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“Die Last der Kultur : vier Fallstudien zur chinesischen Nietzsche-Rezeption” (Publication, 1989-1990)

Year

1989-1990

Text

Findeisen, Raoul David. Die Last der Kultur : vier Fallstudien zur chinesischen Nietzsche-Rezeption. In : Miima sinica ; 2 (1989)-1 (1990). (Find2)

Type

Publication

Mentioned People (1)

Nietzsche, Friedrich  (Röcken bei Lützen 1844-1900 Weimar) : Philosoph, Klassischer Philologe

Subjects

Philosophy : Europe : Germany / References / Sources

Chronology Entries (21)

# Year Text Linked Data
1 1902 Liang, Qichao. Jing hua lun ge min zhe jie de zhi xue shuo [ID D18278].
Quellen : Kidd, Benjamin. Principles of Western civilisation. (New York, N.Y. : Macamillan, 1902). Kidd, Benjamin. Social evolution. (New York, N.Y. : Macmillan, 1894).
Liang Qichao schreibt : Heute gibt es in Deutschland zwei sehr einflussreiche Lehren : Die eine ist der Sozialismus Marx’, die andere der Egoismus Nietzsches. Nach Marx besteht das heutige soziale Übel darin, dass eine Mehrheit der Schwachen von der Minderheit der Starken unterdrückt werde. Mit Bündigkeit drückt Nietzsche das soziale Übel aus : eine Minderheit der Überlegenen sei von der Mehrheit der Unterlegenen gefesselt. Obwohl ihre beiden Theorien wohlbegründete Standpunkte hatten, richtete sich das Ziel beider auf die Gegenwart, ohne dass das Zukünftige berücksichtigt wurde. Die Bedeutung der Evolution besteht darin, dass eine Zukunft erzeugt wird. Was die Vergangenheit und Gegenwart betrifft, so machen sie nur einen Übergang aus. Wirft man einen Blick auf die heutigen Politiker und Sozialwissenschaftler und deren verschiedene Äusserungen, so ist dennoch festzustellen, dass ihr Hauptaugenmerk auf die Gegenwart gerichtet ist. Von der Zukunft ist kaum die Rede. Das ist schade.

Yu Longfa : Literaturwissenschaftler waren sich sicher, dass Wang Guowei 1904 als erster Friedrich Nietzsche erwähnt hat, bis Chen Guying dies dementiert und Liang Qichao erwähnt, der Nietzsche zum ersten Mal in China bekannt gemacht hat.
Liang beschreibt Nietzsche als eine grosse Persönlichkeit und beschreibt seinen Individualismus, der eine der beiden grössten Ideen in Deutschland darstelle. Diese frühen kurzen Bemerkungen bilden eine Grundlage für die spätere Nietzsche-Auseinandersetzung.
Liang hat Nietzsche neben Karl Marx als einen der grössten deutschen Denker im 19. Jahrhundert angesehen. Er hat die Idee, dass die Rettung seines Landes die Vorstellung von einem verjüngten Nationalstaat voraussetzt. Von dieser Veraussetzung aus sieht er ‚den Kampf der Bevölkerung um das Überleben, der gemäss den Gesetzen der natürlichen Auslese und des Überlebens der Fähigsten nicht zu unterdrücken ist, als bewegende Kraft der modernen Geschichte an. Liangs Begegnung mit Nietzsche findet im wesentlichen im Rahmen des evolutionistischen Gedankengutes statt. Er plädiert dafür, dass man, auch ohne Umsturz des Herrscherhauses eine gesellschaftliche Revolution durchführen könne. Sein Einstieg in das Denken von Nietzsche erfolgte unter dem Einfluss der Nietzsche-Rezeption während der Meiji-Zeit in Japan. Raphael von Koeber hat 1897-1898 an der Universität Tokyo während einer Philosophie-Vorlesung auch Nietzsche behandelt.
Die Äusserungen Liangs zeigen seinen Standpunkt, China sei für einen plötzlichen Wandel nicht bereit und eine konstitutionelle Monarchie sei der sicherste Weg zu Modernisierung und Wachstum, der mit dem Einfluss von Benjamin Kidd unmittelbar verbunden ist.
In seiner Beurteilung von Marx kommt Liang zur Einsicht, dass Marx 'zwar den Menschen in Frage gestellt hat, aber keine Lösung zur Problematik des Menschen vorlegen konnte'. Was Nietzsche anbelangt, so bezeichnet er ihn als den ‚extremen Machtbefürworter, der im vorletzten Jahr durch geistige Krankheit gestorben war. Sein Einfluss erstreckte sich über ganz Europa, so dass die Welt von heute seine Lehre auch als eine neue Religion des 19. Jahrhuneerts bezeichnet. Aus Liangs Anmerkungen zum Evolutionismus wird deutlich, dass sein Haltung zu Nietzsche einseitig geprägt ist. Diese Einseitigkeit führt in zu der Behauptung, dass in Nietzsches Lehre von einer Zukunft kaum die Rede sei. Bezieht man sich hier auf den Begriff des Übergangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so ist es offenkundig, dass dieser Übergangsbegriff einen Entwicklungsprozess darstellt, der parallel zu Nietzsches Konzept des zukünftigen Übermenschen verläuft, in dem Nietzsche die menschliche Entwicklung thematisiert, was Liang dabei aber nicht ins Auge fasste. Nietzsche lässt Zarathustra die Bedeutung des Menschen so ausdrücken : "Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist : was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist… Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren : welcher ist der Übermensch…" Der Übermensch im Sinne Nietzsches soll nach dem Tod Gottes als eine ideale Menschengestalt gelten. Liangs Behauptung, dass Nietzsches Lehre nur in Verbindung mit dem Gegenwärtigen, aber nicht mit dem Zukünftigen stehe, ist offensichtlich unhaltbar.
Die Erwähnungen Liangs über Nietzsche haben keine nachhaltige Wirkung auf die chinesische Geisteswelt ausgeübt.

Shao Lixin : Liang Qichao presented Kidd as the latest and greatest representative of the theory of evolution. He credited him for having supplied answers to the 'two most important questions in the world' which all other thinkers, including Marx and Nietzsche, failed to answer. What he presented was a simplicistic picture of Western thought : Marx stands for the collective interest of the majority of the current generation, Nietzsche for indiviudals and for an elite minority of the current generation, Benjamin Kidd for ‘future generations’ of mankind.
It is obvious that, as an introduction to Kidd's thought, Liang's essay was a miserable failure. Howewer the essay cannot be dismissed as merely a piece of evidence pointing of the primitive status of the early Chinese reception of Western ideas.
Nietzsche was described in the essay as representing individualism and as ‘an extremist advocate of the right of the strong’.

