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1 1915
Küas, Richard. Die Wacht im fernen Osten [ID D13116].
Liu Weijian : Schauplatz des Romans ist die deutsche Kolonie in Qingdao. Aus den Perspektiven der Heldin Herta und der anderen deutschen Figuren stellt Küas dar, wie moralisch überlegen die Deutschen der gelben unebenbürtigen Rasse sind. Die Chinesen werden zumeist als Diener, Köche oder Rikscha-Kulis dargestellt. Ihre Fähigkeiten scheinen nur im Dienen zu bestehen. Dank den Deutschen arbeiten sie für den Export von Kohle, Strohborten und Viehfutter aus China. Sie zeigen keine Liebe zur Natur und haben die Erde des Waldes beraubt. Erst das deutsche Vorbild veranlasst sie zu Anpflanzungen und Aufforstung von Wäldern.
Küas beschreibt, wie die deutschen Soldaten gegen die Japaner kämpfen, schliesslich ihre Verteidigung aufgeben, aber nicht weil sie Angst vor dem Tod hatten, sondern weil sie plötzlich dem zwecklosen Morden Einhalt gebieten wollten.
2 1915
Kafka, Franz. Die Verwandlung [ID D13540]
Zhou Jianming : Die Erzählung trägt autobiographische Züge.
Hu Runsen stellt die These auf, dass Kafka vom Taoismus stark und positiv beeinflusst werde. Das „Tao“ komme in seinem Werk überall zum Ausdruck als Instanz, die über alles herrsche und bestimme. Das führe zur Entfremdung des Menschen. Das Motiv der Entfremdung, verstanden als die Herrschaft des Dinges über Menschen nach dem Taoismus, durchziehe vor allem die Erzählung Die Verwandlung. Zum Einen sei die tragische Feststellung von Zhuangzi, dass der Mensch unvermeidlich dem Ding dienen müsse, zu finden, zum anderen werde das schöne taoistische Ideal, über das Ding zu herrschen ausgedrückt. Dies sei das Zeiel, nach dem Kafka sein ganzes Leben lang vergeblich gestrebt habe.

Lee Joo-dong : Die Geschichte zeigt, wie der dem normalen alltäglichen Leben verfallene durchschnittliche Mensch Gregor Samsa durch den Prozess der Verwandlung seiner eigenen Innenwelt als einer fremden Gegenstandswelt gegenübersteht, die ihn plötzlich überfällt. Der Wunsch und die Sehnsucht Samsas, sich aus dem Zwang und der Gewalt des modernen gesellschaftlichen Berufslebens zu befreien, und ein freies Leben zu finden, rufen seine unruhigen Träume hervor, in denen er sich ein einen fremden Käfer verwandelt. In einer Spiegelung von wirklicher Unwirklichkeit und unwirklicher Wirklichkeit beginnen alle Dinge bei Kafka ihre Konturen zu verlieren und damit auch ihre unbezweifelbare, greifbare Realität aufzutauchen. Zwischen Traum und Verwandlung scheint deutlich ein rätselhaftes Verhältnis zu bestehen. Der Schmetterlingstraum von Zhuangzi ist ein paralleles Gleichnis. Kafkas Gedanke, dass ein Tier trotz seiner Verschiedenheit in der Gestalt, die gleiche Fähigkeit zur Hellsicht wie der Mensch tragen kann, erinnert an eine Lehre von Liezi, wonach die Denkart der Tiere von Natur aus gleichartig mit der des Menschen ist.
3 1915
Kafka, Franz. Vor dem Gesetz. In : Selbstwehr ; 7.9.1915 / In : Vom jüngsten Tag : ein Almanach deutscher Dichtung ; 1915. [Legende aus Der Prozess].
Quellen : Heilmann, Hans. Chinesische Lyrik [ID D11976] und Dittmar, Julius. Im neuen China [ID D12662].
Ernst Weiss schreibt im ‚Berliner Börsen Courier’ (26.4.1925) über den Roman Der Prozess, wobei er Kafkas Parabel Vor dem Gesetz dem Gleichnis von Zuangzi und Konfuzius gleichsetzt.

Lee Joo-dong : Vor einem unbekannten Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Man kann annehmen, dass das unbekannte Gesetz dem Tao als verborgenem und unerkennbarem Gesetz entspricht. Das Gesetz stellt sich als ein Gebäude, ein Haus oder Tor dar. Auch das Tao erscheint in taoistischen und buddhistischen Texten oft als „Himmels Schatzhaus“, „Haus“, „Tor des Wunderbaren“, „Taotor“, „Tore des Himmels“, „Pforte“ oder „Türe“. Friedrich von Schelling beschreibt das Tao als die Pforte in das wirkliche sein : Tao heisst Pforte, Tao-Lehre, die Lehre von der grossen Pforte in das Sein, von dem Nichtseienden, dem bloss seinkönnenden durch das alles endliche Sein in das wirkliche Sein eingeht. (Schellings Werke, Philosophie der Mythologie 1857).
Der Eintritt oder Nicht-Eintritt in das Gesetz scheint davon abhängig zu sein, ob der Mann vom Lande die Aussage des Türhüters, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren kann, verstehen kann oder nicht, ob er selbst seinen jetzigen existentiellen Zustand der Schuld erkennen kann oder nicht. Alle Verantwortlichkeit für den Eintritt liegt bei ihm selbst. Die Parabel erinnert an den Aphorismus Kafkas der buddhistischen und taoistischen Lehre : „Wer sucht, findet nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden“. Der Mann vom Lande wusste nicht, dass das Gesetz das in seinem Innern schon gegebene Naturgesetz ist, und dass der Weg zu sich selbst gerade den Eintritt in das Gesetz bedeutet. Der Mann scheitert, denn er hat sein Lebensziel nicht in sich selbst gesucht, sondern im Aussen. Bei Kafka wird alles, was dem Menschen von seiner Natur aus nicht gegeben ist, sondern von den Menschen von aussen auferlegt wird, völlig negiert, weil das was man nicht ist, für ihn eine Lüge oder das Böse der Welt ist.

