Es genügt, dass diese Erklärungen, die sie von den Schriften der Alten geben, voll vertretbar sind, da ja die Auffassung der modernen Chinesen offenbar schwankt. Betrachtet man die Dinge aber näher, so sind diese Erklärungen auch in den Texten selbst am besten begründet. Ich spreche hier nur von der Lehre und untersuche nicht die Zeremonien oder den Kult, der eine grössere Besprechung verlangt... Um daher einzusehen, dass die Chinesen die geistigen Substanzen anerkennen, muss man vor allem ihr Li, das heisst Ordnung, betrachten, welches der Erste Beweger und die Ursache der übrigen Dinge ist und, wie ich glaube, unserer Gottheit entspricht... Da nun die alten Weisen Chinas glaubten, dass das Volk im Gottesdienst Gegenstände brauche, die seine Einbildungskraft ansprechen, wollten sie es nicht anhalten, das Li oder das T'ai-kih (Taiji), sondern Shang-ti (Shangdi), also den Himmelgeist, anzubeten. Dabei verstanden sie aber unter diesem Namen nichts anderes als das Li oder das T'ai-kih, das hauptsächlich im Himmel seine Macht zeigt... Der Kult der Ahnen und grossen Männer, der von den alten Chinesen eingeführt wurde, kann sehr wohl den Zweck haben, die Dankbarkeit der Lebenden, eine vom Himmel geschätzte und belohnte Tugend, zu zeigen und die Menschen zu Leistungen anzuspornen, die sie der Anerkennung der Nachwelt würdig machen. Doch drücken die Alten sich aus, als wenn die Geister der tugendhaften Ahnen, die von einem Strahlenkranz umgeben sind und zum Hofstaat des Weltenkönigs gehören, die Macht hätten, ihren Nachfahren Gutes und Böses zu bringen. Hier wenigstens wird deutlich, dass sie sich vorstellen, dass die Ahnen weiterleben.

Leibniz schreibt über das binäre Zahlensystem : So haben der hochw. P. Bouvet und ich den eigentlich gemeinten Sinn der Charaktere des Reichsgründers Fuh-Hi [Fuxi] entdeckt. Diese Charaktere bestehen nur aus der Kombination von ganzen und unterbrochenen Linien und gelten als die ältesten Schriftzeichen Chinas, wie sie gewiss auch die einfachsten sind. Insgesamt gibt es 64 Figuren dieser Art, die in einem Buch, das Ih-King [Yi jing] oder Buch der Variationen heisst, zusammengefasst sind. Mehrere Jahrhunderte nach Fuh-Hi haben der Wen-Wang und sein Sohn Chou-Kung und nochmals fünf Jahrhunderte später der berühmte Konfuzius philosophische Geheimnisse darin gesucht. Andere wollten sogar eine Art Geomantie und ähnliche Ungereimtheiten herauslesen. Tatsächlich handelt es sich aber genau um das binäre Zahlensystem, das dieser grosse Gesetzgeber besessen zu haben scheint, und das ich einige tausend Jahre später wider entdeckt habe.

Ahn, Jong-su : Der Brief ist in vier Teile geteilt : Die Gottesvorstellung der Chinesen, Die Lehre der Chinesen über das Urprinzip, die Materie und die Geister, Die chinesische Seelenlehre, Die Charaktere des Fuh-hi [Fuxi] und das binäre Zahlensystem.
Nach Zhu Xi bestehen alle Dinge aus zwei Prinzipien : das li entspricht der Weltordnung, der Weltvernunft, dem Gesetz, der Form und dem Logos. Das qi entspricht dem Fluidum, dem Stoff, der Materie, der Energie und der Kraft. Longobardi und Sainte-Marie behaupteten, dass der christliche Gott mit dem chinesischen Wort T'ien-chu (Tianzhu), s.h. Himmelsherr übersetzt werden solle. Nach Longobardi hängt Shangdi von dem Taiji ab. Da nach ihm Taiji die Urmaterie ist, darf man es nicht mit Gott gleichsetzen. Er war der Meinung, dass der christliche Gott mit Tianzhu (Himmelsherr) übersetzt werden solle. Leibniz behauptet, dass die Worte Shangdi und Tianzhu dasselbe seien. Seiner Meinung nach könnte man für den christlichen Gott das Wort Shangdi verwenden. Leibniz hat fast alle wichtigen Begriffe des Neokonfuzianismus behandelt und ist der Interpretation von Matteo Ricci gefolgt. Da schon Ricci nicht alles richtig interpretiert hat, wiederholt er diese Fehler. Er sieht die chinesische Philosophie aus der Sicht des Europäers und hat den Unterschied zwischen dem Christentum und der chinesischen Philosophie nicht erkannt.
Diese Interpretation der chinesischen Philosophie von Leibniz ist eine scharfe Kritik der Schriften von Niccolò Longobardo und Antoine de Sainte-Marie.
Leibniz bespricht die Gottesidee der Chinesen. Er meint, dass es besser wäre, die alten chinesischen Autoren zu betrachten, als die modernen, denn die alten Chinesen brauchen den Ausdruck li um die Gottesidee zu bezeichnen. Danach bedeutet 'li' das Urprinzip, das höchste Prinzip aller Dinge und eine geistige Substanz. 'Li' ist aktiv, wirkungskräftig und hat eine bestimmte Ordnung. 'Li' ist nicht zufällig entstanden, sondern hat ein in sich vollkommenes Sein. Im Gegensatz zu 'li' ist 'ki' [ji] Materie, die aus 'li' hervorgebracht worden ist. Man könne nicht beurteilen ob 'ki' ohne Anfang ist, aber es sei sicher, dass 'ki' nie schwinden werde.
Wenn man an Gott denke, könne man sich nicht vorstellen, dass Gott aus Form und Materie zusammengesetzt ist. Gott ist an sich die allmächtige geistige Substanz. Gott kann die Materie schaffen, aber die Materie ist nie Gott gleichgeordnet. 'Taiki' [taiji] kann sowohl 'li' als auch 'ki' einschliessen, das heisst aber nicht, dass 'taiki' aus 'li' und 'ki' zusammengesetzt ist. 'Tin' (Himmel) ist nicht nur das Himmelsgewölbe, sondern auch das Gesetz des Himmels oder der Herrscher des Himmels, also Gott. 'Tin' ist ein Symbol von 'Xangti' (Gott), deshalb ist es möglich, im Sichtbaren den unsichtbaren Gott zu erkennen. Leibniz ist überzogen, dass die Chinesen schon vor dem Neo-Konfuzianismus dem wahren religiösen Glauben gefolgt sind. Die neokonfuzianische Metaphysik ist für ihn nur ein Kommentar zur chinesischen Religion.
Leibniz ist überzeugt, dass die Chinesen an die Existenz von Geistern 'Kuei-Xin' [Gui sheng] glauben, dass sie Gott gehorchen, Gott, den Menschen, Orten, Provinzen und dem Staat dienen. Diese Geister seien mit verschiedenen Elementen wie Feuer, Flüsse und Berge verbunden, was ausdrückt, dass sie Kräfte Gottes sind.
Die Chinesen glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Das Weiterleben der Seele nach dem Tod stellen sie sich als ein Existieren unter Geistern vor. Nach chinesischer Überlieferung steige die Seele, hoan [hun] eines Menschen zum Himmel hinauf, um sich wieder mit der ewigen Naturordnung, also Gott zu verbinden. Leibniz hält den Ahnenkult der Chinesen nicht für einen Aberglauben, sondern sieht in ihm Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Die Chinesen glauben nicht an eine Bestrafung nach dem Tod wie Hölle oder Fegefeuer, aber doch daran, dass die Seelen, die überall in Bergen und Wäldern leben, eine andere Art der Bestrafung erfahren.
Wie Bouvet findet Leibniz die binarische Arithmetik im Ye Kim [Yi jing] wieder. Er stellt fest, dass die Konstruktion des Hexagramms nichts anderes als eine 'arithmétique binaire' ist. Er setzt die Zahl 1 für das Zeichen ____ und 0 für ___ ___. Mit 0 und 1 kann man alle anderen Zahlen schreiben. Als Gundzahl hat er 2 gewählt, um seine Dyadik aufzubauen.

Adrian Hsia : Leibniz äussert sich in diesem Brief zur chinesischen Metaphysik. Er setzt sich zuerst mit dem Begriff 'li' auseinander und versucht nachzuweisen, dass 'li' in der europäischen Philosophie nicht der 'Urmaterie', sondern Gott entspreche. Die Urmaterie sei an sich 'ki' [ji], das aus 'li' entsteht. Er untersucht die Begriffe 'tian (Himmel) und 'Shangdi' (Gott) und kommt zum Ergebnis, dass der chinesische Himmel physisch und mataphysisch zu verstehen sei ; daher sei der sichtbare Himmel bei den Chinesen ein Symbol des 'Shangdi'. Damit drückt Leibniz seine Überzeugung aus, dass die Chinesen keine Atheisten oder Materialisten sind, sondern immer eine Gottesidee gehabt haben. Er argumentiert weiter, dass die Chinesen an die Unsterblichkeit der Seele glaubten, weil diese nach dem Tod zum Himmel zurückkehre. Er ist auch der Meinung, dass es sich beim Ahnenkult der Chinesen nicht um einen Aberglauben handelt, sondern vielmehr um den Ausdruck von Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Diese Interpretation spiegelt Leibniz’ eigene philosophische Konzeption wider. Seine Argumente waren auch für die China-Mission der Jesuiten von grosser Bedeutung. Denn der Ritenstreit war um diese Zeit voll im Gange.
  • Document: Deutsche Denker über China. Hrsg. von Adrian Hsia. (Frankfurt a.M. : Insel Verlag, 1985). (Insel Taschenbuch ; 852). S. 377. (Hsia6, Publication)
  • Document: Ahn, Jong-su. Leibniz' Philosophie und die chinesische Philosophie. (Konstanz : Hartung-Gorre Verlag, 1990). (Konstanzer Dissertationen ; 273). Diss. Univ. Konstanz, 1990. S. 45-53, 67-87. (Ahn1, Publication)
  • Person: Leibniz, Gottfried Wilhelm
  • Person: Rémond, Nicolas de
2 1721 Wolff, Christian. Oratio de Sinarum philosophica practica [ID D1812].
Rede zum 28-jährigen Jubiläum der Hochschule zu Halle.
Quellen : Noël, François. Sinensis imperii libri classici sex [ID D1801].
Noël, François. Observationes mathematicae, et physicae in India et China [ID D5595].
Quelle für die Anmerkungen von 1726 : Couplet, Philippe. Confucius sinarum philosophus [ID D1758].

Wolff schreibt :
Nach Stand und Würden allerseits hochgeehrteste Zuhörer!
Obgleich die Weisheit der Sineser von den ältesten Zeiten her sehr berühmt gewesen, und ihre ganz besondere Klugheit in Verwaltung des Staats von jederman in Bewunderung gezogen worden ist: so scheinet doch alles dasjenige, was von beyden insgemein pfleget gesaget zu werden, so wenig seltsames als vortreffliches in sich zu fassen. Der Confuz wird gemeiniglich für den Urheber einer so grosen Weisheit von uns angesehen: diejenigen aber, welche dieser Meynung beypflichten, bezeugen dadurch nichts anderst, als ihre Unerfahrenheit in den Sinesischen Nachrichten.

Der Sinesische Staat hat sich lange vor den Zeiten des Confuz der vortrefflichsten Geseze zu erfreuen gehabt, indem die Fürsten ihren Unterthanen so wohl mit Worten als auch mit ihrem eigenen Beyspiel eine Richtschnur der grösten Vollkommenheit zur Nachfolge vor Augen gestellet, und die Lehrer und Hofmeister, so wohl Käyserliche und Königliche Prinzen, als auch anderer vornehmer und geringer Leute Kinder von der zartesten Jugend an zu wohlanständigen Sitten angewiesen, die Erwachsenen aber in der Erkenntniß des Guten und Bösen gestärket haben, also daß die Fürsten und Unterthanen den Preis der Tugend einander strittig machten. Denn die alten Käyser und Könige der Sineser waren selbst auch Weltweise: dahero hat man sich nicht zu wundern, daß ihr Staat nach dem Ausspruch, welchen Plato gethan hat, glükseelig gewesen seye, da Weltweise herrscheten, und die Könige Weltweise waren.

Fo hi ist der erste, welchen die Sineser als den Stifter der Wissenschafften und des Reiches in China verehrten. Diesem aber haben Xin num Hoam ti, Yao und Xun in der Regierung nachgefolget, welche diejenige Einrichtung, welche Fo hi bereits gemachet hatte, mehr und mehr verbesserten, biß endlich die Käyser aus den Geschlechtern Hia, Xam und Cheü so wohl die Regierung als auch die Geseze zur grösten Vollkommenheit gebracht haben.

