Montesquieu, Charles de Secondat de. Von den Sinesen [ID D17260].
Herder schreibt : Die Sinesischen Gesetzgeber gingen weiter als Lyturg ; Religion, Gesetze, Sitten und Lebensweise mischten sie in einander. Die Vorschriften, welche diese vier Hauptpunkte betrafen, nannte man heilige Gebräuche ; auf der genauen Beobachtung dieser Gebräuche beruhete die Sinesische Regierung. Mit Erlernung derselben brachte man seine Jugend zu und verwandte seine ganze Lebenszeit darauf, sie in Ausübung zu bringen. Die Gelehrten gaben darinn Unterricht, die Obrigkeiten predigten sie ; und da sie alle kleine Handlungen des Lebens umfassten, so wurde, wenn man Mittel fand, sie genau ins Werk zu richten, Sina gut regieret. Zwei Dinge halfen dazu, diese Gebräuche dem Herzen und Geist der Sineser leicht einzuprägen. Das erste ist ihre Schreibart. Da diese äusserst zusammengesetzt ist, so machte sie, dass während einem grossen Theil des Lebens der Geist einzig beschäftigt war, diese Gebräuche kennen zu lernen, weil man lesen lernen musste, um in Büchern und aus Büchern diese Gebräuche zu lernen. Das zweite war, dass diese Gebräuche nichts Geistiges enthielten, sondern blos Regeln einer gemeinen Ausübung waren ; so trafen sie den Geist leichter und griffen tiefer in ihn ein, als wenn sie etwas Intellectuelles gewesen wären. Daher verlohr Sina seine Gesetze nicht, als es erobert ward. Da Lebensart, Sitten, Gesetze und Religion bei ihnen Eins und Dasselbe waren, so liess sich dies Alles nicht auf Einmal ändern ; und da doch Einer, entweder der Ueberwundene oder der Ueberwinder ändern musste : so war es in Sina immer der letzte. Denn weil seine Lebensart und Sitten, seine Gesetze und Religion nicht Eins waren, so ward es ihm leichter, sich nach und nach dem überwundnen Volk, als diesem sich ihm zu bequemen. Daher auch das Christenthum schwerlich je in Sina aufkommen wird. Die Gelübde der Jungfrauschaft, die Versammlungen der Weiber in den Kirchen, ihr nothwendiger Zusammenhang mit den Dienern der Religion, ihre Theilnahme an den Sacramenten, die Ohrenbeicht, die letzte Oelung, die Heirath einer einzigen Frau ; Alles dies kehrt die Lebensart und Sitten des Landes um und stösst eben so sehr gegen Religion und Gesetze des Reichs an. Die christliche Religion durch ihr Gebot der Liebe, durch ihren öffentlichen Gottesdienst, durch eine gemeinschaftliche Theilnehmung an den Sacramenten scheint alles vereinigen zu wollen ; die Gebräuche der Sineser wollen, dass sich alles sondre. Und da diese Sonderung am Geist des Despotismus hängt, so wird damit auch Eine der Ursachen klar, warum die Monarchie oder eine gemässigte Regierung sich mit dem Christenthum besser vertrage, als der Despotismus.
Lee Eun-jeung : Herder erkennt durchaus die Absichten, die Tendenz zur Universalität und die begriffliche Einheit in Montesquieus Denken an, übernimmt auch seine Kategorien und seine Klimatheorie, meint dann aber, dass Montesquieu etwas vorschnell systematisiert habe, da es ihm noch an der notwendigen umfassenden Empirie und deshalb an der Berücksichtigung aller Individualitäten fehlte. So können die Grundsätze Montesqueus den feineren Nuancen der Regierungsformen sowie den zeitlichen Veränderung nicht gerecht werden.
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