Rolf J. Goebel : Zwar verweist das Werk immer wieder auf die soziale Umwelt Prags, das Judentum, auf politische Machtverhältnisse und Missstände der Zeit, aber Kafka unterminiert zugleich den Referenzcharakter seines Schreibens, indem er Realitätspartikel und kulturelle Diskurse allenfalls aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, ironisch gebrochen, metaphorisch verfremdet in seine Texte hineinlässt… Kafka beschränkt sich mit der Rezeption von Heilmanns Anthologie nicht nur auf die Charakterisierung der Figuren, sondern schliesst auch poetologische Momente mit ein. Es geht ihm nicht eigentlich um die Aneignung von chinesischen Themen und Gedanken, sondern um ein imaginativ-soziatives Spiel mit einzelnen Signifikanten, die sich von ihren ursprünglichen Signifkanten lösen, und mit Motivfragmenten, die den Kontext weitgehend hinter sich lassen… Dittmar erwähnt drei aufeinander folgende Stadt-Tore, die von chinesischen Soldaten bewacht werden. Diese fragmentarischen Wortbrocken könnten, auch hier von ihrem usrpünglichen Kontext gelöst, Kafka zur Konzeption der aufeinander folgenden schrecklichen Türhüter inspiriert haben…Kafka hat zwar Dittmars Bericht als Fundus fragmentarischer Motive und sprachlicher Signifikanten benutzen können, den ideologischen Orientalismus-Kontext des übernommenen Sprachmaterials als solchen aber unterdrückt.
4 1915
Elias Canettis Interesse wird schon in der Kindheit geweckt. Er liest Von Pol zu Pol von Sven Hedin [ID D13999]. Darin enthalten sind einige Kapitel über China, eines über Marco Polo.
Canetti schreibt : Es gab drei Bände davon und ich bekam sie nach und nach zu besonderen Gelegenheiten. Schon der erste Band war eine Offenbarung. Da kamen Forschungsreisen in alle möglichen Länder vor, Livingstone und Stanley in Afrika, Marco Polo in China.
5 1915
Wei Zhuomin erhält den M.A. des Boone College in Wuchang.
6 1915-1925
Wei Zhuomin studiert an der Harvard University.
7 1915-1918
Xiao Gongquan studiert an der YMCA (Young Men's Christian Association) High School in Shanghai.
8 1915
Laotse. Der Anschluss an das Gesetz, oder, Der grosse Anschluss. Carl Dallago [ID D17008].
Quellen : Richard Wilhelm [ID D4445], Alexander Ular [ID D11974], Franz Hartmann [ID D12668].
Dallago schreibt im Vorwort der Auflage von 1921 über das Dao de jing von Richard Wilhelm : Der Eindruck des Buches war bezwingend und in manchem Betracht für mich derart bedeutungsvoll, dass es mich drängte, in einem Aufsatz (Laotze und ich) der ausserordentlichen Verehrung, die mich für den Geist des altchinesischen Weisen ergriffen hatt, Ausdruck zu geben [und] gegen die Übersetzung da und dort begründeten Einwand zu erheben.

Han Ruixin : Dallago empfand die bereits vorhandenen deutschen Übersetzungen des Dao de jing unzulänglich und gestaltet seine Nachdichtung auf der Grundlage von Wilhelm, Ular und Hartmann. Er konnte kein Chinesisch, war aber der Ansicht, dass die Sprache 'im Rein-Menschlichen' wie im 'Rein-Geistigen' nur Zeichen oder Behelf, niemals aber Erfüllung sein kann, und es immer Ohren erfordert, die hören, und Herzen, die aufnehmen können. Dallago hat in einem einfachen Sprachstil das Wesentliche des Dao de jing wiedergegeben.
9 1915
Chen, Duxiu. Jin gao qing nian [ID D18284].
Chen schreibt : Es wäre besser, wenn unser gesamtes nationales Kulturerbe verschwinden würde, denn es ist in der modernen Welt nicht lebensfähig. Das Bewusstwerden von Moral ist das allerletzte Bewusstwerden meiner Landsleute. Eine der chinesischen Sitten besteht aus der Apathie des Menschen.
Seit dem Popularisieren der Lehren über die Menschenrechte und Gleichheit können die mutigen Jugendlichen es unter dem Namen Sklaven nicht mehr aushalten. Die Geschichte des modernen Europa wird die 'Emanzipationsgeschichte' genannt : monarchische Gewalt wurde zerstört, um sich politisch zu emanzipieren ; Kirchenmächte wurden abgeleugnet, um sich von der Religion zu emanzipieren ; die Idee von gleicher Arbeit wurde befürwortet, um sich wirtschaftlich zu emanzipieren ; Frauen sind an der Politik beteiligt, um sich von den Mächten der Männer zu emanzipieren. Emanzipation bedeutet Bruch mit den Fesseln der Sklaverei, um die freie und selbständige Menschenwürde zu vervollkommnen.
Ich bin nicht bereit, den andern zum Sklaven zu machen, um dem Willen des Herrn zu entsprechen. Ich betrachte den selbständigen, freien Charakter als das Höchste. Alles Benehmen, alle Mächte, aller Glaube haben sich der eigenen Intelligenz zu unterwerfen, ohne dem anderen zu gehorchen.
Differenziert hat der grosse Philosoph Nietzsche, was den Begriff der Moral betrifft, zwei Arten von Moral : die eine heisst Herrenmoral, die andere Sklavenmoral. Die Herrenmoral stellt die Selbständigkeit und Tapferkeit dar, während Bescheidenheit und Gehorsam zur Sklavenmoral gehören. Loyalität, Pietät, Integrität, Rechtschaffenheit sind alles Sklavenmoral. Zum Sklavenglück gehören die Geringschätzung des Strafrechts und der Grundsteuer ; zum sklavischen Stil der Literatur gehört die Hochschätzung von Verdiensten und Tugenden ; zum sklavischen Ruhm gehört die Verehrung der Adelsränge ; Erinnerungsstücke im Sinne auch des Klaven sind Monument und Mausoleum…
Loyalität, Kindesliebe, Tugend und Brüderlichkeit – das ist die Moral der Sklaven ; leichtere Folter und mindere Grundsteuer – das ist das Glück der Sklaven ; Gnadegewinsel und Rangverehrung – das ist die Ehre der Sklaven ; grosses Grabmal und hoher Grabhügel – das ist das Gedenken der Sklaven. Denn all diese Entscheidungen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Ehre und Schande können sie selbst nicht treffen, sondern sie lassen sie durch andere fällen. Die indivuduelle, unabhängige und gleiche Persönlichkeit ist völlig vernichtet. Wer Gut und Böse nicht mit eigenem Willen beurteilen kann, der ist ein Sklave.

