2001
Publication
# | Year | Text | Linked Data |
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1 | 1935 |
Bertolt Brecht besucht in Moskau die Peking-Oper mit dem Frauendarsteller Mei Lanfang. Brecht, Bertolt. Über das Theater der Chinesen (1935). Er schreibt : Mei Lanfang demonstriert, im Smoking, gewisse weibliche Bewegungen. Das sind deutlich zwei Figuren. Eine zeigt, eine wird gezeit. Seine Ansichten über das Wesentliche sind ihm die Hauptsache, etwas Kritisches, Philosophisches über die Frau. Wang Jian : Für den Besuch in der Sowjetunion hat Mei Lanfang ein Sonderprogramm zusammengestellt. Darunter sind sechs Theaterstücke und sechs Tanzabschnitte aus andern Stücken ausgewählt. Brecht hat einige englische Broschüren, die Mei Lanfang mitgebracht hat, über diese Stücke gelesen. Auch haben in Moskau und St. Petersburg eine Reihe von Vorträgen und Diskussionen stattgefunden, die Brecht besucht hat. Produzent und Schauspieler aus der chinesischen, Rezipient und Zuschauer aus der europäischen Theatertradition. Genau betrachtet spielt hier die europäische Theatertradition die dominierende Rolle, da die Aufführung in einem europäischen Theater stattfindet. In der europäischen Tradition ist das Theater und in der chinesischen Tradition das Teehaus der typische Ort der Aufführung. Im europäischen Theater lässt sich ein Rückzug der Kommunikation auf der Darstellungsebene und ein Vormarsch der Kommunikation auf der Ebene von Produktion und Rezeption konstatieren, was durch das Hervortreten des Regietheaters bewiesen wird. Im chinesischen Teehaus steht immer noch die Darstellungsebene im Mittelpunkt. Hier stehen sich nicht der Autor bzw. der Regisseur als Produzent und das Publikum als Rezipient gegenüber, sondern der Schauspieler und seine Zuschauer, wobei diese Zuschauer nicht als ein Kollektiv, sondern durchaus als einzelne Individuen betrachtet werden können. Mei Lanfang erkannte die Dominanz der europäischen Theatertradition und versuchte auch, sich dieser Tradition anzupassen. Schon mit der Auswahl der Stücke bemühte er sich, den europäischen Geschmack zu berücksichtigen. Dass Brecht die Beijing-Oper und das chinesische Theater im allgemeinen missverstanden hat, kann als ein schönes Missverständnis betrachtet werden, denn er hat diese falsche Interpretation immerhin dazu genutzt, seine Theorie des epischen Theaters auszuarbeiten. Man darf den Einfluss der Beijing-Oper auf Brecht nicht überschätzen, indem man glaubt, dass eine Reihe von Theatertechniken aus dem chinesischen Theater ins epische Theater übertragen worden sind. |
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2 | 1936 |
Brecht, Bertolt. Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst. = Bemerkungen über die chinesische Schauspielkunst [erste Version von Verfremdungseffekte] = The fourth wall of China übersetzt von Huang Zuolin. In : Life and letters. Vol. 15, no 6 (1936). Brecht schreibt : Der chinesische Artist spielt vor allem nicht so, als existiere ausser den drei Wänden, die ihn umgeben, auch noch eine vierte Wand. Das Publikum kann nicht mehr die Illusion haben, ungesehener Zuschauer eines wirklich stattfindenden Ereignisses zu sein. Der Artist wünscht, dem Zuschauer fremd, ja befremdlich zu erscheinen. Er erreicht dadurch, dass er sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit betrachtet. So bekommen die Dinge, die er vorführt, etwas Erstaunliches. Alltägliche Dinge werden durch diese Kunst aus dem Bereich des Selbstverständlichen gehoben. Der Artist sieht sich selber zu… Aber er sieht auch auf seine eigenen Arme und Beine… Der Artist trennt so die Mimik von der Gestik, aber die letztere verliert nichts dadurch, denn die Haltung des Körpers wirkt auf das Antlitz zurück, verleiht ihm ganz seinen Ausdruck. Jetzt hat es den Ausdruck gelungener Zurückhaltung, jetzt des vollen Triumphes… Von vornherein beschränkt er sich darauf, die darzustellende Figur lediglich zu zitieren. Aber mit welcher Kunst tut er das ! Er benötigt nur ein Minimum von Illusion… Man weiss, dass das chinesische Theater eine Menge von Symbolen verwendet. Ein General trägt auf der Schulter etwa kleine Fähnchen, und zwar so viele, als er Regimenter befehligt. Armut wird dadurch angedeutet, dass auf den seidenen Gewändern unregelmässig Stücke von anderer Farbe, aber ebenfalls aus Seide, aufgenäht sind, die Flicken bedeuten. Die Charaktere werden durch bestimmte Masken bezeichnet, also einfach durch Bemalung. Gewisse Gesten mit beiden Händen stellen das gewaltsame Öffnen einer Tür vor und so weiter. Das chinesische Theater erscheint uns ungemein preziös, seine Darstellung der menschlichen Leidenschaften schematisch, seine Konzeption von der Gesellschaft starr und falsch, Motive und Zwecke des V-Effekts [Verfremdungseffekt] sind uns fremd und verdächtig. Der chinesische Artist holt seinen V-Effekt aus dem Zeugnis der Magie. Liu Weijian : Brecht bewundert, dass der chinesische Schauspieler nicht vorgibt, sich mit seiner Rolle zu identifizieren, sondern zurückhaltend die charakteristischen Züge des Darzustellenden lediglich zitiert. Indem der Schauspieler das Spiel des Zitats beherrscht, vermag er sich nach Brecht von seinem Modell abzuheben und die Wirklichkeit ohne Illusion zu zeigen… Im Grunde geht es Brecht bei der Aneignung der taoistisch begründeten Distanzierungsmethode der Beijing-Oper darum, das Veränderbare und Widersprüchliche der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus der Distanz heraus zu erkennen und die bestehenden Misstände zu verändern… Das distanzierte „denkende“ Sehen ermöglicht dem Zuschauer ein kritisches Bewusstsein zur dargestellten disharmonischen Wirklichkeit zu entwickeln und schliesslich durch eigenes Handeln zur Gesellschaftsveränderung beizutragen… Die der Symbolik der Beijing-Oper zugrundeliegende taoistische Auffassung, dass die Ganzheit der Welt nicht durch die detaillierte Ausführung, sondern durch das Unbestimmte und Andeutende erreicht werden kann, zeigt sich auch in der freien, perspektivlosen Komposition der chinesischen Malerei, der Brecht aus dem gleichen Grund grosse Aufmerksamkeit schenkt. Wang Jian : Auf den ersten Blick scheint Brecht das chinesische Theater nicht durch Aufführungen kennengelernt zu haben, sondern durch Lektüre von Broschüren und durch Besuche der Vorträge und Diskussionen, bei denen die chinesischen Darstellungstechniken demonstriert wurden. Dass er im chinesischen Theater eine Trennung zwischen dem Demonstrierenden und dem Demonstrierten wahrnimmt, scheint darauf zurückzugegen. In Wirklichkeit wurden bei diesen Vorträgen nur ein Überblick über das chinesische Theater angeboten und bei der Demonstration nur einzelne Gesten und Schritte demonstriert. Eindrücke von verschiedenen Szenen, die zu seiner These über das chinesische Theater geführt haben, kann er jedoch nur bei Aufführungen bekommen haben. |
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3 | 1939 |
Brecht, Bertolt. Über experimentelles Theater. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1970). Brecht schreibt : Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heisst zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. |
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