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“Österreichische Literatur in China” (Web, 1999)

Year

1999

Text

Zhang, Yushu. Österreichische Literatur in China. In : Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften ; Nr. 7 (1999).
http://www.inst.at/trans/7Nr/yushu7.htm. (ZhaYu1)

Type

Web

Contributors (1)

Zhang, Yushu  (Shanghai 1934-) : Professor für Germanistik, Fakultät für Germanistik, Beijing-Universität

Subjects

Literature : Occident : Austria : General / Translator

Chronology Entries (8)

# Year Text Linked Data
1 1919 Mao Dun ist der erste Übersetzer Arthur Schnitzlers und auch der Vermittler der österreichischen Literatur in China.
Zhang Yi : Mao Dun schätzte Arthur Schnitzler, weil er im Gegensatz zu vielen europäischen Kritikern, den gesellschaftskritischen Wert seiner Werke anerkannte, obwohl man vergeblich versucht hatte, ihn als Schriftsteller der Liebe und des Todes verächtlich zu machen und ihn als amoralisch verdammt hat.
  • Document: Zhang, Yi. Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Literatur in China von den Anfängen bis zur Gegenwart. (Bern : P. Lang, 2007). (Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft ; Bd. 5). S. 110-111. (ZhaYi2, Publication)
  • Person: Mao, Dun
  • Person: Schnitzler, Arthur
2 1929 Zhao Boyan, der Arthur Schnitzler in Wien besucht hat, übersetzt Liebelei und Reigen direkt aus dem Deutschen.
Im Vorwort von Reigen schreibt er : Da ich in Wien fast drei Jahre studiert habe, kenne ich einigermaßen die Sitten und Gebräuche der Wiener. Im Mai 1926 habe ich durch die Vermittlung von Prof. Castle, Professor für Theaterwissenschaft an der Wiener Universität, Schnitzler in seiner Wohnung in der Sternwartestraße 71 besucht, der damals schon 62 Jahre alt war. Er sagte mir, daß er seine medizinischen Kenntnisse noch nicht vergaß. Falls jemand in seiner Familie Unpäßlichkeiten wie Erkältungen hatte, pflegte er selbst dem Erkrankten den Pulsschlag zu messen und ein Rezept zu verschreiben. Er war sehr freundlich. Er sagte, unter seinen Besuchern aus dem Morgenland gab es Japaner, aber ich war der erste Chinese. Als er am 15. Mai seinen Geburtstag feierte, lud er mich zum Tee ein und erlaubte mir, seine Werke ins Chinesische zu übersetzen. Ich darf ihm hier meinen herzlichen Dank dafür aussprechen.
Er [Schnitzler] schreibt mit einer ernsthaften Haltung. Was die erotische Beschreibung betrifft, so zieht er die psychologische Beschreibung der realistischen Darstellung vor, im kritischen Moment benutzt er Zeichen der Auslassung, um durch Andeutungen der direkten Beschreibung ganz geschickt aus dem Weg zu gehen.
3 1931 Stefan Zweig erhält zu seinem 50. Geburtstag eine Bibliographie seiner Werke vom Insel-Verlag. Darin erfährt er von den chinesischen Übersetzungen seiner Werke. Er schreibt : Da lag, als Geschenk des Insel-Verlags zu meinem fünfzigsten Geburtstag gedruckt, eine Bibliographie meiner in allen Sprachen erschienenen Bücher und war in sich selbst schon ein Buch; keine Sprache fehlte, nicht Bulgarisch und Finnisch, nicht Portugiesisch, nicht Chinesisch und Maratti.
4 1943 Xu Chi. [Lobgesang auf Rilke]. In : Shi yu cao wen yi ; H. 1 (1943).
Xu Chi schreibt : Durch Rilke verstehe ich das Glück meiner Kindheit, das Glück der Liebe, die Liebenswürdigkeit der Frauen, Glück der Einsamkeit und erkenne ich den wertvollsten Teil meiner Gefühle…
Ohne Gefühle ist die Menschheit keine Menschheit mehr. Daher besang Rilke die gereinigten menschlichen Gefühle. Aber gerade deswegen könnte er ignoriert und sogar getadelt werden. Was er anstrebte, war nicht die reine Vernunft, was er besaß, waren reine Gefühle, reine und tiefe Gefühle. Falls das der Grund ist, warum Rilke ignoriert und getadelt wurde, dann würde er auch deswegen nach und nach immer mehr verstanden und geliebt werden ...
