1994
Publication
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1 | 1919-1924 |
Anna Seghers studiert Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie an den Universitäten Köln und Heidelberg. Sie schreibt : Dann lasen wir Bücher, die über Chinesen und von ihnen geschrieben waren. Wir sahen Skulpturen und Bilder in Deutschland und im Ausland. Wir fanden Lehrer, die leidenschaftlich die Selbständigkeit der Kunst Chinas verteidigten. Sie stritten mit Kunsthistorikern, die in der Antike Europas den einzigen Ursprung künstlerischer Gestaltungskraft erblickten… Sie trauten der Phantasie des gewaltigen Volkes keine eigene Ausdruckskraft zu… Wir waren vom Märchen zur Wissenschaft übergegangen. So glaubten wir wenigstens… Hinfahren konnten wir nicht. Es war für uns schwer mit der [chinesischen] Wirklichkeit in Berühung zu kommen. Es war schwer, aber nicht unmöglich… Bald kamen wir in Deutschland selbst mit jungen chinesischen Menschen zusammen… Sie waren dem Tod entronnen und lebten eine Zeitlang in unserer Mitte, um ruhig zu studieren… Unsere Freunde fuhren als Lehrer zurück in die roten Provinzen im Süden. Es war eine gefährliche, vielleicht oft tödliche Heimkehr. Sie traten sie aber so kühn und hoffnungsvoll an, als sei ihre Reise leicht und froh… |
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2 | 1932 |
Seghers, Anna. Kleiner Bericht aus meiner Werkstatt. In : die Linkskurve ; Nr. 9 (1932) Albrecht Richter : Dieser, in Form eines Dialoges zwischen der Autorin und einer chinesischen Genossin geschriebene Bericht entstand in Reaktion auf die kultur- bzw. literaturpolitischen und literaturtheoretischen Debatten zu Fragen der Umsetzung der vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller vertretenen Literaturlosungen in die literarische Praxis und beinhaltet gewissermassen eine Zusammenfassung der Auffassungen Anna Seghers zu dieser Problematik. |
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3 | 1932 |
Seghers, Anna. 1. Mai. Yanshuhpou. In : Die rote Fahne ; Nr. 94 (1932). Albrecht Richter : Es ist eine Tatsache, dass in dieser Reportage im Zusammenhang mit den organisatorischen Vorbereitungen der Maifeier in Shanghai, die für Anna Seghers selbst bedeutsame Frage der Bündnisbereitschaft von Kommunisten gegenüber nichtorganisierten „Unpolitischen“ angesprochen wird. Die Autorin lässt Zin-San, Delegierter der roten Gewerkschaft u.a. sagen : „Wo noch gar keine Roten sind, sprechen wir einzeln… Nicht zu scharf. Nicht abschrecken ! Wir können nichts befehlen“. Die Hauptfigur Zin-San besitzt jene Züge, die die Autorin als vorbildhaft und im revolutionären Befreiungskampf für unabdingbar erachtet : Härte, Disziplin, Entschlossenheit. Es ist nicht das Exotische oder der Reiz des Fremden, das die Darstellung des „Chinesischen“ bzw. der Chinesen prägt, sondern die internationale Idee des Klassenkampfes. |
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4 | 1932 |
Seghers, Anna. Der Führerschein. In : Die Linkskurve ; Nr. 6 (1932). Segehrs schreibt : Die Blicke der Offiziere auf seinem Rücken, die Pistolen gegen seine Stirn kontrollierten all seine Bewegungen, aber die furchtbare Anstrengung hinter der Stirn entging ihnen, der Auftrag und der Kampf mit dem Entschluss. Sie hatten die Balustrade gerade passiert, den Strom schon unter sich. In diesem Augenblick begriff der Chauffeur Wu Pei-li, was von ihm verlangt wurde. Er drehte bei und fuhr das Auto mit den drei Generalstäblern, den beiden Zivilisten und sich selbst in einem kühnen, dem Gedächtnis der Masse für immer eingebrannten Bogen in den Jangtse. Albrecht Richter : Die Figur des Chauffeurs Wu Pei-li, der mit anderen, den japanischen Besatzern verdächtig erscheinenden Zivilpersonen im Keller eines requirierten Hauses in Tschapei zusammengetrieben und eingesperrt worden war, verfügt über keine individualisierten Züge. Es ist vielmehr das Sendungsbewusstsein der revolutionären Avantgarde, d.h. der persönliche Entschluss zum Kampf und die Bereitschaft, für die Erfüllung des politischen Auftrages, das eigene Leben zu opfern, was ihn über den Personenkreis der mit ihm Verhafteten heraushebt, wobei ihn der Besitz eines Führerscheines für das Bevorstehende prädestiniert. |
