Gottfried Wilhelm Leibniz. Lettre à Rémond sur la philosophie chinoise [ID D1716].
Leibniz schreibt : Es gibt in China eine in mancher Hinsicht bewundernswerte öffentliche Moral, verbunden mit einer philosophischen Lehre, oder richtiger, mit einer natürlichen Theologie, die ehrwürdig ist durch ihr Alter, eingeführt und zur Autorität gekommen vor etwa 3000 Jahren, also lange vor der Philosophie der Griechen, auch wenn diese letztere, abgesehen von unseren heiligen Büchern, die erste ist, von der die übrige Welt Werke besitzt. Es wäre daher von uns, die wir im Vergleich mit den Chinesen neu hinzugekommen sind, sehr unklug und anmassend, wollten wir eine so alte Lehre verurteilen, nur weil sie nicht auf den ersten Blick mit den scholastischen Begriffen, die uns vertraut sind, übereinzustimmen scheint.
Es ist die richtige Art, um ganz behutsam, ohne es merken zu lassen, diejenigen, die sich von der Wahrheit und noch dazu von ihrem eigenen Altertum entfernt haben, zu korrigieren. Hier zeigt sich, dass man sich nicht von vornherein durch Schwierigkeiten abschrecken lassen soll, und dass P. Martinus und alle, die seine Auffassung vertreten, gut daran getan haben, der Meinung P. Riccis und anderer bedeutender Männer zu folgen und trotz des Widerstandes der Jesuiten P. Emanuel Diaz und P. Nicolas Longobardo, und des Franziskaners P. Antoine de Sainte Marie, und trotz der Verachtung verschiedener Mandarine auf ihren Erklärungen zu beharren. Es genügt, dass diese Erklärungen, die sie von den Schriften der Alten geben, voll vertretbar sind, da ja die Auffassung der modernen Chinesen offenbar schwankt. Betrachtet man die Dinge aber näher, so sind diese Erklärungen auch in den Texten selbst am besten begründet. Ich spreche hier nur von der Lehre und untersuche nicht die Zeremonien oder den Kult, der eine grössere Besprechung verlangt... Um daher einzusehen, dass die Chinesen die geistigen Substanzen anerkennen, muss man vor allem ihr Li, das heisst Ordnung, betrachten, welches der Erste Beweger und die Ursache der übrigen Dinge ist und, wie ich glaube, unserer Gottheit entspricht... Da nun die alten Weisen Chinas glaubten, dass das Volk im Gottesdienst Gegenstände brauche, die seine Einbildungskraft ansprechen, wollten sie es nicht anhalten, das Li oder das T'ai-kih (Taiji), sondern Shang-ti (Shangdi), also den Himmelgeist, anzubeten. Dabei verstanden sie aber unter diesem Namen nichts anderes als das Li oder das T'ai-kih, das hauptsächlich im Himmel seine Macht zeigt... Der Kult der Ahnen und grossen Männer, der von den alten Chinesen eingeführt wurde, kann sehr wohl den Zweck haben, die Dankbarkeit der Lebenden, eine vom Himmel geschätzte und belohnte Tugend, zu zeigen und die Menschen zu Leistungen anzuspornen, die sie der Anerkennung der Nachwelt würdig machen. Doch drücken die Alten sich aus, als wenn die Geister der tugendhaften Ahnen, die von einem Strahlenkranz umgeben sind und zum Hofstaat des Weltenkönigs gehören, die Macht hätten, ihren Nachfahren Gutes und Böses zu bringen. Hier wenigstens wird deutlich, dass sie sich vorstellen, dass die Ahnen weiterleben.
Leibniz schreibt über das binäre Zahlensystem : So haben der hochw. P. Bouvet und ich den eigentlich gemeinten Sinn der Charaktere des Reichsgründers Fuh-Hi [Fuxi] entdeckt. Diese Charaktere bestehen nur aus der Kombination von ganzen und unterbrochenen Linien und gelten als die ältesten Schriftzeichen Chinas, wie sie gewiss auch die einfachsten sind. Insgesamt gibt es 64 Figuren dieser Art, die in einem Buch, das Ih-King [Yi jing] oder Buch der Variationen heisst, zusammengefasst sind. Mehrere Jahrhunderte nach Fuh-Hi haben der Wen-Wang und sein Sohn Chou-Kung und nochmals fünf Jahrhunderte später der berühmte Konfuzius philosophische Geheimnisse darin gesucht. Andere wollten sogar eine Art Geomantie und ähnliche Ungereimtheiten herauslesen. Tatsächlich handelt es sich aber genau um das binäre Zahlensystem, das dieser grosse Gesetzgeber besessen zu haben scheint, und das ich einige tausend Jahre später wider entdeckt habe.
Ahn, Jong-su : Der Brief ist in vier Teile geteilt : Die Gottesvorstellung der Chinesen, Die Lehre der Chinesen über das Urprinzip, die Materie und die Geister, Die chinesische Seelenlehre, Die Charaktere des Fuh-hi [Fuxi] und das binäre Zahlensystem.
Nach Zhu Xi bestehen alle Dinge aus zwei Prinzipien : das li entspricht der Weltordnung, der Weltvernunft, dem Gesetz, der Form und dem Logos. Das qi entspricht dem Fluidum, dem Stoff, der Materie, der Energie und der Kraft. Longobardi und Sainte-Marie behaupteten, dass der christliche Gott mit dem chinesischen Wort T'ien-chu (Tianzhu), s.h. Himmelsherr übersetzt werden solle. Nach Longobardi hängt Shangdi von dem Taiji ab. Da nach ihm Taiji die Urmaterie ist, darf man es nicht mit Gott gleichsetzen. Er war der Meinung, dass der christliche Gott mit Tianzhu (Himmelsherr) übersetzt werden solle. Leibniz behauptet, dass die Worte Shangdi und Tianzhu dasselbe seien. Seiner Meinung nach könnte man für den christlichen Gott das Wort Shangdi verwenden. Leibniz hat fast alle wichtigen Begriffe des Neokonfuzianismus behandelt und ist der Interpretation von Matteo Ricci gefolgt. Da schon Ricci nicht alles richtig interpretiert hat, wiederholt er diese Fehler. Er sieht die chinesische Philosophie aus der Sicht des Europäers und hat den Unterschied zwischen dem Christentum und der chinesischen Philosophie nicht erkannt.
