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Year

1912

Text

Paquet, Alfons. Li oder Im neuen Osten [ID D2946].
Paquet schreibt : Die wirtschaftliche Entdeckung Chinas, die sich in unserer Gegenwart vollzieht, ist wie die Entdeckung einer letzten neuen Welt. Ist sie vollendet, dann kommt das Wesentliche, dann muss, dann darf sich endlich unser Sinn mehr auf die geistigen Dinge richten. Dann wird auch das Li, die Ehrerbietung des Menschen vor dem Menschen, des Nächsten vor dem Fernsten, das Gefühl einer letzten Unantastbarkeit und des Masshaltens zwischen den Völkern, mehr in Ehren kommen...Es ist am Ende klar, dass nicht einzelne Nationen allein, sondern, wie es teilweise ja auch heute schon stillschweigend geschieht, die europäischen Nationen nur zusammen ihre Aufgaben in Asien, insbesondere in China lösen können und einander stützen müssen… Für uns Deutsche ist es zunächst wichtig, die Sonderinteressen recht klar zu erkennen…

Luo Wei : Paquet hebt sich gegen den Materialismus, die Übersättigung, die Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen richtend, das konfuzianische Gedankengut mit Nachdruck hervor.

Li Changke : Paquet ist von einer Aufgeschlossenheit, Ideologiefreiheit der Betrachtung und mit voraussetzungsloser Anerkennung des Fremden. Während seiner Reisen in China notiert Paquet was normal, bemerkenswert, ungewöhnlich oder kritisch schien. Der chinesischen Revolution steht er skeptisch gegenüber. Er schreibt : Es gilt die Voraussetzungen eines tieferen Respektes und Verständnisses wieder lebendig zu machen, die eine Zeitlang zwischen China und dem Westen nicht mehr vorhanden schienen.

Liu Weijian : Während Schriftsteller wie Karl May, Alfred Döblin und Bertolt Brecht ihr fiktives Qingdao gestalten, gelingt es Alfons Paquet als Reiseschriftsteller, seine Kenntnisse vor Ort zu sammeln. Nach seinen zwei China-Reisen schrieb er 1911 die Reiseerzählung Li oder Im neuen Osten und problematisierte die Berechtigung der Beibehaltung Qingdaos als Kolonie : Über das wiederholte Argument Flottenstützpunkt als Leiter nach dem Fernen Osten sei schon jede Erörterung müßig ; auch die Ausfuhr chinesischer Erzeugnisse über Qingdao werde sich, verglichen mit anderen Häfen, nicht ins Unbegrenzte steigern lassen. Ferner bringe die koloniale Machtdemonstration einen immer stärkeren chinesischen Nationalismus hervor, der die Fremdlinge vertreibt und die materiellen Kräfte eines Volkes steigert, zuweilen auf Kosten der geistigen. Um so mehr machte Alfons Paquet auf Qingdao als Kulturträger aufmerksam und wies dabei nicht nur auf Laozis Wuwei hin, die goldene Praxis, die Dinge sich selber zu überlassen, die sich heutzutage für ganz China in einer vom raschen Schritt der westlichen Gewalten aufgezwungenen und in Zukunft vielleicht noch für Millionen Menschenleben verhängnisvollen Krise befindet. Vielmehr hob er Konfuzius' Begriff Li als Ehrerbietung des Menschen vor dem Menschen, des Nächsten vor dem Fernsten, das Gefühl einer letzten Unantastbarkeit und des Masshaltens zwischen den Völkern hervor. Von vielen gebildeten chinesischen „Alten von Tsingtau“, die während der Xinhai-Revolution 1911 wegen ihrer Verbindung zur kaiserlichen Monarchie in das deutsche Schutzgebiet geflüchtet waren und vom dort lebenden China-Kenner Richard Wilhelm aufgenommen wurden, hoffte Alfons Paquet mehr Kenntnisse über das konfuzianistisch geprägte Land zu gewinnen. Andererseits sah er in Europäern wie Richard Wilhelm und E. J. Voskamp die vorbildlichen Mittler jener tiefen Gedanken und Stimmungen Chinas. Im Sinne von Li, der zwischenmenschlichen Zuwendung, Verständigung und Liebe, soll Qingdao eines Tages ein gemeinsames Stück deutscher und chinesischer Erde, ein heiliger Boden des Verständnisses werden.

