HomeChronology EntriesDocumentsPeopleLogin

Chronology Entry

Year

1915

Text

Liang, Qichao. Feisidi ren sheng tian zhi lun shu ping [ID D19592].
Liang Qichao schreibt :
Kritische Darstellung von Fichtes Lehre über die Bestimmung des menschlichen Lebens
…Goethe und Schiller waren zwei große Dichterfürsten, die vor mehr als hundert Jahren eine neue Art der Literatur schufen. Durch die Kraft ihrer Gedichte und Dramen bewirkten sie eine innere Wandlung (ganhua) der Staatsbürger. Kant und Fichte waren zwei große Gelehrte, die vor über hundert Jahren eine neue Art der Philosophie ausarbeiteten. Sie ermahnten und ermutigten die Staatsbürger mit Hilfe einer ideellen Moral (lixiang daode). Daß die Werke dieser vier Weisen in Deutschland von jedermann zitiert werden, versteht sich von selbst. Auf der ganzen Welt gibt es kaum ein Land, in dem keine Übersetzungen ihrer sämtlichen Werke vorliegen, und nicht einen Leser, der nicht in höchstem Maße [von ihnen] bewegt worden wäre. Allein von uns Chinesen haben wohl höchstens einige Studenten schon einmal den Namen Kant gehört. Von den drei übrigen Meistern können wir kaum die Nachnamen nennen, geschweige denn verhandeln, was sie lehrten. O! Kann es eine schlimmere Schmach für unser bedauerns- und bemitleidenswertes China geben? Ich sagte bereits, daß Fichte der Welt der Philosophie angehörte. Seine Leistung als Wegbereiter ist mit derjenigen Kants nicht zu vergleichen, und sein Verdienst als Synthetiker reicht an dasjenige Hegels nicht heran. In seiner Wirkung auf den Lauf der Welt und die Herzen der Menschen hat er jedoch [beide] übertroffen. Denn obwohl die Ideale, die Fichte lehrte, äußerst erhaben waren, kam er stets auf das Bemühen zu handeln (lixing) zurück. Fichtes Worte waren ebenso tiefschürfend wie ermutigend. Mit jedem Satz vermochte er das Verantwortungsgefühl der Menschen zu stärken und ihre Gemütsverfassung zu verbessern. Nachdem der Preußenkönig Friedrich der Große Ende des 18. Jahrhunderts gestorben war, wurde die üble Praxis des Absolutismus fortgeführt. Das Volk litt bittere Not und fand kein Auskommen. Sowohl die politischen Zustände als auch die gesellschaftliche Disziplin verfielen… Wie soll sich ein erschöpftes und ausgelaugtes Volk in einer derartigen nationalen Notlage verhalten? Bei dem sog. "Deutschen Volk" (Rierman minzu) gab es damals keine Unterschiede mehr zwischen arm und reich, vornehm und gemein, klug und dumm, fähig und liederlich. Alle Menschen kannten nur noch die Sorge um den Untergang der Nation und die Furcht vor der Versklavung; alle waren gleichermaßen verzagt und ergingen sich in Selbstmitleid. Plötzlich jedoch trat einer hervor, der [die Menschen] aus ihrem Albtraum aufrüttelte und von der schleichenden Krankheit, die sie befallen hatte, kurierte, der die Ursache all ihrer Trübsal und Verzweiflung an der Wurzel packte und [die Nation] einer glänzenden Zukunft entgegenführte. Eben dieser Mensch war Fichte… Fichte verfaßte in der umzingelten Stadt ein kleines Büchlein mit dem Titel Reden an die deutsche Nation (Gao Deyizhi guomin). Bis auf den heutigen Tag scheint in Deutschland jedermann, bis hin zu Kindern und Handlangern, die Worte dieser Schrift rezitieren zu können. Die geistige Kraft [der Reden] beherrscht die Psyche aller Deutschen heute noch genauso wie vor einhundert Jahren… Aber wie könnte man bloß Fichtes Worte für bemerkenswert halten, ohne zugleich die erhabene Größe seines Charakters zu bewundern, der etwas an sich hatte, das tief in die Herzen der Menschen drang? Die Umstände, in denen wir Chinesen uns gegenwärtig befinden, sind wahrhaftig äußerst verfahren und gefährlich. Dennoch sind sie in meinen Augen noch nicht so kritisch wie die Lage der Deutschen zu Lebzeiten Fichtes… Fichte hat ein äußerst umfangreiches philosophisches Werk geschaffen. Da meine Gelehrsamkeit noch nicht ausreicht, maße ich mir nicht an, es zu übersetzen…