Auf Erden aber ist nichts beständigers als der Unbestand. Kaum hatte die Weisheit und Staatsklugheit der Sineser einen so hohen Grad erreichet, so fingen sie auch schon wieder nach und nach an in Verfall zu gerathen, und wären fast gänzlich untergegangen, weil die Fürsten den Weg der Tugend verliesen, und die Vornehmsten sich nicht mehr nach den so sorgfältig gegebenen Gesezen, richteten, die Lehrer ihres Eydes und Pflicht vergasen, und die Unterthanen, die ohnedem übel geartet waren, nur Schandthaten und Laster verübten. Damals war ein recht bejammernswürdiger Zustand in dem Sinesischen Reiche! Denn wer sollte sich wohl, wertheste Zuhörer! nicht darüber betrüben, daß die Obrigkeit das ansehnlichste, nehmlich Tugend und Klugheit verlohren habe; daß die Geseze, worauf sich die allgemeine Wohlfarth gründete, schändlicher Weise unterdrüket worden sind; daß die Schulen, in welchen zarte Gemüther zu wohlanständigen Sitten angeführet, die Erwachsenen aber auf den rechten Weg der Ehrbarkeit bestätiget wurden, fast gänzlich eingegangen; und daß endlich das ganze Volk, das dem Müßiggang und den Wohllüsten ergeben gewesen, ganz und gar ins Verderben gerathen sind.

Da es aber nun so verwirrt in dem Staat der Sineser aussahe; so hat Confuz, der ein sehr tugendhafter und gelehrter Mann, und von der göttlichen Vorsehung besonders darzu bestimmet war, dem Verfall derselben wieder aufzuhelffen sich bemühet. Er hatte zwar nicht selbsten das Glük, als ein König dem Staat heilsame Geseze vorzuschreiben, dieselben öffentlich einzuführen, und andere zu denselben hinzuzuthun; sondern er war nur darauf bedacht, die Pflichten eines Lehrers auf das genaueste und möglichste zu beobachten. Dahero, ob er schon nicht thun konnte, was er wollte, so hat er doch dasjenige bewerkstelliget, was in seinem Vermögen war, und nicht das geringste unterlassen, was zur Verrichtung und Zierde seines Lehramtes in Ansehung seines Verstandes nur von ihm hat gefordert werden können.

Dazumahl war den Sinesern die Regel noch wohl bekannt, welche ihnen von den alten Weltweisen, welche auch zugleich ihre Käyser und Könige waren, sehr nüzlich eingepräget worden ist, daß die Beyspiele der Käyser und Könige den Unterthanen zur Richtschnur ihrer Handlungen dienen sollten. Da nun ihre ersten Käyser und Könige also gelebet und regieret hatten, daß sie auch andern zu einem Beyspiel dienen konnten: so werden sie so wohl wegen ihrer wohlanständigen und vortrefflichen Sitten als auch wegen ihrer grosen Staatsklugheit, von allen und jeden noch heut zu Tag gebührend verehret.

Dahero hat Confuz mit besonderer Mühe die Jahrbücher der alten Käyser und Könige durchgelesen, was darinnen als eine Richtschnur recht zu leben und zu regieren angenommen, und durch ihre Beyspiele bekräfftiget worden war, herausgelesen, was er sich besonders daraus bemerket hatte, öffters in eine reiffe Betrachtung gezogen, und endlich nach genügsamer Ueberlegung und Erfahrung an sich selbsten, es seinen Untergebenen, um es auf die späte Nachwelt fortzupflanzen, anvertrauet. Confuz ist also zwar nicht als der Stiffter aber doch als der Wiederbringer der Sinesischen Weltweisheit billig anzusehen. Ob nun schon dieser Weltweise keine neue Richtschnur zu leben und zu regieren gemachet hat, wiewohl es ihm an Verstande nicht fehlete, indem er nicht aus eitler Ehrbegierde, sondern aus Liebe zu dem Wohlstand und der Glükseeligkeit seines Volkes darzu getrieben wurde: so ist er doch damahls in so grosem Ansehen, als heut zu Tag gestanden, also, daß er, da er ehemahls lehrete, drey tausend in seiner Schule, die seinen Unterricht genossen hatten, zehlen konnte, nun aber ihn auch die Sineser noch so hoch halten, als die Juden den Moses, die Türken den Mohammed, ja wir selbsten den Heyland achten, in so fern wir ihn als einen Propheten und Lehrer, der uns von GOtt gegeben worden ist, verehren.

Nun hat es zwar Confuz nicht so weit gebracht, daß beständig ein löbliches Regiment und gute Sitten in China geblühet hätten: dann China hat schon vor dem Confuz und auch nach demselben viele Veränderung erfahren, da so wohl die Lehrer, die die Scharffsinnigkeit und den Verstand nicht besasen, welchen der Confuz gehabt hatte, und also die Höhe und Tieffe der Lehren dieses so grosen Weltweisen keinesweges erreichten: als auch da die Käyser und Könige von den Beyspielen der alten Helden, die Confuz so deutlich vor Augen gemahlet hat, abgiengen, und das ganze Volk sich nicht also bezeigte, wie ihr so vorsichtiger und behutsamer Führer Confuz sie gelehret hatte: so habe ich doch hier die Absicht nicht die so grosen Veränderungen der Dinge zu untersuchen, sondern etwas weit wichtigers, und das ihre Aufmerksamkeit, meine geneigte Zuhörer, mehr verdienet vorzutragen.

Wir wollen die Sinesische Weltweisheit etwas genauer betrachten, und aus derselben die geheime und verborgene Grundwahrheiten der Sitten und des Regiments, aus derjenigen Tiefe, in die vielleicht nicht ein jeder sich hinein wagen kan, heraus hohlen, was heraus gehohlet ist an das Licht bringen, und das an das Licht gebrachte behutsam von einander unterscheiden.

Wohlan demnach, meine wertheste Zuhörer! Vergönnen sie dem Redner ihre Wohlgewogenheit, und ein geneigtes Gehöre; wo aber meine Einsicht in dieser so wichtigen Unternehmung ihnen nicht hinreichend zu seyn scheinen solte, so belieben sie die Proben von ihrer besonderen Gütigkeit abzulegen, wofür ich ihnen wiederum in allen möglichen Fällen, zu dienen, mich verbindlich mache. Die Sache, von der ich zu reden beschlossen habe, hat eine gewisse natürliche Schönheit, dadurch sie die nach hohen Dingen begierige Gemüther vergnügen kan, und sie hat nicht nöthig einen fremden Pracht von den Worten erst zu entlehnen, um dem Gehöre derer, so dem Gemüthe nach abwesend sind, ein Vergnügen zu machen. Sie erlauben also, daß ich mir dabey einer niedrigen Art zu reden, bediene, und mich hierinnen nach den Bildhauern richte, die, wenn sie eine schöne Weibsperson auf einem Stein vorstellen wollen, dieselbe nakend abbilden, damit die Bemühungen der Weisheit, welche die Natur in der Bildung, und die Bemühungen des Fleisses, welche die Kunst, die mit der Natur eifert, bey der Nachahmung zum Zwek gehabt hat, zugleich miteinander in das Gesicht fallen, und so endlich die unverwandten Augen geweidet, und die Gemüther mit einem angenehmen Vergnügen gesättiget werden.

Da wir, meine wertheste Zuhörer! die Gründe der Sinesischen Weltweisheit, welche von jedermann durch so viele Jahrhunderte hindurch bewundert worden sind, in etwas genauer untersuchen wollen, so haben wir einen Prüfestein vonnöthen, damit wir das Wahre von dem Falschen unterscheiden, und ein jegliches nach seinem rechten Werth beurtheilen können.

Wir wissen, daß die Weisheit nichts anderst als eine Wissenschafft der Glükseeligkeit seye, welcher niemand theilhafftig seyn kan, als der sich in einem wohl eingerichteten Staat der guten Sitten befleissiget. Es wird demnach niemand unter uns läugnen, daß diejenige für ächte Gründe der Weisheit zu achten seyen, welche mit der Natur des menschlichen Verstandes überein kommen, und diejenigen als Falsche verworffen werden müssen, welche der Natur des menschlichen Verstandes zuwider sind. Dann gleichwie der Grund von allem demjenigen, welches entweder in den Dingen, oder von ihnen nur einigermasen herkommen, von dem Wesen und der Natur derselben hergeleitet werden muß; also kan man auch den Grund von Dingen, die von unserm Verstande abhangen, nirgends anders, als aus der Beschaffenheit unseres Verstandes herleiten. Ja wenn einer einem andern etwas zu thun befehlen wollte, welches in dem menschlichen Verstande nicht gegründet wäre; so würde man von ihm sagen, daß er einen Menschen zu etwas verbinde, welches unmöglich ist.

Es ist mir zwar nicht unbekannt daß Männer, die mehr als menschliche Weisheit besizen, und welche wir als Gottesgelahrte verehren, mit gutem Grunde behaupten, daß man durch die Gnade GOttes auch Dinge verrichten könne, welche die Kräffte der Natur weit übersteigen. Ob nun aber schon das, was die von oben mit Göttlichem Lichte erleuchtete einsehen, auch allerdings mit der Wahrheit der Sache übereinstimmen muß: so streitet dieses doch keinesweges wider dasjenige, was ich behaupte. Denn da die Seele des Menschen der Göttlichen Gnade fähig ist, da sie sonsten derselben, wann sie ihr angeboten würde, nicht theilhafftig werden könnte: so muß in ihrem Wesen und in ihrer Natur Selbsten ein Grund enthalten seyn, warum sie dasselbige an sich nehmen kan, es mag auch für einer seyn, was es für einer immer seyn will. Es ist also der menschlichen Natur gemäs daß die Kräffte der Natur durch die Krafft der Gnade erweitert, und zu einem höhern Grad getrieben werden. Sie mögen dahero den Prüfestein zu den Gründen der Weisheit entweder selbsten abgeben oder nur einrichten: so kan ich dem ohngeachtet die Uebereinstimmung derselben mit der Natur des menschlichen Verstandes behaupten, daß wir nehmlich dasjenige als wahr annehmen, dessen Grund daher geleitet werden kan, und dasjenige als falsch verwerffen, davon kein Grund in demselben enthalten ist. Nach diesem Prüfestein sind die Gründe der Sinesischen Weisheit nicht zu verachten.

Dan erstlich ist vor allem zu merken, daß die Sineser keine menschliche Handlungen zu unternehmen befohlen, und von den Uebungen in den Tugenden und Sitten nichts ausgemachet haben, als was ihrem Einsehen nach, mit der menschlichen Vernunfft auf das genaueste überein kam. Wir haben uns dahero nicht zu wundern, daß alle ihre
Unternehmungen so glüklich von statten gegangen sind, da sie nichts unternommen haben, als was in der Natur gegründet gewesen war. Diejenigen, welche die sittlichen Dinge tiefer einsehen, erkennen sehr wohl und deutlich, daß die menschliche Handlungen, ob sie schon dem Geseze gemäs sind, dennoch verschiedene Bewegungsgründe haben.

Dann entweder stellet sich das Gemüth die Veränderung des menschlichen Zustandes, sowol des innern, als des äusern vor, welche aus der Handlung erfolget; oder es bedienet sich zu Bewegungsgründen, der Eigenschafften und Vorsehung ja auch der Hoheit und Majestät GOttes; oder es geben ihm die Wahrheiten, die von GOtt geoffenbahret worden, und von Natur unbegreifflich sind, als diejenige, welche wir von dem Heylande und Erlöser des menschlichen Geschlechtes, als den Grund unseres Gottesdienstes annehmen, Bewegungsgründe ab. Wer die Handlungen nach dem Erfolg beurtheilet, richtet seine Handlungen nur blos nach der Vernunfft ein, und die Tugenden, die er liebet, sind blos den Kräfften der Natur zuzuschreiben. Wer durch eine nur nach dem Lichte der Vernunfft angestellte Betrachtung der Göttlichen Eigenschafften und Vorsehung GOttes zu einer Handlung geleitet wird, desselben Tugenden entspringen aus einem natürlichen GOttesdienst. Wer endlich durch die göttlich geoffenbahrten und von Natur unbegreifflichen Wahrheiten, etwas zu thun angetrieben wird, desselben Tugenden sind nur den Kräfften der Gnade zuzuschreiben.

Die alten Sineser, von welchen ich rede, die, da sie nichts von dem Urheber aller Dinge wusten, auch einen natürlichen Gottesdienst, noch vielweniger einige Spuren der göttlichen Offenbahrung hatten, konnten also keine andere, als nur natürliche Kräffte, welche sich auf keinen Gottesdienst gründen, zur Beförderung der Ausübung der Tugend gebrauchen. Daß sie aber derselben sich mit grosem Nuzen bedienet haben; wird so gleich mit mehrern dargethan werden.

Sie haben also nicht auf die Unvollkommenheiten des menschlichen Verstandes, aus welchem als aus einer Quelle, Laster, Schand- und Uebelthaten herzurühren pflegen, gesehen: sondern nur auf dessen Vollkommenheit ihr Augenmerk gerichtet, damit sie ihre natürlichen Kräffte erkennen, und was ihnen nur nach denselben möglich wäre, erlangen möchten. Es werden zwar einige die Sineser tadeln, daß sie die menschliche Unvollkommenheit nicht genau erwogen haben, und daß sie nicht darum bekümmert gewesen sind, um der Krankheit ihres Gemüths abzuhelffen, die Laster zu fliehen.

Es ist aber das Gemüth ganz anders als der Leib beschaffen, und man kan nicht allezeit von den Krankheiten dieses auf die Schwachheiten von jenem einen sichern Schluß machen. Wer die Tugend lernet, der wird durch eben diese Bemühung sich die Laster abgewöhnen, denn die Tugenden sind den Lastern zuwieder, und können nicht beyde zugleich statt finden. Wo eine Tugend zugegen ist; da ist das ihr entgegengesezte Laster nicht vorhanden. Und gleichwie die Erkänntniß der Tugend allezeit sehr vortheilhafft ist, also gereichet die Unwissenheit derselben mehrentheils zum Schaden. Daher bringet im Gegentheil die Unwissenheit der Laster einen beständigen Nuzen, und ihre Erkänntniß ist offtermahls schädlich.