Yu Longfa : Chen Duxiu befasst sich mit Friedrich Nietzsche, um sich mit den moralischen Traditionen Chinas, die systematisch der Dynamik und dem Unternehmungsgeist des Westens gegenübergestellt werden, auseinanderzusetzen. Chens Übernahme der Ideen Nietzsches ist von seinen frühen revolutionären Gedanken zu Philosophie, Ökonomie und Politik nicht zu trennen. Seine Beiträge haben keinen grossen Anteil an der chinesischen Nietzsche-Rezeption, aber der Einfluss der Artikel war damals in der neuen Kulturbewegun eindeutig zu spüren. Chen Betrachtet den Konfuzianismus nicht nur als eine Hauptursache für den Untergang des Landes, sondern auch als absolut unverträglich mit einer auf den Werten der Freiheit und Gleichheit aufgebauten Gesellschaft. Wichtige Voraussetzungen für eine Änderung der sozialpolitischen Lage Chinas sieht er im Widerstand gegen die Tyrannei der konfuzianischen Tradition wie der Ethik. Er ist sich darüber klar, dass China, wenn es überleben wolle, sich der Modernisierung und dem Westen weiter öffnen müsse. Die Ideen des Westens enthalten neue, aufblühende, demokratische und wissenschaftliche Aspekte. Es ist für Chen relevant, dass der einzelne Mensch im Sinne des westlich geprägten individuellen Charakters einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung des Landes leisten würde.
10 1915
Xie, Wuliang. Deguo da zhe xue zhe Nicai zhi lüe zhuan ji xue shuo [ID D18285].
Xie schreibt : Nietzsche ist eine grosse Persönlichkeit, die über seinen Zeitgenossen steht. Er ist der hochherzige Mann, den es zu bewundern gilt. Die Lehre Nietzsches ist durch hervorragende Besonderheiten gekennzeichnet, die dazu dienen, einen Beitrag zur Steuerung allen Übels des Landes zu leisten, den schwachen Menschen zur Selbständigkeit und Selbststärkung zu begünstigen.
Das gegenwärtige grösste Übel in der Welt liegt nicht in den Äusserungen von besorgten Meinungen, nicht in unreinem Denken und auch nicht in unnmässigem Handeln des Menschen. Alles Übel kommt vom Menschen selbst. Die Massen neigen zur Gleichheit, haben eine Abneigung gegen Ungleichheit. Die heutigen Menschen suchen nach der Kriecherei, indem sie sich den gesellschaftlichen Konventionen fügen, um einem lächelnden Gesicht entgegenzusehen. Sie wagen nicht zu sagen, was schwarz, was weiss ist. Sie trauen sich auch nicht von Recht und Unrecht zu reden. Die Inelligenz der Chinesen geht Tag für Tag weiter zugrunde. Sie sind deprimiert. Für die ganze Nation droht die Unterjochensgefährdung des Landes. Zwar haben wir noch heilige Persönlichkeiten zur Verfügung, aber sie wissen selber auch nicht, wie sie zu handeln haben.
Nietzsche befürwortete den Begriff des Willens zur Macht, der zum Genie entwickelt und vervollkommnet worden ist, was zur primären Entwicklung gehört. Ob man Herr oder Knecht wird, dies ist davon abhängig, wie gross der Wille zur Macht ist. Gut heisst Erlangen von Macht ; Böse heisst Verlieren der Macht. Schutz der Macht bedeutet Gut ; Beschädigung der Macht bedeutet Böse. Die gegenwärtige europäische Moralanschauung ist durch die Massenmoral gekennzeichnet. Wer sich solch einer Moral unterwirft, der ist gut ; wer sie nicht befolgt, der ist schlecht. Der Schwache muss auf jeden Fall zugrunde gehen. Dies ist der erste Sinn der Humanität.

Yu Longfa : Cheng Fang schreibt 1993, dass sich Xie Wuliang nicht unter wissenschaftlichem Aspekt, sondern aus der Sicht des konfuzianischen Gelehrten mit Nietzsche auseinandergesetzt habe. Es liegt aber nahe, dass Xie wahrscheinlich viel mehr wie Lu Xun von der japanischen Nietzsche-Präsentation beeinflusst worden ist, als dass er sich mit konfuzianischer Morallehre befasst hat. Xie macht besonders auf Nietzsches charakteristische Eigenschaften aufmerksam, die in China eingeführt zu werden ihm notwendig scheint. Angesichts des schwachen chinesischen Nationalcharakters ist er überzeugt, dass Nietzsche mit seinem 'Kuang-Geist' imstande sein kann, die augenblicklichen Zustände in China zu ändern. Nietzsches Lehre inspiriert ihn im wesentlichen zur formalen Diagnose der Zustände der Zeit. Nach seinem Verständnis empfindet Nietzsche über den gegenwärtigen Stand von Sitte und Moral in Europa ein tiefes Unbehagen : Es fehlt an Humanität und Gerechtigkeit. Deshalb appelliert er an die Menschen, damit sie eine grundlegende geistige Erneuerung unternehmen könnten. Ohne sich darum zu kümmern, was man für recht oder unrecht halte, verkünde Nietzsche offen seine Idee vom Willen zur Macht, die Xie betont und zugleich als eine Therapie gegen soziale Übelstände in China ansieht.
Xie behandelt in seinem Beitrag vorwiegend essentielle Lehren Nietzsches wie 'Jenseits von Gut und Böse', 'Lehre des sündhaften Christentums' und die 'Lehre des Übermenschen'. Er betrachtet den Begriff Willen zur Macht als wesentliches Element der Entwicklung der Menschen. Der Mensch wird von ihm primär als Naturwesen gesehen, das den Kampf ums Dasein zu bestehen habe. Man soll nicht nach Befriedigung streben, sondern nach immer grösserer Macht, nicht nach Frieden, sondern nach Krieg. Er kommt zum Schluss : Kampf und Krieg stellen das grundlegende Prinzip für die Weiterentwicklung der biologischen und soziologischen Welt dar. Seiner Ansicht nach steht Nietzsche auf dem Boden des Selektionsprinzips vom Überleben des Tüchtigen, nach dem der Starke berechtigt ist, den Schwachen zu seinen eigenen Zwecken zu benutzen. Nach Xies Ansicht plädiere das Christentum für das Prinzip des Schwachen, der sich an die vorhandenen Regeln und Bestimmungen zu halten bereit sei. Er hält dies für einen sündhaften Gedanken und stellt fest, dass Nietzsche nicht unberechtigt als Antichrist anzusehen sei, weil das Christentum Nietzsches Lebensphilosophie völlig entgegenlaufe.
Die letzte Passage beginnt mit der Idee des Übermenschen, den Xie mit dem konfuzianischen Ausdruck des Weisen oder Heiligen bezeichnet. Schopenhauer, Napoleon und Wagner werden erwähnt, die allgemein als Vorbilder für zukünftige Menschen angesehen werden. Xie bringt Nietzsches Übermensch-Gedanke mit der Lehre der Verbesserung von körperlichen und geistigen Tüchtigkeit des Menschen in Verbindung, indem er sagt : "Nietzsches Übermensch in eugenischem Sinne setzt das Ehesystem voraus".
11 1915
Weber, Max. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen : Der Konfuzianismus [ID D18957]. Erstabdruck der ersten Fassung.
