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1873-1895

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Friedrich Nietzsche : Zitate über China
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

Zwar hat man im Eifer darauf hingezeigt, wie viel die Griechen im orientalischen Auslande finden und lernen konnten, und wie mancherlei sie wohl von dort geholt haben. Freilich gab es ein wunderliches Schauspiel, wenn man die angeblichen Lehrer aus dem Orient und die möglichen Schüler aus Griechenland zusammenbrachte und jetzt Zoroaster neben Heraklit, die Inder neben den Eleaten, die Ägypter neben Empedokles oder gar Anaxagoras unter den Juden und Pythagoras unter den Chinesen zur Schau stellte.
Fragmente III (1875)
Mappe loser Blätter : Notizen zu Wir Philologen
Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden:
1) aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums, 2) aus einer falschen Idealisierung zur Humanitäts-Menschheit überhaupt; während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind…
Menschliches, Allzumenschliches (1878-1879)
Bd. 1 : 3. Hauptstück : Das religiöse Leben
Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reißen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; "du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir ließen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar".
Fragmente V (1880)
Notizbuch : Vom Aberglauben, Vom Loben und Tadeln, Von der zulässigen Lüge
- Was ist der Charakter dieser Moralität? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: gibt es überhaupt eine Rangordnung der Moralitäten?
Manuskript : L’ombra di Venezia
Das Christenthum und die Demokratie haben bis jetzt die Menschheit auf dem Wege zum Sande am weitesten gefahren. Ein kleines, schwaches, dämmerndes Wohlgefühlchen über Alle gleichmäßig verbreitet, ein verbessertes und auf die Spitze getriebenes Chinesenthum, das wäre das letzte Bild, welches die Menschheit bieten könnte?
Notizbuch (1880)
Auch die (chinesische) Tugend der Höflichkeit ist eine Folge des Gedankens: ich thue den Anderen wohl, weil es mir so zu Gute kommt - doch so daß dies Weil vergessen worden ist. Nicht aber entsteht Wohlwollen auf dem angegebenen Wege durch Vergessen. - Aber Höflichkeit ist doch sehr benachbart. Die Chinesen haben die Familienempfindung durchgeführt (Kinder zu den Eltern), die Römer mehr die der Väter zu der Familie (Pflicht).
Morgenröthe (1881)
3. Buch
So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa! Mag es immerhin dann an "Arbeitskräften" etwas fehlen! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, daß man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so leicht wurde, sie zu befriedigen, - man wird einige Bedürfnisse wieder verlernen! Vielleicht auch wird man dann Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie könnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und - was am meisten wohl noth thut - asiatische Dauerhaftigkeit in's Geblüt zu geben.
Liu Weijian : Das konfuzianische China sei abzulehnen, weil es der dogmatischen Kirche ähnlich sei, die die Menschen uniformiere und alle Verschiedenheit als unmoralisch empfinde. Er nennt sowohl Konfuzius als auch das Papsttum "grosse Regierungskünstler", die die Menschen zum sklavenhaften Herdentier machen. Er indentifizert China nicht nur mit den rationalen Konfuzianismus, sondern entdeckt eine taoistische Denk- und Lebensweise... Durch den Hinweis auf die Ruhe, Betrachtsamkeit und die Dauerhaftigkeit führt Nietzsche den Europäern die Sinnlosigkeit des hektischen Strebens nach Macht und Geld vor Augen und hebt die innere Harmonie des Menschen hervor... Dagegen hält er die chinesische Denkweise für einen erstrebenswerten Dauergeist. Ihm scheint diese Denkweise den wohlgeratenen Typus des Chinesen hervorzubringen, der daher fähiger als der Europäer sei.