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5 | 1933 |
Seghers, Anna. Die Gefährten : Roman. (Berlin : Kiepenheuer, 1932). = [Mit Vorwort] : (Berlin : Aufbau-Verlag, 1949). Seghers schreibt : Am 3. November 1927 übergaben die Unterzeichneten ihren Sohn dem Kinderheim. Sie überlassen das Kind dem Staat zur Pflege und Erziehung und zur späteren Verwendung nach seinen Fähigkeiten… Auf den Tribünen erklärten die Funktionäre der Tschiang-Kai-Schek-Armee [Chiang Kai-shek] den neuen Feldzug [gegen die roten Provinzen]. Liau Yen-kai beobachtete die Soldaten. Ihre stumpfen, ledernen Gesichter schienen mit den Uniformen aus einem festen Stoff geschnitten. Der letzte Feldzug war an der Unzuverlässigkeit der Soldaten gescheitert. Sie waren wild geworden, auseinandergefallen, als sie die Sowjetfahnen und Inschriften beim Einzug in die von ihnen selbst eroberten Dörfer erblickten… In der Nacht auf den 5. Juni waren Soldaten und Offiziere, einer wie der andere, so straff wie nie, hellwach, bis zum Äussersten gespannt. Das Feuer begann, wie es festgesetzt war, um vier Uhr fünfunddreissig Minuten. Nur dass die Soldaten ihre Gewehre auf die Minute drehten und über die Offiziere hinweg gegen den Norden stürmten, hinter sich das bewaffnete Bauernheer… Albrecht Richter : Die Autorin verwendet bei ihrer Darstellung bestimmte imagotype Vorstellungen über das Wesen der Chinesen und deren Volkscharakter, um sie am Ende ad absurdum zu führen. Die zentrale Figur Liau Yen-kai, der Revolutionär, dem politisches Bewusstsein und kollektives Denken schon so weit in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass ihm familiäre Bindungen kaum noch etwas bedeuten, ist ohne sichtliche emotionale Bewegtheit bereit, sich für unabsehbare Zeit von seinem Kind zu trennen, um so besser seinen „Klassenauftrag“ erfüllen zu können… Elemente des China-Bildes Anna Seghers enthalten mehr Darstellungen von männlichen Figuren als von weiblichen. Ihr innerer Streit zwischen politisch-ideologischer Konsequenz des Handelns und durch weiblich-mütterliche Gefühle motivierte Reserviertheit gegenüber dieser Konsequenz. Sie stellt die chinesischen Figuren mit ihren zwischenmenschlichen Beziehungen weitaus differenzierter und emotionaler dar als in der früheren Zeit. Das Eigene, das Deutsche, das durch die Pointe plötzlich als Befremdliches erscheint, wird vom Fremden, den Chinesen, assimiliert und somit im positiven Sinne aufgehoben. Das Fremde stellt sich demnach als Hoffnungsträger für Eigenes dar. Anna Seghers versucht in ihren „chinesischen“ Texten, über die Verlagerung des Handlungsgeschehens in den chinesischen Stoffbereich zu Lösungen zu gelangen, in denen sie durch Transposition / Translokation Alternativen für die Bewältigung eigener Konflikte und Probleme zu finden glaubt. Ihre chinabezogenen imagotypen Vorstellungen bilden das verbindende Element zwischen Fremdem und Eigenem. Sie schreibt den Chinesen jene Eigenschaften, Ansichtungen, Haltungen etc. zu, die sie in ihrem persönlichen Selbstfindungsprozess für erstrebenswert hält. |
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6 | 1933 |
Seghers, Anna. Die Stoppuhr. In : Deutsche proletarische Erzählger. (Charkow, Kiew : Staatsverlag der Nationalen Minderheiten der UdSSR, 1933). Albrecht Richter : Die revolutionäre Aktion ist nicht die spontane Tat eines einzelnen, sondern eine organisierte Massenaktion. Es entsteht der Eindruck, dass die hier von einer ganzen Armee getroffene Entscheidung nicht primär an das persönliche Ermessen bzw. den individuellen Entschluss gebunden ist, sondern folgerichtiges, zwangsläufiges Resultat objektiver Gesetzmässigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt. Der deutsche Major, der unter dem Kommando des Generals Hans von Seeckt im Auftrag seiner Regierung im Dienst des Guomindang-Generals