Die Zweifelsfrage nach [dem Sinn des] menschlichen Lebens
… Fichte hat in seiner Lehre über die Bestimmung des menschlichen Lebens über die Lösung der Zweifelsfrage nach dem Sinn [des menschlichen Lebens] nachgedacht. Ob seine Lösung richtig oder falsch ist, wage ich nicht zu beurteilen. Ich glaube lediglich, daß sie für uns von Nutzen sein kann… Im heutigen China z.B. meint fast niemand mehr, an seinem Leben Freude zu finden… Diese fünffach trübe und böse Welt ist in Wirklichkeit ein Ort von Verbrechen und Strafe, Ruin und Betrug. Alle Lebewesen sind in einem schweren Joch gefangen. Man kann nur danach streben, sich [daraus] zu befreien, und darf an nichts anderes denken…
Die Bestimmung des individuellen Menschenlebens
Konfuzius sagt: "Die Menschen des Altertums lernten ausschließlich für sich." Seit jeher wurde dieser Ausspruch damit erklärt, daß jeder Mensch verschieden sei. Wirklich erhellt wird er durch Fichtes Lehre. Fichte sagt, daß wir, wenn wir selbst erkennen wollen, worin unsere Bestimmung besteht, zunächst an eines glauben müssen: "Wofür werde ich geboren? Ich werde für mich geboren. Wofür muß ich mein Leben erhalten? Ich erhalte es für mich. Wofür strenge ich mich an? Ich strenge mich für mich an." Aus diesem Grunde sind die Pflichten der Gattung Mensch keineswegs Pflichten gegenüber der Welt, sondern einzig und allein gegenüber sich selbst. Das sogenannte "Ich" besteht aus dem vernünftigen Ich und dem empfindenden Ich. Vernunft besitzt allein der Mensch. Die Empfindungen hat er mit den anderen Lebewesen gemein. Deshalb kann man nur die Vernunft als sein wahres Ich (zhenwo) bezeichnen… Das vernünftige Ich und das empfindende Ich, von denen Fichte oben spricht, entsprechen ziemlich genau dem, was die Buddhisten "wahre Soheit" (zhenru) und "Ignoranz" (wu ming) nennen und die Song-Konfuzianer als "ideelles Wesen" (yili zhi xing) und "materielles Wesen" (qizhi zhi xing) bezeichnen… Fichte meint, daß das "Nicht-Ich" der Außenwelt dem "Ich" zwar bestimmt manchmal schade, manchmal jedoch auch großen Nutzen bringe, und daß der sogenannte Schaden letztlich sogar nichts anderes als ein Mittel sei, um den Nutzen zu mehren. Deshalb lehrt [Fichte] die Menschen, der Funktion der Empfindung nicht feindlich gegenüberzustehen, sondern sie nur ordentlich zu regeln und zum Guten zu nutzen. Er sagt, daß die erste und wichtigste Pflicht der Gattung Mensch gegenüber sich selbst darin besteht, die Vernunft zu vervollkommnen. Und wie kann man seine Vernunft vervollkommnen? Indem man seinen freien Willen kultiviert, so daß er, wenn er sich äußert, nicht mit der Vernunft in Widerspruch gerät. Diese Worte scheinen exakt mit dem übereinzustimmen, was unsere früheren Weisen "das Wesen leiten, um das Wesen auszuschöpfen" (shuaixing jinxing) nannten. Aber Fichte meint weiter, daß die menschlichen Wesensvermögen in ihrer Substanz zwar identisch seien, infolge der Begrenzung durch die Außenwelt jedoch völlig verschieden würden. Um [unserer Bestimmung] zu entsprechen, kommen wir nicht umhin, unsere Wesensvermögen zu nutzen. Doch eben deshalb verlieren die unterschiedlichen Wesensvermögen im Lauf der Zeit leicht ihre Identität und geraten in wechselseitigen Widerspruch… Nachdem Fichte alle diese Punkte erklärt hat, zieht er schließlich den folgenden Schluß. Er sagt: Das eigentliche Ziel des menschlichen Lebens besteht allein darin, unseren Leib und das uns innewohnende Wesen zu einer Einheit zu verschmelzen. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die Außenwelt und unseren Begriff von ihr zu einer Einheit zu verschmelzen. Das, was Fichte "die Außenwelt" nennt, entspricht ungefähr den "sechs Verunreinigungen" (liuchen), die die buddhistischen Klassiker anführen; und was er "unseren Begriff der Außenwelt" nennt, entspricht in etwa den "sechs Wurzeln" [der Sinneswahrnehmung] (liugen), die die buddhistischen Klassiker unterscheiden…