Wir denken an die größten Dichter des 20. Jahrhunderts, Lorca von Spanien und Rilke von Deutschland. Der erstere, der nicht über den spanischen Krieg geschrieben hat, wurde von Faschisten ermordet. Der letztere, der eine würdevolle ruhige Haltung zum Weltkrieg bewahrte, wurde seines Passports und seiner Müchener Wohnung beraubt, so daß er schrieb. ,Meine Aufenthaltserlaubnis wird in ein paar Tagen ablaufen... die bayerische Regierung begrüßt 'Fremde' nicht... Ich werde bald einen tschechischen Passport haben... wenn ich nach Paris komme, werde ich verhungern... die gleichen Schwierigkeiten hindern mich, nach Italien zu fahren ... Drei Jahre im Exil lassen seine würdevolle Ruhe reifen und er schrieb Die Duineser Elegien'. Das ist ein Teil seines Blutes, seines Blickes, seiner Geste, auch ein Teil der gereinigten menschlichen Gefühle, auch ein innerer, nicht zu entdeckender Teil im Körper unseres Lesers.
5 1957 Zweig, Stefan. Yi ge nü ren de 24 xiao shi [ID D13874]. [Vierundzwanzig Studen aus dem Leben einer Frau].
Zhang Yushu : In den 1950er Jahren wurden fast nur literarische Werke aus der Deutschen Demokratischen Republik übersetzt. Die Menschen in der DDR wurden in ihrer Literatur dargestellt wie Figuren auf einem Schachbrett, die nur dazu da sind, um eine ideologische Wahrheit zu beweisen, daher wirkten die Menschen wie Schatten oder Marionetten, ohn Blut und Fleisch, ohne eigenen Willen. Solche schablonenhaften, nach Etiketten geformten Helden, die aus lauter politischen Begriffen bestehen, können nicht Mitleid und Furcht erregen.
Die ausserordentliche Liebesgeschichte zwischen einer bürgerlichen Frau und einem adligen Spieler, der Selbstmord begeht, ist ein Motiv, das weder in der sozialistischen Literatur in China noch in der DDR-Literatur je behandelt wurde. Den Chinesen liegen diese bürgerlichen Gestalten wegen ihrer menschlichen Gefühlsregungen trotz ihrer Klassenherkunft viel näher als alle Helden, die zwar besungen werden mussten aber so unerreichbar hoch standen, so dass sie mehr wie revolutionäre Titanen der modernen Zeit auf uns herabschauen als mit uns das Schicksal teilen. Diese Frau ist ein normaler Mensch, hilfsbereit, gutherzig, mit edelmütigen Gefühlen und menschlichen Schwächen, ein Mensch wie wir alle. Diese Novelle ist so verschieden von der orthodoxen Vorstellung von der Literatur und deren erzieherischen Funktion, dass die linientreuen Literaturkritiker frustriert und verwirrt, die chinesischen Leser aber davon angetan waren.
  • Document: Zhang, Yushu. Stefan Zweig in China. In : East-West dialogue ; vol. 4, no 2-vol. 5, no 1 (2000). (Zwe78, Publication)
  • Person: Zweig, Stefan
6 1959 Feng, Zhi. Deguo wen xue jian shi [ID D11746].
Diese Literaturgeschichte ist bis anfangs der 1980er Jahre die einzige Geschichte der deutschen Literatur in China. Der Literatur der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz wird keine gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. In der Gegenwartsliteratur überwiegt die Literatur der DDR. Anerkannt wird die Aufklärung, die Klassik und der kritische Realismus, Kritik wird geübt an der Romantik und die Moderne wird abgelehnt.
Hermann Hesse, Thomas Mann, Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger werden als bürgerlich-fortschrittliche Schrifsteller charakterisiert. Peter Camenzind, Unterm Rad, Demina, Der Steppenwolf und Das Glasperlenspiel werden erwähnt. Die Philosophie von Friedrich Nietzsche wird als imperialistische Philosophie dargestellt. Von Heinrich von Kleist wird nur Der zerbrochene Krug, Das Erdbeben in Chili und Michael Kohlhaas von György Lukács ins Chinesische übersetzt, da sie den Sieg des Realismus beweisen sollten. Novalis wird als Hauptrepräsentant der reaktionären deutschen Romantik bezeichnet. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, E.T.A. Hoffmann und Stefan Zweig werden nicht erwähnt.