Chiang Kai-shek steht und den Auftrag hat, die roten Provinzen Südchinas zu unterwerfen sagt : Aus einer Herde haben wir, wie wir es Ihnen versprachen, mit der Stoppuhr eine Armee gemacht. Die Stoppuhr verkörpert hier deutsche Pünktlichkeit, Gründlichkeit und steht für drillhaftes Preussentum, für militärisch ausgerichtete Zucht und Ordnung. Gemeint ist General Yueh, der bei einer Inspektionsreise angesichts der so vorzüglich ausgerüsteten und nach preussischem Vorbild exerzierenden chinesischen Truppen seine Verblüffung nur mit Mühe verbergen konnte. Die hier beschriebene innenpolitische Situation in China anfangs der 1930er Jahre, speziell die drei Offensiven der Nanjing-Armee gegen die Rote Armee, die hier den Stoff für diesen Text bildet, finden in einem authentischen Bericht aus dem Jahre 1931 folgende Einschätzung : „Die Nankinger Regierung kommt nicht gegen die sowjetischen Gebiete an, mag sie von noch so vielen imperialistischen Mächten allseitig unterstützt werden. Die von Tschiang Kai-Schek [Chiang Kai-shek] grossspurig angekündigten Feldzüge gegen die Sowjetgebiete scheitern einer nach dem anderen. Die Kuomintangleute [Guomindang] denken jedoch nicht daran, die Waffen zu strecken. In nächster Zukunft sind neue Feldzüge gegen die befreiten Gebiete zu erwarten.“ |
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7 | 1933 |
Seghers, Anna. Der Last-Berg : dem Chinesen der Shui-Kiang nacherzählt. In : Die rote Fahne ; Nr. 10 (1933). = Seghers, Anna. Erzählung der Lan-si aus She-Lu. In : Der erste Schritt : Erzählung. (Berlin : Aufbau-Verlag, 1953). Albrecht Richter : In dieser Anekdote wird das Elend eines chinesischen Lastträgers durch dessen Schicksalsgemeinschaft mit einem gejagten Hund herausgestellt, um daraus die Unwürdigkeit und Grausamkeit der sozialen Verhältnisse im „alten“ China sichtbar zu machen. Beide, Hund und Lastträger, befinden sich an der unteren Grenze des Existenzminimums. Um sich am Leben erhalten zu können, sind sie gezwungen, zu stehlen, der Hund, bzw. eine Arbeit zu verrichten, die die Kraft eines Menschen übersteigt : das Schleppen eines Lastberges, der Lastträger. Die Tragik dieser literarischen Symbolfiguren liegt nun darin, dass sie beide im Kampf um ihre physische Existenz ihr Leben lassen müssen. |
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8 | 1943-1944 |
Seghers, Anna. Chinas Schlachtgesang : Betrachtungen zum Buch von Agnes Smedley. In : Alemania libre, Mexico ; no 3 (1943/44). Seghers schreibt : Das Buch ist auch nie entrückt oder enfremdet durch die Ereignisse dieser Tage, die jedes nebensächliche Thema ausschalten würden. Die Fragen des Buches sind nur noch brennender geworden, jetzt wo alle Fragen um die zweite Front gerade uns Europäer zutiefst beunruhigen. Denn, wo ein wesentliches Thema angeschlagen wird, kann es wohl eine zeitlang beschattet werden, aber es muss in den entscheidenden Momenten in aller Klarheit und Schroffheit wieder zu Tage treten. Ein solches Thema ist China : Die erste grandiose Episode im Weltkrieg gegen den Faschismus, da vielleicht jetzt die entscheidende letzte begonnen hat… Auf mich, die ich das Land [China] nicht kenne, hat das Buch gewirkt wie ein Niederschlag des Gefühls, das die Smedley bewegte, als sie am Tage der Kriegserklärung an Japan die chinesischen Massen an sich vorbeiziehen sah. Ich war nie fähig, den Eindruck völlig wiederzugeben, den sie auf mich machten… [Veränderter Text aus Verwirklichung] : Die Kuomintang [Guomindang] war längst zum Werkzeug der alten Feudalfamilien und neuen Bankiers geworden. Agnes Smedley zeigte das ganze widerliche Gemisch von Feudalismus und Kapitalismus. Sie schilderte ihren Besuch in einem vornehmen Gutshaus. Die Töchter gehen auf die amerikanische Schule. Das Tischgespräch ist englisch. Es klirrt dabei aus einer Ecke der weiten, düsteren Halle. Das sind die Ketten gefangener Bauern, die dieser Gutsherr der Polizei übergibt, weil sie mit der Pacht im Rückstand liegen… Albrecht Richter : Leseerlebnis und die eigene Beziehung zu