Raoul David Findeisen : Im japanischen Exil hat Liang Qichao zunächst sozialdarwinistisches Gedankengut übernommen und die Welt als Schauplatz für einen Wettstreit der Nationen gesehen, sich aber gegen eine individualistische Interpretation des Sozialdarwisnismus gewandt und die Religion als geeignetes Korrektiv für egoistische Auswüchse betrachtet. Als er den Philosophen B. Kidd vorstellt, sieht er bei diesem eine Synthese zwischen humanistisch-altruistischen Gesellschaftmodellen, die sich auf den Indealismus zurückführen liessen und für die er Marx als Beispiel nennt, während er Nietzsche als Materialisten bezeichnet, dessen sozialdarwinistisch-egoistische Lehre in ganz Europa einflussreich ist und sich als fin-de-siècle-Religion bezeichnen lässt'.
  • Document: Treadgold, Donald W. The West in Russia and China : religious and secular thought in modern times. Cambridge : University Press, 1973. Vol. 2 : China, 1582-1949. S. 147. (Tre1, Publication)
  • Document: Shao, Lixin. Nietzsche in China. (New York, N.Y. : Lang, 1999). (Literature and the sciences of Man ; vol. 11). S. 2-4, 10. (Shao1, Publication)
  • Document: Yu, Longfa. Begegnungen mit Nietzsche : ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute. Diss. Univ. Wuppertal, 2000.
    http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=959811869. S. 18, 24-28. (Yu1, Publication)
  • Person: Liang, Qichao
  • Person: Marx, Karl
  • Person: Nietzsche, Friedrich
2 1904 Wang, Guowei. Nicai shi zhi jiao yu guan [ID D2747].
Wang schreibt : Nietzsche geht immer Gedanken nach, wie man die moderne Kultur verbessern und wie man den modernen Menschen erziehen könne. Solche Frage zu beantworten soll nach Nietzsches Meinung die Aufgabe von Philosophen sein. Der Philosoph ist ein Kulturbefehlender, Gesetzgebender und Zukunftszeigender. Dementsprechend wird Nietzsche von Kritikern auch als Kulturphilosoph bezeichnet… Nietzsches Denken ist oft mit Erziehungsproblemen verbunden. Im Vergleich zu anderen Philosophen geht es ihm in seinem Werk vielmehr um Erziehung. Gerade von diesem Gesichtspunkt aus könnte man nicht zu Unrecht Nietzsche einen erziehenden Philosphen nennen. Nur eine geringe Anzahl von grossen Persönlichkeiten steht hoch und blickt weit. Sie sind in der Lage, zahlreiche Massen zu beherrschen. Und diese dagegen müssen sich den Persönlichkeiten gegenüber treu und gehorsam verhalten, um sich ihnen zu unterwerfen. Dies gilt in den intellektuellen Kreisen als natürlicher Klassenunterschied und als heilige Ordnung. Der Versuch, diese Differenzierungen vergrössern zu wollen, war für Nietzsche gerade mit den dem Menschen innewohnenden ursprünglichen Trieben verbunden, die nur der Naturmensch besitzt. Die Herrscher sind berechtigt, eine Erziehung zu geniessen, während die Masse, der andere Menschentypus, kein Recht auf allgemeine Ausbildung hat.
Nietzsches Philosophie greift die heutige Kultur an, die zum Verfallen und zur Vernichtung des Handelns des Menschen abgestempelt ist. Der ‚absolute Egoismus’ ist seine Lehre. Innerhalb der Gesellschaft gibt es nach der Ansicht Nietzsches Persönlichkeiten und Masse, die sich gegenüberstehen. Die Persönlichkeiten sind befähigt, Kultur zu schaffen, von daher haben sie Privilegien der Erziehung zu geniessen. Letztere existiert nur um der Persönlichkeiten willen, daher soll die Masse nur den Persönlichkeiten gehorsam bleiben. Man lässt sie nichts von Bildung wissen. Dies entspricht sinngemäss Konfuzius Aussage : "Das Volk kann nur zum Gebrauch gemacht, nicht in Kenntnis gesetzt werden", und widerspricht dem Geist der modernen Zeit. Natürlich bedarf jede Nation einer oder zwei grosser Persönlichkeiten, um ihre eigene Kultur umzugestalten. Aber dafür, dass sie in der Welt erscheinen, gibt es bestimmt eine Veranlassung. Es muss zuerst eine Gesellschaft gegeben sein, in der sich grosse Persönlichkeiten herausbilden können. Eine schwache Mutter kann nämlich kein gesundes Kind gebären… Ist diese Behauptung, dass die Bildung nicht auf Masse, sondern nur auf Persönlichkeit zu richten sei, in diesem Fall nicht einseitig ?

Yu Longfa : Die erste grössere Verbreitung Nietzsches in China ist auf Wang Guowei zurückzuführen, der als erster auf der Grundlage der aus dem westlichen Gedankengut erworbenen Kenntnisse über die Literaturprinzipien Kritik an den literarischen Traditionen Chinas übte. Wang Guowei hat Nietzsche vornehmlich als Lehrer und Kulturkritiker betrachtet. Zur Vermittlung von Nietzsches Ansichten über die Erziehung gehört in Wangs Artikel zuerst die Behandlung des Gegenstands Erziehung an sich. Da er sich wie Nietzsche bewusst war, dass die Herrenklasse eine Minderheit ist, sollten gemäss Wang aus dem von ihm so genannten 'Bildungsbereich' ‚gewöhnliche Menschen’ ausgeschlossen werden. Die Kluft zwischen Herren und Knechten sei deshalb nicht zu überwinden, weil der Naturzustand, in dem die Menschen miteinander leben, die Ungleichheit von Menschen deutlich mache. Um diese Ungleichheit zu verdeutlichen, hat Wang einen Vergleich zwischen Rousseau und Nietzsche vorgenommen. Nach der Erläuterung von Rousseaus Ansichten über die Naturbildung macht Wang Guowei darauf aufmerksam, dass Nietzsche in der Politik wie in der Gesellschaft ein Gegner der Gleichheitslehre ist. Hinsichtlich der menschlichen Natur verweist er noch auf eine kämpferische Komponente im Menschen, die sich ebenfalls im Unterschied zwischen Herren und Knechten darstellt. Für Wang ist der Naturmensch Ausdruck des Beginns einer neuen Kultur, denn er hat dem Wesen nach dem Naturgesetz entsprechende Triebe in sich, die schöpferische Quellen freisetzen. Wang macht zum ersten Mal dem chinesischen Publikum den Begriff des 'Übermenschen' zugänglich. Unter dem Begriff des 'Übermenschen' ist bei Wang nichts anderes zu verstehen, als der durch die Eigenschaften 'Selbstachtung, Risikobereitschaft, Unnachgiebigkeit und Ichbezogenheit' gekennzeichnete Mensch.

Shao Lixin : According to Wang Guowei, Nietzsche agrees with Schopenhauer in viewing the 'will' as the essence of existence, but he rejects the latter’s ethics that is based on the annulment of the 'will'. It appears to Nietzsche that the ‘will’ to annul the 'will' is still a 'will'. Nietzsche has developed his own ethics on the basis of Schopenhauer’s esthetics. Just as a Schopenhauerian genius is unrestrained by sufficient reason in his artistic creations, a Nietzschean superman is not bound by moral principles in his deeds. Wang Guowei found further evidence of kinship between the two philosophers when he compared the spirit’s three metamorphoses from So sprach Zarathustra with Schopenhauer’s remarks on the child-like character of genius. Schopenhauerian genius is like a child whose intellect has developed ahead of its other organs, especially its genitals, and who therefore is able to look at the world with pure objectivity ; similarly a Nietzschean superman-child enjoys complete freedom since he is motivated by a will unbridley by ethics... Thus both Schopenhauer and Nietzsche were seeking ultimate self-affirmation and self-expansion. The only difference is that Nietzsche was more aware of his real motive and was bold enough to give it full expression. The moral, Wang Guowei explained, is that a Schopenhauerian genius suffers just like the old slave awake in the daytime and Schopenhauer’s aesthetic elitism and his theory of the universal ‘will’ are nothing but the old slave’s dreams in the night. Compared with Schopenhauer, Nietzsche had a better grasp of reality.