Feng Zhi schreibt : Nach Nietzsche (der Hauptverteidiger der Bourgeoisie in der Zeit des Imperialismus) hätte die Bourgeoisie noch brutaler das Volk unterdrücken und noch entschiedener den Sozialismus ersticken sollen. Was Literatur und Kunst betrifft, so befürwortet er ‘Kunst um der Kunst willen'. Kunst über alles', so daß die Schriftsteller der Dekadenz, die vor der Realität flüchten, nun mit gutem Gewissen ihren Weg fortsetzen können, weiterhin von der Realität abzuweichen, wobei sie irgendwie noch als Erneuerer und Reformer der Literatur und Kunst' zu sein wähnen... Geleitet von solcher Ideologie entsteht dann die Literatur des deutschen Symbolismus, dessen Hauptrepräsentanten Stefan George und Rainer Maria Rilke sind.
Die drei Wiener Meister, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig, an denen man kaum vorbeigehen konnte, wenn man die Literatur der Jahrhundertwende und die der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts behandeln will, werden unerklärlicherweise und ungerechterweise in diesem Buch mit keinem einzigen Wort erwähnt, als hätten sie in der Literaturgeschichte überhaupt nicht existiert...

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind die USA mit ihrer fortschreitenden Faschisierung der Kopf des imperialistischen Lagers, der Todfeind aller Völker der Welt geworden. Thomas Mann ertrug das politische Klima der McCarthy-Jahre nicht… und könne nicht in den USA weiter leben… Thomas Mann stammt aus der Bourgeoisie, die er aber unerbittlich aufgezeigt und kritisiert hat. In seinen späten Jahren kommt er zu der Einsicht, dass die bourgeoise Gesellschaft dem Untergang geweiht sei, dass eine Gesellschaft ohne Ausbeutung bestimmt kommen werde. 1946 schreibt er einen Aufsatz mit dem Titel Der Antibolschwismus ist die Grundtorheit unserer Epoche. In diesem Aufsatz bringt er seine Zuversicht zum Ausdruck, dass der Kommunismus unaufhaltsam siegen werde. [Siehe 1955 Huang Xianjun. Tuomasi Man]. Hier scheint Thomas Mann ein Vorkämpfer des Kommunismus zu sein. In Wirklichkeit ist er dies natürlich nicht, wie er selbst schreibt…
Dank der Buddenbrooks hat Thomas Mann seinen ruhmvollen Ruf erlangt. Dieser Roman ist einer der grössten Erfolge des deutschen kritischen Realismus. Obgleich dieser Roman eine Geschichte im Zeitraum der 1830er bis 1870er Jahre des 19. Jahrhunderts schildert, spiegelt er die Probleme der 1890er Jahre wider, in denen der Autor lebte… Thomas Buddenbrook und Hermann Hagenström repräsentieren zwei Typen der Bourgeoisie und zwei Perioden der kapitalistischen Entwicklung. Thomas Buddenbrooks Scheitern und Hagenströms Erfolg sind Anzeichen dafür, dass der Kapitalismus bereits seine letzte Entwicklungsphase angetreten hat, und dass die imperialistische Ära schon begonnen hat.