China und seinen Menschen aktivieren hier jene Elemente des China-Bilder von Anna Seghers : die starke Affinität der Autorin zu China und „Chinesischem“, die Bewunderung für die chinesischen Menschen angesichts ihrer „revolutionären Geschlossenheit“ und die Fasziniertheit von der Grossartigkeit und Ursprünglichkeit dieses fernen Landes… ihr unvermindert starkes Interesse an China, insbesondere an dessen innen- und aussenpolitischer Situation… Die in diesem Text nachweisbare Parteinahme Anna Seghers für die Schwachen, Entrechteten und Armen, ermöglicht eine Re-Transformation des Kontrastes Arm / Reich auf das Verhältnis Eigenes / Fremdes und legt als ihre weltanschauliche Botschaft folgendes frei : Hinter äusserlicher Zivilisiertheit und Kultur der Reichen verbirgt sich grausame Menschenverachtung. Inhumanes, Barbarisches erscheinen als Bestandteile feudalistischer, kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen. |
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9 | 1948 |
Seghers, Anna. Wiedersehen mit Gefährten : Vorwort zum Roman „Die Gefährten“. (Berlin : Aufbau-Verlag, 1949). Seghers schreibt : Der Chinese Liau Yen-Kai hat wahrscheinlich den berühmten ‚Grossen Marsch’ mitgemacht, den beinahe mythischen Marsch der chinesischen Volksarmee. Tschiang Kai-Schek [Chiang Kai-shek], unterstützt von deutschen Offizieren, wollte sie abschneiden ; doch bei Nacht setzte die Volksarmee heimlich über den Jangtse und erreichte Nordchina in einem unvorstellbar schweren, zwei Jahre langen Marsch durch Eis und Hitze, über Ströme und tibetanische Berge, in kühner Umgehung feindlicher Provinzen. Sie hat dann ihre unbändige Kraft gegen Japan mit eingesetzt. Jetzt versucht Tschiang Kai-Schenk [Chiang Kai-shek] nach dem gemeinsamen Sieg über Japan nachzuholen, was ihm vorher missglückt war, die auszumerzen, die er für seine innere Feinde hält, doch dieses Nachspiel ist noch nicht zu Ende… Wir sahen sie [die chinesischen Gefährten] vor uns, wie sie einmal mit uns gelebt hatten : lernend und singend, fröhlich und kühn, strahlend jung. Wenn sich die Legenden und Sagen aus China einmal durch ihr Zeugnis verwirklicht hatten, so geschah jetzt das Umgekehrte : Die Menschen, die wir in Wirklichkeit kannten, wurden zu sagenhaften Gestalten. |
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10 | 1950 |
Seghers, Anna. Überbringung des neuen Programmes an das Südkomitee. In : Die Linie : drei Erzählungen. (Berlin : Aufbau-Verlag, 1950). Seghers schreibt über den chinesischen Bürgerkrieg 1927-1949 : Sie [die Polizei] griff besonders präzis und scharf zu, seitdem Tschiang Kaischeck [Chiang Kai-shek] auch deutsche Beamte und Offiziere nach China gerufen hatte, um bei der Umschulung seiner Armee zu helfen. Er plante den entscheidenden Vorstoss gegen die roten Provinzen, die sich südlich des Jangtse bildeten… Die Sovjetprovinzen schwammen wie Quallen im Süden Chinas. Denn sie veränderten fortwährend ihre Gestalt, wenn die Regierungstruppen eindrangen. Es glückte manchmal den abgetrennten Gebieten, wieder mit dem Hauptkern zusammenzuschmelzen, und Gutsbesitzern und reichen Kaufleuten glückte es, aus roten Gebieten zu entkommen. General Seeckt aus Deutschland half jetzt mit seinem ganzen Stab bei der Vorbereitung des entscheidenden Schlages. Die Mündung des Jangtse war von Kanonenbooten besetzt… Das Zentralkomitee war in einem kleinen Haus auf einem Gut nordwestlich von Ho-schan versammelt, um das neue Programm zu bestätigen, das Liau Han-sin dem Südkomtee überbringen sollte. Albrecht Richter : Möglicherweise wurde Seghers dadurch motiviert, dass die ostdeutschen Medien ausführlich und mit klarer Parteinahme für die Volksbefreiungsarmee und die KPChina über alle politisch-ideologisch verwertbaren Ereignisse des chinesischen Bürgerkrieges berichteten. Das neue Programm hat folgende Änderungen : Zwangsenteignung der Grossgrundbesitzer, Verstaatlichung kleiner Geschäfte und Werkstätten nur dann, wenn nicht mehr als fünf Angestellte mitarbeiten, Volksfeind ist nur noch jener, der der Guomindang beträchtliche Dienste geleistet hat. |