Fichte sagt weiter: Weil der Mensch Vernunft besitzt, ist er die Seele der zehntausend Dinge. Deshalb stehen uns Menschen alle nicht vernunftbegabten Dinge und Angelegenheiten der Außenwelt in ihrer Gesamtheit zur Verfügung, um sie unseren Wünschen gemäß frei zu beherrschen. Dies ist in Wirklichkeit das größte und letzte Ziel der Gattung Mensch. Der Weg, der vor uns liegt, wenn wir dieses Ziel zu erreichen wünschen, ist allerdings äußerst weit. Daß wir diese gewaltige Aufgabe in unserem begrenzten Leben nicht werden vollenden können, ist klar. Doch dürfen wir uns deshalb weder aus unserer Verantwortung stehlen, noch darf es uns entmutigen… Fichtes Absicht liegt nun darin zu sagen, daß das Ich dem Himmel gleich ist, und daher immer nur das Ich die Natur beherrschen soll und die Natur nie das Ich beherrschen darf… Fichtes Weg ist daher weder ein bloßes Gewährenlassen noch verliert er sich im Gewöhnlichen. Das ist sein besonderes Merkmal. Von den früheren Weisen, die über die persönliche Bildung sprachen, hielten viele "Ruhe zu bewahren" (zhujing) und das "Äußerste festzusetzen" (liji) für wesentlich. Die Konfuzianer in unserem Land haben diese Ansicht seit der Song- und Yuan-Zeit vertreten. [Für sie] war die Ruhe unser eigentliches Wesen und die Bewegung ein krankhafter Zustand, so wie es im Buch der Musik steht: "Der Mensch ist bei Geburt ruhig; das ist das Wesen des Himmels. Erst, wenn er von den Dingen berührt wird, bewegt er sich; das sind die Begierden seines Wesens". Fichte hält dem entgegen, daß das Wesen etwas lebendiges ist und kein totes Ding. Deshalb hält er es für wesentlich, daß jedes Leben sich üppig bewegt… Das von Fichte verkündete Sittengesetz hält mithin unbedingt am Progressivismus (jinquzhuyi) fest und verfällt nie in Retrogressivismus
(tuiyingzhuyi). Das ist ein weiteres seiner besonderen Merkmale…
Die Bestimmung gegenüber der Gesellschaft
… Der Sinn von Fichtes Lehre wird oft so wiedergegeben: "Ich werde für mich geboren, und
ich lebe für mich". Auf den ersten Blick scheint es, als seien [diese Sätze] im Grunde mit Yang [Zhus] Lehre identisch. Dennoch hat ihre Kraft, die Menschen zu bewegen, beinahe alle Welt zu Anhängern Mos [Mozi] gemacht. Dies hat keinen anderen Grund als den, daß Fichte sich über die Verbindung zwischen den Anderen und dem Ich keine Illusionen machte. Nach eingehender Untersuchung erkannte er, daß man nur durch den doppelten Gebrauch der Liebe zu anderen der Tatsache der Selbstliebe Rechnung tragen konnte. Deshalb ging er oft von der Doktrin der Selbstliebe aus, wenn er für die Liebe zu anderen eintrat. Er machte nie große Worte und versuchte nicht, unmögliches zu erzwingen, sondern versetzte [die Menschen] in die Lage, von sich aus das Rechte zu tun. Und genau aus diesem Grund ist Fichtes Sicht der Gesellschaft so wertvoll. Fichte geht von folgenden Fragen aus. In der Philosophie gibt es zwei vorgängig zu entscheidende Fragen, deren Untersuchung zu vernachlässigen unsere Zeitgenossen seit langem gewohnt sind. Die erste Frage lautet: Warum erkennen wir unseren Leib (quqiao) als unseren Besitz an? Der Leib ist ursprünglich aus Materie zusammengesetzt und erscheint als Begrenzung des vernünftigen Ich. Trotzdem bezeichnen wir ihn nicht als Ding, sondern als