Er schreibt über Heinrich Heine, dass Deutschland : ein Wintermärchen unter dem Einfluss von Marx geschaffen worden sei. In diesem Werk habe er ein kommunistisches Ideal bekannt gegeben. Er weist darauf hin, dass Heine wegen seiner persönlichen Beschränktheit den wissenschaftlichen Sozialismus nicht wirklich erkannt und den Kommunismus mehr oder weniger missverstanden habe. Gleichzeitig behauptet er, dass Heine überzeugt sei, dass die zukünftige Welt dem Kommunismus gehöre.

Er schreibt über Friedrich Nietzsche : Er [Nietzsche] kritisiert auch die damaligen Verhältnisse und die bürgerliche Literatur und Kunst, aber nicht weil die bürgerliche Gesellschaft zu dunkel und zu faul, und die bürgerliche Literatur und Kunst zu sehr von der Wirklichkeit abgewichen und zu verkommen ist, sondern weil die Bourgeoisie noch nicht reaktionär genug und die bürgerliche Literatur und Kunst noch nicht dekadent genug ist. Nach Nietzsche hätte die Bourgeoisie noch brutaler das Volk unterdrücken und noch entschiedener den Sozialismus ersticken sollen. Was Literatur und Kunst betrifft, so befürwortet er "Kunst um der Kunst willen", "Kunst über alles", so dass die Schriftsteller der Dekadenz, die vor der Realität flüchten, nun mit gutem Gewissen ihren Weg fortsetzen können, weiterhin von der Realität abzuweichen, wobei sie irgendwie noch als "Erneuerer und Reformer der Literatur und Kunst" zu sein wähnen...

Er schreibt über Heinrich von Kleist : Sein politischer Standpunkt war konservativ, seine Ideologie reaktionär ; selbst der Reform, zu der die preussische Regierung unter der damaligen Situation gezwungen worden war, bot er hatnäckig Trotz. Das alles bewirkt, dass Kleist keinen Ausweg wusste und 1811 vor Verzweiflung Selbstmord beging. Einige seiner Dramen waren Schicksalstragödien, in denen die Ohnmacht der Menschen gegenüber dem Schicksal dargestellt wird. Und beeinflusst von der Erkenntnistheorie der Kantschen Philosophie, bildete sich bei Kleist allmählich eine dekadente und pessimistische Weltanschuung heraus. Er setzte die Vernunft herab und hielt die Instinkte und sexuellen Triebe für das Entscheidende… In der Zeit von 1808 bis 1910 verstärkte sich Kleists Neigung zum Nationalismus ; seine in dieser Zeit entstandenen Werke propagierten den Nationalismus, enthielten so im Ideengehalt und in der Kunst nichts Positives.