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11 | 1950 |
Seghers, Anna. Den Toten zum Gedenken : zur Eröffnung des II. Deutschen Schriftstellerkongresses 1950. Seghers schreibt : Liebe Freunde ! Bevor wir in unserer Arbeit weitergehen, wollen wir der toten Freunde gedenken, ohne die diese Arbeit nicht denkbar ist und die immer bei uns waren und bei uns bleiben werden durch ihre Ideen und durch das Leben, das sie in diesem Geiste geführt haben… Lassen Sie uns auch an Agnes Smedley denken. Agnes Smedley, vielleicht einer der begabtesten und aufrechtesten Frauen unserer Epoche, eine Frau, die, seit sie vor vielen Jahren als Berichterstatterin von der Frankfurter Zeitung, um einige journalistische Arbeiten nach Hause zu schicken, nach China gegangen ist, sich dort derartig mit dem Beobachten des Fremden, mit dem fremden Volke und den allerbesten Eigenschaften dieses Volkes und seinen grossen Repräsentanten verbunden fühlte, dass sie einen grossen Teil ihres Lebens dort zugebracht hat und dem glorreichen chinesischen Volk eine Interpretin im Auslande und eine Schriftstellerin für das chinesische Volk in englischer Sprache geworden ist. Ihre Bücher sind jetzt ins Deutsche übersetzt worden. Wenn Sie diese Bücher lesen, so sehen Sie in jeder Zeile das Beispiel, wie ein Mensch, der aufrecht in seiner Gesinnung ist und der unermüdlich seiner Gesinnung folgt, schreibt, sich ausdrückt, lebt. |
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12 | 1951 |
Seghers, Anna. Verwirklichung. In : Seitz, Gustav. Studienblätter aus China [ID D14453]. Anna Seghers reist mit einer Delegation der Weltfriedensbewegung nach China. Sie schreibt über diese Chinareise : Ich wünschte mir, als ich noch ein Kind war, hier [in China] einmal anzugelangen. Ich hatte ein paar Märchen und Gedichte gelesen, die mir vorkamen wie Gedichte und Bilder in einem. Ich fragte mich, was sind das für Menschen, die ihre Gedanken mit Tusche und Pinsel in solchen Schriftbildern ausdrücken können ? Ich weiss nicht mehr genau, was ich mir unter diesem Land vorgestellt habe. Ich glaubte beinah, gemalte Pferde könnten dort, wie in einem Märchen, aus den Bildern herausspringen… Bei dieser Reise, auf der wir das Land zum erstenmal mit unseren eigenen Augen sahen, war alles zusammengekommen, was wir als Kinder und als Erwachsene liebten. Die Kraft des Volkes, die sich in seinem Staat und in seiner Kunst offenbart, in seinen Gesetzen und seinen Liedern, in seinen Gesichtszügen und in seinen Schriftzeichen, drang jede Sekunde in uns ein. Die Mauern des Mittelalters waren gefallen und auch die Mauern, die den Traum von der Wirklichkeit trennten. Alles hat die Befreiung endgültig zusammengeschmolzen und zu dem gemacht, was es sein muss : zum Besitz eines grossen Volkes… Gustav Seitz hat sein Skizzenbuch wie ein Tagebuch auf unserer Reise gehandhabt. Er hat darin die Gesichter und Landschaften eingetragen, die wir alle lieben… Jetzt hat er mit eigenen Augen das Volk gesehen, seine Menschen und ihre Landschaft, seine Erscheinungsformen, die ebenso jung wie alt sind, ebenso einfach wie erhaben, ebenso bescheiden wie stolz durch die kühn durchlebte Geschichte. In jener vergangenen Zeit schickt die Frankfurter Zeitung eine junge Reporterin auf ihre erste Auslandsfahrt nach China [1934-1937]. Die Reporterin hiess Agnes Smedley. Sie hat vielen Menschen in Deutschland durch ihre Schilderungen zum erstenmal einen Begriff von dem gegeben, was im modernen China in Wirklichkeit vorging. Die Kuomintang [Guomindang] war längst zum Werkzeug der alten Feudalfamilien geworden. Agnes Smedley zeigte das ganze widerliche Gemisch von Feudalismus und Kapitalismus… Was uns damals in Berlin chinesische Studenten erzählten, das illustrierte uns jetzt [1951] bei unserem Besuch in China die Ausstellung der Geschichte der Arbeiter von Shanghai. Der Abdruck eines blutigen Schuhs stand wie ein Stempel auf dem zerfetzten Aufruf, mit dem die Partei damals in den finsteren Tagen