Ich. Ist das nicht sonderbar? Die zweite Frage lautet: Warum erkennen wir, daß es außer uns noch andere Menschen gibt? All diese mit unserem Ich gleichartigen Menschen erweisen sich genau betrachtet dem Ich gegenüber als Nicht-Ich und den Dingen gegenüber als Nicht-Dinge. Sind diese anderen Menschen, die weder Ich noch Dinge sind, daher nicht nur von unserem Geist hervorgebrachte Trugbilder? Diese beiden Fragen merkwürdig zu nennen geht wohl an. Doch kann man sie ebensowohl als dringlich bezeichnen. Fichte beantwortet sie wie folgt: Der Leib ist ursprünglich Nicht-Ich und Ding, doch erkennt das Ich ihn tatsächlich immer schon als Ich an. Die Ursache dafür ist nicht, daß das Ich erst dadurch, daß es ihn als Ich anerkennt, zum Ich wird. In Wirklichkeit ist er ein Teil des Ich… Von Fichtes Lehre her könnte man dies beinahe so ausdrücken, [das Potential der] Dinge in der Vereinigung mit dem Ich auszuschöpfen. Auf die zweite Frage gibt Fichte folgende Antwort: In unserem Leib gibt es einen Teil Ich und einen Teil Dinge; der Leib ist aus beiden zusammengesetzt. Analysiert man weiter, dann ist der Teil Dinge sowohl Ich als auch Nicht-Ich. Außerhalb unseres Leibs sind die mit uns gleichartigen anderen Menschen ebenfalls aus einem Teil Ich und einem Teil Dinge zusammengesetzt. Analysiert man weiter, dann ist der in der Struktur der anderen Menschen angelegte Teil Ich sowohl Nicht-Ich als auch Ich… Wer nach Erfolg strebt, ist unausweichlich auf Arbeitsteilung mit denen, die von der gleichen Art sind, angewiesen; darauf, mit vereinten Kräften zusammenzuarbeiten. Das ist der zweite [Grund], weshalb die Gesellschaft als wichtig anzusehen ist. Fichtes Erklärung des Fundaments, auf das sich die Gesellschaft gründet, stellt sich im Großen und Ganzen so dar, wie ich es dargelegt habe. Daran anschließend zieht Fichte folgenden Schluß: Alle Menschen müssen ein Zusammenleben mit denen anstreben, die von der gleichen Art sind. Aus eben diesem Grund ist die Absicht, seine Wesensvermögen auszuschöpfen, in Wirklichkeit eine Pflicht des Ich gegenüber sich selbst. Die Mode, sich in Berge und Wälder zurückzuziehen oder der Wunsch, sich von der Menge zu entfernen und sich auf immer von der Welt abzuschneiden, sind daher nicht nur illoyal gegenüber der Gesellschaft, sondern auch illoyal gegenüber sich selbst. Fichte fährt fort, indem er die Stellung des Staates erörtert, den er als das höchste Ideal der Gattung Mensch bezeichnet. Wer ernsthaft wünscht, die vollständige Verwirklichung der Vernunft zu bewirken und eine Gesellschaft zu schaffen, in der die Vernunft vollständig verwirklicht ist, der muß mit aller Kraft abseitiges Wissen und heimliches Gebaren ausmerzen und dafür eintreten, daß die Menschen auf der ganzen Welt gemeinsam dem rechten Weg folgen und sich um größeres Glück bemühen… Ein von Fichte häufig angeführter Ausspruch lautet: "Um der Pflicht willen die Pflicht erfüllen." Dieses Wort ließ der Wesensart der Deutschen während der letzten einhundert Jahre tatsächlich eine unvergleich große Wandlung angedeihen… Fichte sagt weiter: Ich sprach davon, daß die vollständige Verwirklichung der Vernunft das höchste Ideal der Gattung Mensch ist. Doch wünschen wir nicht, daß diese Angelegenheit bis in alle Ewigkeit ein Ideal bleibt. Freilich kann man [dieses Ideal] nicht auf einen Schlag verwirklichen. Deshalb kann es in der heutigen Welt nicht mehr als ein Ideal sein. Dennoch: Wenn man nur bewirkt, daß jeder Mensch weiß, daß er in Richtung auf dieses Ideal voranschreitet, kommt dessen Verwirklichung mit jedem Tag näher. Nun wird man fragen: Wie kann man bewirken, daß die Menschen gemeinsam in Richtung auf dieses Ziel voranschreiten? Oder noch