Fragmente VI (1881)
Manuskript
Die Sinne der Menschen im Fortschritt der Zivilisation sind schwächer geworden, Augen und Ohren: weil die Furcht geringer wurde und der Verstand feiner. Vielleicht wird mit der Vermehrung der Sicherheit die Feinheit des Verstandes nicht mehr nöthig sein: und abnehmen: wie in China! In Europa hat der Kampf gegen das Christenthum, die Anarchie der Meinungen und die Concurrenz der Fürsten Völker und Kaufleute bis jetzt den Verstand verfeinert.
Irrthum der positiven Philosophie nachzuweisen: sie will die Anarchie der Geister vernichten, und sie wird den dumpfen Druck unbefriedigter Auslösung hervorbringen (wie China)!
Die thierischen Gattungen haben meistens, wie die Pflanzen, eine Anpassung an einen bestimmten Erdtheil erreicht, und haben nun darin etwas Festes und Festhaltendes für ihren Charakter, sie verändern sich im Wesentlichen nicht mehr. Anders der Mensch, der immer unstet ist und sich nicht Einem Klima endgültig anpassen will, die Menschheit drängt hin zur Erzeugung eines allen Klimaten gewachsenen Wesens (auch durch solche Phantasmen wie "Gleichheit der Menschen"): ein allgemeiner Erdenmensch soll entstehen, deshalb verändert sich der Mensch noch (wo er sich angepaßt hat z. B. in China bleibt er durch Jahrtausende fast unverändert).
Die Chinesen: ohne Scham, ohne Vorurtheile, geschwätzig, maßvoll: ihre Leidenschaften Opium Spiel Weiber. Sie sind reinlich...
Unsere Triebe und Leidenschaften sind ungeheure Zeiträume hindurch in Gesellschafts- und Geschlechtsverbänden gezüchtet worden (vorher wohl in Affen-Herden): so sind sie als soziale Triebe und Leidenschaften stärker als als individuelle, auch jetzt noch. Man haßt mehr, plötzlicher, unschuldiger (Unschuld ist den ältest vererbten Gefühlen zu eigen) als Patriot als als Individuum; man opfert schneller sich für die Familie als für sich: oder für eine Kirche, Partei. Ehre ist das stärkste Gefühl für Viele d.h. ihre Schätzung ihrer selber ordnet sich der Schätzung Anderer unter und begehrt von dort seine Sanktion. - Dieser nicht individuelle Egoismus ist das Ältere, Ursprünglichere; daher so viel Unterordnung, Pietät (wie bei den Chinesen) Gedankenlosigkeit über das eigene Wesen und Wohl, es liegt das Wohl der Gruppe uns mehr am Herzen...
Die Verwandlung des Menschen braucht erst Jahrtausende für die Bildung des Typus, dann Generationen: endlich läuft ein Mensch während seines Lebens durch mehrere Individuen.
Warum sollen wir nicht am Menschen zu Stande bringen, was die Chinesen am Baume zu machen verstehen - daß er auf der einen Seite Rosen, auf der anderen Birnen trägt?...
Das Erscheinen der Individuen ist das Anzeichen der erlangten Fortpflanzungsfähigkeit der Gesellschaft: sobald es sich zeigt, stirbt die alte Gesellschaft ab. Das ist kein Gleichnis. - Unsere ewigen "Staaten" sind etwas Unnatürliches. - Möglichst viel Neubildungen! - Oder umgekehrt: zeigt sich die Tendenz zur Verewigung des Staates, so auch Abnahme der Individuen und Unfruchtbarkeit des Ganzen: deshalb halten die Chinesen große Männer für ein nationales Unglück; sie haben die ewige Dauer im Auge. Individuen sind Zeichen des Verfalls...
Der Wohlstand, die Behaglichkeit, die den Sinnen Befriedigung schafft, wird jetzt begehrt, alle Welt will vor allem das. Folglich wird sie einer geistigen Sklaverei entgegengehen, die nie noch da war. Denn dies Ziel ist zu erreichen, die größten Beunruhigungen jetzt dürfen nicht täuschen. Die Chinesen sind der Beweis, daß auch Dauer dabei sein kann. Der geistige Cäsarismus schwebt über allem Bestreben der Kaufleute und Philosophen...