den Ihren Mut zusprach und zusammenhielt… Das war auch die Antwort auf die Frage meiner Kindheit : Was sind das für Menschen, die ihre Gedanken in solchen Schriftbildern ausdrücken ?... Albrecht Richter : Der alte Traum Anna Seghers vom neuen, befreiten Menschen, dessen Leben immer auch mit Kampf, Härte, Disziplin, Opferbereitschaft etc. verbunden war, hatte sich angesichts der erlebten Realität des Neuen Chinas in ihren Augen verwirklicht. Es fügt sich in ihr Weltbild ein, dass sie den Sieg der Kommunistischen Partei Chinas, der Roten Befreiungsarmee und der revolutionären Massen über den inneren und den äusseren Feind als ein Ereignis preist… In der ersten Phase ist Anna Seghers geprägt von einer starken Sehnsucht nach dem Wunderbaren und dem Aussergewöhnlichen. In der zweiten Phase ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit chinesischer Sprache, Philosophie, Religion und Kunst ausschlaggebend. Es kommt zur Herausbildung eines dem damaligen Stand der Sinologie in Deutschland entsprechenden wissenschaftlich fundierten China-Bildes. In den 1930er Jahren dominiert ein Menschen-Bild, welches sie mit Elementen des „Chinesischen“ ausstattet : Unerbittliche Härte, kompromisslose Disziplin sich selbst und anderen gegenüber, Opferbereitschaft bis zur Selbstaufgabe und Pflichtbewusstsein. In Krisensituationen wählt sie China wiederholt als Handlungsort… Die publizistischen China-Texte Anna Seghers in den 1950er Jahren wenden sich an Intellektuelle, Kunst- oder Politikinteressierte und Bauern, während die Erzählungen für ein breites Publikum geschrieben sind. Die Erweiterung dieses Leserkreises und die Konfrontation mit der deutschen Nachkriegswirklichkeit löst bei ihr zunächst Verunsicherung, Zweifel und schliesslich das Gefühl von Fremdheit im eigenen Land aus. |
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13 | 1951 |
Seghers, Anna. Die verlorenen Söhne. In : Seghers, Anna. Die Kinder : drei Erzählungen. In : Berlin : Aufbau-Verlag, 1951. Albrecht Richter : Teh Cheng-li gehört zu jenen chinesischen Figuren von Anna Seghers, die bereit sind, für die ‚grosse gemeinsame Sache’, der Klassenkampf, bzw. der Aufbau des Kommunismus, individuelles Glück, ihre Familie und die Verantwortung für sie sowie das eigene Leben zu opfern. Das Verlassen der mutterlosen Kinder durch den Vater infolge dessen politischen Aktionen, ist nicht das Motiv, sondern darüber hinaus ein handlungsstiftendes Moment. Die Fürsorge, welche den Söhnen Teh Cheng-lis auf Initiative und unter Kontrolle der Kommunistischen Partei zuteil wird, nimmt im Laufe der Zeit aufgrund verschiedener Umstände immer mehr ab, bis sie schliesslich ganz ausbleibt. Sie gelangen in die Macht eines Mannes, der sie aufgrund ihrer Herkunft als potentielle Feinde betrachtet und sie demzufolge grausam schikaniert. Erst die Not und existentielle Bedrohung der Brüder löst einen Mechanismus aus, der in der scheinbar auswegslosen Situation ein Wunder bewirkt. Es setzt die Solidarität der Notleidenden ein, die in den Kindern nunmehr ihresgleichen erkennen… Vom Moment an, da Tao als wirklicher Sohn Teh Cheng-lis identifiziert werden kann, wird ihm erneut die Fürsorge der Partei zuteil, und so kann er das Leben eines ‚Berufsrevolutionärs’ beginnen. Der Weg zum Vater führt durch die Machtbereiche der Partei. Es handelt sich um die Umsetzung der marxistisch-leninistischen Theorie von der Gesetzmässigkeit des Sieges des Kommunismus als der höheren Gesellschaftsordnung über feudal-kapitalistische Verhältnisse… Die Botschaft der Erzählung gipfelt letztlich in einer subjektiv wie objektiv bitteren Erkenntnis : Auf dem Weg zu einer humanen Weltordnung sind bei diesem Vorgehen die eigentlich humanen Werte des Lebens dem Verfall, der Zerstörung preisgegeben. Die Partei löst den natürlichen Familienverband als einen „Störfaktor“ bei der Erfüllung revolutionärer Pflicht auf und ersetzt ihn durch sich selbst. Die Frage nach der persönlichen Schuld und damit auch Verantwortung des Einzelnen, stellt sich nicht mehr. Opfer müssen um der revolutionären Bewegung willen in Kauf genommen werden. |