Demnach haben die Sineser nicht allzugroses Unrecht, daß da sie sich wenig um die Schändlichkeit der Laster bekümmert, sie vornehmlich dahin getrachtet haben, daß die Ausübung der Tugend mehr und mehr empor kommen, allen aber gänzlich verborgen bleiben möchte, was ein Laster sey. Und hierinnen haben sie den verständigen Vernunfftlehrern nachgefolget, welche wenig um die Vermeidung der Vorurtheile bekümmert sind, sondern vielmehr auf die Kräffte des Verstandes dringen, und zu untersuchen pflegen, wie sie dieselben zur Erforschung der Wahrheit anwenden können, da sie versichert sind, daß so dann keine Vorurtheile herrschen, wo man das Wahre von dem Falschen deutlich unterscheidet; daß man aber vergebens die Vorurtheile zu fliehen gebiete, wo die Kräfte das Wahre zu erkennen, annoch fehlen. Daß die menschliche Seele einige Kräffte so wohl gute Handlungen zu verrichten, als Böse zu unterlassen besize; wird, wie ich dafür halte, niemand leugnen.

Denn es ist ohnedem bekannt, daß dieses die natürliche Beschaffenheit desselben seye, daß sie nichts verlanget, als was sie für gut erkennet, und hingegen nichts verabscheuet, als was sie für böse angesehen hat: dahero andere schon längstens angemerket haben, daß wenn es sich zuweilen zutragen sollte, (welches leyder offt zu geschehen pfleget), wenn man etwas Böses erwehlet, welches gut zu seyn scheinet; das verworffen werde, welches das Ansehen hat, als wäre es böse. Denn die Erfahrung lehret uns, daß Menschen, die nach ihren Empfindungen gehen, das Gute, nach den Vergnügen, welches sie darnach geniesen, und das Böse nach den Schmerzen und Verdruß, womit sie belästiget werden, beurtheilen. Da also die Empfindungen nur das Gegenwärtige fürstellen, das Zukünfftige aber weit von ihnen entfernet bleibet; so vermischen sie das Vergängliche mit dem Unvergänglichen, und ziehen die Scheingüter den wahren Gütern vor, ja sie tragen öffters vor wahren Gütern einen Abscheu, weil sie erst in der zukünfftigen Zeit ihnen ein Vergnügen erweken, welches sie noch nicht voraus empfinden. Wer also diese gefährliche und unglükseelige Wege vermeiden will, der muß auf das Zukünfftige sehen, und nach denselben den Befehl der menschlichen Handlungen und Verrichtungen beurtheilen. Der Verstand hat ein Vermögen das Gute von dem Bösen, und das Böse von dem Guten zu unterscheiden, desgleichen auch die Finsterniß, welche die Empfindungen im Verstande verursachen, zu vertreiben. Die Handlungen sind nehmlich entweder gut oder böse, in so fern sie diese oder jene Veränderung in unserm Zustand zuwege bringen: Eine geübte Vernunfft aber siehet die Veränderungen zum Voraus, welche aus den Handlungen, die man entweder vorgenommen oder unterlassen hat, entstehen.

Da dasjenige, was gut ist, unsern Zustand keinesweges unglüklich machet, sondern denselben vielmehr in Ruhe und Friede versezet; das Böse aber, alles verwirret, das Oberste mit dem Untersten vermischet, ja beständige Unruhen zu erweken pfleget: so wird das Gemüthe, welches beydes zum Voraus siehet, durch den Erfolg der guten Handlungen vergnüget; die Bösen aber bringen in ihnen einen Ekel und Mißfallen hervor, so lange es nach seiner Vernunfft urtheilet. Dahero haben wir einen Antrieb in uns, nach dem Guten, das wir erkennen, zu streben, und das Böse, dessen Schändlichkeit wir wahrnehmen, zu fliehen. Damit wir nun des Vorsazes eingedenk seyn, und dabey beständig verharren können, so erstreket sich solches niemahls über die Kräffte des Gedächtnisses und der Vernunfft, welche auf das genaueste mit einander verbunden sind: wie ich an einem andern Ort weitläufftiger erkläret habe. Da also ein Mensch nach dem Gebrauch seiner natürlichen Kräffte das Gute und Böse unterscheiden, durch jenes vergnügt, und durch dieses mißvergnügt werden, und seines Vorsazes eingedenk seyn kan: so sehe ich nicht, Wie einer läugnen wolte, daß einige Kräffte der Natur, zur Ausübung der Tugend und Vermeidung der Laster hinlänglich wären. Und weil die Sineser, welche ihre Kräffte auf keine andere Art gebrauchen konnten, einen vortrefflichen Ruhm der Tugend und Klugheit sich erworben haben; so haben sie mit ihrem Beyspiel hinlänglich gezeiget, daß der Gebrauch dieser Kräffte nicht vergebens gewesen seye.

Gleichwie es aber höchst unbedachtsam, verwegen und gefährlich gehandelt ist, wenn man den Verstand in Untersuchung der Wahrheit Gränzen sezen wollte: Also würde auch derjenige sehr kühn und unbesonnen verfahren, welcher die Kräffte der Natur Gutes auszuüben, einzuschrenken suchte. Dann ob man schon, wann man vornehmlich zu einer nähern Erkänntniß des menschlichen Verstandes gelanget ist, darthun kan, wie weit es die Sineser gebracht haben, indem man ihre Jahrbücher, darinnen das Leben und die Thaten ihrer ersten Kayser und Könige beschrieben worden sind genau durchgehen kan: so ist doch gewiß, daß sie es keinesweges zu der grösten Vollkommenheit gebracht haben, und wird dahero niemand behaupten, daß man nicht weiter gehen solle, als sie gekommen sind. Wir gehen dahero zur gegenwärtigen Sache selbst, und bekümmern uns nicht darum, wie weit wir fortgehen sollen, sondern wollen vielmehr sehen, wie weit es zu kommen möglich ist. Es stimmet dieses mit der Gewohnheit der alten Sineser ganz genau überein, welche sich sowol in ähnlichen als unähnlichen Fällen nach dem Beyspiel ihrer Vorfahren gerichtet und gelehret haben, daß man nur bey der grösten Vollkommenheit, das ist, niemahls bey etwas stehen bleiben solle. Hier sehen sie also, hochzuehrende Zuhörer! die Quelle, aus welcher die Sineser ehedem ihre Weisheit und Klugheit hergeleitet haben. Wir müssen aber auch, (welches vornehmlich unser Vorhaben ist) den Ausfluß aus derselben betrachten, damit wir die Reinlichkeit und Lauterkeit des Wassers, auch in seinem Strom, darinnen es fortläuffet, um desto besser erkennen können.

Es träget der Unterscheid zwischen dem obern und untern Vermögen der Seele zur Tugend ein groses bey, welches auch einigen Alten bekannt, aber nicht faßlich u. deutlich genug gewesen ist. Zu den untern Vermögen rechnet man die Empfindung, die Einbildung und die Begierde, das ist, alles was in den Vorstellungen undeutl. vorkommt, und von diesen, in soferne sie undeutlich sind, abhanget: zu dem obern Theil aber gehöret der Verstand, (welcher um die zweyfache Bedeutung des Worts, die durch die verschiedene Art zu reden entstanden ist, aufzuheben bisweilen der reine Verstand (intellectus purus) genennet zu werden pfleget), die Vernunfft und der freye Wille, oder mit einem Worte, alles was in den Vorstellungen deutliches gefunden, und aus denselben in so fern sie deutlich sind, hergeleitet wird.

Wer nur bey einer undeutlichen Erkänntniß der Dinge stehen bleibet, und durch keine andere, als die von den Weltweisen so genannte sinnliche Begierde, und durch die daraus entstandenen Gemüthsbewegungen, zu Handlungen angetrieben wird; der bringt sich eine Gewohnheit Gutes zu thun zu wege, aus welcher die Furcht vor einen Oberherrn meistentheils erhalten werden muß, damit sie nicht bey Gelegenheit durch das Gegentheil aufgehoben wird. Und in diesem Zustande ist der Mensch von dem Vieh nicht unterschieden, welches zwar die Vernunfft keinesweges gebrauchen kan, aber doch eine Empfindung und die daraus entstehende sinnliche Begierde hat. Wie man also unvernünfftige Thiere zu gewissen Handlungen anzugewöhnen pfleget, also gewöhnen sich auch Menschen in eben solchem Zustande, Handlungen, die in unserer Willkühr stehen, vorzunehmen.

Diejenigen aber, welche sich eine deutliche Erkänntniß der Dinge zuwege zu bringen suchen, und durch diejenige Begierde, welche die Weltweisen die vernünfftige nennen (appetitum rationalem) zu etwas gutes angetrieben werden, die lenket ihr freyer Wille zu guten Handlungen, und die haben nicht nöthig aus Furcht eines Obern in dem Guten zu beharren, weil sie den innern Unterschied des Guten und Bösen erkennen, und andern, wenn es die Noth erfordert, hinlänglich erklären können. Die Wahrheit zu sagen, so weis ich niemand, der dieses bey der Einrichtung der menschlichen Sitten so genau beobachtet hätte, als die Sineser.

Als die Sineser unter den Kaysern, welche anfangs angeführet worden sind, so glükseelige Zeiten genossen; so hatten sie an allen Orten des Reiches in China zwey Schulen angerichtet. Die eine nenneten sie die Schule der Kleinern, welche sich auf den untern Theil der Seele gleichsam gründete: die andere aber wurde die Schule der Gröseren (schola adultorum) genannt, welche mit dem obern Theil der Seele gänzlich beschäfftiget war. Und dieses war der Grund, warum die Knaben von acht biß funffzehn Jahren alt, in die Schule der Kleineren giengen, weil sie ihren Verstand noch nicht gebrauchen konnten, und also nur durch sinnliche Vorstellungen musten gelenket und regieret werden; keiner aber vor dem funffzehenden Jahr in die Schule der Grösern angenommen wurde, damit wenn sie ihre Vernunfft gebrauchen lerneten, auf höhere Dinge denken möchten. Und das war eben auch die Ursache, warum alle und jede ohne Unterschied, sowol Kayserliche und Königliche Prinzen, als auch anderer vornehmen und geringen Leute Kinder in die Schule der Kleinern kommen konnten. In der Schule der Gröseren aber keiner angenommen wurde, als der aus einem Kayserlichen, Königlichen und sonst einem vornehmen Geschlecht herstammte, oder auch einer vom gemeinen Volke, der aber mehr Verstand, Urtheilungskrafft und Fleis als die andern bey sich verspüren lies.

Weil die Kinder in der Schule der Kleinern zu guten Sitten angewiesen wurden, die darinnen erlangte Gewohnheit Gutes zu thun aber nicht anderst als durch Furcht vor einen Obern erhalten werden konnte; so war dasjenige, was sie daselbst gelernet hatten, keinesweges hinlänglich, dermaleinsten einem Reich vorzustehen, oder ein ungehorsames Volk regieren zu können: denn die Regenten in China erkennen keinen vor ihren Oberherrn, der ihnen Geseze vorschreiben könnte; die Sineser aber selbsten wollten lieber in Freyheit leben, als sich von sndern beherrschen lassen. Weil sie nun also in der Schule der Grösern unterwiesen wurden, wie sich ein jeder selbsten regieren müsse, damit er freywillig dasjenige unternähme, wodurch er sich Lob erwerben könnte, dasjenige aber ohne Zwang unterlasse, was ihm zur Schande gereichen mögte: so wurden in dieser Schule solche Personen erzogen, welche entweder ohne einem andern unterthänig zu seyn, dermahleinstens andere beherrschen, oder wenn sie auch noch einen Höhern über sich erkennen musten, sich dessen Gesez aus eignem freyen Triebe gemäs verhalten sollten. Diejenigen aber im Gegentheil, welche die Geburth schon zur Dienstbarkeit bestimmet hatte, wurden von dieser Schule zurük gehalten, sowol weil sie nach ihrer Einfalt dasjenige nicht verstanden, was zur Beherrschung seiner selbst erfordert wurde, als auch weil sie als Unterthanen eines andern, sich selbsten zu regieren nicht nöthig hätten, weil sie ohnedem zum Gehorsam geneigt wären. Alle Unternehmungen der Sineser hatten zu ihrem Ziel und Endzwek eine gute Regierung, damit nehmlich alle und jede, die sich in diesem wohl eingerichteten gemeinen Wesen befänden, glükseelig seyn möchten. Dahero wurden sie in der Schule der Kleinern zur Unterthänigkeit, in der Schule der Grösern aber zur Regierung zubereitet, so daß nehmlich, wie erst gedacht wurde, diejenigen, die zur Knechtschafft gebohren waren, ihren Vorgesezten Gehorsam leisten, die Regenten aber nur heilsame Dinge zu verrichten anbefehlen, und andern mit ihrem Exempel fürgehen, die aber welche von der Regierung ausgeschlossen und zu den Unterthanen gerechnet worden sind, alles was ihre Oberherren befehlen würden, aus eigenem Trieb verrichten sollten. In der Schule der Kleinern wurde also besonders auf die Hochachtung gegen Eltern, alte Leute und Vorgesezte gedrungen, und ihnen in ihrer zarten Jugend die Geseze der Bescheidenheit und Unterthänigkeit eingeschärffet. In der Schule der Grösern aber wurden die Gründe der Dinge entdeket, und heilsame Regeln so wol sich als andere zu beherrschen vorgeleget. In beyden Schulen aber wurde von den Lernenden nicht mehr gefordert, als was sie in ihrem Leben gebrauchen könnten. In beyden Schulen bemüheten sich auch nicht nur die Lernenden, daß sie dasjenige, was sie selbsten zu thun hatten, wohl einsehen mochten, sondern sie wendeten auch alle ihre Kräffte des Leibes und des Verstandes dazu an, daß sie dasjenige, was sie erkannt hatten, auch würklich bewerkstelligen möchten. Dieses war die Beschaffenheit dieser beyden Schulen, da das gemeine Wesen der Sineser in seiner goldnen Zeit blühete, und sowol die Regenten als auch Eltern ihrem Amt und Pflichten sich gemäs bezeigten.