Weber sagt in Berlin : Ich fühle mich so wohl und arbeitsfähig, sobald ich mit chinesischen und indischen Sachen zu tun habe, sehne ich mich sehr danach.
12 1915
Liang, Qichao. Feisidi ren sheng tian zhi lun shu ping [ID D19592].
Liang Qichao schreibt :
Kritische Darstellung von Fichtes Lehre über die Bestimmung des menschlichen Lebens
…Goethe und Schiller waren zwei große Dichterfürsten, die vor mehr als hundert Jahren eine neue Art der Literatur schufen. Durch die Kraft ihrer Gedichte und Dramen bewirkten sie eine innere Wandlung (ganhua) der Staatsbürger. Kant und Fichte waren zwei große Gelehrte, die vor über hundert Jahren eine neue Art der Philosophie ausarbeiteten. Sie ermahnten und ermutigten die Staatsbürger mit Hilfe einer ideellen Moral (lixiang daode). Daß die Werke dieser vier Weisen in Deutschland von jedermann zitiert werden, versteht sich von selbst. Auf der ganzen Welt gibt es kaum ein Land, in dem keine Übersetzungen ihrer sämtlichen Werke vorliegen, und nicht einen Leser, der nicht in höchstem Maße [von ihnen] bewegt worden wäre. Allein von uns Chinesen haben wohl höchstens einige Studenten schon einmal den Namen Kant gehört. Von den drei übrigen Meistern können wir kaum die Nachnamen nennen, geschweige denn verhandeln, was sie lehrten. O! Kann es eine schlimmere Schmach für unser bedauerns- und bemitleidenswertes China geben? Ich sagte bereits, daß Fichte der Welt der Philosophie angehörte. Seine Leistung als Wegbereiter ist mit derjenigen Kants nicht zu vergleichen, und sein Verdienst als Synthetiker reicht an dasjenige Hegels nicht heran. In seiner Wirkung auf den Lauf der Welt und die Herzen der Menschen hat er jedoch [beide] übertroffen. Denn obwohl die Ideale, die Fichte lehrte, äußerst erhaben waren, kam er stets auf das Bemühen zu handeln (lixing) zurück. Fichtes Worte waren ebenso tiefschürfend wie ermutigend. Mit jedem Satz vermochte er das Verantwortungsgefühl der Menschen zu stärken und ihre Gemütsverfassung zu verbessern. Nachdem der Preußenkönig Friedrich der Große Ende des 18. Jahrhunderts gestorben war, wurde die üble Praxis des Absolutismus fortgeführt. Das Volk litt bittere Not und fand kein Auskommen. Sowohl die politischen Zustände als auch die gesellschaftliche Disziplin verfielen… Wie soll sich ein erschöpftes und ausgelaugtes Volk in einer derartigen nationalen Notlage verhalten? Bei dem sog. "Deutschen Volk" (Rierman minzu) gab es damals keine Unterschiede mehr zwischen arm und reich, vornehm und gemein, klug und dumm, fähig und liederlich. Alle Menschen kannten nur noch die Sorge um den Untergang der Nation und die Furcht vor der Versklavung; alle waren gleichermaßen verzagt und ergingen sich in Selbstmitleid. Plötzlich jedoch trat einer hervor, der [die Menschen] aus ihrem Albtraum aufrüttelte und von der schleichenden Krankheit, die sie befallen hatte, kurierte, der die Ursache all ihrer Trübsal und Verzweiflung an der Wurzel packte und [die Nation] einer glänzenden Zukunft entgegenführte. Eben dieser Mensch war Fichte… Fichte verfaßte in der umzingelten Stadt ein kleines Büchlein mit dem Titel Reden an die deutsche Nation (Gao Deyizhi guomin). Bis auf den heutigen Tag scheint in Deutschland jedermann, bis hin zu Kindern und Handlangern, die Worte dieser Schrift rezitieren zu können. Die geistige Kraft [der Reden] beherrscht die Psyche aller Deutschen heute noch genauso wie vor einhundert Jahren… Aber wie könnte man bloß Fichtes Worte für bemerkenswert halten, ohne zugleich die erhabene Größe seines Charakters zu bewundern, der etwas an sich hatte, das tief in die Herzen der Menschen drang? Die Umstände, in denen wir Chinesen uns gegenwärtig befinden, sind wahrhaftig äußerst verfahren und gefährlich. Dennoch sind sie in meinen Augen noch nicht so kritisch wie die Lage der Deutschen zu Lebzeiten Fichtes… Fichte hat ein äußerst umfangreiches philosophisches Werk geschaffen. Da meine Gelehrsamkeit noch nicht ausreicht, maße ich mir nicht an, es zu übersetzen…
Die Zweifelsfrage nach [dem Sinn des] menschlichen Lebens
… Fichte hat in seiner Lehre über die Bestimmung des menschlichen Lebens über die Lösung der Zweifelsfrage nach dem Sinn [des menschlichen Lebens] nachgedacht. Ob seine Lösung richtig oder falsch ist, wage ich nicht zu beurteilen. Ich glaube lediglich, daß sie für uns von Nutzen sein kann… Im heutigen China z.B. meint fast niemand mehr, an seinem Leben Freude zu finden… Diese fünffach trübe und böse Welt ist in Wirklichkeit ein Ort von Verbrechen und Strafe, Ruin und Betrug. Alle Lebewesen sind in einem schweren Joch gefangen. Man kann nur danach streben, sich [daraus] zu befreien, und darf an nichts anderes denken…
Die Bestimmung des individuellen Menschenlebens
Konfuzius sagt: "Die Menschen des Altertums lernten ausschließlich für sich." Seit jeher wurde dieser Ausspruch damit erklärt, daß jeder Mensch verschieden sei. Wirklich erhellt wird er durch Fichtes Lehre. Fichte sagt, daß wir, wenn wir selbst erkennen wollen, worin unsere Bestimmung besteht, zunächst an eines glauben müssen: "Wofür werde ich geboren? Ich werde für mich geboren. Wofür muß ich mein Leben erhalten? Ich erhalte es für mich. Wofür strenge ich mich an? Ich strenge mich für mich an." Aus diesem Grunde sind die Pflichten der Gattung Mensch keineswegs Pflichten gegenüber der Welt, sondern einzig und allein gegenüber sich selbst. Das sogenannte "Ich" besteht aus dem vernünftigen Ich und dem empfindenden Ich. Vernunft besitzt allein der Mensch. Die Empfindungen hat er mit den anderen Lebewesen gemein. Deshalb kann man nur die Vernunft als sein wahres Ich (zhenwo) bezeichnen… Das vernünftige Ich und das empfindende Ich, von denen Fichte oben spricht, entsprechen ziemlich genau dem, was die