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14 | 1952 |
Seghers, Anna. Mao Tse-tung : Reden an die Schriftsteller und Künstler im Neuen China. Mit einem Nachwort von Anna Seghers. (Berlin : Henschel, 1952). Seghers schreibt im Nachwort : Gewiss, der Künstler muss die marxistisch-leninistische Theorie studieren. Die Politik kommt aber keineswegs der Kunst gleich. Die allgemeine Weltanschauung kommt keineswegs der Methodologie des künstlerischen Schaffens gleich. Dogmatische Formeln an die Stelle von künstlerischer Gestaltung zu setzen, das heisst nicht nur die künstlerische Empfindung zerstören, sondern die Theorie des Marxismus selbst. Denn nichts ist so antimarxistisch wie ein dogmatischer Marxismus… Jahrtausendealt ist die chinesische Kunst, ein grandioses Zeugnis für das Denken und Fühlen chinesischer Menschen. Sie ist seit langem in allen Ländern studiert und bewundert worden. Doch wer war sich klar, auf welcher Grundlage sie zustandekam und was in Wirklichkeit in dem Land vorging, aus dem sie stammte ?... Er [Mao Zedong] hatte bereits mit den Seinen eine so gewaltige Strecke zurückgelegt, dass es für einen gewöhnlichen Menschen schwer vorstellbar war, was er noch bewältigen würde. Die Truppen Mao Tse-tungs wurden aber, wohin sie kamen, als Befreier des Volkes begrüsst. Sie halfen überall bei der Ernte ; sie verteilten überall den Grossgrundbesitz ; sie eröffneten Schulen in jedem Dorf. Die Bevölkerung erfuhr erst jetzt, wer Mao Tse-tung und seine Soldaten waren, die man ihnen früher als Teufel gemalt hatte. Mit unvorstellbarer Kühnheit hat dieses Volk in den letzten, kaum verflossenen Jahre Jahrtausende von Feudalgeschichte besiegelt. Er kämpfte mit seinem Volk für die Beendigung des Krieges, für ein geeintes Land, für einen Frieden in Demokratie. Wir kämpfen gegen den drohenden Krieg, für ein geeintes, friedliches, demokratisches Deutschland… Wir dürfen nicht – wie man es bei uns noch zu häufig erlebt – die fremde Situation schematisch auf unsere Verhältnisse übertragen, Wir müssen ihre Ideen anwenden… Albrecht Richter : Mit diesen Positionen befindet sich Anna Seghers in Übereinstimmung mit Mao Zedongs diesbezüglichen Richtlinien in dessen Ansprache. Sie findet in Maos Reden offensichtlich eine Bestätigung für eigene, in jahrelangen literaturästhetischen und politischen Debatten gewonnene Standpunkte. Das Nachwort stellt damit einen China bezogenen Schlüsseltext zu wichtigen Positionen Seghers zum Kunst- und Literaturverständniss dar. Weder ihre hochentwickelte Sensibilität im Umgang mit Wort und Text und schon gar nicht der auf ihrer China-Reise gewonnene Eindruck konnten sie davor bewahren, die gefährliche Fragwürdigkeit jener Mao-Texte zu übersehen. Da zum Zeitpunkt des Erscheinens der Reden Maos in der DDR ein lebhafter gesamtgesellschaftlicher China-Diskurs im Gange war, konnte Seghers von einer relativ guten Informiertheit der interessierten (ost)-deutschen Leserschaft zur Entwicklung in China ausgehen. Sie verzichtete deshalb auf ausführliche Erklärungs-Versuche für den Inhalt der Reden. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, mit Hilfe der Darstellung von Elementen ihres eigenen China-Bildes und der darauf basierenden subjektiven Lesart dem Leser die Aktualität der immerhin schon zehn Jahre alten Reden plausibel zu machen… Seghers ist überzeugt, dass ein unvollständiges oder falsches China-Bild ein wirkliches Verständnis der Kunst dieses Landes verhindert. Es kann Anna Seghers kaum zum Vorwurf gemacht werden, dass sie die Dinge in China so sah, wie man es in China selbst, aber auch in der DDR von offizieller Seit aus gesehen haben wollte. Es entsprach dem Interesse der chinesischen Staats- und Parteiführung, den in den 1950er Jahren besonders zahlreich empfangenen ausländischen Berichterstattern, Schrifstellern u.a. ein China-Bild zu vermitteln, das protokollarisch bis ins Detail darauf ausgerichtet war, den ideologischen Wunschildern der chinesischen Kommunisten zu entsprechen. |