Und nach meinem Urtheil sind die Sineser auch hierinnen besonders zu loben gewesen, daß sie bey Erlernung der Wissenschafften jederzeit eine gewisse Absicht sich zum Grunde gesezet, und nichts verabsäumet haben, was zur Erlangung derselben beförderlich hat seyn können. Nicht geringeres Lob scheinen sie auch dadurch sich erworben zu haben, daß sie ihre erlernte Wissenschafften auch sich zu Nuze zu machen suchten, und dabey weiter auf nichts ihr Absehen richteten, als was zur Erlangung ihrer Glükseeligkeit etwas beytragen konnte; welches die Ursache war, daß niemand in dieser so geseegneten Zeit in ganz China anzutreffen war, der sich nicht, so weit es sein Verstand zulies, und es die übrige Beschaffenheit seines Lebens erforderte, auf die Erlernung der Wissenschafften geleget hätte. Ja auch hierinnen verdienen die Sineser gelobet zu werden, daß sie nicht allein Sittenlehren vorgeschrieben, sondern ihre Schüler auch in der Tugend geübet, und ihre Sitten eingerichtet haben. Wir wollen aber noch deutlicher wahrnehmen, wie weit es die Sineser in der Erkänntniß und Ausübung des Guten gebracht haben. Der Jesuit Franz Noel, der eine sehr weitläufftige Gelehrsamkeit besessen und das Lob eines sehr ehrbaren Lebens sich erworben hatte, hat, nachdem er mehr als zwanzig Jahre mit der Besserung der vornehmsten Bücher des Sinesischen Reiches ganz besonders beschäfftiget gewesen, dieselben endlich in das Lateinische übersezet, und vor ohngefehr zehn Jahren zu Praag herausgegeben. Unter diesen erscheinet zum ersten das unschäzbare Büchlein, welches Confuz verfertiget hat, darinn die Lehre enthalten ist, welche die Erwachsenen zu erlernen haben, und die Schule der Grösern oder Erwachsenen genennet wird.

Ich habe oben gesagt, daß Confuz nicht etwas Neues erfunden, sondern das Alte nur verneuert habe: dahero kan man in diesem Buch die ächten Gründe der Sinesischen Weisheit finden. Die Sineser drungen also darauf, daß die Vernunfft vor allen Dingen geübet werden möchte, indem einer zu einer deutlichen Erkänntniß des Guten und Bösen gelangen müsse, der sich ohne Furcht vor den Obern und ohne Hoffnung von denselben eine Belohnung zu erhalten, der Tugend widmen wollte, man aber keinesweges zur vollkommenen Erkänntniß des Guten und Bösen gelangen könne, wo man die Beschaffenheit und Gründe der Dinge nicht genau untersuchet habe. Und ein Schüler von dem Confuz, Tsem tsu, der für andern sich herfür gethan hat, beweiset aus den Kayserlichen Jahrbüchern, daß die vornehmsten Weisen vornehmlich dahin gesehen hätten, daß die Vernunfft von Tag zu Tag möchte vollkommener gemachet werden.

Und dieses behaupteten sie mit gutem Grunde. Denn sie erkannten, daß ein Mensch der freywillig etwas thut, er mag nun entweder keines andern Botmäsigkeit unterworffen seyn, oder wenn er wieder Willen unterthänig ist, sich lieber in die Freyheit wünschen, das Gute nicht ausübe, und das Böse nicht vermeide, wo nicht vorhero die Begierden in der Seele, und die Bewegungen des Herzens so mit denselben in dem Leibe übereinstimmen, in Ordnung gebracht worden sind; und daß ferner die Begierden in der Seele und die Bewegungen des Herzens in dem Leibe nicht können in Ordnung gebracht werden, wo nicht der Mensch in der Liebe zum Guten und in dem Haß gegen das Böse bestärket werde; daß die Liebe zum Guten, und der Haß gegen das Böse nicht statt finden könne, woferne einer nicht eine vollkommene Erkänntniß des Guten und Bösen, und zwar durch einen Vernunfftschluß in der Seele erlanget hätte; und daß endlich keine vollkommene Erkänntniß des Guten und Bösen durch einen Vernunftschluß erlanget werde, wo man nicht die Beschaffenheit u. Gründe der Dinge genau untersuchte.

Sie bewiesen zwar dieses nicht mit vielen zusammenhangenden Gründen, indem sie keine deutliche Erkänntniß der Dinge hatten, welche auch heut zu Tag noch den meisten fehlet. Sie gründeten sich aber auf eine lange Erfahrung in Behauptung dessen, was sie in der Jugend durch die scharffsinnige Betrachtung der Beyspiele so vortrefflicher Helden erlanget, und was sie selbsten bey der Ausübung der Tugend an sich wahrgenommen hatten.

Wer wird aber dasjenige in Zweiffel ziehen, was durch eine so vielfache Erfahrung ist bestättiget worden, da ich vornehmlich oben schon gezeiget habe, daß man bey keinem Volk in dieser Sache seine Versuche besser anstellen könne, als bey den alten Sinesern, welche weder einen natürlichen noch geoffenbahrten Gottesdienst gehabt, und niemals auf äuserliche Gründe gesehen haben. Dann weil nur die innern Bewegungsgründe, welche aus der Beschaffenheit der menschlichen Handlungen selbst hergeleitet worden sind, bey ihnen statt hatten; so konnte man aus ihrem Beyspiel deutlich wahrnehmen, wie weit es jene bringen können.

Da ich von der Sinesischen Weisheit noch gänzlich nichts wüste, sondern von Natur auf die Beförderung der menschlichen Glükseeligkeit bedacht war, habe, da ich noch sehr jung war, und zwar mit gutem Fortgang (ohne Ruhm zu gedenken,) schon angefangen dem Thun und Lassen der Menschen weiter nachzudenken, welches diejenige Schrifft bezeugen kan, welche ich vor vielen Jahren auf einer benachbahrten und vortrefflichen hohen Schule statt einer Probe, von der allgemeinen ausübenden Weltweisheit der öffentlichen Prüfung der Gelehrten mit geziemender Bescheidenheit unterworfen habe. Wie ich zu mehrern Jahren gekommen bin, und meine Beurtheilungskrafft und Scharffsinnigkeit reiffer und gröser worden ist, habe ich eben dieses tieffer eingesehen, und aus den innersten des menschlichen Verstandes hergeleitet, was zu einer weisen Regierung der menschlichen Handlungen gehöret. Ob nun aber schon die Sinesischen Erfindungen nichts zu den meinigen haben beytragen können, indem sie mir meistens unbekannt waren; so dienten mir doch meine Erfindungen, welche ich durch eignes Nachdenken herausgebracht hatte, darzu, daß die Erfindungen der Sineser desto genauer einsehen lernete.

Denn da der bereits oben erwehnte Uebersezer der vornehmsten Bücher des Sinesischen Reiches, ein Mann von einem sehr scharffen Verstand und groser Beurtheilungskrafft, mehr als zwanzig Jahre mit der Durchlesung derselben zugebracht, und seinen möglichsten Fleis angewendet hatte, daß er den richtigen Verstand, welcher, wie er selbsten bekennet, an manchen Orten sehr schwer und dunkel ist, deutlich genug erkennen möchte; so hat er endlich in der Vorrede der Uebersezung dieses Urtheil gefället, daß in denselben nicht eine verborgene und hohe Wissenschafft, sondern nur eine gemeine Tugend- u. Sittenlehre, eine Einrichtung des Hauswesens, und eine Staatsklugheit enthalten seye, so daß ihn nicht sowol die Vortrefflichkeit des Innhalts und der Sache selbst, als die vielen Leute, welche damit beschäfftiget sind, zu dieser Uebersezung angetrieben haben, welche von so vielen unternommen, aber in mehr als hundert Jahren, seit dem die Sinesische Mißion ihren Anfang genommen hatte, nicht zu Stande gebracht worden ist. Ich aber, da ich diese Bücher kaum so beyläuffig betrachtete, habe alsobald wahrgenommen, daß eine höhere Weisheit darinnen verborgen liege, ob es schon Kunst braucht, dieselbe heraus zu suchen: denn ich habe wahrgenomen, daß diejenigen Dinge, welche dort in sehr groser Unordnung erscheinen, in dem allerschönsten Zusammenhang mit einander verbunden seyen, in so ferne man sie genauer erweget, und daß dasjenige, was ohne einigen beygefügten Grund behauptet worden ist, mit der Vernunfft auf das genaueste überein komme wo man es gehörig prüfen würde. Ich hatte auch gefunden, daß dasjenige wahr seye, was von den Alten behauptet wird, daß wenn einer blos aus natürlichen Kräfften, nicht aus Gewohnheit, noch Furcht vor einem Obern, sondern nach seinem freyen Willen und mit Vergnügen sich der Tugend befleisigen soll, er von der Verbesserung seines Verstandes anfangen müsse, und daß derjenige auf diese Wahrheit komme, welcher die Beschaffenheit des menschlichen Verstandes genau erweget. Hievon habe ich, wo ich nicht irre, bewiesen, daß es der Probierstein der sittlichen Wahrheiten sey. Denn die Tugend ist im Verstande nicht im Leibe zu finden, ob schon die tugendhaften Handlungen sich darinn äusern. Die äuserliche Verrichtungen müssen mit den Begierden der Seele überein kommen, die Begierden aber entstehen aus den Bewegungsgründen, die Bewegungsgründe eines gegenwärtigen Falles bestehen in der Erkänntniß des Guten und Bösen; das Gute und Böse wird aus der Vollkommenheit und Unvollkommenheit unseres Zustandes erkannt; die Empfindung der Vollkommenheit bringet Vergnügen, die Empfindung der Unvollkommenheit Verdrus; Wer ein Vergnügen aus dem Guten empfindet, der liebet das Gute. Wer durch etwas Böses misvergnüget wird, der hasset das Böse.

Ein jeder siehet also, daß alle Dinge aus einer deutlichen Erkänntniß des Guten und Bösen herrühren, und daß durch die Schärffe des Verstandes der Wille gebessert werde. Dieses ist der Natur des Verstandes gemäs, stimmet mit den Gründen der Sineser überein, und ist durch so viel herrliche Versuche von den Sinesern bestättiget, ob gleich nicht von allen gebilliget worden, da man den obern Theil der Seele von dem untern Theil derselben insgemein nicht genug unterscheidet, welchen Unterschied die Sineser doch auf das genaueste beobachtet haben.

Es erforderten aber die Sineser, daß einer erst sein Thun und Leben recht einrichten müsse, ehe er einen Hausvater abgeben wolle; daß er erst sein Haus wohl regierte, ehe er zum obersten Regimente angenommen werden könnte. Und nach meiner Meynung hatten sie hierinnen nicht unrecht gethan. Denn wie kan einer ein Hauswesen führen, der sich selbst nicht genug zähmen kan. Wie will einer viele regieren können, der nicht einmahl sein Hauswesen, das ist, die wenigen recht zu beherrschen im Stande ist, welche er doch auf das genaueste kennet? Es kommet noch dieses hinzu, daß wenn einer andere beherrschen will, er mit seinem Beyspiel auch lehren müsse, daß dasjenige geschehen könne, was er zu thun befiehlet, und daß es zu dem Ende befohlen werde, weil es als ein Mittel zur Erlangung der Glükseeligkeit anzusehen ist.

Es war aber den Sinesern nicht genug, daß man sich nur selbsten bemühen solle, tugendhafft zu leben, und die Laster zu fliehen; sondern man sollte sich auch die äuserste Mühe geben, es dahin zu bringen, daß auch andere die Laster vermeiden, und der Tugend sich ergeben möchten. Dahero war dieses auch einer von den vornehmsten Gründen der Weisheit der Sineser mit, daß, wenn sie im Guten einen glüklichen Fortgang verspürten, sie sich auch andere ihnen gleich zu machen höchstens angelegen seyn liesen. Diejenige Scharffsinnigkeit, welche sie erlanget hatten, waren sie bemühet auch andern beyzubringen: die Erkänntniß des Guten und Bösen, die bey ihnen anzutreffen war, suchten sie auch andern zu verschaffen: dasjenige Vergnügen, dessen sie theilhafftig worden, sollten auch andere geniesen: was ihnen angenehm und unangenehm vorkam, sollten auch andere lieben und hassen: und sie gaben sich endlich alle ersinnliche Mühe, daß andere auch denjenigen Ruhm erlangen möchten, dessen sie sich selbsten bereits in Ansehung ihrer Tugend zu erfreuen hatten. Dahero giengen die Kayser und Könige dem Volk, die Hausväter ihrem Haus, und die Eltern ihren Kindern mit guten Beyspielen vor, und waren denen zu grosem Nuzen, welche man nicht, nach der Vernunfft regieren konnte.