Raoul David Findeisen : Nach eingehender Lektüre von Schopenhauer, zunächst um Antwort auf persönliche Lebensfragen zu finden, dann mit dem Akzent auf dessen Ästhetik und ihrer Nutzanwendung auf die Literaturwissenschaft, war er von Schopenhauers Willensmetaphysik unbefriedigt und wandte sich Nietzsche zu. Bei einem Vergleich zwischen Schopenhauer und Nietzsche, die beide Modephilosophen seien und den Willen als Grundeigenschaft der menschlichen Natur betrachteten, kommt er zum Schluss, Nietzsche sei mit seinem Ideal des Übermenschen über die Genielehre und den 'Erkenntnisaristokratismus' Schopenhauers nicht hinausgegangen, sondern habe dessen erkenntnistheoretische und ästhetische Auffassungen lediglich auf die Ethik übertragen. Somit sei der Übermensch Verkörperung unbegrenzter Willensentfaltung, die moralische Wertvorstellungen überwindet, während Schopenhauers Genie die mittelbare Erkenntnis in der Erlösung durch die Kunst überwinde und zu unbegrenztem Wissen gelange.
  • Document: Shao, Lixin. Nietzsche in China. (New York, N.Y. : Lang, 1999). (Literature and the sciences of Man ; vol. 11). S. 19, 21. (Shao1, Publication)
  • Document: Yu, Longfa. Begegnungen mit Nietzsche : ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute. Diss. Univ. Wuppertal, 2000.
    http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=959811869. S. 31-34. (Yu1, Publication)
  • Person: Nietzsche, Friedrich
  • Person: Schopenhauer, Arthur
3 1906-1909 Lu Xun studiert am German Institute in Tokyo. In dieser Zeit beschäftigt er sich mit römischer und griechischer Mythologie, mit Friedrich Nietzsche, Charles Robert Darwin, Nikolai Wassil'evich Gogol, Anton Pavlovich Chekhov, interessiert sich für die Wissenschaft und befasst sich eingehend mit den möglichen Folgen einer Modernisierung Chinas nach westlichem Vorbild. Nebenbei nimmt er (1907) Russisch-Lektionen. Er verzeichnet (1906) in einem von ihm zusammengestellten Katalog 127 deutschsprachige Titel.
4 1916 Xie, Wuliang. Zhongguo zhe xue shi [ID D18288].
Raoul David Findeisen : Xie schreibt darin eine Einführung zu Biographie und Werk von Friedrich Nietzsche. Als erster Rezipient stützt er sich hauptsächlich auf angelsächsische Sekundärliteratur, knüpft aber in seine Begriffswahl zur Wiedergabe von Gedanken Nietzsche ausdrücklich an Mengzi an, sieht die wichtigsten Aspekte von Nietzsches Lehre im Nihilismus, der antichristlichen Ausrichtung und dem Ideal des Übermenschen, den er mit dem traditionellen 'Heiligen' vergleicht und als 'Ausnahmemenschen' charakterisiert.
5 1917 Mao, Dun. Xue sheng yu she hui [ID D18289].
Mao Dun schreibt : Die von neuen Gedanken beeinflussten Intellektuellen verschlingen mit grossem Wissensdurst alles, was aus dem Ausland eingeströmt war. Sie stellten verschiedene Ismen, Ideen und Lehren vor. Damals gab es die Ansicht, dass die feudale Sozialordnung gründlich umgestürzt werden müsse und eine neue Ordnung für China nur im Ausland zu finden sei.

Raoul David Findeisen : Mao Dun fordert die Studenten auf, sich mit westlicher Philosophie und Wissenschaft zu beschäftigen, um mit deren Hilfe ideologische und damit soziale Reformen in Gang zu bringen. Er bezeichnet China als ein rückständiges Land, das dringend der jungen Intellektuellen als 'Zivilisationsfaktoren' bedürfe.
6 1918 Lu, Xun. Kuang ren ri ji [ID D18290].
Raoul David Findeisen : Lu Xun macht die deutlichsten Anleihen bei Friedrich Nietzsche in seinem Tagebuch. Ganze Passagen hat er fast wörtlich aus der Vorrede von Zarathustra übernommen. Im Rückblick spricht Lu Xun selber davon, dass er sich hauptächlich von Nietzsche und Gogol habe leiten lassen, als er seine Erzählung schrieb. Zarathustra verkündet die Lehre vom 'Übermenschen', der Wahnsinnige formuliert seine Hoffnung auf den 'wahren Menschen'. Nietzsches Angriffe richten sich gegen das Schristentum und seine ‚überirdischen Hoffnungen’, Lu Xun gegen die traditionelle konfuzianische Ethik und ihre 'Menschenfressermoral'.
7 1918 Liang, Shuang. De yi zhi zhe xue jia Nicai de zong jiao [ID D18291].
He Lin : Liang verurteilt Nietzsches Lehren scharf : "Das seit Jahrtausenden beispiellose Unheil, das plötzlich ausgebrochen ist und furchtbares Leid und und unmenschliche Verbrechen verursacht, geht ausschliesslich auf diese Lehren zurück".

Raoul David Findeisen : Liang wirft Nietzsche in erster Linie Unwissenschaftlichkeit und sozialdarwinistische Ideen vor und macht ihn für den Krieg mitverantwortlich.
  • Document: Dr. Franz Kuhn (1884-1961) : Lebensbeschreibung und Bibliographie seiner Werke. Bearb. von Hatto Kuhn ; unter Mitarb. von Martin Gimm ; Geleitwort von Herbert Franke ; mit einem Anhang unveröffentlichter Schriften. (Wiesbaden : F. Steiner, 1980). (Sinologica Colonienisa ; Bd. 10). S. 446. (Kuh, Publication)
  • Person: Liang, Shuang
  • Person: Nietzsche, Friedrich
8 1918 Mao, Dun. Yi jiu yi ba nian zhi xue sheng [ID D18293].
Raoul David Findeisen : Mao Dun skizziert ein Programm, zu dessen Verwirklichung er die Studenten auffordert : Gedankenfreiheit statt Konfuzianismus mit einer Sklavenhaltergesellschaft. Unabhängigkeit und Mut, die das Individuum erst zu grossen Leistungen befähigt. Eigenschaften, die Mao Dun mit der ‚Herrenmoral’ von Friedrich Nietzsche verbindet, und der er die 'Sklavenmoral' der Bescheidenheit und des Gehorsams gegenüberstellt. Kreativität, bei der sich der sich der Umgang mit westlichen Ideen nicht in blosser Imitation erschöpfen dürfe. Aktivität und kämpferischer Geist in intellektuellen Auseinandersetzungen mit der passiven konfuzianischen Sozialethik.
Mao Dun vergleicht einige westliche ideologische Strömungen mit traditonellen Ideen, und zwar den modernen Individualismus mit dem Begriff des 'weiwo' bei Yan Zhu, das Christentum mit dem Mohismus und den angelsächsischen Utilitarismus mit der legalistischen Schule. Mao Dun wendet sich von allgemeinen philosophischen und weltanschaulichen Fragen ab und beginnt sich den Problemen der Literatur zu widmen. Als Beispiele für die Einflussmöglichkeit von Literatur führt er westliche Autoren an, und zwar für die 'neue Idee' des Individualismus La nouvelle Héloise und Emile von Jean-Jacques Rousseau, für den bürgerlichen Individualismus Nora oder Ein Puppenheim von Henrik Ibsen, für die Philosophie des Übermenschen Also sprach Zarathustra von Nietzsche und für den Sozialismus Bernhard Shaw und Gerhart Hauptmann. Zu weiteren Aufgaben der Schriftsteller zählt er, westliche Literatur zugänglich und Leben und Werk grosser Literaten bekannt zu machen, sowie sich mit Philosophie und Psychologie zu befassen.
9 1918-1919 Lu, Xun. Sui gan lu [ID D18294].
Raoul David Findeisen : Bezug auf Nietzsche nimmt Lu Xun am häufigsten in seinen 'Glossen'. Er fordert - von Darwin ausgehend, an dessen Evolutionslehre kein Zweifel bestehen kann – seine Zeitgenossen auf, sich anzustrengen und weiterzuentwickeln. Dabei sieht er in Nietzsches Ideal ein auf die Zukunft gerichtetes ethisches Gegenstück zu Darwins Theorie, denn 'obwohl seine Lehre vom Übermenschen sehr vage ist, beruht sie doch auf einer klaren Einschätzung des gegenwärtigen [Zustandes] der Menschheit'. Deutlich ist hier wiederum die Antithese, in der Lu Xun die Evolutionslehre einer vergangenen, naturgesetzlichen und materiellen Entwicklung zuordnet, während der Übermensch eine künftige, durch moralische Motivation des handelnden Individuums vorangetriebene, geistige Entwicklung vorzeichnet, wobei das Individuum im Sinne der Brücken-Metapher Nietzsches als Nahtstelle fungiert. Als sich Lu Xun über Gleichgültigkeit, Stillstand und Selbstzufriedenheit beklagt, fügt er aus Zarathurstra an : "Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsuch nach dem anderen Ufer". Ein weiteres Mal sieht Lu Xun in der Zerstörung eine Voraussetzung, um Kräfte für die Weiterentwicklung freizusetzen, denn Zarathustra fährt fort : "Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang".
Die essayistischen Arbeiten haben Lu Xun das Epitheton eines 'Nietzsche Chinas' eingebracht.
10 1919 Cai, Yuanpei. Da zhan yu zhe xue [ID D18295].
Raoul David Findeisen : Cai sieht eine Widersprüchlichkeit darin, dass Friedrich Nietzsche Atheist gewesen sei, aber die Deutschen unter dem Motto ‚Gott mit uns’ in den Krieg gezogen sind, doch "hat die deutsche Regierung im Krieg kaum einen Schritt unternommen, der nicht mit Nietzsches Lehren übereinstimmte". Cai nennt Borgia und Bismarck als Beispiele für Übermenschen und sieht im Leitspruch 'Deutschland über alles' einen Ausdruck des Prinzips vom Übermenschen.
11 1919 Guo, Moruo. Fei tu song [ID D18296].
Guo Moruo schreibt :
Kopernikus, du böser Geist, Künder des Sonnensystems, der du dich von den Dogmen der Überlieferung befreit hast !
Darwin, du Schweinehund, Künder der gemeinsamen Abkunft von Mensch und Affe, der du die Lehren der Vorväter Lügen gestraft hast !
Nietzsche, du Wahnsinniger, Künder der Philosophie des Übermenschen, der du Götzenbilder zermalmt und Heilige vernichtet hast !
Wo und wann immer ihr gewirkt habt, ihr alle seid Banditen und philosophische Revolutionäre ! Lebet hoch ! lebet hoch ! lebet Hoch !