deutlicher: daß alle Menschen dieses Ideal hochhalten? Und wie kann man sie dazu veranlassen, diesem großen Ideal stets zu entsprechen? Fichte antwortet darauf: Dem Wesen nach ist das Ideal gewiß bei allen Menschen gleich. In seinem Grad gibt es jedoch alle möglichen Unterschiede. Alle Menschen nehmen den Grad, in dem sie das Ideal hegen, [als Maßstab], um ihn den anderen vorzuschreiben. Immer wenn wir sehen, daß der Grad der anderen nicht an unseren heranreicht, wünschen wir, sie zu Fortschritten anzuleiten und zu bewirken, daß sie sich uns angleichen…. Was Fichte den Wettstreit der Geister nennt, heißt nichts anderes, als daß jeder seinen freien Willen äußert, um in gegenseitigen Wettbewerb zu treten. Jeder Mensch wünscht, die anderen seinem Willen anzugleichen. Doch nur das Höchste Gute kann den endgültigen Sieg davontragen. Dabei kommt es nach Fichte auf die Kraft an, eine Wandlung zu bewirken, und nicht auf die Kraft zur Unterdrückung. Und deshalb steht das, was er hier sagt, mit dem vorher Gesagten ganz und gar nicht im Widerspruch. Alle europäischen Philosophen gefallen sich darin, immer wieder von Freiheit und Gleichheit zu reden. So wurde diese Unsitte auch nach China eingeführt. Wenn sie nicht besiegt wird, werden die, die sich um das Reich sorgen, [Freiheit und Gleichheit] als schändlich abtun. Doch wenn man diese Begriffe so wie Fichte erklärt, wie sollte es da auch nur das geringste Übel geben? [Ihm zufolge] muß es nämlich erst die Freiheit des Willens geben, bevor es etwas gibt, worauf die Verantwortlichkeit für gutes und schlechtes Handeln zurückzuführen ist… Das Benehmen der jungen Leute, die in unserem China von Freiheit gehört haben, ist von Fichtes Standpunkt betrachtet, eindeutig [das Benehmen von] Sklaven der äußeren Dinge und damit dem eigentlichen Wesen der Freiheit gerade entgegengesetzt. Mit der Gleichheit verhält es sich genauso. Der erste Grundsatz von Fichtes Erklärung der Gleichheit besteht darin, die Freiheit der anderen zu achten. Denn wenn die Menschen gegenseitig ihre Freiheit achten, dann ist die Gleichheit die daraus hervorgehende Ordnung. Und wie sollten dann Ausbrüche zügelloser Unordnung noch Unheil stiften können? Diejenigen, die sich auf die Gleichheit berufen, um die Ordnung zu zerstören, befinden sich ebenfalls in genauem Gegensatz zu dem, was Fichte als Gleichheit bezeichnet. Wenn jemand [die beiden Begriffe] wie Fichte [erklärt], kann man daher in der Tat sagen, daß er gut von Freiheit und Gleichheit spricht. Fichte sagt weiter: Der Höhepunkt in der Entwicklung der Gattung Mensch besteht in der Harmonisierung der allen gemeinsamen Vernunft. Auf den ersten Blick hängen die Worte, Gedanken und Taten jedes Menschen von etwas anderem ab. Bei einigen ist es dieses, bei anderen jenes. Es herrscht ein solches Durcheinander, daß es scheint, als sei es nicht auf einen Nenner zu bringen. Doch auch wenn die Wege verschieden sind, ist das Ziel gemeinsam; der Grund ist der gleiche, auch wenn die Pläne zahlreich sind. Da es jedoch eine gemeinsame Vernunft gibt, die man als Ausgangspunkt ansehen kann, sind die Menschen selbst in der Lage, in Richtung auf das Ziel der Harmonisierung voranzukommen. Und wenn sie sich voll und ganz diesem Ziel widmen, dann wird die Substanz ihrer Vernunft vollkommen gleich werden. Dies nennt man: "Beim höchsten Guten anhalten." Die natürliche Pflicht unserer Klasse gegenüber der Gesellschaft besteht in nichts anderem, als unsere bescheidenen Kräfte darin zu erschöpfen, die Gesellschaft zu unterstützen und dazu anzutreiben, "beim höchsten Guten anzuhalten". Der Sinn dessen, was Fichte, wie ich schon dargelegt habe, als "die völlige Gleichheit der Substanz