Dieses aber schärfften die Sineser vornehmlich ein, daß man, wo man entweder sich, oder andere zu bessern hat, nur bey der grösten Vollkommenheit, und da man dieselbe nicht erreichen kan, gar niemahls stehen bleiben sollte: sondern vielmehr je mehr und mehr weiter fortzugehen trachten, damit wir sowol als auch andere zu einem grösern Grad der Vollkommenheit gelangen möchten. Die Sineser richteten also alle ihre Handlungen zu ihrer und anderer grösesten Vollkommenheit als dem Hauptendzwek ein: In welcher Einrichtung, wie ich längstens schon erwiesen habe, das ganze natürliche Recht, ja was sonst nur in unsern Handlungen einiger masen lobenswürdig zu seyn scheinen mag, enthalten ist. Sie mögen zwar so viel man siehet, keinen deutlichen Begriff von der Vollkommenheit gehabt haben, da sie vielmehr das genaue Band, durch welches die Handlungen die zu der Vollkommenheit des menschlichen Zustandes abzielen, mit einander vereiniget werden, und welches von mir an das Licht gebracht worden ist, keinesweges einsehen, und die Vollkommenheit nur als einen Grad der Tugend einig und allein beurtheilet zu haben, scheinen; wenn man aber doch so wol die Regeln als Beyspiele welche in ihren vornehmsten Büchern hier und dar von ihrem Thun und Lassen vorkommen, genau untersuchet, so scheinet es, daß sie doch davon einen undeutlichen Begriff gehabt haben. Und was wollen wir uns darüber wundern, da sie auch in den übrigen Dingen, die ich deutlicher erkläret habe, keine deutliche Begriffe hatten. Dieses war auch die Ursache, warum der Uebersezer nach so viel angewandter Zeit und Mühe nicht hat erkennen lernen, was die Sinesischen Weltweisen haben sagen wollen. Man kan nicht allezeit sogleich aus den blosen Worten abnehmen, was für undeutliche Begriffe mit den Worten verbunden werden müssen: aber diejenigen, welche sie aus der Undeutlichkeit heraus gebracht haben, müssen es durch Muthmasungen meistentheils herausbringen, welche undeutliche Begriffe mit den deutlichen einerley seyen.

Daß das höchste Gut der Menschen in einem ungehinderten Fortgang täglich zu grösern Vollkommenheiten bestehe habe ich an einem andern Ort, dargethan. Weil nun die Sineser dieses so sehr einschärften, daß man auf dem Wege der Tugend beständig weiter fortgehen und bey keinem Grad der Vollkommenheit stehen bleiben müsse, als bey dem höchsten, welchen doch wohl keiner erreichen kan; also haben nach meiner Einsicht, auch ihre Weltweisen diese Meynung gehabt, daß der Mensch nicht könne glükseeliger werden, als wenn er von Tag zu Tag zu mehrern Vollkommenheiten zu gelangen suchet.
Damit sie aber mit desto gröserer Begierde nach diesem Ziel streben möchten, so wurden sie eben dadurch, wodurch die Gelehrten insgemein zu herrlichen Unternehmungen in einer jeden Art der Gelehrsamkeit gereizet werden, auch angetrieben, nehmlich durch den Ruhm der Wohlthaten, welcher, ob er schon sehr schwer zu erlangen ist, doch diejenigen, welche sich darum bemüheten, stärkte. Wir sehen also, daß die Sineser die so herrliche Beyspiele ihrer Kayser und Weltweisen zu Regeln angenommen haben, damit sie auch andere zu gleichen herrlichen Uebungen antreiben möchten. Denn diejenigen, welche sich durch die Ruhmbegierde treiben lassen, bemühen sich möglichst es andern, die sich durch ihre Verdienste berühmt gemacht haben, gleich zu thun, oder dieselben gar zu übertreffen.

Ich habe aber eine ganz besondere Art wahrgenommen, deren sich die Sinesischen Weltweisen bedienet haben, wenn sie ihre Schüler zur Nachfolge solcher herrlichen Thaten haben anfrischen wollen. Von Personen, deren Verdienste sehr hoch gehalten wurden, erzehleten sie ihren Schülern ganz seltsame Dinge, daß sie mit einer erstaunenden Bewunderung nachdachten, was dieselben doch zu einer solchen Unternehmung müsse bewogen haben: wenn sie nun lange genug nach dem Grunde geforschet, denselben aber doch nicht eingesehen hatten, so erkläreten sie ihnen endlich auch diesen, und reizten sie also zur Nachfolge in ähnlichen Fällen an.

Mich dünket, ich höre einige strenge Sittenlehrer mit einem Murren einwenden, daß die Sineser nur aus Ehrgeiz etwas verrichtet hätten, was dem äuserlichen Ansehen nach den Schein der Tugend hätte, von der wahren Tugend aber so weit entfernet gewesen wären, daß man mit Recht behaupten könne, ihre Handlungen seyen mit Lastern befleket gewesen. Aber diese guten Leute mögen es mir nicht übel nehmen, daß ich ihnen keinen Beyfall geben kan. Mit dem Ehrgeiz muß man die Ruhmbegierde nicht vermengen, als welche die Dinge, wie ich an einem andern Ort gezeigt habe, sehr weit von einander unterschieden sind. Wer wird wohl an einem, der etwas Gutes thut, mit Recht tadeln, daß er sich über den Genuß dessen, da er sich seiner guten Handlungen bewust ist, erfreuet? Wer mißbilliget es, daß man sich alle ersinnliche Mühe in Einrichtung seiner Handlungen gebe, damit die Abgünstigen nichts daran auszusezen finden mögen, andere aber dieselbigen loben, und ihnen nachfolgen können? Wer kan das als etwas Unrechtes tadeln, daß die Tugend durch ihre Vortrefflichkeit sich andern gefällig gemachet hat, so daß wir es für lobenswürdig halten, mit derselbigen geschmüket zu seyn, aber es für schimpflich erachten, wenn es an derselbigen mangelt? Wer weis dann auch ferner nicht, daß die Handlungen an sich gut sind? Wem ist es wohl unbekannt, daß die Handlungen keinen Fehler an sich haben, in so fern sie wegen ihrer innern Güte geliebet, hoch gehalten und verrichtet werden? da ich also in dem vorhergehenden gezeiget habe, daß die Sineser deswegen sich guter Handlungen beflissen hätten, weil sie die innere Güte derselben auf das genaueste erkannten; So können wir mit Recht an ihnen nichts tadeln: denn ich habe Anfangs gezeiget, daß sie keine andere Bewegungsgründe gehabt haben, als die aus den Handlungen erfolgende Veränderung ihres Zustandes. Wer wird aber daran zweiffeln, daß GOtt, da er etliche Handlungen verboten, andere geboten hat, eben darauf gesehen habe? Wer wird in Betrachtung dessen, sich wohl noch zu behaupten unterfangen, daß derjenige zu schelten seye, welcher aus eben demjenigen Grunde einige Handlungen vornimmt, andere aber unterlasset, aus welchen der allerweiseste und allergütigste GOtt dieselben zu thun befohlen oder verboten hat?

Es ist noch ein besonderer Grund der Sinesischen Weisheit übrig, dessen ich auch Krafft meines Vorhabens Erwehnung thun muß. Die Sineser hielten ehedem sehr vieles von Gebräuchen, welche sie in grosser Anzahl hatten, und in der Schule der Kleinern, in welche alle Einwohner des ganzen Reiches giengen, lehreten. Dahero auch heut zu Tag unter den vornehmsten Büchern der fünff erstern Weisen, welche von denen unterschieden sind, welche der Noel übersezet hat, ein Buch von den Gebräuchen angetroffen wird, welches in der lateinischen Uebersezung offt angeführet worden ist. Es scheinet, daß der Uebersezer der Sinesischen Bücher dieses für allzu gering angesehen, und es deswegen nicht habe übersezen wollen: Aber ich wollte wünschen, daß auch die Uebersezung davon vorhanden seyn möchte, indem ich versichert bin, daß man mehr darinnen finden würde, als man suchen sollte. Denn wie nüzlich die Gebräuche bey Ausübung der Tugend seyen, habe ich an einem andern Ort auf das deutlichste erwiesen, welches denjenigen nicht unbekannt ist, welche dasjenige genau geprüfet haben, was in dieser Sache von mir geschrieben worden ist. Es bezeugen aber die Proben, welche in der lateinischen Uebersezung dieser Bücher hier und dort angetroffen werden, daß die Gebräuche der Sineser solche Gründe haben, welche ihrer Weisheit höchst anständig sind. Damit ich mein Versprechen halte, so will ich nur ein einziges Beyspiel anführen. Es durffte ehedem, da nehmlich das Sinesche Reich noch im Flor stunde, keine schwangere Frau etwas Schändliches ansehen, oder ärgerliche Redensarten zu Ohren fassen. Des Abends sang der Vorgesezte in der Music, welcher blind war, damit er die Thöne desto besser unterscheiden konnte, zwey Lieder aus einem Gesangbuch, von der wahren Hauszucht in ihrer Gegenwart vor, und redete von ehrbaren Dingen. Dieses geschähe zu dem Ende, damit ein Kind von einem guten Verstand möchte gebohren werden. Davon der Lien Hiam in dem Buch, welches er von der Unterweisung der Weiber geschrieben zurük gelassen hat, behauptet, daß es auch würklich eingetroffen habe. Ich will diesen Gebrauch etwas deutlicher erklären, damit man sehe, wie genau er mit einer gesunden Vernunfft überein komme. Es ist ihnen, meine wertheste Zuhörer! ohnedem bekannt, wie genau Seele und Leib mit einander vereiniget sind, und daß, indem eine Geburt in Mutterleibe gebildet wird, in der Bildung der Gliedmasen, welche sich ganz genau nach der Seele richten, nichts könne verändert werden, wo nicht auch zugleich eine Veränderung in der Seele vorgehet, welche mit der Veränderung, die im Leibe geschehen ist, übereinstimmet. Und es ist bekannt, daß wegen des gemeinschafftlichen Umlauffs des Geblüts in der Geburt und in der Mutter, die Bewegungen der flüssigen Theile in der Geburt mit den Bewegungen der flüssigen Theile in der Mutter überein kommen müssen. Ja es ist auser allem Zweifel, daß mit den unmateriellen Begriffen in dem Gehirne einige materielle Begriffe überein kommen, welche in einer Bewegung des Nervensafftes der durch die Nervengänge des Gehirnes, mit einer gewissen Geschwindigkeit gehet, bestehen, und daß, gleichwie aus den Vorstellungen die Begierden in der Seele entstehen, also auch aus den materiellen Begriffen, Bewegungen der Gliedmasen, welche mit diesen Begierden übereinstimmen, in dem Cörper entspringen. Hieraus siehet man nun, daß die zur Zeit der Schwangerschafft, die den materiellen Begriffen, in dem Gehirn der Mutter erregten Begriffe, in dem Gehirn des Kindes einigermasen ähnliche verursachen, und daß auch in demselben ähnliche Bewegungen erfolgten, dergleichen sich davon in der Mutter ereignen. Da nun die einmahl eingedrukten Begriffe dem Gehirn eine gewisse Geschiklichkeit ertheilen, dieselbige hinwiederum, folglich auch die darauf erfolgenden Bewegungen zu erregen; so siehet ja jedermann, daß ebenermasen das Gehirn des Kindes eine gewisse Geschiklichkeit bekommt, Begriffe von einer gewissen Art, und die in dem Cörper darauf beruhende Bewegungen, in der Seele aber darauf erfolgende Begierden hervor zu bringen. Ferner ist bekannt, daß die Begriffe in dem Gehirn durch die Singekunst, und den Gesang einen stärkern Eindruk, als durch die Rede überkommen. Wer sollte nun zweiffeln, daß die von den Sinesern ehedem den schwangern Weibern vorgeschriebene Gewohnheiten der Vernunfft gemäs gewesen seyen.