Im Grunde haben alle Zivilisationen jene tiefe Angst vor dem "großen Menschen", welche allein die Chinesen sich eingestanden haben, mit dem Sprichwort "der große Mensch ist ein öffentliches Unglück". Im Grunde sind alle Institutionen darauf hin eingerichtet, daß er so selten als möglich entsteht und unter so ungünstigen Bedingungen als nur möglich ist heranwächst: was Wunder! Die Kleinen haben für sich, für die Kleinen gesorgt!...
Die Vorwegnehmenden. - Ich zweifle, ob jener Dauermensch, welchen die Zweckmäßigkeit der Gattungs-Auswahl endlich produziert, viel höher als der Chinese stehen wird. Unter den Würfen sind viele unnütze und in Hinsicht auf jenes Gattungsziel vergängliche und wirkungslose - aber höhere: darauf laßt uns achten! Emanzipieren wir uns von der Moral der Gattungs-Zweckmäßigkeit! - Offenbar ist das Ziel, den Menschen ebenso gleichmäßig und fest zu machen, wie es schon in Betreff der meisten Thiergattungen geschehen ist: sie sind den Verhältnissen der Erde usw. angepaßt und verändern sich nicht wesentlich. Der Mensch verändert sich noch - ist im Werden.
Die fröhliche Wissenschaft (1882)
1. Buch
China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im Großen und die Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Sozialisten und Staats-Götzendiener Europa's könnten es mit ihren Maaßregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen "Glücke" bringen, vorausgesetzt, daß sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten.
3. Buch
Vergessen wir doch nicht, daß die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach "die Hunde": so wurden sie von den Chinesen getauft. Die "Deutschen": das bedeutet ursprünglich "die Heiden": so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Übersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen "die Völker" bedeutet: man sehe Ulfilas.
Fragmente VII (1883)
Mappe mit losen Blättern
Die Scham verbietet in China der Frau den Fuß zu zeigen, unter den Hottentotten muß sie nur den Nacken verhüllen.
Weiß ist in China Trauerfarbe.
Der Chinese ißt sehr viel Gerichte in sehr kleinen Portionen.
Friedloslegung: ein Genosse wird aus der Friedensgenossenschaft ausgestoßen; er ist jetzt vollkommen rechtlos. Leben und Gut können von Jedermann genommen werden. Der Übelthäter kann bußlos von Jedermann erschlagen werden. Grundgefühl: tiefste Verachtung, Unwürdigkeit z.B. noch im moslemischen Recht bei Ketzerei oder Schmähung des Propheten: während es bei Mord und Körperverletzung lediglich Blutrache und friedensgenossenschaftliche Bußen kennt. Es ist Ächtung: Haus und Hof wird zerstört, Weiber und Kinder und wer im Hause wohnt, wird vernichtet, z. B. Im peruanischen Inkareiche, wenn eine Sonnen-Jungfrau sich mit einem Manne verging, mußte ihre ganze Verwandtschaft es mit dem Leben büßen, das Haus ihrer Eltern wurde dem Erdboden gleichgemacht usw. Ebenso in China, wenn ein Sohn den Vater tödtet.
Man will sich nicht die Fehler eines Thiers aneignen z. B. die Feigheit des Hirsches (auf Borneo) - Weiber und Kinder dürfen davon essen.
Auch Fledermäuse Kröten Würmer Larven Raupen werden gegessen. Gemästete Ratten Leckerbissen der Chinesen. "Das Tigerherz zu essen macht trutzig" (Java) Hundeleber macht klug...
Ein alter Chinese [Laozi] sagte, er habe gehört, wenn Reiche zu Grunde gehen sollen, so hätten sie viele Gesetze.