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15 | 1952 |
Seghers, Anna. Zwei Briefe über China. In : Aufbau ; Bd. 8 (1952). Seghers schreibt : Die Literatur- und Kunstgeschichte von China hat mehr als zweitausend Jahre hinter sich. Die Rede von Yenan hat grosse Bedeutung nicht nur für die chinesischen Künstler. Derselbe Mann [Mao Zedong], der die Kraft verkörpert, durch die sein Volk frei wurde, zeigte den Schriftstellern ihre Aufgaben im Befreiungskampf… Dieser Hinweis kam immer wieder in den geduldigen Antworten vor, die uns chinesische Künstler auf unsere hundert Fragen gaben. Was waren denn das für Fragen ? Nun, alle die Du selbst stellst. Die jeder von seinem Beruf besessene Künstler in allen Ländern andauernd stellt… Albrecht Richter : Mit Zwei Briefen über China wird der ausgewählte Kreis von literatur- und theaterinteressierten Lesern angesprochen. Die vorbehaltlose Verehrung, die Anna Seghers Mao Zedong entgegenbringt, findet ihren Ausdruck in diesem Brief, in der sie die universelle Kompetenz Maos bei der Planung, Leitung und Duchrführung des kommunistischen Revolutionskrieges hervorhebt. Mao und seine Lehre wird hier mit den besten Traditionen chinesischer Kunst und Literatur in Verbindung gebracht. |
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16 | 1953 |
Seghers, Anna. Im Neuen China. In : Das chinesische Volk hat den Frieden verdient. In : Neue Zeit, Moskau ; Vol. 1 (1952). Seghers schreibt : Das Befreiungswerk, das sich durch Mao Tse-tung [Mao Zedong] und seine Freunde, ihre Partei und Armee vollzog, ist für uns fast unfassbar gewaltig. Jahrhunderte von Geschichte und auch von Erfahrungen und von Opfern sind zusammengeballt in den letzten Jahrzehnten… Das geschah aus der Kraft des chinesischen Volkes. Die Befreier von China hatten auf ihrem kühnen und schmerzvollen Weg zur Hilfe diese Kraft ihres Volkes und die Lehren von Marx und Engels, von Lenin und Stalin. |
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17 | 1953 |
Seghers, Anna. Vortrag über chinesische Bauern. (Berlin : Aufbau-Verlag, 1953). Seghers schreibt : Stellt euch ein Land vor, das so gross wie Europa ist. Dort lebt beinah der vierte Teil aller Menschen auf Erden. Ungefähr 85 Prozent Chinesen sind Bauern. Wie kann dort die gewaltige Veränderung, die Errichtung der Volksrepublik, anders möglich gewesen sein als durch das Volk selbst, durch das Volk, das zum grössten Teil aus Bauern besteht ?... China hat ein Volk von fast 500 Millionen Menschen… Von den 500 Millionen sind fast 85 Prozent Bauern. Aber mehr als zwei Drittel des chinesischen Bodens gehörten vor der Befreiung durch die Volksarmee nur einem kleinen Bruchteil der Landbevölkerung, ungefähr 10 Prozent. Das heisst, ungefähr 90 Prozent der Landbevölkerung mussten sich mit dem Drittel begnügen. Der gewaltige übrige Teil gehörte den Grossgrundbesitzern. Sie hatten Häuser, Kleider und Schulen. Sie hatten Brunnen, Kanäle, Maschinen. Dabei müsst ihr wissen, das Land ist so fruchtbar und teilweise klimatisch so günstig gelegen, dass es zwei Ernten im Jahr hervorbringen kann – wenn es entsprechend bewässert ist. |
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18 | 1953 |
Seghers, Anna. Der erste Schritt : Erzählung. (Berlin : Aufbau-Verlag, 1953). Albrecht Richter : Dem Zyklus Der erste Schritt liegt folgende Idee zugrunde : Im Anschluss an einen Weltfriedenskongress finden sich die Teilnehmer aus unterschiedlichen Ländern spontan zusammen und berichten daüber, aufgrund welcher individueller Erfahrungen und Erlebnisse in ihrem Heimatland sie zu ihrer Linksorientierung gekommen waren, darüber, worin ihr „erster Schritt“ in diese politische Richtung bestand. |
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# | Year | Bibliographical Data | Type / Abbreviation | Linked Data |
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1 | 2000- | Asien-Orient-Institut Universität Zürich | Organisation / AOI |
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