Buddhisten "wahre Soheit" (zhenru) und "Ignoranz" (wu ming) nennen und die Song-Konfuzianer als "ideelles Wesen" (yili zhi xing) und "materielles Wesen" (qizhi zhi xing) bezeichnen… Fichte meint, daß das "Nicht-Ich" der Außenwelt dem "Ich" zwar bestimmt manchmal schade, manchmal jedoch auch großen Nutzen bringe, und daß der sogenannte Schaden letztlich sogar nichts anderes als ein Mittel sei, um den Nutzen zu mehren. Deshalb lehrt [Fichte] die Menschen, der Funktion der Empfindung nicht feindlich gegenüberzustehen, sondern sie nur ordentlich zu regeln und zum Guten zu nutzen. Er sagt, daß die erste und wichtigste Pflicht der Gattung Mensch gegenüber sich selbst darin besteht, die Vernunft zu vervollkommnen. Und wie kann man seine Vernunft vervollkommnen? Indem man seinen freien Willen kultiviert, so daß er, wenn er sich äußert, nicht mit der Vernunft in Widerspruch gerät. Diese Worte scheinen exakt mit dem übereinzustimmen, was unsere früheren Weisen "das Wesen leiten, um das Wesen auszuschöpfen" (shuaixing jinxing) nannten. Aber Fichte meint weiter, daß die menschlichen Wesensvermögen in ihrer Substanz zwar identisch seien, infolge der Begrenzung durch die Außenwelt jedoch völlig verschieden würden. Um [unserer Bestimmung] zu entsprechen, kommen wir nicht umhin, unsere Wesensvermögen zu nutzen. Doch eben deshalb verlieren die unterschiedlichen Wesensvermögen im Lauf der Zeit leicht ihre Identität und geraten in wechselseitigen Widerspruch… Nachdem Fichte alle diese Punkte erklärt hat, zieht er schließlich den folgenden Schluß. Er sagt: Das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens besteht allein darin, unseren Leib und das uns innewohnende Wesen zu einer Einheit zu verschmelzen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die Außenwelt und unseren Begriff von ihr zu einer Einheit zu verschmelzen. Das, was Fichte "die Außenwelt" nennt, entspricht ungefähr den "sechs Verunreinigungen" (liuchen), die die buddhistischen Klassiker anführen; und was er "unseren Begriff der Außenwelt" nennt, entspricht in etwa den "sechs Wurzeln" [der Sinneswahrnehmung] (liugen), die die buddhistischen Klassiker unterscheiden…
Fichte sagt weiter: Weil der Mensch Vernunft besitzt, ist er die Seele der zehntausend Dinge. Deshalb stehen uns Menschen alle nicht vernunftbegabten Dinge und Angelegenheiten der Außenwelt in ihrer Gesamtheit zur Verfügung, um sie unseren Wünschen gemäß frei zu beherrschen. Dies ist in Wirklichkeit das größte und letzte Ziel der Gattung Mensch. Der Weg, der vor uns liegt, wenn wir dieses Ziel zu erreichen wünschen, ist allerdings äußerst weit. Daß wir diese gewaltige Aufgabe in unserem begrenzten Leben nicht werden vollenden können, ist klar. Doch dürfen wir uns deshalb weder aus unserer Verantwortung stehlen, noch darf es uns entmutigen… Fichtes Absicht liegt nun darin zu sagen, daß das Ich dem Himmel gleich ist, und daher immer nur das Ich die Natur beherrschen soll und die Natur nie das Ich beherrschen darf… Fichtes Weg ist daher weder ein bloßes Gewährenlassen noch verliert er sich im Gewöhnlichen. Das ist sein besonderes Merkmal. Von den früheren Weisen, die über die persönliche Bildung sprachen, hielten viele "Ruhe zu bewahren" (zhujing) und das "Äußerste festzusetzen" (liji) für wesentlich. Die Konfuzianer in unserem Land haben diese Ansicht seit der Song- und Yuan-Zeit vertreten. [Für sie] war die Ruhe unser eigentliches Wesen und die Bewegung ein krankhafter Zustand, so wie es im Buch der Musik steht: "Der Mensch ist bei Geburt ruhig; das ist das Wesen des Himmels. Erst, wenn er von den Dingen berührt wird, bewegt er sich; das sind die Begierden seines Wesens". Fichte hält dem entgegen, daß das Wesen etwas lebendiges ist und kein totes Ding. Deshalb hält er es für wesentlich, daß jedes Leben sich üppig bewegt… Das von Fichte verkündete Sittengesetz hält mithin unbedingt am Progressivismus (jinquzhuyi) fest und verfällt nie in Retrogressivismus
(tuiyingzhuyi). Das ist ein weiteres seiner besonderen Merkmale…
Die Bestimmung gegenüber der Gesellschaft
… Der Sinn von Fichtes Lehre wird oft so wiedergegeben: "Ich werde für mich geboren, und
ich lebe für mich". Auf den ersten Blick scheint es, als seien [diese Sätze] im Grunde mit Yang [Zhus] Lehre identisch. Dennoch hat ihre Kraft, die Menschen zu bewegen, beinahe alle Welt zu Anhängern Mos [Mozi] gemacht. Dies hat keinen anderen Grund als den, daß Fichte sich über die Verbindung zwischen den Anderen und dem Ich keine Illusionen machte. Nach eingehender Untersuchung erkannte er, daß man nur durch den doppelten Gebrauch der Liebe zu anderen der Tatsache der Selbstliebe Rechnung tragen konnte. Deshalb ging er oft von der Doktrin der Selbstliebe aus, wenn er für die Liebe zu anderen eintrat. Er machte nie große Worte und versuchte nicht, unmögliches zu erzwingen, sondern versetzte [die Menschen] in die Lage, von sich aus das Rechte zu tun. Und genau aus diesem Grund ist Fichtes Sicht der Gesellschaft so wertvoll. Fichte geht von folgenden Fragen aus. In der Philosophie gibt es zwei vorgängig zu entscheidende Fragen, deren Untersuchung zu vernachlässigen unsere Zeitgenossen seit langem gewohnt sind. Die erste Frage lautet: Warum erkennen wir unseren Leib (quqiao) als unseren Besitz an? Der Leib ist ursprünglich aus Materie zusammengesetzt und erscheint als Begrenzung des vernünftigen Ich. Trotzdem bezeichnen wir ihn nicht als Ding, sondern als Ich. Ist das nicht sonderbar? Die zweite Frage lautet: Warum erkennen wir, daß es außer uns noch andere Menschen gibt? All diese mit unserem Ich gleichartigen Menschen erweisen sich genau betrachtet dem Ich gegenüber als Nicht-Ich und den Dingen gegenüber als Nicht-Dinge. Sind diese anderen Menschen, die