Gu Zhengxiang : Friedrich Hölderlin wird zum ersten Mal als grosser deutscher Dichter beschrieben und sein Leben und Werk werden ausführlich geschildert. Es wird darauf hingewiesen, dass er weder eindeutig der Klassik noch der Romantik zugeschrieben werden kann, da beide Strömungen in seinem Werk enthalten sind. Sein Roman Hyperion wird ausführlich beschrieben, aber es gibt nur kurze Beschreibungen über seine Lyrik.
  • Document: Zhang, Rongchang. Heinrich von Kleist aus chinesischer Sicht. In : Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive : Symposium 1991. (Berlin : Japanisch-Deutsches Zentrum, 1992). (Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin ; Bd. 12). (ZhaR2, Publication)
  • Document: Shu, Changshan. Die Rezeption Thomas Manns in China. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1994). (Trierer Studien zur Literatur ; Bd. 25). Diss. Univ. Trier, 1994. S. 96-97. (TM, Publication)
  • Document: Gu, Zhengxiang. Deutsche Lyrik in China : Studien zur Problematik des Übersetzens am Beispiel Friedrich Hölderlin. (München : Iudicium-Verlag, 1995). Diss. Univ. Tübingen, 1994. (GuZ7, Publication)
  • Document: Zhang, Yi. Rezeption der deutschsprachigen Literatur in China. T. 1-2. In : Literaturstrasse ; Bd. 1-2 (2000-2001). T. 1 : Vom Anfang bis 1949. T. 2 : 1949 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. S. 36. (ZhaYi1, Publication)
  • Document: Yang, Wuneng. Hermann Hesse-Rezeption in China. http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/wuneng.pdf. (Hes37, Web)
  • Person: Feng, Zhi
7 1979 Zweig, Stefan. Vier Erzählungen [ID D14136].
Zweig, Stefan. Schachnovelle.
Zhang Yushu : Die Veröffentlichung der Schachnovelle kurz nach der Kulturrevolution hat grosses Aufsehen in China erregt und die Nachfrage nach seinen Werken ist gross.
Schon in den fünfziger Jahren haben die chinesischen Leser durch die Romane von Willi Bredel und Anna Seghers die Greueltaten der Gestapo kennengelernt, in deren Schilderungen es sich mehr um physische Folterungen handelt. Da die meisten Helden aus "besonderem Material" gemacht worden sind, wie Stalin einmal auf einem Parteitag der KPDSU gepredigt hat, so ließen sie sich nicht einschüchtern und konnten auch unerträgliche Schmerzen ertragen und trotz aller Mißhandlungen und Folterungen standhaft bleiben. Viele schablonenhafte Schilderungen und formalistische Figuren, von denen wir schon längst die Nase voll hatten. Da zeigte uns Stefan Zweig in seiner "Schachnovelle" etwas anderes.
Diese Novelle unterscheidet sich von den übrigen antifaschistischen Erzählungen dadurch, dass es sich darin hauptsächlich um die seelischen Folterungen des Menschen handelt. Er ist nicht an der Oberfläche stehen geblieben, sondern in die Seele der Menschen eingedrungen. Für die sensiblen Menschen, für die Intellektuellen sind die geistigen Qualen noch unerträglicher als die physischen. Ausserdem sind die seelischen Folterungen auch viel raffinierter, sie treffen auch viel mehr leute, die, selbst wenn sie nicht ins Gefängnis geworfen, doch auch den unsichtbaren teuflischen seelischen Misshandlungen ausgesetzt sind. Die chinesischen Leser, die vor ein paar Jahren mehr oder weniger die ähnlichen Qualen erlitten hatten, waren besonders empfänglich für solche Beschreibungen. Es wurde keine Märchenwelt geschildert, es war eine Welt, die vor kurzem noch wie ein Alptraum auf uns drückte. Diese Realitätsnähe und Aktualitätsbezogenheit dieser Novelle hat mitgeholfen, daß sie in China zu einer populären Lektüre geworden ist. Dazu kam noch das tragische Schicksal des Verfassers, der sich im Jahre 1942 mit seiner Frau zusammen im Exil das Leben genommen hat. Mehr hat man in der Zeitung noch nicht zu lesen bekommen. Aber sein Selbstmord ist ja ein Beweis dafür, daß er ein Opfer der faschistischen Verfolgung war und daher das Mitleid der Leser verdienen sollte. Das Schicksal des Autors erinnert viele an das Schicksal derer, die ihnen nah standen und auch Opfer der Kulturrevolution geworden sind. Daraus wird ersichtlich, daß die chinesischen Leser damals unter solchen emotionellen seelischen Voraussetzungen diese Novelle gelesen und den Schriftsteller kennengelernt haben. Das war die erste Begegnung der Chinesen mit Stefan Zweig, nach einer langen Unterbrechung.