Raoul David Findeisen : Mit dem Titel des Gedichtes spielt Guo Moruo darauf an, dass die Aktivisten der 4. Mai-Bewegung von der japanischen Presse als ‚Studentenbanditen’ tituliert worden sind.
12 1919 Fu, Sinian. Sui gan lu [ID D18297].
Fu schreibt : Wir müssen mit Lampions auf den Strassen nach Übermenschen suchen und mit Knüppeln Dämonen vertreiben.

Raoul David Findeisen : Dem Konfuzianismus, der zu einem Götzenbild geworden sei, hält Fu Sinian Nietzsches Forderung entgegen, die ‚festgesetzten Werte neu zu bestimmen’ und lobt Nietzsche als radikalen Ikonoklasten. Auch China habe in Laozi einen solchen besessen, der jedoch selber zu einer Ikone geworden sei.
13 1920 Mao, Dun. Nicai de xue shuo [ID D18302].
Quellen : Thilly, Frank. A history of philosophy. (New York, N.Y. : H. Holt, 1914).
Ludovici, Anthony Mario. Nietzsche : his life and his work. (London : Constable 1910).
Hoffding, Harald. Moderne Filosoffer. (Kopenhagen : Gyldendal, 1904). = Moderne Philosophen. (Leipzig : O.R. Reisland, 1905). = Modern philosophers. (London : Macmillan, 1915).
Von Ludovici übernimmt Mao Dun die Kapiteleinteilung : Einleitung, Nietzsches Leben und Werk, Nietzsches Ethik, Nietzsche als Anhänger der Evolutionstheorie, Nietzsche als Soziologe, Schlussfolgerungen.

Mao Dun schreibt : Die Deutschen respektierten von jeher die Lehre Nietzsches. Aber man machte für die Schuld am letzten Krieg Nietzsches Lehre verantwortlich. Hat sie wirklich den Menschen in der Welt Schaden zugefügt ? Oder haben sie die Deutschen selbst missverstanden ? Ich glaube, der einsichtige Leser kann es begreifen. Aber eins muss ich hier sagen : Nach dem Krieg wurde in Deutschland noch grösseres Interesse an Nietzsches Lehre an den Tag gelegt.
Wir müssen uns noch im klaren darüber sein, dass es sich nur um eine Lehre bzw. um ein Werkzeug handelt, das uns zur Verbesserung des Lebens, zum Suchen nach Wahrheit verhelfen kann. Wir versuchen aus seiner Lehre etwas Nützliches zu gewinnen, lassen sein Unnützliches im Stich, ja wir vergessen es gänzlich.
Ob Nietzsche als Dichter oder als Philosoph gilt, ist längst umstritten. Nun ordnen wir ihn in die Kategorie der Philosophen ein. Hätte Nietzsche früher mit dramatischem oder dialogischem Stil seine Meinungen geäussert, so hätte es wahrscheinlich noch mehr Leute gegeben, die Nietzsche priesen. Nur hinsichtlich des Werks Also sprach Zarathustra wissen wir es, dass Nietzsche in der Tat ein poetisches Genie war. Man sollte ihn in diesem Fall nicht so sehr als Philosoph, sondern vielmehr als grossen Schriftsteller bezeichnen. Dank seiner Lehre vom Übermenschen und vom sozialen Dualismus hat er den Titel des Philosophen gewonnen.
Spricht man früher von Moral, so kann man die Fessel der historischen Konvention nicht sprengen. Das von jeher vorbestimmte Gute kann nicht gründlich kritisiert werden. Man versucht nur, Moral zu revidieren, statt sie zu untersuchen. Bei Nietzsche ist dies nicht der Fall. Indem er sich mit dem Moralbegriff seit der Zeit der ursprünglichen Menschheit auseinandersetzt, stellt Nietzsche die Moral in ihrem Ursprung in Frage und versucht herauszufinden, wie das sogenannte Gute jetzt von den Menschen anerkannt würde. Von diesem Standpunkt aus ist Nietzsche bestrebt, alle Werte der Moral neu zu bewerten. Wir akzeptieren Nietzsches Äusserungen über den historischen Ursprung der Moral, indem wir seine Theorie als scharfe Waffe im Kampf gegen die historisch überlieferte, entstellte und geistig gefesselte Moral benutzen.
Darwin sagte, der Mensch habe sich aus dem Tier entwickelt, nun behauptete Nietzsche ebenfalls, der zukünftige Mensch werde aus dem modernen Menschen entwickelt. Aber nach welchen Gesetzen soll dies zustande kommen ? Nietzsches Konzeption : nach Gesetzen der Macht. Was wir bezüglich der Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und den modernen Theoretikern des Evolutionismus zur Kenntnis nehmen, ist die Anerkennung des Menschen, nicht die Gottes. Ihre Unterschiede bestehen darin, dass Nietzsche aufs äusserste für Macht plädiert. Den 'Willen zur Macht' hat der Mensch bereits gleich nach der Geburt. Da der Menschen diesen Willen zur Macht hat, will er nicht als Sklave in demütigenden Umständen leben. Dass der Mensch, ohne Angst vor der Macht zu haben, nach Kampf, Befreiung und Selbstbestimmung sucht, dies alles geht davon aus. Wird das Aufhören als das Suchen nach der Existenz angesehen, so wäre dies das Leben wie ein Schwein und ein Hund. Aber Nietzsche bezeichnet den stärksten Willen des Lebens als den 'zu Macht' ; dies wäre sehr interessant, denn nur der Mensch hat diesen 'Willen zur Macht'. Der Mensch will kein Sklave sein, er hat keine Angst vor Mächten, sondern den Willen, zu kämpfen, zur Suche nach Befreiung und Selbstentscheidung. Alles geht hiervon aus. Die Philosophie vom Übermenschen ist gerechtfertigt, denn der Übermensch ist nach seiner Auffassung progressiv. Der Vergleich zwischen Übermensch und dem heutigen Menschen ist so wie der Vergleich zwischen dem heutigen Menschen und dem Affenmenschen.
Im Hinblick auf meine beschränkte Kenntnis bin ich der Meinung, dass Nietzsche in der Tat ungerecht behandelt wurde, als man die Auffassung vertrat, dass Nietzsche für die Betonung der Machtstärkung eintrete. Nietzsche behauptet, dass nur kluge und gesunde Menschen weiterleben sollten, die anderen aber sterben müssten. Solche Aussagen sind natürlich belastend. Hat denn nicht etwa Platon Ähnliches geäussert ? Äusserte nicht Shaw ebenso solche Behauptungen ? Warum macht man nur Nietzsche allzu strenge Vorwürfe ? A.M. Ludovici nannte Nietzsche einen Anarchisten auf geistigem Gebiet, der alle philosophischen Lehren zerstört. Ich halte diese Worte für gerechtfertigt.