Umwertungsheft (1884)
Erste Frage: die Herrschaft der Erde — angelsächsisch. Das deutsche Element ein gutes Ferment, es versteht nicht zu herrschen. Die Herrschaft in Europa ist nur deshalb deutsch, weil es mit ermüdeten greisen Völkern zu thun hat, es ist seine Barbarei, seine verzögerte Cultur, die die Macht giebt.
Frankreich voran in der Cultur, Zeichen des Verfalls Europa's. Rußland muß Herr Europas und Asiens werden — es muß colonisiren und China und Indien gewinnen. Europa als das Griechenland unter der Herrschaft Roms...
Die thatsächliche Barbarei Europa's — und zunehmend: die Verdummung ("der Engländer" als Normal-Mensch sich anlegend)
die Verhäßlichung ("Japanisme") (der revoltirende Plebejer)
die Zunahme der sklavischen Tugenden und ihrer Werthe ("der Chinese")
die Kunst als neurotischer Zustand bei den Künstlern, Mittel des Wahnsinns: die Lust an dem Thatsächlichen (Verlust des Ideals).
Fragment VIII (1884)
Umwertungsheft
Die Consequenzen absterbender Rassen verschieden z.B. pessimistische Philosophie, Willens-Schwäche
wollüstige Ausbeutung des Augenblicks, mit hysterischen Krämpfen und Neigung zum Furchtbaren
Zeichen des Alters kann auch Klugheit und Geiz sein (China), Kälte.
Europa unter dem Eindrucke einer sklavenhaft gewöhnten furchtsamen Denkweise: eine niedrigere Art wird siegreich — seltsames Widerstreiten zweier Principien der Moral...
Das 20te Jahrhundert hat zwei Gesichter: eines des Verfalls. Alle die Gründe, wodurch von nun an mächtigere und umfänglichere Seelen als es je gegeben hat (vorurtheilslosere, unmoralischere) entstehen könnten, wirken bei den schwächeren Naturen auf den Verfall hin. Es entsteht vielleicht eine Art von europäischem Chinesenthum, mit einem sanften buddhistisch-christlichen Glauben, und in der Praxis klug-epikureisch, wie es der Chinese ist — reduzirte Menschen...
Grundsatz. Wenn es sich um bien public handelte, so wäre der Jesuitism im Recht, ebenso das Assassinenthum; ebenso das Chinesenthum...
Bei altgewordenen Völkern große Sinnlichkeit, z.B. Ungarn, Chinesen, Juden, Franzosen (denn die Kelten waren schon ein Culturvolk!).
Der Wille zur Macht (1884-1888) [ID D11905]
Luo Wei : Nietzsche hofft in der sanftmütigen Denk- und Lebensweise der Chinesen, die eine innige Verbundenheit mit der Natur pflegt, ein Mittel zu finden, das dem kulturellen Verfall Europas entgegenwirken könnte. Was Nietzsche an China bewundert, ist eine Naturverbundenheit, ein Einklang mit der Natur, worin der Konfuzianismus und Taoismus sich einig sind, obwohl seine Metapher der „arbeitsamen Ameisen“alles andere als romantisch idyllisch gemeint war.
Fragmente IX (1885)
Umwertungsheft
Feindschaft gegen alles Litteratenhafte und Volks-Aufklärerische, insonderheit gegen alles Weibs-Verderberische, Weibs-Verbildnerische — denn die geistige Aufklärung ist ein unfehlbares Mittel, um die Menschen unsicher, willensschwächer, anschluß- und stütze-bedürftiger zu machen, kurz das Heerdenthier im Menschen zu entwickeln: weshalb bisher alle großen Regierungs-Künstler (Confucius in China, das imperium romanum, Napoleon, das Papstthum, zur Zeit, wo es die Macht und nicht nur den Pöbel zum Besten hielt) wo die herrschenden Instinkte bisher kulminirten, auch sich der geistigen Aufklärung bedienten; mindestens sie walten ließen (wie die Päpste der Renaissance). Die Selbsttäuschung der Menge über diesen Punkt z.B. in aller Demokratie, ist äußerst werthvoll: die Verkleinerung und Regierbarkeit des Menschen wird als "Fortschritt" erstrebt!...