Fang Weigui : Li oder im neuen Osten ist eine Frucht seiner drei Reisen nach China, die zwischen seinen Reiseeindrücken viele Reflexionen und Kommentare darbietet. Auch wenn seine Reisebücher und Reportagen Darstellungen aus der Geographie, Geschichte, Kultur und Politik enthalten, ist Li sehr auf die Wirtschaft bezogen. In privaten vertraulichen Briefen aus seiner dritten Reise informiert Paquet Wilhelm Merton, Gründer der Metallgesellschaft AG in Frankfurt, über die wirtschaftliche und politische Lage Chinas, über die Aktivitäten der Banken, der ausländischen Handelsgesellschaften und der Absichten und Beschlüsse der Regierungen. Er interessiert sich für Werften, Bergbau, Eisenbahn, Banken, Handel und Wirtschaftspolitik. Die Abschaffung des alten Systems und die Öffnung zur westlichen Welt war für ihn eine gute Sache ; aber er, dem die Neuerungen Jung-Chinas chaotisch und wenig durchdacht erschienen, sah in der Umwälzung auch eine latente Gefahr für westliche Interessen in China. Der Wechsel war für ihn auch deswegen unangenehm, weil er bei seiner dritten Chinareise stark die Verfluchung der ganzen weissen Rasse spürte und feststellen musste.

Paquets Reisen führen durch viele chinesische Städte, in denen es ausländische Niederlassungen gab. Er beschreibt die Differenz zwischen Reichtum und Armut, Zivilisation und Primitiviät, Eigendünkel und Unterlegenheit. Seine Shanghai-Bilder stellen eine direkte Konfrontation zweier Welten dar. Er schreibt : Aus dem ewigen Schwären dieser Chinesenstadt erheben sich die Seuchen, die Laster, die Aufstände und die Feuersbrünste, gegen die sich das europäische Schanghai mit steter Wachsamkeit zu wehren hat. Armut, Dreck und Geheimnisse, Ironie und Verachtung, vor allem geprägt von Slogans der „Gelben Gefahr“.

Über das Wort Li schreibt er : Es wird das erste bedeutende Fremdwort sein, das die europäischen Sprachen von China annehmen. Es ist vieldeutig und eindeutig zugleich, also unübersetzbar ; und es ist eigentlich nichts anderes als der wohlklingende Ausdruck für Anstand, Schönheit, Mass, innere Höflichkeit und Zeremonie ; der Schlüssel eines ganzen Volkes, das in seinen Handlungen wohl oft verbrecherisch, hassend und kindisch, in seinen Schicksalen unglücklich, aber in seinen Gebräuchen unendlich verfeinert, in seinen Riten geisterhaft und daher im Besitz einer bemerkenswerten Seelenruhe ist.

Mentioned People (1)

Paquet, Alfons  (Wiesbaden 1881-1944 Frankfurt a.M.) : Schriftsteller, Journalist, Reisender