Zweig, Stefan. Der Brief einer Unbekannten [ID D14136].
Zhang Yushu : Besonders warm aufgenommen wurde diese Novelle. Dass sie als eine Lieblingslektüre begrüßt wurde, ist aus vielen Gründen zu erklären : Jahrelang wurde Liebe, Gefühlsregung, Zuneigung und Zärtlichkeit in China als bürgerlich oder dekadent abgestempelt und galt als Tabu, als ob die Revolutionäre nur eine Art von Gefühlen kennten, nämlich Klassenhaß und Klassenliebe und proletarischen Revolutionselan.
Man feierte nun die geistige Befreiung der menschlichen Gefühle und fühlte sich von der Heldin dieser Erzählung angezogen, weil sie in vieler Hinsicht dem Frauenideal der Chinesen entspricht. Sie weist wertvolle Wesenszüge auf : Charakterstärke trotz der körperlichen Zartheit, Selbstlosigkeit und absolute Hingabe in der Liebe, aussergewöhnliche Selbstachtung und eine stoische Willenskraft, womit sie alle Demütigungen und Schicksalsschläge im Leben ertragen hat.
  • Document: Zhang, Yushu. Stefan Zweig in China. In : East-West dialogue ; vol. 4, no 2-vol. 5, no 1 (2000). (Zwe78, Publication)
  • Person: Zweig, Stefan
8 1986 Zhang, Yushu. Seelenleben - Terra inkognica : die Akzeptanz von Stefan Zweig in China nach der Kulturrevolution. In : Börsenblatt ; Nr. 20 (1986).
Zhang schreibt : In ‘Ungeduld des Herzens’ setzt er den Wesenszug seiner Meisternovellen wie ‘Brief einer Unbekannten’, ‘Schachnovelle’ und ‘Amok’ fort, indem er im Verzicht auf eine große Palette von Gestalten, einen breiten Hintergrund, eine ganze Reihe von farbenprächtigen, pittoresken Sittenbildern und komplizierten, verwickelten Handlungen, die das Interesse der Leser erregen, mit heftigen, wilden, inneren Kämpfen, seltsamen, unberechenbaren Ebben und Fluten der Gefühle, also mit tiefschürfenden, stürmischen Veränderungen und tiefgehenden scharfen Konflikten in der inneren Welt des Menschen versucht, die Leser zu faszinieren und zu reizen.
Stefan Zweig zeigt uns, wie der Einfluß der äußeren Umgebung die stürmischen Wogen und Brandungen im Herzen des Helden erregt und wie Ebbe und Flut der inneren Welt die Gefühle, Handlungen und seelischen Krisen der Helden beeinflussen, die schließlich zum tragischen Schicksal dieses jungen Paares führte. Die Vernachlässigung des seelischen Lebens hat zwangsläufig die Schwarz-Weiß-Malerei zur Folge, eine Tendenz, die in der chinesischen Literatur eine Zeitlang grassierte. Die Kunst des Erzählers besteht nicht darin, unbedingt einen Engel und einen Teufel zu erfinden. In den Werken von Zweig findet man den Spruch von Goethe bestätigt: ,Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.' Das Dämonische und das Menschliche, ja sogar das Übermenschliche, das Gemeine und das Erhabene existieren in den Figuren von Zweig oft parallel zueinander. Es sind keine eindimensionalen Schatten, sondern lebendige Menschen aus Fleisch und Blut. Kein Wunder, daß man seine Werke als wirksame Heilmittel gegen die Schwarz-Weiß-Malerei betrachtet.
Ein anderer Faktor, der die Werke von Stefan Zweig bei den Chinesen beliebt macht, ist der poetische Hauch, der durch sein Werk geht und vor allem über seinen Frauengestalten schwebt. Das kommt bei chinesischen Lesern gut an, die, durch ihre klassische Literatur und Malerei geschult, immer eine Zuneigung zum Poetischen und Lyrischen haben.