Jenseits von Gut und Böse (1886)
2. Hauptstück : Der freie Geist
Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt sie die prähistorische Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder Mißerfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von einer Handlung zu denken.
9. Hauptstück – Was ist vornehm ?
Es giebt ein Sprichwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht, daß ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserkennen würde, - damit allein schon giengen wir ihm "wider den Geschmack".
Zur Genealogie der Moral (1887)
1. Abh. Gut und böse, gut und schlecht
Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt daß man errät, was da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist.
Fragmente XI (1887)
Umwertungsheft
Die Unterwerfung der Herren-Rassen unter das Christenthum ist wesentlich die Folge der Einsicht, daß das Christenthum eine Heerdenreligion ist, daß es Gehorsam lehrt: kurz daß man Christen leichter beherrscht als Nichtchristen. Mit diesem Wink empfiehlt noch heute der Papst dem Kaiser von China die christliche Propaganda
Umwertungsheft (1887-1888)
ein Christ in Indien hätte sich der Formeln der Sankhya-Philosophie bedient, in China der des Laotse — darauf kommt gar nichts an —
Christus als "freier Geist": er macht sich aus allem Festen nichts (Wort, Formel, Kirche, Gesetz, Dogmen) "alles, was fest ist, tödtet..." er glaubt nur ans Leben und Lebendige — und das "ist" nicht, das wird...
Umwertungsheft (1988)
Das Weib reagirt langsamer als der Mann, der Chinese langsamer als der Europäer...
Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Thier: der Cultur-Zärtling ist eine Mißgeburt im Vergleich zum Araber und Corsen; der Chinese ist ein wohlgerathener Typus, nämlich dauerfähiger als der Europäer...
Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig, voller Friede und Freundlichkeit: so wollt ihr den Menschen? so denkt ihr euch den guten Menschen? Aber was ihr damit erreicht, ist nur der Chinese der Zukunft, das "Schaf Christi", der vollkommene Socialist...
Götzen-Dämmerung (1889)
Die Verbesserer der Menschheit
Die Moral der Züchtung und die Moral der Zähmung sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig: wir dürfen als obersten Satz hinstellen, daß, um Moral zu machen, man den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muß. Dies ist das große, das unheimliche Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der "Verbesserer" der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem: die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit "verbesserten". Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt. Sie haben an ganz andren Rechten nicht gezweifelt ... In Formel ausgedrückt dürfte man sagen: alle Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus unmoralisch...
Die Arbeiter-Frage. - Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, daß es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinktes. - Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die große Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, daß hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen.
Fragmente XI (1889)
Umwertungsheft 1887-1888
ein Christ in Indien hätte sich der Formeln der Sankhya-Philosophie bedient, in China der des Laotse — darauf kommt gar nichts an — Christus als "freier Geist".
Der Antichrist (1895)
..das erste Christenthum handhabt nur jüdischsemitische Begriffe (- das Essen und Trinken beim Abendmahl gehört dahin, jener von der Kirche, wie alles jüdische, so schlimm mißbrauchte Begriff). Aber man hüte sich darin mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, daß kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können. Unter Indern würde er sich der Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse bedient haben - und keinen Unterschied dabei fühlen...
Das "Gesetz", der "Wille Gottes", das "heilige Buch", die "Inspiration" - Alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält, - diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch-priesterlichen Herrschafts-Gebilde. Die "heilige Lüge" - dem Confucius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Muhamed, der christlichen Kirche gemeinsam: sie fehlt nicht bei Plato. "Die Wahrheit ist da": dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt ...