Also habe ich ihnen nun, meine werthgeschäzte Zuhörer! die Gründe der Weisheit der alten Sineser vor Augen geleget, von welchen ich sowol sonsten öffentlich, als auch nun in dieser ansehnlichen Versammlung einiger masen gezeiget habe, daß sie mit den Gründen meiner Weltweisheit genau überein kommen . . .
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3 1721 Wolff, Christian. Oratio de Sinarum philosophica practica [ID D1812].
Sekundärliteratur

Voltaire. Dictionnaire philosophique, portatif [ID D16610]. Voltaire schreibt über Christian Wolff : Le célèbre Wolf, professeur de mathématiques dans l’université de Hall, prononça un jour un très bon discours à la louange de la philosophie chinoise; il loua cette ancienne espèce d’hommes, qui diffère de nous par la barbe, par les yeux, par le nez, par les oreilles, et par le raisonnement; il loua, dis-je, les Chinois d’adorer un Dieu suprême, et d’aimer la vertu; il rendait cette justice aux empereurs de la Chine, aux colaos, aux tribunaux, aux lettrés. La justice qu’on rend aux bonzes est d’une espèce différente. Il faut savoir que ce Wolf attirait à Hall un millier d’écoliers de toutes les nations. Il y avait dans la même université un professeur de théologie nommé Lange, qui n’attirait personne; cet homme, au désespoir de geler de froid seul dans son auditoire, voulut, comme de raison, perdre le professeur de mathématiques; il ne manqua pas, selon la coutume de ses semblables, de l’accuser de ne pas croire en Dieu. Quelques écrivains d’Europe, qui n’avaient jamais été à la Chine, avaient prétendu que le gouvernement de Pékin était athée. Wolf avait loué les philosophes de Pékin, donc Wolf était athée; l’envie et la haine ne font jamais de meilleurs syllogismes. Cet argument de Lange, soutenu d’une cabale et d’un protecteur, fut trouvé concluant par le roi du pays, qui envoya un dilemme en forme au mathématicien ce dilemme lui donnait le choix de sortir de Hall dans vingt-quatre heures, ou d’être pendu. Et comme Wolf raisonnait fort juste, il ne manqua pas de partir; Sa retraite ôta au roi deux ou trois cent mille écus par an, que ce philosophe faisait entrer dans le royaume par l’affluence de ses disciples. Cet exemple doit faire sentir aux souverains qu’il ne faut pas toujours écouter la calomnie, et sacrifier un grand homme à la fureur d’un sot.

Michael Albrecht : 1721 ist Christian Wolffs Amtszeit als Prorektor der Friedrichs-Universität zu Halle abgelaufen. Als er das Prorektorat seinem Nachfolger übergibt, wählt er für die Festrede in Lateinisch die Praktische Philosophie der Chinesen. Konfuzius war, so erklärt Wolff in der Einleitung, nicht der Erfinder der chinesischen Weisheit. Schon in alten Zeiten gab es vielmehr bedeutende Philosophen. Sie waren zugleich die Könige und regierten durch ihr Beispiel, das vom Volk nachgeahmt wurde, einen glücklichen Staat. Als China zu zerfallen drohte, wurde ihm von der göttlichen Vorsehung Konfuzius geschenkt, der es allein durch sein erfolgreiches Wirken als Lehrer wiederherzustellen vermochte. Deswegen ist er für die Chinesen das, was Moses für die Juden, Mohammed für die Türken und Christus für die Christen ist, sofern man die Genannten als Lehrer oder Propheten betrachtet. Konfuzius schöpfte seine Lehre aus den Berichten über die alten Philosophenkönige und erneuerte deren Philosophie. Damit ist auch klar, warum im Thema nicht von der praktischen Philosophie des Konfuzius, sondern von der Philosophie der Chinesen die Rede ist… Im Hauptteil handelt es sich um die Frage, ob diese Philosophie mit der Natur des menschlichen Geistes übereinstimme. Die Antwort ist einfach : Da die Chinesen selbst diesen Prüfstein auf ihr eigenes Denken anwendeten, kann man sicher sein, dass sie dieser Anforderung Genüge leisteten. Der Leitbegriff der eigentlichen Darstellung sind die 'Kräfte der Natur'. Es gibt nämlich drei Grade der Tugend. Diese kann entweder bloss auf den Kräften der Natur beruhen, oder sie kann durch die natürliche Religion (die mit Hilfe der Vernunft die Eigenschaften Gottes und das Walten der Vorsehung erkennt) oder schliesslich sogar aus den Wahrheiten der Offenbarung heraus motiviert werden. Die Chinesen kannten die Offenbarung nicht, sie verfügten nicht einmal über die natürliche Religion. Also blieb ihnen nur der unterste Grad der Tugend… Drei historische Beweise schliessen sich an. Der erste ist das chinesische Erziehungssystem. In ihm wurde die Erkenntnis, dass sich eine durch Furcht oder Hoffnung erzeugte Tugend grundsätzlich von einer durch die Vernunft und frei beschlossenen Tugend unterscheidet, auf glänzende Weise in die Praxis umgesetzt wird und damit die Tugend in China höchst erfolgreich fördert. Die Schule der Kleineren wird duch die Ehrfurcht gegenüber Eltern, Alten und Vorgesetzte an gute Sitten gewöhnt. Die Schule der Erwachsenen lehrt dagegen, die Gründe der Dinge zu erforschen, und vermittelt die selbständige, auf Selbstbeherrschung beruhende Tugend. Dieses Schulwesen ist nützlich für die staatliche Ordnung. Der zweite Beweis stammt aus dem Ta hsio [Da xue] : Vervollkommnung der Vernunft ist die Voraussetzung der moralischen Einsicht und damit der tugendhaften Handlung. Der dritte Beweis behandelt den scheinbar überflüssigen chinesischen Brauch, einer Schwangeren durch Musik und Erzählung tugendhafte Gedanken zu vermitteln. Er verwirklicht die vernünftige vorgeburtliche Erziehung zur Tugend… Die Ablehnung einer theologisch fundierten Moralphilosophie gewinnt erst dadurch ihre besondere Schärfe, dass Wolff sich nicht nur auf die chinesische Philosophie, sondern auch auf die Verwirklichung dieser Lehre in China bezieht. Er betrachtet die Praxis der chinesischen Sittlichkeit und Staatsverfassung als Experiment für die Richtigkeit der zugrundeliegenden Theorie, denn er ist der Ansicht, dass das experimentelle Verfahren auf allen Gebieten der Philosophie anwendbar sei. Er versucht die allgemeine praktische Philosophie experimentell zu erproben, weil China, das sich bloss auf die 'Kräfte der Natur' stützt, dafür das geeignete Feld der Untersuchung ist. Das Ergebnis ist : Die Wahrheit der allgemeinen praktischen Philosophie Wolffs, die gleichermassen, in undeutlicher Form, in China die theoretischen Grundlagen des Handelns enthält, wird durch die Erprobung bestätigt… Das tugendhafte Leben der nicht-religiösen Chinesen und die Harmonie in der Ordnung ihres Staates gewinnen hier Beweischarakter ; sie zeigen, dass gerade eine blosse philosophische, nicht-religiöse Tugend geeignet ist, die wünschenswertesten Früchte zu tragen. Wolff zieht es zwar vor, die Chinesen trotz der mangelnden 'natrürlichen Religion' nicht als Atheisten zu bezeichnen… Er sagt nicht, dass eine Mission in China überflüssig ist, aber auch nicht, dass sie notwendig ist. Die Chinesen erscheinen nicht bedauernswert, sondern vielmehr bewundernswert. Sie befinden sich durch ihr Heidentum nicht in einem 'elenden Zustand', sondern können, was ihre privaten und öffentlichen Tugenden betrifft, als Muster für das christliche Europa dienen… Die Chinesen befürfen keiner 'Umkehr' durch die Bekehrung ; das Christentum würde in China vielmehr ein Mittel zur weiteren Kräftigung der tugendhaften Gesinnung sein. Das Heidentum der Chinesen ist nicht die Quelle von Irrtümern, sondern von vernunftgemässen Einsichten.

John Ho : Wolff beschreibt die chinesische Tradition als die älteste geschichtliche Tradition der Welt. In der Zeit Fohis [Fuxi] hat die chinesische Moraltradition angefangen. Fohi richtet sich in seiner Politik nur nach dem Himmlischen Gesetz. Weil dieses Gesetz der Natur oder des Himmels allgemein und unwandelbar ist, hofft Fohi, dass seine Gesetze sich im Herzen des Menschen einprägen und bewähren müssen. Die erste niedergelegte Sprache Chinas sind die Hexagramme von Fohi. Wolff hat eine hohe Verehrung für Konfuzius und den Konfuzianismus. Zur Zeit des Konfuzius sind die chinesischen Sozialordnungen zerrüttet. Die alten Sitten und Tugenden wie Ehrfurcht und Gehorsam haben keine Geltung mehr. Deshalb erstrebt Konfuzius mit Hilfe der alten Kaiser eine Wiederherstellung der alten sittlichen Tradition und Sozialordnung. Statt eine völlige Wiederherstellung der alten Moral wäre eine Verbesserung der beste Weg zur sittlichen Vollkommenheit. Wolff ist überzeugt, dass die Lehre des Konfuzius mit den andern Lehren wie Judentum, Islam und Christentum nicht vergleichbar ist. Er hofft, dass die Europäer vermehrt Konfuzius verstehen lernen und von ihm profitieren. Wolff analysiert die chinesische Ethik, in dem er versucht, die menschliche Vernunft mit der göttlichen Offenbarung zu verbinden, daher unterscheidet er die Sitten in zwei Arten : die Sitten, die aus der Natur des menschlichen Verstandes hervorgehen und die, die von der göttlichen Offenbarung inspiriert sind. Die Chinesen handeln nach dem natürlichen Verstand und die Christen handeln nach der göttlichen Offenbarung, aber ob einer Christ oder Konfuzianer ist, handelt er tugendhaft. Weil die Chinesen nach der Vernunft handeln, tun sie das, was naturgemäss ist. Nach chinesischer Auffassung wird eine Übereinstimmung zwischen der äusseren Handlung und den inneren moralischen Gesetzen gefordert. Das Prinzip moralischer Bewerung ist, alles Handeln am Masstab der Tugend der alten Kaiser zu messen. Das Ziel der chinesischen Ethik ist das Ideal der Vollkommenheit. Nur moralisches Handeln kann Ruhe und Frieden des Herzens erhalten, weil es immer das Gute erstrebt. So hat die Tugend auch dort, wo sie ins Unglück führt, trotzdem ihren Zweck erfüllt, weil sie ja nicht das Glück, sondern die ethische Vollkommenheit erstrebt. Wolff gibt über das Unterrichtswesen die Darstellung von François Noël wieder. So müssen die Kinder Unterwerfung, Gehorsam und sittliches Handeln lernen, damit sie zu guten Bürgern der Gemeinschaft heranwachsen. Die Schüler der Schule der Erwachsenen, meistens Kinder aus kaiserlichen oder königlichen Familien, lernen die sittlichen Regeln beherrschen und die Tugend üben. Die Ordnung eines vollkommenen Staates hängt von der sittlichen Vollkommenheit einer einzelnen Person ab. Das Ziel der Vervollkommnung kann nur in einer Staatsgemeinschaft erreicht werden, und dieses Ziel bedeutet zugleich das höchste Glück.

Li Wenchao : Dass China ein grosses Reich mit ungeheur vielen, aber friedlich lebenden Einwohnern sei und ein Gegenbild des zersplitterten Europa darstelle, steht für Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff fest. Wolff sieht jedoch in diesem China-Bild keinerlei Ausdruck irgendeiner religiösen Motivation, weder in Form einer 'theologia naturalis' noch in Form der Offenbarung. Sein Zauberwort lautet 'philosophia practica' aufgrund der 'naturae viribus' und will damit deutlich machen, dass die Chinesen sozusagen Jahrtausende lang gerade das praktiziert hätten, was Wolff seit Jahrzehnten lehre. In dieser Lehre steht an der ersten Stelle die Vernunft, welche ihre Aufgabe in der Untersuchung der Gründe der Dinge sieht. Durch diese Untersuchung erschliesst die Vernunft den genauen Begriff des Guten und des Bösen. Darauf aufbauend kann der Wille dann derart gefestigt werden, dass er das Gute liebe und das Böse hasse. Das Kriterium für das Gute ist die Übereinstimmung mit der Natur des menschlichen Geistes, der das Böse nicht mehr tun wird, sofern er es als ein solches erkennt. Das Ziel aller Handlungen liege in der Vollkommenheit des Einzelnen zum einen und der Allgemeinheit zum anderen. Das Streben nach dieser Vollkommenheit wird Glückseligkeit genannt. Wolff gibt drei Kriterien : Die Erkenntnis Gottes meint den 'deutlichen Begriff' des 'wahren Gottes'. Diese wahren Erkenntnisse werden durch Gottes Eigenschaften und Werke hergeleitet. Sie dienen in der Tugendlehre und in der Ethik als alleinige Beweggründe allter Handlungen. Walter Demel : In folgenreicher Weise entwickelt Christian Wolff die Einsicht von Leibniz in das Verhältnis von christlicher Theologie und chinesischer Philosophie weiter. Faszniert von der praktisch-pädagogischen – wenngleich seiner Ansicht nach zu unsystematischen – Ausrichtung des chinesischen Denkens glaubte er, die Grundaussagen seiner eigenen 'Weltweisheit' darin wiederzuentdecken. Gleichzeitig liefert ihm das älteste Reich der Welt den historischen Beweis dafür, dass es nicht utopisch sei, beispielsweise an die Möglichkeit eines 'Philosophen auf dem Thron' oder zumindest eines von Philosophen geleiteten Fürsten zu glauben. Ausdrücklich erklärt er, er ziehe das chinesische Beispiel in diesem Zusammenhang heran, "damit es nicht das Ansehen habe, als lehrete ich etwas, welches von der Ausübung abgienge, und welches nur unter die Platonischen Begriffe zu rechnen, und mit dem Sonnenreich zu verwerffen seye". Wolff betont bei seiner Rede, dass die Chinesen – in Ermangelung einer biblischen Offenbarung und eines Kontakts mit der übrigen Welt – nur ihre natürlichen Kräfte für die Erkenntnis der menschlichen Natur und der natürlichen Moral hätten einsetzen können, "so haben wir gewiss auser ihnen kein vortrefflichers Beyspiel, dadurch man zeigen könnte, wie viel die natürliche Kräffte vermögen". Was Wolffs pietistische Gegenspieler daran so empörte, war wohl die Behauptung, dass ein Staatswesen allein aufgrund einer erhabenen, rein weltlich gedachten Moral ein hohes Mass an Vollkommenheit erreichen könnte. Die offenbarte christliche Religion wurde damit aus dem Bereich des Staatsdenkens völlig hinausverwiesen. In Wolffs Rede manifestierte sich in aufsehenerregender Weise die Emanzipation der Naturrechtslehre von der Theologie.