der Vernunft" bezeichnet, zielt fast auf dasselbe wie die "wahre Soheit" in der buddhistischen Lehre. Doch was die buddhistische Lehre "den Wunsch, die wahre Soheit zu kultivieren" nennt, besagt, daß man seine ganze Kraft darauf verwenden soll, [den Kreislauf von] Leben und Vergehen zu durchbrechen. Was Fichte lehrt, ist dem genau entgegengesetzt. Zu sagen, daß man sich der Abfolge von Leben und Vergehen widersetzen soll, reicht als Vehikel zur Verwirklichung der wahren Soheit nicht aus. Aus diesem Grund hält die buddhistische Lehre die Befreiung vom Gesetz der Welt für das letzte Ziel, während Fichte zu dem Ergebnis kommt, daß man sich nicht vom Gesetz der Welt entfernen darf. Bei Fichte heißt es: In die Region der harmonisierten Vernunft kann man nur gelangen, wenn jeder einzelne seine Vernunft selbst entfaltet, jeder jeden unterstützt und jedem hilft, und jeder eine würdige Haltung zeigt. Es gibt jedoch nur zwei Wege, seine Kraft hierfür zu verwenden. Erstens: Geben, und zweitens: Nehmen. Was heißt "Geben"? Es bedeutet, den anderen Menschen ihre Freiheit zu belassen. Was heißt "Nehmen"? Es bedeutet, von anderen Menschen Nutzen zu ziehen… Fichte meint, daß man, wenn man es nur vermag, die tiefgründige Wahrheit der beiden Methoden des Gebens und Nehmens zu begreifen, selbst in der Lage ist, das Vorhandene und das Nicht-Vorhandene einander durchgängig zu machen, Hart und Weich einander ausgleichen zu lassen und Zuviel und Zuwenig einander auffüllen zu lassen…
Klassen und Aufgabenteilung
Warum gibt es in der Gesellschaft Klassen? Entstehen diese Klassen zufällig? Oder ist [ihre Entstehung] in gewisser Weise unvermeidbar? Und befinden sich diese Klassen eigentlich in Übereinstimmung mit dem Rechten Maß? Oder tun sie dem Weg der Menschen Gewalt an? Fichte beantwortet auch diese Fragen seinen philosophischen Grundsätzen gemäß. In seiner
Schrift heißt es: Die Gattung Mensch kommt jeden Tag mit der außer ihr liegenden natürlichen Welt in Berührung. Die natürliche Welt ist majestätisch und vielgestaltig. Ihr Aussehen ist in vollkommener Unordnung. Sie ist äußerst vielfältig und uneinheitlich. Und so ist auch das, was wir Menschen empfinden, jeweils verschieden. Manche empfinden dieses Phänomen, aber nicht jenes, und doch ist es ein und dasselbe Phänomen... Wenn Fichte von "Gewinn" und "Vermögen" spricht, so sind dies nur Illustrationen, er meint keineswegs nur materiellen Gewinn oder nur materielles Vermögen… Fichte sagt: Es gibt nur zwei Wege, sich in der Gesellschaft zu bewegen: Die Doktrin der Aufgabenteilung und die Doktrin der individuellen Allmacht. Ein Leben nach der Doktrin der individuellen Allmacht hinge in nichts von der Unterstützung anderer ab und verließe sich allein auf die eigene Kraft, um die natürliche Welt zu erschließen… Fichte sagt weiter: Die Wahl eines Menschen, welchem Beruf er nachgehen soll, muß aus freien Stücken und mit äußerster Bedacht getroffen werden. Falls nämlich ein Mensch es liebt, das zu nutzen, worin er schwach ist, anstatt das, worin er stark ist, wird das, worin er vormals stark war, notwendigerweise allmählich verkümmern und schließlich völlig aufgerieben. Darüber hinaus läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß seine Erfolge in dem, worin er von Anfang an schwach ist, selbst dann, wenn er bereit sein sollte, alles zu opfern, um diesem nachzugehen, doch niemals dem [Erfolg] der anderen Menschen gleichkommen wird. So wählt er es notwendigerweise selbst, seinen [potentiell] nützlichen Leib im entlegensten Winkel der Gesellschaft zu vergraben, und wird bis an sein Ende enttäuscht und niedergeschlagen sein. Solches [Tun] nennt man: Selbstaufgabe… Fichte sagt dann noch