…das erste Christenthum handhabt nur jüdischsemitische Begriffe (- das Essen und Trinken beim Abendmahl gehört dahin, jener von der Kirche, wie alles jüdische, so schlimm mißbrauchte Begriff) Aber man hüte sich darin mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen zu sehn. Gerade, daß kein Wort wörtlich genommen wird, ist diesem Anti-Realisten die Vorbedingung, um überhaupt reden zu können. Unter Indern würde er sich der Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Laotse bedient haben - und keinen Unterschied dabei fühlen.

Adrian Hsia [zu Zitaten aus dem Nachlass] : In describing the Chinese customs, Nietzsche characterized the Chinese as an old race which is clever, miserly, and cold. The Chinese were for him not only senile, but also cowardly, but then so were the Germans of the Reformation era. They were just the opposite of ‘Übermensch¨and could be considered 'reduced' or 'coastrated' human beings. In many ways, China served as the worst example of what Europa could become in the future. It was painted as a country where the capability to develop, and reason had been lost. Nietzsche emphasized that China was a country which had hardly changed in the last few thousand years. It was the home of mediocrity (Vermittelmässigung), chinesery (Chineserei), and slave mentality (sklavische Tugenden) where absolute submission and service were the highest virtues (Unterordnung, Pietät), Bedientenseele. Thus calling somebody a Chinese is meant to be an insult. Alternately, the Chinese were mere 'mechanical yea-sayers' and 'marionettes' who said and did whatever the master wanted. They were really hardworking ants instead of individuals.

Mentioned People (1)

Nietzsche, Friedrich  (Röcken bei Lützen 1844-1900 Weimar) : Philosoph, Klassischer Philologe

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Documents (3)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1991 Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 30-31. Publication / LiuW1
  • Source: Lohenstein, Daniel Casper von. Grossmüthiger Feldherr Arminius, oder, Hermann : als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit nebst seiner durchlauchtigen Thussnelda, in einer sinnreichen Staats-, Liebes- und Helden-Geschichte dem Vaterlande zu Liebe, dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge in zwey Theilen vorgestellet, und mit annehmlichen Kupffern bezieret. (Leipzig : Johann Friedrich Gleditsch, 1689-1690). Der fünfte Teil des ersten Bandes des Romans ist China gewidmet. Lohenstein hat seine Kenntnisse aus Berichten von jesuitischen Missionaren. (Loh1, Publication)
  • Source: Seckendorff, Karl Siegmund von. Das Rad des Schicksals. In : Das Journal von Tiefurt ; Bd. 1 (1781). = Seckendorff, Karl Siegmund von. Das Rad des Schicksals, oder Die Geschichte Tchoan-gsees. (Dessau : Buchhandlung der Gelehrten, 1783). [Zhuangzi]. (Sec1, Publication)
  • Source: Schopenhauer, Arthur. Ueber den Willen in der Natur : eine Erörterung der Bestätigungen welche die Philosophie des Verfassers, seit ihrem Auftreten, durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat. (Frankfurt a.M. : Schmerber, 1836). [2. verb. und verm. Aufl. (Frankfurt a.M. : Joh. Christ. Hermann, 1854). 3., verb. und verm. Aufl. (Leipzig : F.A. Brockhaus, 1867)]. Darin enthalten ist das 7. Kapitel "Sinologie". (Schop2, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Cited by: Zentralbibliothek Zürich (ZB, Organisation)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Döblin, Alfred
  • Person: Hesse, Hermann
  • Person: Liu, Weijian
2 2003 Luo, Wei. "Fahrten bei geschlossener Tür" : Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2003). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1896). Diss. Beijing-Univ., 2003. S. 26-30. Publication / Döb2
  • Source: Dehmel, Richard. Chinesisches Trinklied : nach Li-tai-po. In : Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Hrsg. von Otto Julius Bierbaum. [Li Bo]. (Deh1, Publication)
  • Source: Dehmel, Richard. Die ferne Laute, Der dritte im Bund, Frühlingsrausch : [drei Nachdichtungen von Li-Tai-Pe]. In : Die neue Rundschau ; Jg. 17 (1906). [Li Bo]. (Deh2, Publication)
  • Source: Wilhelm, Richard. Licht aus Osten. In : Genius. Buch 1 (1921). (WilR1, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred. Die Ermordung einer Butterblume ; Segelfahrt ; Der Dritte]. Wang Zhiqian, Lin Shizhong yi. In : Wai guo wen yi = Foreign literature and art. (Shanghai : Shanghai yi wen chu ban she, 1982). Übersetzung von Die Ermordung einer Butterblume. (1910), Segelfahrt, Der Dritte. In : Die Ermordung einer Butterblume : ausgewählte Erzählungen 1910-1950. (Olten : Walter, 1962). (Ausgewählte Werke in Einzelbänden).