Yu Longfa : Anlässlich der Diskussion um Verantwortungsprobleme des vergangenen Krieges scheint Mao Dun eine neue Bewertung von Nietzsche besonders notwendig, um ein 'neues China' zu begründen und zugleich die damit verbundene Kulturbewegung weiter zu fördern. Mao Duns Nietzsche-Rezeption ist keine wissenschaftliche Studie über die Lehre Nietzsches. Er konnte kein Deutsch und war deshalb auf englischsprachige Sekundärliteratur angewiesen. Er hat eine Teilübersetzung von Zarathurstra : Thus spoke Zarathustra gelesen, sowie Beyond good and evil und Genealogy of morals.
Mao Dun betrachtet Nietzsches Lehre an vielen Stellen als widersprüchlich, ist allerdings nicht bereit, diese Widersprüche im Denken Nietzsches aufzuzeigen. Er kritisiert, dass Nietzsche kaum Möglichkeiten habe, mit dem einfachen Volk umzugehen, so dass ihm die Fähigkeiten und Lebensumstände des Volkes unbekannt seien. Er betrachtet Nietzsche in erster Linie nur als Kulturkritiker, der einen Niedergang in der westlichen Kultur sieht. Mao Dun geht auf Nietzsches Übermensch-Gedanken und die dualistischen Faktoren der Gesellschaft ein, um dem chinesischen Leser den deutschen Philosphen zugänglich zu machen. Auch schenkt er Nietzsches Moralauffassung und dem Konzept des Übermenschen Aufmerksamkeit. Besonders hat er grossen Wert auf Nietzsches Begriff der Umwertung aller Werte gelegt, den er sich zum Massstab nimmt, um an den Kulturkampf der 4. Mai-Bewegung anzuknüpfen. Er betont 'die grösste und die beste Einsicht Nietzsches', dass er 'alle philosophischen Lehren, alle sozialen Grundsätze, alle Lebens- und Moralanschauungen aufs neue beurteilt und bewertet hat'. Da sich in Nietzsches Denken nach Ansicht Maos Widersprüche finden, setzt er den chinesischen Leser in Kenntnis, dass sowohl Leichtgläubigkeit an Nietzsches Gedanken als auch Verzicht auf das Studium seiner Schriften nicht empfehlenswert sei.
Der grösste Teil über die Gedanken Nietzsches ist das Kapitel über die Moraltheorie. Dort zeigt es sich, dass ein wesentliches Motiv von Mao Duns Betonung der Moraltheorie Nietzsches die Untersuchung des überlieferten Begriffes des Guten und des Bösen war. Im Gegensatz zu Nietzsches Moralvorstellung hält Mao Dun den Unterschied zwischen der vornehmen Moral und der Sklaven-Moral für falsch : "Nietzsches Kritik an der Moral hat sich nicht als falsch erwiesen ; falsch ist eigentlich die Behauptung über die Moraltendenz". Maos Augenmerk liegt im Zusammenhang mit seiner neuen Moral auf der breiten Masse der Menschen, die zum Erwachen für eine Änderung der sozialen Ordnung berufen war.
Wie Lu Xun rezipiert auch Mao Dun Nietzsches Übermensch-Denken unter dem Aspekt, dass der gegenwärtige Mensch den vorangegangenen Menschen überholten sollte und präsentiert ihn als Evolutionsprediger, dem Darwins Evolutionstheorie zugrunde liegt. Mao Duns Begriff vom 'Willen zur Macht' ist als Synonym für Selbstentscheidung, Befreiung und Kampf gegen Mächte zu verstehen und zu verwenden.
Mao Duns Vermittlung von Nietzsches Lehre führte in damaliger Zeit zur Popularisierung von Nietzsches Denken einerseits und zu neuen Begriffen andererseits, die extreme Gedanken der damaligen Intellektuellen widerspiegeln.

Raoul David Findeisen : Mao Dun betont, dass Nietzsche ein Elfenbeinturmdasein geführt habe und deshalb ihm gegenüber Vorsicht geboten sei, denn 'er habe keine Ahnung, unter welchen Bedingungen das gewöhnliche Volk lebt'. Mao setzt sich mit dem konfuzianischen Wertesystem auseinander und fordert, sich der 'Umwertung' zu bedienen, um ‚die alte Moral zu zerstören’. Der Wert der Tradition müsse ‚neu festgesetzt’ werden. Er bezeichnet den 'Übermenschen' als einen ‚fortschrittlichen Menschen’. Zwar betont er, das Ideal des Übermenschen sei die wichtigste Forderung in Nietzsches Ethik, doch wie durchschlagend sein darwinistisches Vorverständnis war und wie sehr er den Übermenschen als zuallererst biologisches Phänomen verstand, wird deutlich wenn er ihn charakterisiert : "Der Übermensch steht zum jetzigen Menschen im gleichen Verhältnis wie der jetzige Mensch zum Affen". Mao Dun betont den Wert von Nietzsches Moralkritik, lehnt aber dessen Ableitungen, die er mit "Die Herren werden stärker und die Sklaven schwächer" wiedergibt, entschieden ab, weil sie sich mit den elementarsten Forderungen der Demokratie und des Sozialismus nicht vereinbaren liessen.
Aus einem aufklärerischen Erziehungsbegriff heraus, sieht Mao Dun die vorrangige Bedeutung von Nietzsches Ikonoklasmus darin, ‚das Volk aufzurütteln’, dessen 'Sklavenmoral' er darauf zurückführt, dass es ‚in Unwissenheit gehalten wurde, damit es dem Kaiser gehorcht’.
Er vergleicht Nietzsches Begriff vom 'Willen zur Macht' mit Darwins 'struggle for life' und Spencers 'dynamic element in life'. Dieser Gruppe gegenüber stellt er Kropotkins 'assistance mutuelle', die deshalb überlegen sei, weil sie sowohl demokatischen Ansprüchen genüge, als auch biologisch begründet werde. Nietzsches 'Willen zur Macht' versteht er unter dem Begriff ‚Willen zur politischen Macht’. In diesem Zusammenhang sieht er im 'Übermenschen' einen aktiven Kämpfer gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aus der Position eines zunächst 'Schwachen' heraus, der dann, wenn er politische Macht erlangt hat, eine 'Umwertung' vornimmet. Aus Mao Duns Antithesen von ‚Wille zur politischen Macht’ und 'Überlebenstrieb' entstehen Kampf (Übermensch), Dekadenz, Aktivität (Herrenmoral), Passivität (Sklavenmoral). Die von Mao Dun vorgenommenen Transformationen der Begriffe Nietzsches gehen vermutlich auf Ludovici zurück und dort auf das grundlegende Missverständnis, konkrete gesellschaftliche Modelle von Nietzsche ableiten zu wollen. Yue Daiyun schreibt 1979 : Mao Dun hat bloss einige Ideen von Nietzsche als Material herangezogen und sie den tatsächlichen gesellschaftlichen Bedürfnissen Chinas gemäss umgewandelt, so dass sie hinterher mit Nietzsches ursprünglicher Absicht nichts mehr gemein hatten.
Mao Duns zentrale Thesen lauten : Seid unabhängig und nicht unterwürfig, seid fortschrittlich und nicht konservativ, seid kämpferisch und zieht euch nicht zurück, seit utilitaristisch und nicht formalistisch, seid wissenschaftlich und phantasiert nicht.
14 1920 Li, Shicen. Nicai si xiang zhi pi pan [ID D18303].
He Lin : Diese Sonderausgabe ist der erste Versuch, Nietzsche im Ganzen dem chinesischen Leser vorzustellen. Li Shicen, Chefredaktor der Zeitschrift Min duo za zhi, ist Herausgeber dieser Ausgabe über Nietzsche. Das Heft enthält Chalatusitela de xu yan übersetzt von Zhang Shudan [Übersetzung von Zarathustras Vorrede] ; Zi ji yu zi shen zhi lei übersetzt von Liu Wenchao [Übersetzung von Teilen Nietzsche, Friedrich. Menschliches Allzumenschliches] ; Bai, Shan. Nicai zhuan. [Biographie von Nietzsche] ; S.T.W. Nicai xue shuo zhi jia zhi [Der wahre Wert der Lehren von Nietzsche ; Zhu, Lüyun. Chao ren he wei ren. [Übermenschen und grosse Männer] ; Fu, Sinian. Nicai de zhu shu ji guan yu Nicai yan jiu zhi can kao shu. [Nietzsches Werke und Hilfmittel zur Nietzsche-Forschung].
Die meisten der Beiträge der enthalten vor allem Nietzsches Bezug zu Darwins Evolutionstheorie.
Als Anhang folgt [Mügge, Maximilian]. Nicai zhi yi sheng ji qi si xiang [ID D18349].