Subjects

Literature : Occident : China as Topic / Literature : Occident : Germany

Documents (4)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1992 Li, Changke. Der China-Roman in der deutschen Literatur 1890-1930 : Tendenzen und Aspekte. (Regensburg : S. Roderer, 1992). (Theorie und Forschung ; Bd. 209. Literaturwissenschaft ; Bd. 12). S. 124-130. Publication / LiC1
  • Source: May, Karl. Kiang-lu : ein Abenteuer in China. In : Deutscher Hausschatz in Wort und Bild : für das Jahr 1880. (Regensburg : O. Pustet, 1880) ; May, Karl. Am Stillen Ocean. (Freiburg i.B. : Fehsenfeld, 1880). (MayK4, Publication)
  • Source: Birkhäuser, Ernst Adolf. Das Mädchen von Schanghai. (Leipzig : Grunow, 1938). Schauerroman ohne chinesischen Hintergrund. [Shanghai]. (Birk1, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
2 1992 Fang, Weigui. Das Chinabild in der deutschen Literatur, 1871-1933 : ein Beitrag zur komparatistischen Imagologie. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1356). Diss. Technische Hochschule Aachen, 1992. S. 199-207. Publication / FanW1
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
3 2003 Luo, Wei. "Fahrten bei geschlossener Tür" : Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. (Frankfurt a.M. : P. Lang, 2003). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1896). Diss. Beijing-Univ., 2003. S. 47. Publication / Döb2
  • Source: Dehmel, Richard. Chinesisches Trinklied : nach Li-tai-po. In : Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Hrsg. von Otto Julius Bierbaum. [Li Bo]. (Deh1, Publication)
  • Source: Dehmel, Richard. Die ferne Laute, Der dritte im Bund, Frühlingsrausch : [drei Nachdichtungen von Li-Tai-Pe]. In : Die neue Rundschau ; Jg. 17 (1906). [Li Bo]. (Deh2, Publication)
  • Source: Wilhelm, Richard. Licht aus Osten. In : Genius. Buch 1 (1921). (WilR1, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred. Die Ermordung einer Butterblume ; Segelfahrt ; Der Dritte]. Wang Zhiqian, Lin Shizhong yi. In : Wai guo wen yi = Foreign literature and art. (Shanghai : Shanghai yi wen chu ban she, 1982). Übersetzung von Die Ermordung einer Butterblume. (1910), Segelfahrt, Der Dritte. In : Die Ermordung einer Butterblume : ausgewählte Erzählungen 1910-1950. (Olten : Walter, 1962). (Ausgewählte Werke in Einzelbänden).
    外国文艺 (Döb6, Publication)
  • Source: Liao, Xingqiao. Wai guo xian dai pai wen xue dao lun. (Beijing : Beijing chu ban she, 1988). [500 Fragen zur Literatur der westlichen Moderne. Darin wird Alfred Döblin als berühmter deutscher expressionistischer Romancier erwähnt].
    外国现代派文学导论 / 廖星桥 (Döb7, Publication)
  • Source: Luo, Wei. [Döblin’s philosophische Meditation in Berlin Alexanderplatz]. In : Wai guo wen xue ping lun = Foreign literature review. 4 (1993). (Beijing : Zhongguo she hui ke xue chu ban she, 1987-).
    外国文学评論 (Döb9, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred]. Di san zhe. Cai Maoyou zhu bian. In : Mo sheng nü ren di lai xin. Cai Maoyou zhu bian. (Beijing : Huaxia chu ban she, 1994). (Shi jie hun lian xiao shuo cong shu. Deguo juan). [Übersetzung von Der Dritte. In : Die Ermordung einer Butterblume : ausgewählte Erzählungen 1910-1950. (Olten : Walter, 1962). (Ausgewählte Werke in Einzelbänden). Ehe und Liebe. Darin wird in Form einer Inhaltsangabe Berlin Alexanderplatz erwähnt].
    第三者 / 陌生女人的来信 (Döb10, Publication)
  • Source: Er shi shi ji Ou Mei wen xue shi. Zhang Yushu zhu bian. (Beijing : Beijing da xue chu ban she, 1995). [Europäische und amerikanische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts]. Darin werden Alfred Döblin einige Seiten gewidmet.
    二十世纪欧美文学史 (Döb12, Publication)
  • Source: Wei, Maoping. Zhongguo dui Deguo wen xue ying xiang shi shu. (Shanghai : Shanghai wai yu jiao yu chu ban she, 1996). [ Geschichte des chinesischen Einflusses auf die deutsche Literatur]. [Erwähnung von Alfred Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun].
    中国对德国文学影响史述 (Döb13, Publication)
  • Source: Gao, Zhongfu ; Ning, Ying. 20 shi ji Deguo wen xue shi. (Qingdao : Qingdao chu ban she, 1998). (20 shi ji wai guo guo bie wen xue shi cong shu). [Deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts]. Darin enthalten ist ein Beitrag über Alfred Döblins frühes Schaffen.
    20世纪德囯文学史 (Döb14, Publication)
  • Source: [Döblin, Alfred]. Bolin Yalishan da guang chang. Debulin zhu ; Luo Wei yi. (Shanghai : Shanghai yi wen, 2003). Übersetzung von Döblin, Alfred. Berlin Alexanderplatz : die Geschichte von Franz Biberkopf. (Berlin : S. Fischer, 1929). Erster von Döblin übersetzter Roman.
    阿德布林著 (Döb15, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Döblin, Alfred
  • Person: Luo, Wei
4 2007 Liu, Weijian. Vom "jungen Deutsch-China" zum "heiligen Boden der Verständnisses" : Tsingtau (Qingdao) im Spiegel der deutschen Literatur : http://www.dhm.de/ausstellungen/tsingtau/katalog/auf1_19.htm. Web / LiuW2