    外国文艺 (Döb6, Publication)
  • Source: Liao, Xingqiao. Wai guo xian dai pai wen xue dao lun. (Beijing : Beijing chu ban she, 1988). [500 Fragen zur Literatur der westlichen Moderne. Darin wird Alfred Döblin als berühmter deutscher expressionistischer Romancier erwähnt].
    外国现代派文学导论 / 廖星桥 (Döb7, Publication)
  • Source: Luo, Wei. [Döblin’s philosophische Meditation in Berlin Alexanderplatz]. In : Wai guo wen xue ping lun = Foreign literature review. 4 (1993). (Beijing : Zhongguo she hui ke xue chu ban she, 1987-).
    外国文学评論 (Döb9, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred]. Di san zhe. Cai Maoyou zhu bian. In : Mo sheng nü ren di lai xin. Cai Maoyou zhu bian. (Beijing : Huaxia chu ban she, 1994). (Shi jie hun lian xiao shuo cong shu. Deguo juan). [Übersetzung von Der Dritte. In : Die Ermordung einer Butterblume : ausgewählte Erzählungen 1910-1950. (Olten : Walter, 1962). (Ausgewählte Werke in Einzelbänden). Ehe und Liebe. Darin wird in Form einer Inhaltsangabe Berlin Alexanderplatz erwähnt].
    第三者 / 陌生女人的来信 (Döb10, Publication)
  • Source: Er shi shi ji Ou Mei wen xue shi. Zhang Yushu zhu bian. (Beijing : Beijing da xue chu ban she, 1995). [Europäische und amerikanische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts]. Darin werden Alfred Döblin einige Seiten gewidmet.
    二十世纪欧美文学史 (Döb12, Publication)
  • Source: Wei, Maoping. Zhongguo dui Deguo wen xue ying xiang shi shu. (Shanghai : Shanghai wai yu jiao yu chu ban she, 1996). [ Geschichte des chinesischen Einflusses auf die deutsche Literatur]. [Erwähnung von Alfred Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun].
    中国对德国文学影响史述 (Döb13, Publication)
  • Source: Gao, Zhongfu ; Ning, Ying. 20 shi ji Deguo wen xue shi. (Qingdao : Qingdao chu ban she, 1998). (20 shi ji wai guo guo bie wen xue shi cong shu). [Deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts]. Darin enthalten ist ein Beitrag über Alfred Döblins frühes Schaffen.
    20世纪德囯文学史 (Döb14, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred]. Bolin Yalishan da guang chang. Debulin zhu ; Luo Wei yi. (Shanghai : Shanghai yi wen, 2003). Übersetzung von Döblin, Alfred. Berlin Alexanderplatz : die Geschichte von Franz Biberkopf. (Berlin : S. Fischer, 1929). Erster von Döblin übersetzter Roman.
    阿德布林著 (Döb15, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Döblin, Alfred
  • Person: Luo, Wei
3 2008 Nietzsche Archiv Weimar : Nietzsche Spuren : China : http://www.friedrichnietzsche.de/. Web / NAW