Sources (9)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1927 [Zweig, Stefan. Die Gouvernante]. Geng Jizhi yi. Übersetzung von Zweig, Stefan. Die Gouvernante. In : Zweig, Stefan. Erstes Erlebnis : vier Geschichten aus Kinderland. (Leipzig : Insel-Verlag, 1911).[Bibliographische Angaben nicht gefunden]. Publication / Zwe76
2 1929 [Zweig, Stefan. Geschichte in der Dämmerung] Geng Jizhi yi. In : Xiao shuo yue bao (1929). Übersetzung von Zweig, Stefan. Geschichte in der Dämmerung. In : Zweig, Stefan. Erstes Erlebnis : vier Geschichten aus Kinderland. (Leipzig : Insel-Verlag, 1911). Publication / Zwe77
3 1932 [Schnitzler, Arthur. Der Tod des Junggesellen]. Shi Zhecun yi. (1932). Übersetzung von Schnitzler, Arthur. Der Tod des Jungesellen. In : Schnitzler, Arthur. Masken und Wunder : Novellen. (Berlin : Fischer, 1912). [Keine bibliographischen Angaben gefunden]. Publication / Schni20
4 1932 [Schnitzler, Arthur. Die Frau des Weisen]. Shi Zhecun yi. (1932). Übersetzung von Schnitzler, Arthur. Die Frau des Weisen : Novelleten. (Berlin : S. Fischer, 1897). [Keine bibliographischen Angaben gefunden]. Publication / Schni21
5 1986 [Schnitzler, Arthur]. Yi li zuo jia de yi shu. Zhang Yushu yi. In : Dang dai wai guo wen xue ; no 4 (1986). Übersetzung von Schnitzler, Arthur. Der letzte Brief eines Literaten. ([S.l. : s.n.], 1917).
位作家的遗书
Publication / Schni26
6 1987 Lin di ji : xian dai shi xuan. Lü Yuan yi [et al.]. (Beijing : Ren min wen xue chu ban she, 1987). [Ausgewählte moderne Gedichte]. [Enthält] : Duineser Elegien und Das Stundenbuch von Rainer Maria Rilke ; Ingeborg Bachmann, Günther Eich, Gertrud Fussenegger, Christine Busta, Thomas Sessler, Alfred Gesswein, Ernst Schönwiese, Hugo Huppert, Hedwig Katscher, Wilhelm Szabo.
邻笛集 : 现代诗选
Publication / Ril9
7 1990 [Schnitzler, Arthur]. Yi li zuo jia de yi shu. Zhang Yushu yi. In : Dang dai wai guo wen xue ; no 4 (1986). Übersetzung von Schnitzler, Arthur. Der letzte Brief eines Literaten. ([S.l. : s.n.], 1917).
位作家的遗书
Publication / Schni28
8 1991 Wai guo shu qing shi shang xi ci dian. Zhang Yushu zhu bian. (Beijing : Beijing shi fan xue yuan chu ban she, 1991). [Anthologie und Interpretationen ausländischer Dichter.
[Enthält] : 63 deutschsprachige Autoren, davon 7 Autorinnen]. [Enthält] : Hölderlin, Friedrich. Sonnenuntergang, Hälfte des Lebens. Zhao Qianlong yi ; Hyperions Schiksaalslied, Heidelberg, Andenken. Yang Yezhi yi.
外国抒情诗赏析辞典
Publication / ZhaYu4
  • Cited by: Gu, Zhengxiang. Deutsche Lyrik in China : Studien zur Problematik des Übersetzens am Beispiel Friedrich Hölderlin. (München : Iudicium-Verlag, 1995). Diss. Univ. Tübingen, 1994. (GuZ7, Published)
  • Cited by: Zhang, Yi. Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Literatur in China von den Anfängen bis zur Gegenwart. (Bern : P. Lang, 2007). (Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft ; Bd. 5). (ZhaYi2, Published)
  • Cited by: Worldcat/OCLC (WC, Web)
  • Person: Hölderlin, Friedrich
  • Person: Yang, Yezhi
  • Person: Zhang, Yushu
  • Person: Zhao, Qianlong
9 1991 [Schnitzler, Arthur. Lieutenant Gustl : ausgewählte Erzählungen und Novellen]. Cai Hongjun yi. (Hefei : Anhui wen yi chu ban she, 1991). Übersetzung von Schnitzler, Arthur. Lieutenant Gustl : Novelle. (Berlin : S. Fischer, 1901). Publication / Schni29