Diese Interpretation der chinesischen Philosophie von Leibniz ist eine scharfe Kritik der Schriften von Niccolò Longobardo und Antoine de Sainte-Marie.
Leibniz bespricht die Gottesidee der Chinesen. Er meint, dass es besser wäre, die alten chinesischen Autoren zu betrachten, als die modernen, denn die alten Chinesen brauchen den Ausdruck li um die Gottesidee zu bezeichnen. Danach bedeutet 'li' das Urprinzip, das höchste Prinzip aller Dinge und eine geistige Substanz. 'Li' ist aktiv, wirkungskräftig und hat eine bestimmte Ordnung. 'Li' ist nicht zufällig entstanden, sondern hat ein in sich vollkommenes Sein. Im Gegensatz zu 'li' ist 'ki' [ji] Materie, die aus 'li' hervorgebracht worden ist. Man könne nicht beurteilen ob 'ki' ohne Anfang ist, aber es sei sicher, dass 'ki' nie schwinden werde.
Wenn man an Gott denke, könne man sich nicht vorstellen, dass Gott aus Form und Materie zusammengesetzt ist. Gott ist an sich die allmächtige geistige Substanz. Gott kann die Materie schaffen, aber die Materie ist nie Gott gleichgeordnet. 'Taiki' [taiji] kann sowohl 'li' als auch 'ki' einschliessen, das heisst aber nicht, dass 'taiki' aus 'li' und 'ki' zusammengesetzt ist. 'Tin' (Himmel) ist nicht nur das Himmelsgewölbe, sondern auch das Gesetz des Himmels oder der Herrscher des Himmels, also Gott. 'Tin' ist ein Symbol von 'Xangti' (Gott), deshalb ist es möglich, im Sichtbaren den unsichtbaren Gott zu erkennen. Leibniz ist überzogen, dass die Chinesen schon vor dem Neo-Konfuzianismus dem wahren religiösen Glauben gefolgt sind. Die neokonfuzianische Metaphysik ist für ihn nur ein Kommentar zur chinesischen Religion.
Leibniz ist überzeugt, dass die Chinesen an die Existenz von Geistern 'Kuei-Xin' [Gui sheng] glauben, dass sie Gott gehorchen, Gott, den Menschen, Orten, Provinzen und dem Staat dienen. Diese Geister seien mit verschiedenen Elementen wie Feuer, Flüsse und Berge verbunden, was ausdrückt, dass sie Kräfte Gottes sind.
Die Chinesen glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Das Weiterleben der Seele nach dem Tod stellen sie sich als ein Existieren unter Geistern vor. Nach chinesischer Überlieferung steige die Seele, hoan [hun] eines Menschen zum Himmel hinauf, um sich wieder mit der ewigen Naturordnung, also Gott zu verbinden. Leibniz hält den Ahnenkult der Chinesen nicht für einen Aberglauben, sondern sieht in ihm Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Die Chinesen glauben nicht an eine Bestrafung nach dem Tod wie Hölle oder Fegefeuer, aber doch daran, dass die Seelen, die überall in Bergen und Wäldern leben, eine andere Art der Bestrafung erfahren.
Wie Bouvet findet Leibniz die binarische Arithmetik im Ye Kim [Yi jing] wieder. Er stellt fest, dass die Konstruktion des Hexagramms nichts anderes als eine 'arithmétique binaire' ist. Er setzt die Zahl 1 für das Zeichen ____ und 0 für ___ ___. Mit 0 und 1 kann man alle anderen Zahlen schreiben. Als Gundzahl hat er 2 gewählt, um seine Dyadik aufzubauen.
Adrian Hsia : Leibniz äussert sich in diesem Brief zur chinesischen Metaphysik. Er setzt sich zuerst mit dem Begriff 'li' auseinander und versucht nachzuweisen, dass 'li' in der europäischen Philosophie nicht der 'Urmaterie', sondern Gott entspreche. Die Urmaterie sei an sich 'ki' [ji], das aus 'li' entsteht. Er untersucht die Begriffe 'tian (Himmel) und 'Shangdi' (Gott) und kommt zum Ergebnis, dass der chinesische Himmel physisch und mataphysisch zu verstehen sei ; daher sei der sichtbare Himmel bei den Chinesen ein Symbol des 'Shangdi'. Damit drückt Leibniz seine Überzeugung aus, dass die Chinesen keine Atheisten oder Materialisten sind, sondern immer eine Gottesidee gehabt haben. Er argumentiert weiter, dass die Chinesen an die Unsterblichkeit der Seele glaubten, weil diese nach dem Tod zum Himmel zurückkehre. Er ist auch der Meinung, dass es sich beim Ahnenkult der Chinesen nicht um einen Aberglauben handelt, sondern vielmehr um den Ausdruck von Hochachtung und Dankbarkeit der Lebenden gegenüber den Toten. Diese Interpretation spiegelt Leibniz’ eigene philosophische Konzeption wider. Seine Argumente waren auch für die China-Mission der Jesuiten von grosser Bedeutung. Denn der Ritenstreit war um diese Zeit voll im Gange.
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