Li Shicen schreibt : Bevor Nietzsches Denken nach China kam, gab es schon unzählige Menschen, die [Nietzsches Lehren] verfluchten, schmähten oder gegen sie Einwände erhoben. Es gab keinen giftigeren und schärferen Vorwurf als den, dass Nietzsche der Hauptschuldige am letzten Krieg sei. Man sah in Nietzsches Denken die ernsteste Gefahr der Gegenwart. Ohne Nietzsche wäre der Erste Weltkrieg nicht zustandegekommen. Dass Deutschland es gewagt habe, allen Ländern den Krieg zu erklären, beruhe ausschliesslich auf Nietzsches geistigem Einfluss.
Die heutigen Ansichten, dass Nietzsches Philosophie Ursache für den Krieg in Europa war, sind lediglich oberflächliche Auffassungen. Man sollte das Wesen der deutschen Zivilisation kennen : Sie besteht aus bewusstem Idealismus, technischen Fähigkeiten und Institutionen, die miteinander verbunden sind. Ich teile zwar nicht Nietzsches Auffassungen, wage aber nicht deren Wert zu leugnen, nachdem ich mich mit seinem Denken etwas eingehender beschäftigt habe. Obwohl man über gewisse Aspekte seines Denkens streiten kann, handelt es sich zweifellos um nichts als Verleumdung, wenn man dieses Denken als im Widerspruch zur neuen ideologischen Strömung der letzten Zeit kritisiert oder sogar als hauptverantortlich für den letzten europäischen Krieg angreift.
Der Wille zur Macht ist eine Tätigkeit, in der ständig produziert wird. Sie arbeitet sich unermüdlich empor. Den Willen zur Macht kann man in diesem Sinne mit dem Herzen des Menschen gleichsetzen, d.h. er ist Ausdruck der unaufhaltsamen Sucht nach Macht.
Das sogenannte Prinzip vom Kampf ums Dasein ist nur auf die Erhaltung des Lebens gerichtet. Das ideale Ziel unseres Lebens besteht jedoch aus dynamischen Wiederholungen und aus dem Schaffen, einen Höhepunkt des Kraftgefühls zu erreichen. Es ist sinnlos, wenn der Mensch nur auf die Erhaltung des Lebens bedacht ist.
Den wahren Sinn der Gedanken Nietzsches kann man tatsächlich nicht negieren. Der Schleim-Charakter der Chinesen wird von der anderen Welt deshalb geringschätzig betrachtet, weil es ihnen an mutigem Unternehmungsgeist und an Schöpfungskraft mangelt. Ich bin der Meinung, dass Nietzsches Denken dabei eine Hilfe leisten könnte.
Li Shicens Hauptauffassungen sind in Stichworten zusammengefasst : Nietzsches Hauptgedanken entstammen Schopenhauers Lehre vom Willen, aber sie sind gründlicher als die Schopenhauers. Der Übermensch-Gedanke ist von der Darwinischen Evolutionstheorie beeinflusst worden, der Übermensch ist ein Symbol für die Entwicklung der Menschheit. Der pragmatische Beigeschmack der Philosophie Nietzsches ist vor allem Ausdruck seiner neuen Werte und seiner Theorie einer neuen Moral. Die grösste Besonderheit der Philosophie Nietzsches ist durch eine 'neue Bewertung aller Werte' gekennzeichnet. Um neue Werte, Ideale und eine neue Zivilisation zu schaffen, war Nietzsche bemüht, die alten Werte, Ideale und die alte Zivilisation zu zerstören. Das Ideal des Übermenschen ist von aktueller Bedeutung. Aber Nietzsches Idee von der ewigen Wiederkehr entspricht dem Übermensch-Ideal nicht, so dass der Wert seiner ganzen Philosophie in Frage gestellt werden muss. Nietzsches Philosophie ist eine ästhetische Philosophie. Da sie auf eigenen Lebenserfahrungen gründet, sollte der Leser aus ästhetischer Sicht die Philosophie Nietzsches studieren. Die von Nietzsche befürwortete Kunst ist Kunst neuer Art. Nietzsches Individualismus ist ein positiver Ausdruck, der nicht unter einem falschen Geschichtspunkt interpretiert werden sollte.

Yu Longfa : Li Shicen betont den Hauptgedanken aus Also sprach Zarathustra, wobei er Begriffe wie 'Wille zur Macht', die 'Evolutionslehre', den 'Übermensch-Gedanken', die 'Umwertung aller Werte' und schliesslich die 'ewige Wiederkunft' in vergleichender Weise interpretiert… Bei der Darlegung des Verhältnisses von Nietzsche zu Darwin führt er die Unterschiede beider Auffassungen über die Entwicklung der Menschheit an. Angesichts der Mechanismen des Prinzip vom Überleben des Tüchtigen zeigt Li Interesse für Nietzsches Auffassung über die Lebensentwicklung des Menschen, insbesondere für den durch den Willen zur Macht reflektierten Geist des Schaffens… Für Li scheint Nietzsches Philosophie geeignet, die Lebensgewohnheiten und den Nationalcharakter der Chinesen zu verändern.

Raoul David Findeisen : Li Shicen sagt von sich selber, dass die Begegnung mit Nietzsches Philosophie während seiner Studienzeit in Japan sein Leben verändert hat. Sein Artikel enthält insgesamt eine positive Würdigung Nietzsches und nimmt ihn zunächst gegen den Vorwurf der moralischen Mitschuld am Weltkrieg in Schutz, indem der das bis dahin oft politisch-sozial verstandene Konzept des 'Willens zur Macht' enger an Nietzsches Lebensbegriff koppelt. Er begreift den 'Willen zur Macht' ästhetisch als Formel des Selbstausdruck, und das Ideal des Übermenschen ethisch unter dem Aspekt der Selbstüberwindung.

He Lin : In diesem Heft wird die Behauptung widerlegt, Nietzsche sei der Hauptverantwortliche für den Ersten Weltkrieg gewesen.
  • Document: Von der Kolonialpolitik zur Kooperation : Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen. Hrsg. von Kuo Heng-yü. (München : Minerva Publikation, 1986). (Berliner China Studien ; 13).
    [Enthält] : Yin, Xuyi. Zur Verbreitung des Marxismus in China. S. 446-448. (KUH7, Publication)
  • Document: Yu, Longfa. Begegnungen mit Nietzsche : ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute. Diss. Univ. Wuppertal, 2000.
    http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=959811869. S. 20, 82-87. (Yu1, Publication)
  • Person: Li, Shicen
  • Person: Nietzsche, Friedrich
15 1921 Yu, Dafu. Chen lun : chuan zuo xiao shuo [ID D18306].
Yu Dafu schreibt : Wenn er manchmal in den Bergen einen Bauern traf, dann hielt er sich selbst für Zarathustra und redete mit dem Bauern in seinem Herzen mit den Worten Zarathustras.