Liu Weijian : Wolff bekundet seine Achtung vor der konfuzianischen Sittenlehre. Der chinesische alte Lehrsatz, dass nämlich die Beispiele der Kaiser und Könige den Untergebenen als Richtschnur ihrer Handlung dienten, schien ihm als ideelles Vorbild für eine aufgeklärte Verwaltung und Staatsordnung zu sein ; gerade weil die chinesischen Kaiser mit ihren Untergebenen gemeinsam nach dem Ruf der Tugend strebten und gute Sitten zum Masstab ihres Lebens machten, würden sie immer wieder wegen der Liebenswürdigkeit und Anständigkeit ihrer Sitten und wegen ihrer äusserst grossen Klugheit in der Regierung gerühmt. Er weist insbesondere darauf hin, dass Konfuzius die Annalen der alten chinesischen Kaiser und Könige mit grösster Sorgfalt studiert und daraus die rechte Richtschnur, wie man leben und regieren solle, ausgearbeitet habe. Was das Ansehen des Konfuzius für Chinesen betrifft, bezeichnet Wolff ihn als Propheten und Lehrer, der den Menschen von Gott gegeben worden sei, und verglich ihn mit Moses für Juden, Mohammed für Türken und Christus für Europäer.

Hans-George Kemper : Gott ist für Wolff der höchste Verstand, aus dessen Vorstellung die beste aller Welten hervorgegangen ist. Insofern ist der Verstand (und nicht mehr nur die Offenbarung und der Glaube) des Menschen auch das adäquateste Organ, die göttliche Schöpfung zu erfassen, sich in der Welterkenntnis dem Göttlichen anzunähern sowie im gesellschaftlichen Streben nach Glückseligkeit zu vervollkommnen. In seiner Rede entwickelt er, mit nur implizitem Verweis auf die Hermetik der chinesischen Weisheit, weil er deren Rationalität herausstellen will, das Bild eines schon in den ersten Anfängen seit dem Kaiser und Weltweisen Fo Hi [Fuxi] vollkommenen Gemeinwesens, das dessen Gesetze in der Nachahmung seiner vorbildlichen Regenten zur 'höchsten Vollkommenheit' gebracht habe. Nach einer Periode des Verfalls wird Konfuzius als 'ein Mann, der sich durch Tugend und ausserordentliche Gelehrsamkeit auszeichnet', von der 'göttlichen Vorsehung China geschenkt', um 'den verfallenen Zustand wieder herzustellen'. Deswegen gelte er den Chinesen mit Recht seit damals und noch heutzutage genausoviel wie Moses den Juden, Mohammed den Türken, ja sogar genausoviel wie Christus uns gilt, sofern wir ihn als Propheten oder Lehrer, der uns von Gott gegeben worden ist, verehren. Diese implizite Gleichstellung des christlichen Erlösers, der damit vom Gottessohn zu einem Propheten herabgestuft wird, mit den vom Christentum verteufelten heidnischen Religionsstifter wird bereits eine schwere Beleidigung des Christentums für die Theologen. Doch Wolff provoziert sie noch stärker. Denn um die Richtigkeit seiner Theorie von der ausreichenden Gültigkeit einer natürlichen Religion und Gotteskenntnis nur durch die richtige Einsicht des Verstandes zu belegen, charakterisiert er die Chinesen als Atheisten, die gleichwohl eine völlig zureichende Erkenntnis von der Sittenlehre hätten. Die alten Chinesen haben in ihren Sitten nur das auszuüben befohlen, von dem sie einsehen, dass es mit dem menschlichen Geist übereinstimmt. Darüber hinaus demonstrieren sie auch die Existenz einer Art von 'moral sense', einer 'Naturanlage der Seele', nur das zu begehren, was sie für gut hält, und nur das zu verabscheuen, was sie für böse hält. Wolff vertritt sogar einen Determinismus im Bereich seiner Ethik, insofern am Ende alles aus der deutlichen Erkenntnis des Guten und Bösen entspringt und dass deswegen der Wille durch die Schärfe des Verstandes vervollkommnet wird. Auf dieser Basis zielen alle Anstrengungen der Chinesen auf eine gute Regierung, damit nämlich in dem wohlgeordneten Staat alle, die in ihm leben, glücklich würden. Im ganzen liege sogar, wie Wolff herausgefunden zu haben behauptet, in den scheinbar konfusen Büchern der alten Sineser eine geheime Weisheit verborgen. Wolff findet nichts, wofür man die Chinesen zu Recht tadeln könne und bekräftig zum Schluss, dass die Grundsätze der Weisheit der ältesten Chinesen mit den seinigen übereinstimmen. Eine solche mit der Nobilitierung atheistischer Heiden verbundene säkulare Selbstaufwertung der Philosophie wollen sich die Theologen in Halle nicht bieten lassen.

Lee Eun-jeung : Für Wolff steht ausser Frage, dass Konfuzius ein Lehrer war, der sich unermüdlich um die Tugend bemühte. Als er sich mit Moral und Staatslehre beschäftigte, studierte er zunächst mit viel Fleiss und Anstrengung die alten Annalen, die Geschichtswerke, die mit aller Sorgfalt verfasst sind und der Moral und Staatslehre dienen, "weil daraus die Verknüpfung der Taten mit ihren Ergebnissen auf glänzende Weise erkannt werden kann, während man diese Verknüpfung in einem üblichen Geschichtswerk höchstens durch Vermutungen begreifen kann"... Er fordert, man solle die Aussprüche und Taten von Konfuzius auf ihre allgemeinen Bestimmungsgründe bringen, dann würde man erkennen können, wie tief die Lehre von Konfuzius selbst sei. Konfuzius habe den Chinesen gelehrt, dass man im Streben nach der Tugend so weit fortschreiten müsse, bis das sinnliche mit dem vernünftigen Streben wie von selbst übereinstimme. Es steht für Wolff fest : Konfuzius konnte sich ohne jede Kenntnisse vom Schöpfer der Welt und seiner Offenbarung lediglich der Kräfte der Natur bedienen. Dennoch sei er vom Weg der Wahrheit nicht abgekommen, da er sich unermüdlich um die Tugend bemüht und Laster vermieden habe.
  • Document: Ho, John. Quellenuntersuchung zur Chinakenntnis bei Leibniz und Wolff. (Hong Kong : Lai Hing, 1962). Diss. Univ. Zürich, 1962. S. 104-112. (HoJ1, Publication)
  • Document: Wolff, Christian. Oratio de Sinarum philosophia practica = Rede über die praktische Philosophie der Chinesen : Lateinisch-Deutsch. Übers., eingel. und hrsg. von Michael Albrecht. (Hamburg : F. Meiner, 1985).
    https://catalog.hathitrust.org/Record/006753190. [Limited search]. S. XXXIII-LXXXVIII. (Alb1, Publication)
  • Document: Demel, Walter. Wandel des Chinabildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In : Die Kenntnis beider 'Indien' im frühneuzeitlichen Europa : Akten der Zweiten Sektion des 37. Deutschen Historikertages in Bamberg 1988. Hrsg. von Urs Bitterli und Eberhard Schmitt. (München : Oldenbourg, 1991). S. 104-141. (DemW1, Publication)
  • Document: Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 18. (LiuW1, Publication)
  • Document: Das Neueste über China : G.W. Leibnizens Novissima sinica von 1697 : Internationales Symposium, Berlin 4. bis 7. Okt. 1997. Wenchao Li, Hans Poser (Hrsg.). (Stuttgart : Steiner, 2000). (Studia Leibnitiana supplementa ; vol. 33). [Gottfried Wilhelm Leibniz]. S. 325, 329-330. (LiPos1, Publication)
  • Document: Lee, Eun-jeung. "Anti-Europa" : die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung : eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. (Münster : LIT Verlag, 2003). (Politica et ars ; Bd. 6). Habil. Univ. Halle-Wittenberg, 2003. S. 103-104. (LeeE1, Publication)
  • Person: Wolff, Christian
4 1803 Claudius, Matthias. Eine asiatische Vorlesung [ID D19585].
Das Wort asiatische scheint hier etwas zweideutig zu sein, und möchte vielleicht so genommen werden, als ob die Vorlesung aus Asien, oder der Vorleser ein Asiate wäre. Dem muß ich aber förmlich widersprechen, weil es die Zuhörer am Verstehen hindern und irren könnte, und doch auf gewisse Weise daran gelegen ist, daß man verstehe, was vorgelesen wird. Der Vorleser ist kein Asiate, und die Vorlesung ist nicht aus Asien; sie heißt bloß darum asiatisch, weil sie es mit Asien zu tun hat und von asiatischer Gelehrsamkeit, Kunst und Weisheit, die lange Zeit verborgen und unbekannt gewesen ist, Nachricht geben will. Sollte es jemanden einfallen zu fragen: wie ich zu der asiatischen Weisheit, die lange Zeit verborgen und unbekannt gewesen ist, komme, da ich von der europäischen, die je und je offenbar und bekannt war, nicht ein Wort weiß; dem weiß ich nichts anders zu antworten, als daß die Wissenschaften nicht aus Europa nach Asien, sondern aus Asien nach Europa gekommen sind, und ich am rechten Ende anfange und dem Strom folge. Übrigens kann der Leser unbesorgt sein, ich weiß von der asiatischen Weisheit so wenig als von der europäischen, ich will aber auch nicht selbst reden, sondern nur andere Leute, die mehr davon wissen, reden lassen. Baco sagt irgendwo, daß es den Produktionen der Gelehrten in dem »Fluß der Zeit« ergehe, wie den Produktionen der Natur, dem Golde und dem Korkholz, in der Elbe und in einem jeden andern Fluß; nämlich das Gold sinkt und geht zu Grunde, und die Korkhölzer bleiben oben und treiben so den Fluß hinab. Es ist das, dünkt mich, sehr artig gesagt, wenn es wahr wäre. – Aber, wenn denn die Ballen des erleuchteten Jahrhunderts kommen, das wird 'n Treiben werden ... und der »Fluß der Zeit« wird zu tun haben, daß sie sich nicht stopfen. Doch das geht uns nicht an, wir haben es hier mit Ballen zu tun, die aus dem Grund wieder heraufgebracht worden sind, und noch heraufgebracht werden sollen. Die Leser werden sich erinnern, daß, wo ich nicht irre, der König von Frankreich Ludwig der Vierzehnte, der auf seinen ewigen Feldzügen und Kriegen manche Bibliothek in Europa beschädiget und ruiniert hatte, Leute nach Asien geschickt hat, um andere Bücher wieder zu suchen. Nämlich man konnte wohl denken, daß in einem so großen Lande, als Asien ist, Schriften und Bücher sein müßten. Man wußte das auch aus den alten arabischen, griechischen und lateinischen Schriftstellern. So hatte auch Alexander, den sie den Großen nennen, in Persien bei den Priestern Bücher und Schriften angetroffen, davon er ein Teil verbrannt und ein Teil geraubt und mitgenommen hat, als ob man bei andrer Leute Sachen nur so zulangen und mitnehmen könnte. Ist aber auch kein Segen dabei gewesen, denn kein Mensch hat weiter von diesen Büchern und Schritten gehört, noch erfahren, wo sie hingekommen und was aus ihnen geworden wäre. Man wußte also, wie gesagt, schon aus alten Zeiten, daß Bücher und Schriften in Asien wären; und die Nachrichten, die neuere Gelehrte, die dahin verschlagen waren, und sonderlich die päpstlichen Missionärs bei den verschiedenen Völkern Asiens, darüber mitteilten, bestätigten es, und machten die Aufmerksamkeit der Europäer mehr und mehr rege. Es schickten denn mehrere europäische Könige, Fürsten und Regenten Leute nach Asien, die sich näher darüber und darum erkundigen sollten. Auch unser geliebter König, Friedrich der Fünfte, schickte seinerzeit eine ganze Gesellschaft von Gelehrten dahin, um gewisse bestimmte Nachrichten zu holen, und sonst überhaupt Merkwürdigkeiten dortiger Gegend zu sammlen und mitzubringen; aber sie kamen nicht zurück, oder, wie der Dey von Algier neulich an seinen Freund jenseit des Meers schrieb, Gott wollte, daß sie alle in Asien umkommen sollten, bis auf einen, der denn desto fleißiger gewesen ist. Es reisten auch wohl von Zeit zu Zeit gelehrte und wißbegierige Leute nach Asien, die nicht hingeschickt waren, und suchten und sammleten auf ihre eigne Hand, und unter diesen auch ein gewisser Anquetil du Perron, dem es zwar mit Indien nicht glücken sollte, der aber, was Hyde vor ihm in Persien schon ausrichten wollte, vollständig ausgerichtet, und uns, durch seinen Mut und seine Beharrlichkeit, die Urkunde der alten Parsenreligion, in europäischer Sprache, glücklich geliefert hat. Nämlich es war das so leicht nicht getan, und dem Gedeihen aller solcher Bemühungen stunden, in Hinsicht der religiosen Weisheit Asiens, zwei Haupthindernisse im Wege; eins: daß die Religionsschriften aller der Völker Asiens in Sprachen geschrieben sind, die wenige Leute mehr verstehen und die schwer zu lernen sind; und zweitens: daß die Priester diese Schriften nicht hergeben wollten, und gegen die Europäer scheu und zurückhaltend waren, das man ihnen, so wie sich die Europäer im ganzen in den andern Weltteilen betragen haben, auch nicht verdenken noch übelnehmen kann. Zu Kirman wußte indes Anquetil diese Hindernisse zu überwinden, und in Indien sind sie vorher schon, sonderlich von Engländern, z.E. dem liebenswürdigen Hollwell und andern mehr oder weniger überwunden worden, bis endlich ein Institut, das nicht um der asiatischen Kenntnisse willen errichtet war, dazu dienen mußte, diese Kenntnisse näher an uns zu bringen. Nämlich die Beamte der Englischen Ostindischen Kompanie, die an Ort und Stelle waren und Geld und Ansehen und überhaupt alle nötigen Mittel in Händen hatten, machten es sich seit 20–30 Jahren zum Geschäft, sowohl die Altertümer und Merkwürdigkeiten Indiens und der angrenzenden Länder aufzusuchen und darüber von den Beikommenden Erkundigungen einzuziehen, als auch die Sanskritsprache zu lernen und das Vertrauen der Brahminen zu gewinnen. Und das letzte ist ihnen, durch ein aufrichtiges edles Benehmen, wie der Generalgouverneur Warren Hastings in der Vorrede zu der Baghat Gita sagt, so gut gelungen, daß sie Kopien von verschiedenen Stücken der alten Religionsschriften Indiens, sogar der Vier Bengalischen Haupt-Vedas, in Händen haben, auch daraus schon mehr als eine Probe in englischer Sprache herausgegeben haben, und nun zu allen Schriften der Brahminen freien Zutritt haben etc. wie das alles aus den, von der zu dieser Absicht 1784 zu Kalkutta gestifteten Gesellschaft in 7 Quartbänden herausgegebenen Asiatick Researches, und aus dem daraus zu London in 6 Oktavbänden gemachten Auszug, damit sich unsereiner behelfen muß und der auch nur bei den Zitationen gemeint ist, mit mehrern erhellet. Die Chineser halten noch am meisten zurück; doch haben auch hier, sonderlich die Franzosen ziemlich vorgearbeitet und geerntet, so wie unser Landsmann Kämpfer in Japan usw. Auf solche Weise haben wir seit hundert Jahren eine große Menge Schriftsteller und Schriften über Asien erhalten, und sind in den Besitz von Nachrichten gekommen, die unsre Vorfahren nicht hatten, und die zum Teil äußerst merkwürdig sind. Der fleißige Thomas Maurice hat am Ende noch über alles, Altes und Neues, Buch gehalten, und eine Geschichte von Indien stellen wollen usw. Ich weiß wohl, daß die Gelehrten alles dies wissen, und alle diese Bücher gelesen haben, aber einmal darf ich unter meinen Lesern dergleichen gelehrte Leser nicht vermuten; und denn so wird Öl zum Brennen und Leuchten gebraucht, es kann aber auch zum Einmachen und rostige Schlösser einzuschmieren gebraucht werden; und am Ende hört sich eine Geschichte, die uns gerade in den Weg kommt, wohl noch zum zweitenmal wieder, sonderlich wenn sie auf die Schnur gezogen ist, und so viel Interesse hat, als ein groß Teil dieser Nachrichten für einen jeden rechtlichen Menschen notwendig haben muß. Ich wollte, daß ich den Gesamteindruck von Asien, den das wenige, was ich davon gelesen habe, mir gemacht hat, meinen Lesern mitteilen könnte, so wohltuend ist er; aber es geht mir damit, wie sans comparaison dem heiligen Augustinus mit der Zeit; solange ihn niemand fragte, wußte er was sie sei, fragte aber jemand und er wollte Antwort geben, so konnte er's nicht. Die wahre Religion und das Geschlecht der Menschen ist in Asien entstanden; die Quelle ihrer Urkenntnisse sprudelte in Asien zuerst, und man sieht hier rundum an den Büschen und Steinen noch die dicken Tropfen hängen…
Die Sineser fangen ihre Zeitrechnung an: »von der großen Flut, wo das Wasser gekommen und überall geflossen ist, und sich denn wieder gesetzt und das ältere Menschenalter von dem neuern getrennt und der Welt eine neue Gestalt gegeben hat.« Sie erzählen an einem andern Ort: »von einer großen Flut, die sich bis zum Himmel erhob, über die Berge und Anhöhen; die große Verwüstungen anrichtete, und darin die erschrockenen Völker durchs Wasser umkamen.« Kongkong veranlaßte diese Flut, und wollte die Herrschaft der Welt an sich bringen. Dieser Kongkong hatte übrigens das Antlitz eines Menschen, den Körper einer Schlange und rotes Haar; er war hochmütig und grausam, und ein Feind und Verfolger der Menschen…