weder Ich noch Dinge sind, daher nicht nur von unserem Geist hervorgebrachte Trugbilder? Diese beiden Fragen merkwürdig zu nennen geht wohl an. Doch kann man sie ebensowohl als dringlich bezeichnen. Fichte beantwortet sie wie folgt: Der Leib ist ursprünglich Nicht-Ich und Ding, doch erkennt das Ich ihn tatsächlich immer schon als Ich an. Die Ursache dafür ist nicht, daß das Ich erst dadurch, daß es ihn als Ich anerkennt, zum Ich wird. In Wirklichkeit ist er ein Teil des Ich… Von Fichtes Lehre her könnte man dies beinahe so ausdrücken, [das Potential der] Dinge in der Vereinigung mit dem Ich auszuschöpfen. Auf die zweite Frage gibt Fichte folgende Antwort: In unserem Leib gibt es einen Teil Ich und einen Teil Dinge; der Leib ist aus beiden zusammengesetzt. Analysiert man weiter, dann ist der Teil Dinge sowohl Ich als auch Nicht-Ich. Außerhalb unseres Leibs sind die mit uns gleichartigen anderen Menschen ebenfalls aus einem Teil Ich und einem Teil Dinge zusammengesetzt. Analysiert man weiter, dann ist der in der Struktur der anderen Menschen angelegte Teil Ich sowohl Nicht-Ich als auch Ich… Wer nach Erfolg strebt, ist unausweichlich auf Arbeitsteilung mit denen, die von der gleichen Art sind, angewiesen; darauf, mit vereinten Kräften zusammenzuarbeiten. Das ist der zweite [Grund], weshalb die Gesellschaft als wichtig anzusehen ist. Fichtes Erklärung des Fundaments, auf das sich die Gesellschaft gründet, stellt sich im Großen und Ganzen so dar, wie ich es dargelegt habe. Daran anschließend zieht Fichte folgenden Schluß: Alle Menschen müssen ein Zusammenleben mit denen anstreben, die von der gleichen Art sind. Aus eben diesem Grund ist die Absicht, seine Wesensvermögen auszuschöpfen, in Wirklichkeit eine Pflicht des Ich gegenüber sich selbst. Die Mode, sich in Berge und Wälder zurückzuziehen oder der Wunsch, sich von der Menge zu entfernen und sich auf immer von der Welt abzuschneiden, sind daher nicht nur illoyal gegenüber der Gesellschaft, sondern auch illoyal gegenüber sich selbst. Fichte fährt fort, indem er die Stellung des Staates erörtert, den er als das höchste Ideal der Gattung Mensch bezeichnet. Wer ernsthaft wünscht, die vollständige Verwirklichung der Vernunft zu bewirken und eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Vernunft vollständig verwirklicht ist, der muß mit aller Kraft abseitiges Wissen und heimliches Gebaren ausmerzen und dafür eintreten, daß die Menschen auf der ganzen Welt gemeinsam dem rechten Weg folgen und sich um größeres Glück bemühen… Ein von Fichte häufig angeführter Ausspruch lautet: "Um der Pflicht willen die Pflicht erfüllen." Dieses Wort ließ der Wesensart der Deutschen während der letzten einhundert Jahre tatsächlich eine unvergleich große Wandlung angedeihen… Fichte sagt weiter: Ich sprach davon, daß die vollständige Verwirklichung der Vernunft das höchste Ideal der Gattung Mensch ist. Doch wünschen wir nicht, daß diese Angelegenheit bis in alle Ewigkeit ein Ideal bleibt. Freilich kann man [dieses Ideal] nicht auf einen Schlag verwirklichen. Deshalb kann es in der heutigen Welt nicht mehr als ein Ideal sein. Dennoch: Wenn man nur bewirkt, daß jeder Mensch weiß, daß er in Richtung auf dieses Ideal voranschreitet, kommt dessen Verwirklichung mit jedem Tag näher. Nun wird man fragen: Wie kann man bewirken, daß die Menschen gemeinsam in Richtung auf dieses Ziel voranschreiten? Oder noch deutlicher: daß alle Menschen dieses Ideal hochhalten? Und wie kann man sie dazu veranlassen, diesem großen Ideal stets zu entsprechen? Fichte antwortet darauf: Dem Wesen nach ist das Ideal gewiß bei allen Menschen gleich. In seinem Grad gibt es jedoch alle möglichen Unterschiede. Alle Menschen nehmen den Grad, in dem sie das Ideal hegen, [als Maßstab], um ihn den anderen vorzuschreiben. Immer wenn wir sehen, daß der Grad der anderen nicht an unseren heranreicht, wünschen wir, sie zu Fortschritten anzuleiten und zu bewirken, daß sie sich uns angleichen…. Was Fichte den Wettstreit der Geister nennt, heißt nichts anderes, als daß jeder seinen freien Willen äußert, um in gegenseitigen Wettbewerb zu treten. Jeder Mensch wünscht, die anderen seinem Willen anzugleichen. Doch nur das Höchste Gute kann den endgültigen Sieg davontragen. Dabei kommt es nach Fichte auf die Kraft an, eine Wandlung zu bewirken, und nicht auf die Kraft zur Unterdrückung. Und deshalb steht das, was er hier sagt, mit dem vorher Gesagten ganz und gar nicht im Widerspruch. Alle europäischen Philosophen gefallen sich darin, immer wieder von Freiheit und Gleichheit zu reden. So wurde diese Unsitte auch nach China eingeführt. Wenn sie nicht besiegt wird, werden die, die sich um das Reich sorgen, [Freiheit und Gleichheit] als schändlich abtun. Doch wenn man diese Begriffe so wie Fichte erklärt, wie sollte es da auch nur das geringste Übel geben? [Ihm zufolge] muß es nämlich erst die Freiheit des Willens geben, bevor es etwas gibt, worauf die Verantwortlichkeit für gutes und schlechtes Handeln zurückzuführen ist… Das Benehmen der jungen Leute, die in unserem China von Freiheit gehört haben, ist von Fichtes Standpunkt betrachtet, eindeutig [das Benehmen von] Sklaven der äußeren Dinge und damit dem eigentlichen Wesen der Freiheit gerade entgegengesetzt. Mit der Gleichheit verhält es sich genauso. Der erste Grundsatz von Fichtes Erklärung der Gleichheit besteht darin, die Freiheit der anderen zu achten. Denn wenn die Menschen gegenseitig ihre Freiheit achten, dann ist die Gleichheit die daraus hervorgehende Ordnung. Und wie sollten dann Ausbrüche zügelloser Unordnung noch Unheil stiften können? Diejenigen, die sich auf die Gleichheit berufen, um die Ordnung zu zerstören, befinden sich ebenfalls in genauem Gegensatz zu dem, was