Raoul David Findeisen : Der Held ist seiner durch Emotionen geleiteten existentiellen Selbsterfahrung ausgeliefert und trägt in sich den Zwiespalt aus, handeln zu wollen, aber nicht handeln zu können.
Als Yu Dafu Chen lun geschrieben hat, kannte er von Friedrich Nietzsches Werken mindestens Zarathustra und mit Wahrscheinlichkeit auch Die Geburt der Tragödie aus dem Artikel von Tian Han von 1919. Es finden sich nur sehr indirekte Hinweise darauf, wie Yu Dafu die Gestalt des Zarathustra aufgefasst hat. Er hält ihn für grössenwahnsinnig und sieht seine Grösse darin, Auswege aus der passiven Innenschau aufgezeigt zu haben, die sich für den Protagonisten bekanntlich als tödlich erweist. Dafür spricht der Aktionismus, mit dem er später Nietzsche jeweils in Verbindung bringt. Er verwendet Zarathustra als Stilmittel, dass assoziativ an den Begriff der 'Megalomania' geknüpft ist.
Die Bedeutung Nietzsches für Yu Dafu liegt darin, dass er zunächst in der Gestalt Zarathustras und später auch in der Person Nietzsches gewisse Übereinstimmungen mit einem buddhistisch geprägten Askeseideal fand, dem allgegenwärtigen Gegenentwurf zum oft hedonistischen Lebensstil seiner Protagonisten.
16 1923 Guo, Moruo. Lun Zhong-De wen hua shu [ID D18307].
Guo Moruo schreibt in einem Brief an Zong Baihua, in dem er Laozi und Friedrich Nietzsche miteinander vergleicht : Beide rebellierten gegen theistische religiöse Gedanken und gegen die etablierte Moral, mit der die Persönlichkeit des Einzelnen eingeschränkt wird. Beide sahen in der Individualität ihre Basis und bemühten sich darum, sich selber postiiv weiterzuentwickeln.

Raoul David Findeisen : Guo Moruo ist sich offenbar bewusst, dass ein ethischer Relativismus, wie er sich aus vitalistischen Konzepten ableiten lässt, letztlich in den Nihilismus führen kann. Auch das soziale Engagement von Guo ist individualistisch geprägt und von ethischem Verantwortungsgefühl getragen.
17 1923-1924 [Nietzsche, Friedrich]. Ya yan yu zi li : gao wo ai du Chalatusiquala de you ren [ID D18308].
Guo Moruo schreibt : Vor einigen Jahren war Nietzsches Denken im Inland mit einem diffusen Bild vermittelt worden. Von seinem Gesamtwerk ist kein einziges im ganzen übersetzt. Sogar das berühmteste Werk Also sprach Zarathustra – trotz einer Annonce der Übersetzung des Werks vor Jahren – wurde bislang nicht übersetzt… Anfänglich übersetzte ich jede Woche ein Stück und hatte Freude daran. Es kam nur zu spärlichen Reaktionen. Ab und zu befragte ich Freunde. Die sagten, dass es schwer zu verstehen wäre. Deshalb verlor ich allmählich den Mut, weiter zu übersetzen.
Nach Abschluss der Übersetzung schreibt er in einem Artikel, als Reaktion auf zahlreiche Leserbriefe, die Zarathurstra als schwer verständlich bezeichnen und den Übersetzer um eine Interpretation bitten : Die Werke oder Gedanken eines Menschen zu interpretieren, ist eine schwierige Angelegenheit, erst recht, wenn es sich um ein so schwer zu durchdringendes Werk und einen to tiefschürfenden Autor handelt. Wer den Text nicht versteht, dem bleibt nichts anderes übrig, als konzentriert zu lesen und gründlich nachzudenken, mit anderen Worten : zu warten. Wer wartet, bis er mit seinen eigenen Erfahrungen weitergekommen ist, dem wird sich zuletzt ein gründliches Verständnis des Textes offenbaren. Wer in seinem Verständnis weitergekommen ist, darf darüber hinaus nicht gleichgültig bleiben, sondern braucht einen kritischen Blick und muss im Rahmen seiner Fähigkeiten in der Lage sein, das Werk zu negieren. Erst dann kann das Leben des Werks zum eigenen Leben und das Herzblut des Autors zum eigenen Herzblut werden.
Später schreibt er : Schliesslich konnte das Buch nicht übersetzt werden, aus dem Grund, da ich es in der Tat 'ablehnte'. Da sich die Bewegung der chinesischen Revolution weiter entwickelte, musste ich nicht hinaus- sondern hinabblicken. Die revolutionäre Bewegung entfernte mich von Nietzsche. Lu Xun übersetzte nur die Vorrede des Buches, ohne das ganze Buch, wohl auch aus demselben Grund.

Raoul David Findeisen : Guo Moruo bezeichnet sich selber als für eine Interpretation Nietzsches weder zuständig noch qualifiziert. Stattdessen verweist er die Leser auf Nietzsches Schwester und deren Werk Die Entstehung von Zarathustra. Er erwähnt auch Nietzsches eigene Bedenken hinsichtlich der Verständlichkeit des Werkes. Aufgrund seines heroischen Individualismus hebt Guo Moruo Nietzsches Neigung zum 'Geniekult' hervor. Er begreift den Umstand, dass Zarathustra seine Sprüche an ‚Grosse und Hochwüchsige’ richtet, als Aufforderung, sich ausschliesslich auf die eigenen Kräfte zu verlassen, so auch bei der Interpretation von Nietzsches Werk. Er unterscheidet zwischen der Fähigkeit zu verstehen und der Fähigkeit zu kritisieren.
Guo Moruo hat in seinem Aufsatz kein einziges Mal den Begriff des ‚Übermenschen’ erwähnt. Daraus lässt sich schliessen, dass sich sein Verständnis dieses Ideals seit seinem 'Loblied auf die Banditen' nicht gewandelt hat. Andererseits unternimmt er auch nicht den naheliegenden Versuch, den 'Übermenschen' mit seinem immer noch virulenten Heroismus zu verbinden.

Yu Longfa : Guo Moruo hat auf eine Übersetzung der Vorrede verzichtet. Die übrigen Teile bestehen aus zusammenhanglosen Abschnitten. Deshalb bereitet seine Übersetzung den Lesern Schwierigkeiten, da sie ohne Zugang der wichtigen Vorrede, direkt in einzelne Abschnitte eingeführt werden. Die Übersetzung von Guo Moruo führen zu einer grösseren Verbreitung und Intensivierung der Rezeption der Gedanken Friedrich Nietzsches.

Shao Lixin : Guo Moruo needed Nietzsche in his effort to create a better mankind and he needed Marx to simulate a battle against capitalism. His essays and his incomplete translation demonstrate beyond doubt, that he understood neither Nietzsche nor Marx at that time. He admired Nietzsche as a literary genius and continued to respect him after his conversion to marxism.
  • Document: Shao, Lixin. Nietzsche in China. (New York, N.Y. : Lang, 1999). (Literature and the sciences of Man ; vol. 11). S. 40. (Shao1, Publication)
  • Document: Yu, Longfa. Begegnungen mit Nietzsche : ein Beitrag zu Nietzsche-Rezeptionstendenzen im chinesischen Leben und Denken von 1919 bis heute. Diss. Univ. Wuppertal, 2000.
    http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=959811869. S. 20, 95-96. (Yu1, Publication)
  • Person: Guo, Moruo
  • Person: Nietzsche, Friedrich
18 1929 Lu, Xun. Lu Xun quan ji [ID D11283]
Lu Xun schreibt : Nietzsche, der die Evolutionslehre Darwins auf die Spitze getrieben, das Christentum angegriffen und die Lehre des Übermenschen verkündet hat, behauptet zwar, wissenschaftlich vorzugehen, doch [seine Philosophie] hat religiösen Charakter. Ich verstehe daher nicht, warum seine Theorien so sehr bewundert und gelobt werden. Die frühesten Anhänger Nietzsches waren gebildet und in allen Wissenschaften bewandert. Doch wenn einer etwas verkündet, schnappen es die Laute auf wie Nahrung. Diejenigen, die an ihn glauben, wollen noch mehr Anhänger gewinnen, aber es wird ihnen nicht gelingen, das Publikum zu überzeugen, weil sie nicht sachlich bleiben.

