Seghers, Anna. Mao Tse-tung : Reden an die Schriftsteller und Künstler im Neuen China. Mit einem Nachwort von Anna Seghers. (Berlin : Henschel, 1952).
Seghers schreibt im Nachwort : Gewiss, der Künstler muss die marxistisch-leninistische Theorie studieren. Die Politik kommt aber keineswegs der Kunst gleich. Die allgemeine Weltanschauung kommt keineswegs der Methodologie des künstlerischen Schaffens gleich. Dogmatische Formeln an die Stelle von künstlerischer Gestaltung zu setzen, das heisst nicht nur die künstlerische Empfindung zerstören, sondern die Theorie des Marxismus selbst. Denn nichts ist so antimarxistisch wie ein dogmatischer Marxismus… Jahrtausendealt ist die chinesische Kunst, ein grandioses Zeugnis für das Denken und Fühlen chinesischer Menschen. Sie ist seit langem in allen Ländern studiert und bewundert worden. Doch wer war sich klar, auf welcher Grundlage sie zustandekam und was in Wirklichkeit in dem Land vorging, aus dem sie stammte ?... Er [Mao Zedong] hatte bereits mit den Seinen eine so gewaltige Strecke zurückgelegt, dass es für einen gewöhnlichen Menschen schwer vorstellbar war, was er noch bewältigen würde. Die Truppen Mao Tse-tungs wurden aber, wohin sie kamen, als Befreier des Volkes begrüsst. Sie halfen überall bei der Ernte ; sie verteilten überall den Grossgrundbesitz ; sie eröffneten Schulen in jedem Dorf. Die Bevölkerung erfuhr erst jetzt, wer Mao Tse-tung und seine Soldaten waren, die man ihnen früher als Teufel gemalt hatte. Mit unvorstellbarer Kühnheit hat dieses Volk in den letzten, kaum verflossenen Jahre Jahrtausende von Feudalgeschichte besiegelt. Er kämpfte mit seinem Volk für die Beendigung des Krieges, für ein geeintes Land, für einen Frieden in Demokratie. Wir kämpfen gegen den drohenden Krieg, für ein geeintes, friedliches, demokratisches Deutschland… Wir dürfen nicht – wie man es bei uns noch zu häufig erlebt – die fremde Situation schematisch auf unsere Verhältnisse übertragen, Wir müssen ihre Ideen anwenden…
Albrecht Richter : Mit diesen Positionen befindet sich Anna Seghers in Übereinstimmung mit Mao Zedongs diesbezüglichen Richtlinien in dessen Ansprache. Sie findet in Maos Reden offensichtlich eine Bestätigung für eigene, in jahrelangen literaturästhetischen und politischen Debatten gewonnene Standpunkte. Das Nachwort stellt damit einen China bezogenen Schlüsseltext zu wichtigen Positionen Seghers zum Kunst- und Literaturverständniss dar. Weder ihre hochentwickelte Sensibilität im Umgang mit Wort und Text und schon gar nicht der auf ihrer China-Reise gewonnene Eindruck konnten sie davor bewahren, die gefährliche Fragwürdigkeit jener Mao-Texte zu übersehen. Da zum Zeitpunkt des Erscheinens der Reden Maos in der DDR ein lebhafter gesamtgesellschaftlicher China-Diskurs im Gange war, konnte Seghers von einer relativ guten Informiertheit der interessierten (ost)-deutschen Leserschaft zur Entwicklung in China ausgehen. Sie verzichtete deshalb auf ausführliche Erklärungs-Versuche für den Inhalt der Reden. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, mit Hilfe der Darstellung von Elementen ihres eigenen China-Bildes und der darauf basierenden subjektiven Lesart dem Leser die Aktualität der immerhin schon zehn Jahre alten Reden plausibel zu machen… Seghers ist überzeugt, dass ein unvollständiges oder falsches China-Bild ein wirkliches Verständnis der Kunst dieses Landes verhindert. Es kann Anna Seghers kaum zum Vorwurf gemacht werden, dass sie die Dinge in China so sah, wie man es in China selbst, aber auch in der DDR von offizieller Seit aus gesehen haben wollte. Es entsprach dem Interesse der chinesischen Staats- und Parteiführung, den in den 1950er Jahren besonders zahlreich empfangenen ausländischen Berichterstattern, Schrifstellern u.a. ein China-Bild zu vermitteln, das protokollarisch bis ins Detail darauf ausgerichtet war, den ideologischen Wunschildern der chinesischen Kommunisten zu entsprechen.
Literature : Occident : Germany