Fichte als Gleichheit bezeichnet. Wenn jemand [die beiden Begriffe] wie Fichte [erklärt], kann man daher in der Tat sagen, daß er gut von Freiheit und Gleichheit spricht. Fichte sagt weiter: Der Höhepunkt in der Entwicklung der Gattung Mensch besteht in der Harmonisierung der allen gemeinsamen Vernunft. Auf den ersten Blick hängen die Worte, Gedanken und Taten jedes Menschen von etwas anderem ab. Bei einigen ist es dieses, bei anderen jenes. Es herrscht ein solches Durcheinander, daß es scheint, als sei es nicht auf einen Nenner zu bringen. Doch auch wenn die Wege verschieden sind, ist das Ziel gemeinsam; der Grund ist der gleiche, auch wenn die Pläne zahlreich sind. Da es jedoch eine gemeinsame Vernunft gibt, die man als Ausgangspunkt ansehen kann, sind die Menschen selbst in der Lage, in Richtung auf das Ziel der Harmonisierung voranzukommen. Und wenn sie sich voll und ganz diesem Ziel widmen, dann wird die Substanz ihrer Vernunft vollkommen gleich werden. Dies nennt man: "Beim höchsten Guten anhalten." Die natürliche Pflicht unserer Klasse gegenüber der Gesellschaft besteht in nichts anderem, als unsere bescheidenen Kräfte darin zu erschöpfen, die Gesellschaft zu unterstützen und dazu anzutreiben, "beim höchsten Guten anzuhalten". Der Sinn dessen, was Fichte, wie ich schon dargelegt habe, als "die völlige Gleichheit der Substanz der Vernunft" bezeichnet, zielt fast auf dasselbe wie die "wahre Soheit" in der buddhistischen Lehre. Doch was die buddhistische Lehre "den Wunsch, die wahre Soheit zu kultivieren" nennt, besagt, daß man seine ganze Kraft darauf verwenden soll, [den Kreislauf von] Leben und Vergehen zu durchbrechen. Was Fichte lehrt, ist dem genau entgegengesetzt. Zu sagen, daß man sich der Abfolge von Leben und Vergehen widersetzen soll, reicht als Vehikel zur Verwirklichung der wahren Soheit nicht aus. Aus diesem Grund hält die buddhistische Lehre die Befreiung vom Gesetz der Welt für das letzte Ziel, während Fichte zu dem Ergebnis kommt, daß man sich nicht vom Gesetz der Welt entfernen darf. Bei Fichte heißt es: In die Region der harmonisierten Vernunft kann man nur gelangen, wenn jeder einzelne seine Vernunft selbst entfaltet, jeder jeden unterstützt und jedem hilft, und jeder eine würdige Haltung zeigt. Es gibt jedoch nur zwei Wege, seine Kraft hierfür zu verwenden. Erstens: Geben, und zweitens: Nehmen. Was heißt "Geben"? Es bedeutet, den anderen Menschen ihre Freiheit zu belassen. Was heißt "Nehmen"? Es bedeutet, von anderen Menschen Nutzen zu ziehen… Fichte meint, daß man, wenn man es nur vermag, die tiefgründige Wahrheit der beiden Methoden des Gebens und Nehmens zu begreifen, selbst in der Lage ist, das Vorhandene und das Nicht-Vorhandene einander durchgängig zu machen, Hart und Weich einander ausgleichen zu lassen und Zuviel und Zuwenig einander auffüllen zu lassen…
Klassen und Aufgabenteilung
Warum gibt es in der Gesellschaft Klassen? Entstehen diese Klassen zufällig? Oder ist [ihre Entstehung] in gewisser Weise unvermeidbar? Und befinden sich diese Klassen eigentlich in Übereinstimmung mit dem Rechten Maß? Oder tun sie dem Weg der Menschen Gewalt an? Fichte beantwortet auch diese Fragen seinen philosophischen Grundsätzen gemäß. In seiner
Schrift heißt es: Die Gattung Mensch kommt jeden Tag mit der außer ihr liegenden natürlichen Welt in Berührung. Die natürliche Welt ist majestätisch und vielgestaltig. Ihr Aussehen ist in vollkommener Unordnung. Sie ist äußerst vielfältig und uneinheitlich. Und so ist auch das, was wir Menschen empfinden, jeweils verschieden. Manche empfinden dieses Phänomen, aber nicht jenes, und doch ist es ein und dasselbe Phänomen... Wenn Fichte von "Gewinn" und "Vermögen" spricht, so sind dies nur Illustrationen, er meint keineswegs nur materiellen Gewinn oder nur materielles Vermögen… Fichte sagt: Es gibt nur zwei Wege, sich in der Gesellschaft zu bewegen: Die Doktrin der Aufgabenteilung und die Doktrin der individuellen Allmacht. Ein Leben nach der Doktrin der individuellen Allmacht hinge in nichts von der Unterstützung anderer ab und verließe sich allein auf die eigene Kraft, um die natürliche Welt zu erschließen… Fichte sagt weiter: Die Wahl eines Menschen, welchem Beruf er nachgehen soll, muß aus freien Stücken und mit äußerster Bedacht getroffen werden. Falls nämlich ein Mensch es liebt, das zu nutzen, worin er schwach ist, anstatt das, worin er stark ist, wird das, worin er vormals stark war, notwendigerweise allmählich verkümmern und schließlich völlig aufgerieben. Darüber hinaus läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß seine Erfolge in dem, worin er von Anfang an schwach ist, selbst dann, wenn er bereit sein sollte, alles zu opfern, um diesem nachzugehen, doch niemals dem [Erfolg] der anderen Menschen gleichkommen wird. So wählt er es notwendigerweise selbst, seinen [potentiell] nützlichen Leib im entlegensten Winkel der Gesellschaft zu vergraben, und wird bis an sein Ende enttäuscht und niedergeschlagen sein. Solches [Tun] nennt man: Selbstaufgabe… Fichte sagt dann noch einmal: Wenn wir die gesellschaftlichen Beziehung begreifen, durch die wir selbst mit den anderen verbunden sind, können wir erkennen, daß das, was wir für andere erarbeiten, zugleich das ist, was wir für uns selbst erarbeiten, und daß das, was wir für uns selbst erarbeiten, zugleich das ist, was wir für die Gesellschaft erarbeiten. Glück und Profit der Gesellschaft, Glück und Profit der anderen und unser eigenes Glück und unser eigener Profit sind in Wirklichkeit drei Bezeichnungen für dieselbe Sache, [die drei] hängen voneinander ab und können nicht getrennt werden… Fichte sagt weiter: Wenn man sich über diesen Punkt klar ist, dann wird man sich, ohne sich jemals gehen zu