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Chronology Entry

Year

1936

Text

Brecht, Bertolt. Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. = Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst [erste Version von Verfremdungseffekte] = The fourth wall of China übersetzt von Huang Zuolin. In : Life and letters. Vol. 15, no 6 (1936).
Brecht schreibt : Der chinesische Artist spielt vor allem nicht so, als existiere ausser den drei Wänden, die ihn umgeben, auch noch eine vierte Wand. Das Publikum kann nicht mehr die Illusion haben, ungesehener Zuschauer eines wirklich stattfindenden Ereignisses zu sein. Der Artist wünscht, dem Zuschauer fremd, ja befremdlich zu erscheinen. Er erreicht dadurch, dass er sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit betrachtet. So bekommen die Dinge, die er vorführt, etwas Erstaunliches. Alltägliche Dinge werden durch diese Kunst aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben.
Der Artist sieht sich selber zu… Aber er sieht auch auf seine eigenen Arme und Beine… Der Artist trennt so die Mimik von der Gestik, aber die letztere verliert nichts dadurch, denn die Haltung des Körpers wirkt auf das Antlitz zurück, verleiht ihm ganz seinen Ausdruck. Jetzt hat es den Ausdruck gelungener Zurückhaltung, jetzt des vollen Triumphes… Von vornherein beschränkt er sich darauf, die darzustellende Figur lediglich zu zitieren. Aber mit welcher Kunst tut er das ! Er benötigt nur ein Minimum von Illusion… Man weiss, dass das chinesische Theater eine Menge von Symbolen verwendet. Ein General trägt auf der Schulter etwa kleine Fähnchen, und zwar so viele, als er Regimenter befehligt. Armut wird dadurch angedeutet, dass auf den seidenen Gewändern unregelmässig Stücke von anderer Farbe, aber ebenfalls aus Seide, aufgenäht sind, die Flicken bedeuten. Die Charaktere werden durch bestimmte Masken bezeichnet, also einfach durch Bemalung. Gewisse Gesten mit beiden Händen stellen das gewaltsame Öffnen einer Tür vor und so weiter.
Das chinesische Theater erscheint uns ungemein preziös, seine Darstellung der menschlichen Leidenschaften schematisch, seine Konzeption von der Gesellschaft starr und falsch, Motive und Zwecke des V-Effekts [Verfremdungseffekt] sind uns fremd und verdächtig. Der chinesische Artist holt seinen V-Effekt aus dem Zeugnis der Magie.

Liu Weijian : Brecht bewundert, dass der chinesische Schauspieler nicht vorgibt, sich mit seiner Rolle zu identifizieren, sondern zurückhaltend die charakteristischen Züge des Darzustellenden lediglich zitiert. Indem der Schauspieler das Spiel des Zitats beherrscht, vermag er sich nach Brecht von seinem Modell abzuheben und die Wirklichkeit ohne Illusion zu zeigen… Im Grunde geht es Brecht bei der Aneignung der taoistisch begründeten Distanzierungsmethode der Beijing-Oper darum, das Veränderbare und Widersprüchliche der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Distanz heraus zu erkennen und die bestehenden Misstände zu verändern… Das distanzierte „denkende“ Sehen ermöglicht dem Zuschauer ein kritisches Bewusstsein zur dargestellten disharmonischen Wirklichkeit zu entwickeln und schliesslich durch eigenes Handeln zur Gesellschaftsveränderung beizutragen… Die der Symbolik der Beijing-Oper zugrundeliegende taoistische Auffassung, dass die Ganzheit der Welt nicht durch die detaillierte Ausführung, sondern durch das Unbestimmte und Andeutende erreicht werden kann, zeigt sich auch in der freien, perspektivlosen Komposition der chinesischen Malerei, der Brecht aus dem gleichen Grund grosse Aufmerksamkeit schenkt.

Wang Jian : Auf den ersten Blick scheint Brecht das chinesische Theater nicht durch Aufführungen kennengelernt zu haben, sondern durch Lektüre von Broschüren und durch Besuche der Vorträge und Diskussionen, bei denen die chinesischen Darstellungstechniken demonstriert wurden. Dass er im chinesischen Theater eine Trennung zwischen dem Demonstrierenden und dem Demonstrierten wahrnimmt, scheint darauf zurückzugegen. In Wirklichkeit wurden bei diesen Vorträgen nur ein Überblick über das chinesische Theater angeboten und bei der Demonstration nur einzelne Gesten und Schritte demonstriert. Eindrücke von verschiedenen Szenen, die zu seiner These über das chinesische Theater geführt haben, kann er jedoch nur bei Aufführungen bekommen haben.

Mentioned People (1)

Brecht, Bertolt  (Augsburg 1898-1956 Berlin) : Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur

Subjects

Literature : China : Drama and Theatre : General / Literature : Occident : Germany

Documents (2)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1991 Liu, Weijian. Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. (Bochum : Brockmeyer, 1991). (Chinathemen ; Bd. 59). Diss. Freie Univ. Berlin, 1990. [Hermann Hesse, Alfred Döblin, Bertolt Brecht]. S. 180, 182, 194. Publication / LiuW1
  • Source: Lohenstein, Daniel Casper von. Grossmüthiger Feldherr Arminius, oder, Hermann : als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit nebst seiner durchlauchtigen Thussnelda, in einer sinnreichen Staats-, Liebes- und Helden-Geschichte dem Vaterlande zu Liebe, dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen Nachfolge in zwey Theilen vorgestellet, und mit annehmlichen Kupffern bezieret. (Leipzig : Johann Friedrich Gleditsch, 1689-1690). Der fünfte Teil des ersten Bandes des Romans ist China gewidmet. Lohenstein hat seine Kenntnisse aus Berichten von jesuitischen Missionaren. (Loh1, Publication)
  • Source: Seckendorff, Karl Siegmund von. Das Rad des Schicksals. In : Das Journal von Tiefurt ; Bd. 1 (1781). = Seckendorff, Karl Siegmund von. Das Rad des Schicksals, oder Die Geschichte Tchoan-gsees. (Dessau : Buchhandlung der Gelehrten, 1783). [Zhuangzi]. (Sec1, Publication)
  • Source: Schopenhauer, Arthur. Ueber den Willen in der Natur : eine Erörterung der Bestätigungen welche die Philosophie des Verfassers, seit ihrem Auftreten, durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat. (Frankfurt a.M. : Schmerber, 1836). [2. verb. und verm. Aufl. (Frankfurt a.M. : Joh. Christ. Hermann, 1854). 3., verb. und verm. Aufl. (Leipzig : F.A. Brockhaus, 1867)]. Darin enthalten ist das 7. Kapitel "Sinologie". (Schop2, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Cited by: Zentralbibliothek Zürich (ZB, Organisation)
  • Person: Brecht, Bertolt
  • Person: Döblin, Alfred
  • Person: Hesse, Hermann
  • Person: Liu, Weijian
2 2001 Wang, Jian. Über die Begegnung zwischen Brecht und Mei Lan-fang. In : Literaturstrasse ; Bd. 2 (2001). Publication / Bre25