Raoul David Findeisen : Lu Xun hat den Ausdruck 'Genie' als Synonym für den 'wahren Menschen' verwendet, für den 'unabhängig handelnden Menschen', von dem er letztlich erwartet, er würde den Übermenschen verwirklichen. Nietzsche greift das Christentum an, während sich die Polemik von Lu Xun gegen die konfzianische Ethik und ihren ‚Kannibalismus’ richtet. Beide Protagonisten sind der Gleichgültigkeit und dem Spott ihrer Umgebung ausgesetzt. Beider Einsamkeit geht auf eine hoch entwickelte Sensibilität zurück, die bei Lu Xun unmittelbar als Wahnsinn gekennzeichnet erscheint.
  • Document: Findeisen, Raoul David. Vier westliche Philosophen in China : Dewey und Russell, Bergson und Nietzsche. In : Minima sinica ; 1 (1992). (Find1, Publication)
  • Person: Lu, Xun
  • Person: Nietzsche, Friedrich
19 1930 [Nietzsche, Friedrich]. Chao ren de yi mian : Nicai gei 'Madame O[tt] Louise' de qi feng xin [ID D18310].
Yu Dafu schreibt in der Einleitung : Der in seiner Reinlichkeit unbestechliche und in seiner Einsamkeit hartnäckige Nietzsche hat uns hier ganz wider Erwarten etwas wie die fu-Dichtung Pflaumenblüte von Song Guangping hinterlassen.

He Lin : Yu Dafu bewertet darin Nietzsches 'Eremitendasein' und seine 'Einsamkeit und Unbeugsamkeit'.
  • Document: Von der Kolonialpolitik zur Kooperation : Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen. Hrsg. von Kuo Heng-yü. (München : Minerva Publikation, 1986). (Berliner China Studien ; 13).
    [Enthält] : Yin, Xuyi. Zur Verbreitung des Marxismus in China. S. 451. (KUH7, Publication)
  • Person: Nietzsche, Friedrich
  • Person: Yu, Dafu
20 1932 Yu, Dafu. Dafu ri ji [ID D18313].
Yu Dafu schreibt : Dieses Mal [habe ich] ziemlich viele Bücher über den deutschen Philosophen Nietzsche mitgenommen, denn in seinem genialen und unglücklichen Leben finden sich einige wahrhaftig bewundernswerte Episoden, mit denen [ich mich] einmal eingehender beschäftigen möchte, um mit ihm als Protagonisten eine Erzählung zu schreiben.

Raoul David Findeisen : Das Projekt dieser Erzählung stellte Yu Dafu zurück, um an der Übersetzung der Rêveries du promeneur solitaire von Jean-Jacques Rousseau [Rousseau, Jean-Jacques. Les confessions de J.J. Rousseau, suivies des Rêveries du promeneur solitaire. (Geneve : [Sociététypographique] ; Lausanne : Grasset, 1782)]. weiterzuarbeiten. An diesem Werk mögen ihn nicht alleine die Motive der Kontemplation, der Einsamkeit und der Zivilisationskritik angezogen haben, sondern auch der Versuch, mittels des Begriffs der ‚moralité sensitive’ eine Ethik zu entwickeln, die ohne metaphysische Bezugssysteme auskommt. In der ‚moralité sensitive’ wird das emotionale Potential des Individuums der abstrakten Erkenntnis gegenübergestellt.
21 1934 Yu, Dafu. Jing de wen yi zuo pin [ID D18314].
Yu Dafu schreibt : Nietzsche und alle Avantgardisten riefen ausnahmslos dazu auf, die Bürger vor der Anbetung materieller Werte und ihren Geist vor dem Zerfall zu retten, und hoben die vulgäre und oberflächliche Natur der Zivilisation des Westens hervor.

Raoul David Findeisen : Für Yu Dafu steht bei Friedrich Nietzsche, Jean-Jacques Rousseau und anderen Autoren die Zivilisationskritik im Vordergrund. Er gibt entschuldigend zu bedenken, Jugend und Erwachsenenalter seien durch die Bande der Gewohnheit miteinander verknüpft und begründet auf diese Weise, bei seinen Präferenzen handle es sich ausnahmslos um 'reine' und 'unnütze' Werke. Von dieser ‚Weltfluchtliteratur’ werde er noch jedesmal berauscht, obwohl sich die Zeiten geändert hätten. Yu Dafu ist sich der Ambivalenz eines Rückzugs von der Welt bewusst und warnt die Jugend ausdrücklich vor den Gefahren solcher Literatur.
  • Document: Von der Kolonialpolitik zur Kooperation : Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen. Hrsg. von Kuo Heng-yü. (München : Minerva Publikation, 1986). (Berliner China Studien ; 13).
    [Enthält] : Yin, Xuyi. Zur Verbreitung des Marxismus in China. S. 450. (KUH7, Publication)
  • Person: Nietzsche, Friedrich
  • Person: Yu, Dafu

Sources (14)

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狂人日記
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4 1918 Mao, Dun. Yi jiu yi ba nian zhi xue sheng. In : Xue sheng za zhi ; vol. 5, no 1 (1918). [Betr. Friedrich Nietzsche].
一九一八年之學生
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魯迅随感录
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6 1919 Tian, Han. Shuo Nicai de 'Bei ju zhi fa sheng'. In : Shao nian Zhongguo ; vol. 1, no 3 (1919). [Versuch zu Geburt der Tragödie von Friedrich Nietzsche].
說尼采的悲劇之發生
Publication / Nie7
7 1919 Fu, Sinian. Sui gan lu. In : Xin chao ; vol. 1, no 5 (1919). [Betr. Friedrich Nietzsche].
隨感錄
Publication / Nie35
8 1921 Yu, Dafu. Chen lun : chuan zuo xiao shuo. (Shanghai : Tai dong tu shu ju, 1921). ['Versinken', 'Der Untergang' : Erzählung].
沉淪 : 創作小說
Publication / Nie41
9 1923 Guo, Moruo. Fei tu song. In : Chuang zao zhou bao ; no 5 (20.5.1923). [Loblied auf die Banditen ; Darwin, Nietzsche].
匪徒頌
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10 1923 Guo, Moruo. Lun Zhong-De wen hua shu. In : Chuang zao zhou bao ; no 5 (20.5.1923). [Friedrich Nietzsche].
論中德文化書
Publication / Nie42
11 1932 Yu, Dafu. Dafu ri ji. (Shanghai : Bei xin shu ju, 1935). [Geschrieben 1932].
郁達夫日記
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12 1934 Yu, Dafu. Jing de wen yi zuo pin. In : Huang zhong ; no 41 (15.1.1934). [Friedrich Nietzsche].
靜的文藝作品
Publication / Nie49
13 1938 Nicai zhe xue yu fa xi si zhu yi. Jingu yi. In : Li lun yu xian shi ; vol. 1, no 1 (1939). [Übersetzung von Kajt, L. Nicseanstvo i fasIzm. In : Unter dem Banner des Marxismus ; vol. 17, no 5 (1938). [Friedrich Nietzsche].
尼采哲學與法西斯主義
Publication / Nie50
  • Cited by: Von der Kolonialpolitik zur Kooperation : Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen. Hrsg. von Kuo Heng-yü. (München : Minerva Publikation, 1986). (Berliner China Studien ; 13).
    [Enthält] : Yin, Xuyi. Zur Verbreitung des Marxismus in China. (KUH7, Published)
  • Person: Jingu (Pseud.)
  • Person: Nietzsche, Friedrich
14 1988 Fu, Peirong. Xin ling de shu guang. (Taibei : Hong jian quan ji jin hui, 1994). (Xi fang xin ling de pin wei. Ren wen cong shu). [Abhandlung über Sokrates, René Descartes, Karl Marx, Friedrich Nietzsche].
心靈的曙光
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1 2000- Asien-Orient-Institut Universität Zürich Organisation / AOI
  • Cited by: Huppertz, Josefine ; Köster, Hermann. Kleine China-Beiträge. (St. Augustin : Selbstverlag, 1979). [Hermann Köster zum 75. Geburtstag].

    [Enthält : Ostasieneise von Wilhelm Schmidt 1935 von Josefine Huppertz ; Konfuzianismus von Xunzi von Hermann Köster]. (Huppe1, Published)