lassen, der hohen oder niedrigen Klasse gemäß [verhalten], der man angehört. Die Unternehmungen der Gesellschaft sind vielfältig. Wenn die, die ihnen nachgehen, alle zur selben Seite neigen, wie sollte dann selbst der teuerste Deich nicht wie ein Ameisenhügel [von den Fluten] erstiegen und überwunden werden? Am Beispiel der Armee läßt sich dies verdeutlichen. Wenn die ganze Armee nur aus Offizieren bestünde, wie sollte sie dann kämpfen können? Der erfolgreiche Kampf und die Aufzeichnung verdienstvoller Taten sind die Arbeit des Fußvolks. So ist [das Fußvolk] den Offizieren in der Hinsicht gleich, daß jeder sich nur seiner Stellung entsprechend verhält und jeder nur seine Talente und Fähigkeiten erschöpft. Wer sich dies zu Herzen nimmt, wird zur Ruhe kommen, und wer es auf sich nimmt, diesem Vorbild nachzueifern, wird sehen, daß weder die Gesellschaft das Ich noch das Ich die Gesellschaft trägt. Fichte sagt weiter: Wenn man sich über diesen Punkt klar ist, dann kann man Erfolge und Niederlagen ausgleichen und Tod und Leben vereinen…
Was der Verfasser oben dargelegt hat, sind die berühmten Reden, die Fichte vor einem breiten Publikum gehalten hat. Ihr Einfluß auf die Herzen der Menschen im Deutschland der letzten einhundert Jahre ist sehr groß. Ich weiß nicht, ob die Menschen in unserem China aus ihrer Lektüre Nutzen ziehen können. Wenn sie es nicht können, [so liegt dies daran, daß] meine Gelehrsamkeit und [meine Art] der Darstellung nicht ausreichen, um ihnen gerecht zu werden. Von Fichte gibt es ein weiteres Buch über die Bestimmung der Beamten und Edlen. Die Worte dieses Werkes veranlassen die Menschen noch eindringlicher, sich [für ihr Land] einzusetzen. Ich werde [die Gedanken dieses Buches] daher in einem weiteren Aufsatz darlegen, der in der nächsten Ausgabe erscheinen wird.

Joachim Kurtz : Liang Qichao fand in Fichte einen westlichen Denker, der es ihm erlaubte, Elemente seiner frühen Überzeugungen mit Einsichten zu kombinieren, die ihn während der folgenden Jahre zu einer zunehmend konservativen Hatlung in Fragen von Kultur, Bildung, Staat und Gesellschaft führen sollten. Liang macht keine genauen Angaben zu den Quellen ausser, dass er sich auf die 'populären Vorlesungen' Fichtes bezogen hat. Da Liang keine europäische Sprache beherrschte, hat er sich vermutlich auf die japanische Übersetzung von Sugitani Taizan bezogen. [Fichte, Johann Gottlieb. Ningen tenshokuron : jinsei kaisetsu. Übers. von Sugitani Taizan. (Tokyo : Hakubunkan, 1906). Übersetzung von Fichte, Johann Gottlieb. The popular works of Johann Gottlieb Fichte. Transl. from the German by William Smith ; with a memoir of the author. Vol. 1-2. (London : J. Chapman, 1848-1849). Die Lehre von der Bestimmung des Menschen in der Welt]. Darin enthalten sind Auszüge aus Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten [1794], Die Bestimmung des Menschen [1800], Die Anweisung zum seligen Leben [1806].
Liang beschreibt in der Einführung Fichtes Bedeutung für die neuere deutsche Geschichte und will zeigen, dass Fichtes Erkenntnisse auf das zeitgenössische China übertragbar seien.

Liang Zhixue ; Shen Zhen : Liang Qichao übte scharfe Kritik an der Doktrin 'Zurück zum Alten' und veröffentlichte seine Schrift um die Volksmassen im Kampf gegen jene Richtung zu ermutigen. Liang zollte Fichte als Patrioten in seinem heldenhaften Kampf Hochachtung und stellte fest, dass die Reden an die deutsche Nation ein hervorragendes Dokument jener entscheidungsvollen Zeit seien, deren ‚heilige Kraft allen Deutschen tief ins Herz gedrungen war und sogar von Kindern verstanden wurde’. Er richtete einen Appell an das chinesische Volk : "Lassen Sie Ihren Mut nicht sinken. Sie sollen nicht tatenlos auf den Tod warten, sondern Fichtes Belehrungen annehmen !" Liang betonte im Hinblick auf die damalige üble Lage : 1. Fichtes Bemühungen laufen darauf hinaus, die Einheit von Wissen und Gewissen herzustellen und den Übergang von der Spekulation über das absolute Ich zum handelnden Ich zu finden ; dieses Ich soll sich in der Welt der Erscheinungen entfalten und bewähren ; es soll Echtes vom Unechtem durch das Wissen unterscheiden und seine Handlungen durch sein Gewissen bestimmen, um die Verlockung und Beherrschung durch das Nicht-Ich abzustreifen. Im Gegensatz zur konfuzianischen Schule ist Fichtes Lebensanschauung nicht zurückweichend, sondern vorwärtsstrebend. 2. Das höchste Ideal der Menschheit ist die vollkommene Verwirklichung der Vernunft. Jedes Individuum hat seine besonderen Ideale vom Menschen, die sich zwar nicht wesentlich, aber doch in Nuancen und Graden unterscheiden. Jeder prüft nach seinem eigenen Ideal denjenigen, den er für einen Menschen anerkennt. Wen er darunter findet, den sucht er dazu emporzuheben. Der Staat ist ein machtvolles Mittel zur Verwirklichung dieser Ideale. Jeder Mensch soll also wissen, dass seine Regierung verpflichtet ist, das Ideal zu ralisieren, und dass sie ihre Kraft für diese Aufgabe einsetzen soll.
13 1915
Gründung der anarchistischen chinesischen Gesellschaft Qin gong jian xue hui in Paris.
14 1915-1922
Mei Yi-pao studiert am Qinghua College in Beijing.
15 1915-1917
Paul Emile Naggiar ist Leiter des französischen Generalkonsulats in Shanghai.
16 1915-1917
Lancelot Giles ist stellvertretender Generalkonsul des britischen Konsulats in Tianjin.
17 1915
Nelson T. Johnson ist Konsul des amerikanischen Konsulats in Chongqing (Sichuan).
18 1915-1918
Nelson T. Johnson ist Konsul des amerikanischen Konsulats in Changsha (Hunan).
19 1915
George C. Hanson ist Vize-Konsul des amerikanischen Konsulats in Yingkou.
20 1915-1917
George C. Hanson ist Konsul des amerikanischen Konsulats in Shantou.

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