Die sinesische Naturlehre z. Exempel ist in dem Buch In-kin, das unter ihren fünf klassischen Büchern das dritte ist, enthalten, und das Buch In-kin verbirgt mehr als es sagt. Es besteht bloß aus geraden Linien, eine ungebrochen: –, und eine gebrochen: –, die auf mannigfaltige Art miteinander zusammengeordnet und verbunden sind. Nämlich Fo-hi, der Verfasser dieses Buchs, nahm zwei Prinzipien der physischen Natur an, ein vollkommenes, yam, das durch die ungebrochene, und ein unvollkommenes, yn, das durch die gebrochene Linie bezeichnet wird. Aus diesen zwei Prinzipien, die aus dem Tai-kie, eine Art Chaos, herkommen sind, bestehen nach ihm alle und jede Wesen der physischen Natur, und ihre Verschiedenheit hängt bloß von dem Mehr oder Weniger des einen und des andern dieser Prinzipien, und der Art ihrer Verbindung ab. Um nun darüber zu belehren, hat Fo-hi 4 zweizeiligte, Su siam, 8 dreizeiligte, Pa qua, und 64 sechszeiligte Linien-Figuren gegeben, und darin soll die Erklärung der ganzen Natur, des Menschen und wohl gar der unsichtbaren Welt enthalten und angezeigt sein. An dieser Tafel arbeiten und deuten nun die sinesischen Gelehrten seit mehrern tausend Jahren, und erklären sie, der so und jener anders; viele auch bloß moralisch, wie sie denn gewöhnlich mit Moral kommen, wenn sie nichts Bessers wissen… Die Sineser-Annalen erzählen gar, daß ihr Stifter Yao, der, wie wir oben gehört haben, ca. 200 Jahr nach der Sündflut gelebt haben soll, schon die 12 Monate, 6 zu 30 und 6 zu 29 Tagen und alle 19 Jahre Schaltmonate angeordnet habe usw. usw. Außer daß die Abteilung in Wochen zu 7 Tagen, die Benennung dieser Tage nach den Planeten, die vier Weltalter etc. und die Affären von Sonne und Mond etc. in den ältesten Urkunden aller Völker angetroffen werden… »Alle asiatische Religionen, soweit wir gesehen haben, gründen sich auf den Fall der Geister, so Engel als Menschen, und sind für diese das Gesetz und der Weg zur Herstellung.«… »Alle nehmen ein erstes unbegreifliches unerforschliches höchstes Wesen, Xam-Ti im Sinesischen, Oromasdes im Parsischen, Parabramasta im Sanskrit etc. an, das sie in einer dreifachen Gestalt anbeten, und durch einen Triangel oder ein ander dreifaches Bild bezeichnen und darstellen.«… »Obgleich«, sagt der sinesische Theologe Cou-su, »die dem Menschen vom Himmel mitgeteilte Natur in ihrer Wurzel etwas Wahres und Unveränderliches ist; so kann der Mensch doch, weil er von jener ursprünglichen Reinheit, Unschuld und Wahrheit abgewichen ist, sie nicht klar erkennen, und nicht im Handeln befolgen, bis er heilig wird.«… Die Vedantaphilosophen statuieren, wie ich oben vorgelesen habe, die Einwürkung der ersten Ursache in die menschliche Seele. Die sinesischen Philosophen auch, und zwar sagen sie: »Wenn der Mensch von dem höchsten Herrscher des Himmels stille und sanft gelenket und geleitet wird, so geschieht dies nicht durch Vernehmen oder Hören irgendeiner körperlichen Stimme, sondern das Herz empfängt diese stille und sanfte Leitung.« Sie lehrten, »der Mensch könne aus seinem Herzen, insoweit dies eine gewisse Herrschaft über alle Bewegungen und Affekten des Gemüts und Leibes hat, zu der Erkenntnis jenes großen und höchsten Herzens der göttlichen Weisheit gelangen«. – »Er könne aus der Erkenntnis seiner Seele zu der Erkenntnis der Seelen seiner Mitmenschen und ihrer Heilung, und weiter der andern Wesen und selbst des Himmels aufsteigen, so daß er zwischen Himmel und Erde in der Mitte stehe und mit ihnen ein dreifaches Wesen ausmache.« »Alle gebieten Streben nach Reinigkeit in Gedanken, Worten und Werken, und den Kampf gegen das Böse und gegen das Prinzipium des Bösen mittelst der Kräfte der Religion.«… Die sinesischen Philosophen klagen laut über die böse Lust, und daß die Menschen sie nicht erkennen wollen.
»Alles ist umsonst«, sagt Konfuzius, »es ist alles umsonst; denn wo findet man Menschen, die strenge Beobachter, Zeugen, Ankläger und Richter ihrer selbst wären? Ich habe noch keinen gesehen, der seine Schuld erkenne, der geneigt wäre, sich vor dem innerlichen Gericht seines Gewissens zu stellen, sich strafbar zu finden und die verdiente Strafe auf sich zu nehmen und über sich ergehen zu lassen.« – »Aller äußerlicher Dienst und alle Gebräuche müssen aus einem mit wahrhaften und gebührlichen Gesinnungen angefüllten Herzen, als aus ihrer Quelle und Wurzel, herfließen, und sind, wenn ein solches Herz nicht da ist, ein eitles Menschengemächte und eine bloße Lüge.« Das Opfern ist bei ihnen so alt als die Religion; sogar bedeutet Fo-hi, oder Pao-hi wie der Stifter ihrer Religion auch oft genannt wird, im Sinesischen Victima, Opfer. Sie glauben, daß die himmlische Luft, wie sie es nennen, die in dem Opferer ist, sich mit der himmlischen Luft des Himmels durch eine gewisse Sympathie vereinige, deswegen auch der Opferer vorher Enthaltung und Fasten üben müsse, damit seine Luft, die durch eitle Sorgen und Lüste, wie durch Nebel, verfinstert wird, rein und er so zum Opfern geschickt sei. »Alle haben endlich zugedeckte und durch hieroglyphische Bilder, mythologische Erzählungen, heilige Zeremonien etc. verschleierte Punkte, die zwar eine erste offenbare Bedeutung fürs Auge haben, deren eigentlichen und geheimen Sinn aber nur die Vorsteher und Lehrer der Religion wissen und verstehen, um davon zum Besten der Schüler nach ihrem Eifer und ihrer Treue einen weisen Gebrauch zu ma chen.« Aber, die Wahrheit zu sagen, es kommt mir vor, als wenn die Vorsteher und Lehrer in Asien diesen Sinn selbst nicht mehr verstünden und wüßten.

Hans-Georg Kemper : Matthias Claudius beginnt mit der Entdeckung, 'dass die Wissenschaften nicht aus Europa nach Asien, sondern aus Asien nach Europa gekommen sind, und ich am rechten Ende anfange und dem Strom folge'. Dasselbe gilt für die Religion : 'Die wahre Religion und das Gechlecht der Menschen ist in Asien entstanden ; die Quelle ihrer Urkenntnisse sprudelte in Asien zuerst, und man sieht hier rundum an den Büschen und Steinen noch die dicken Tropfen hängen'. Wie lässt sich das dezidierte Bekenntnis zum Christentum mit der Herleitung aus der asiatischen Urreligion vereinbaren ? Claudius verfolgt dabei apologetische Interessen. Offenkundig möchte er nach der radikalen Infragestellung christilicher und biblischer Überlieferung durch die rationalistische Philosophie und Theologie der Aufklärung nun die Analogien zwischen den alten Religionen und das Alter der Überlieferung erneut als historische Belege für die Glaubwürdigkeit der biblischen Berichte über Begebenheiten heranziehen, 'auf die schwerlich ein Mensch a priori gefallen wäre', und es sei 'närrisch', dass die Aufklärer ein so breit überliefertes Ereignis wie die Sintflut 'leugnen wollen, bloss weil sie nicht mit dabeigewesen und mit ersoffen sind'.
Bei der Rekonstruktion der Überlieferung hat Claudius insbesondere die altpersische, indische und chinesische Philosophie und Theologie im Blick, wobei der sich bemüht, historische und myhologische Informationen in den alten Schriften zu unterscheiden. Bei der Chronologie bleibt Claudius unbestimmt und vorsichtig. Er neigt jenen Datierungen zu, welche sich mit den mosaischen Angaben vereinbaren lassen.

Cited by (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)