einmal: Wenn wir die gesellschaftlichen Beziehung begreifen, durch die wir selbst mit den anderen verbunden sind, können wir erkennen, daß das, was wir für andere erarbeiten, zugleich das ist, was wir für uns selbst erarbeiten, und daß das, was wir für uns selbst erarbeiten, zugleich das ist, was wir für die Gesellschaft erarbeiten. Glück und Profit der Gesellschaft, Glück und Profit der anderen und unser eigenes Glück und unser eigener Profit sind in Wirklichkeit drei Bezeichnungen für dieselbe Sache, [die drei] hängen voneinander ab und können nicht getrennt werden… Fichte sagt weiter: Wenn man sich über diesen Punkt klar ist, dann wird man sich, ohne sich jemals gehen zu lassen, der hohen oder niedrigen Klasse gemäß [verhalten], der man angehört. Die Unternehmungen der Gesellschaft sind vielfältig. Wenn die, die ihnen nachgehen, alle zur selben Seite neigen, wie sollte dann selbst der teuerste Deich nicht wie ein Ameisenhügel [von den Fluten] erstiegen und überwunden werden? Am Beispiel der Armee läßt sich dies verdeutlichen. Wenn die ganze Armee nur aus Offizieren bestünde, wie sollte sie dann kämpfen können? Der erfolgreiche Kampf und die Aufzeichnung verdienstvoller Taten sind die Arbeit des Fußvolks. So ist [das Fußvolk] den Offizieren in der Hinsicht gleich, daß jeder sich nur seiner Stellung entsprechend verhält und jeder nur seine Talente und Fähigkeiten erschöpft. Wer sich dies zu Herzen nimmt, wird zur Ruhe kommen, und wer es auf sich nimmt, diesem Vorbild nachzueifern, wird sehen, daß weder die Gesellschaft das Ich noch das Ich die Gesellschaft trägt. Fichte sagt weiter: Wenn man sich über diesen Punkt klar ist, dann kann man Erfolge und Niederlagen ausgleichen und Tod und Leben vereinen…
Was der Verfasser oben dargelegt hat, sind die berühmten Reden, die Fichte vor einem breiten Publikum gehalten hat. Ihr Einfluß auf die Herzen der Menschen im Deutschland der letzten einhundert Jahre ist sehr groß. Ich weiß nicht, ob die Menschen in unserem China aus ihrer Lektüre Nutzen ziehen können. Wenn sie es nicht können, [so liegt dies daran, daß] meine Gelehrsamkeit und [meine Art] der Darstellung nicht ausreichen, um ihnen gerecht zu werden. Von Fichte gibt es ein weiteres Buch über die Bestimmung der Beamten und Edlen. Die Worte dieses Werkes veranlassen die Menschen noch eindringlicher, sich [für ihr Land] einzusetzen. Ich werde [die Gedanken dieses Buches] daher in einem weiteren Aufsatz darlegen, der in der nächsten Ausgabe erscheinen wird.

Joachim Kurtz : Liang Qichao fand in Fichte einen westlichen Denker, der es ihm erlaubte, Elemente seiner frühen Überzeugungen mit Einsichten zu kombinieren, die ihn während der folgenden Jahre zu einer zunehmend konservativen Hatlung in Fragen von Kultur, Bildung, Staat und Gesellschaft führen sollten. Liang macht keine genauen Angaben zu den Quellen ausser, dass er sich auf die 'populären Vorlesungen' Fichtes bezogen hat. Da Liang keine europäische Sprache beherrschte, hat er sich vermutlich auf die japanische Übersetzung von Sugitani Taizan bezogen. [Fichte, Johann Gottlieb. Ningen tenshokuron : jinsei kaisetsu. Übers. von Sugitani Taizan. (Tokyo : Hakubunkan, 1906). Übersetzung von Fichte, Johann Gottlieb. The popular works of Johann Gottlieb Fichte. Transl. from the German by William Smith ; with a memoir of the author. Vol. 1-2. (London : J. Chapman, 1848-1849). Die Lehre von der Bestimmung des Menschen in der Welt]. Darin enthalten sind Auszüge aus Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten [1794], Die Bestimmung des Menschen [1800], Die Anweisung zum seligen Leben [1806].
Liang beschreibt in der Einführung Fichtes Bedeutung für die neuere deutsche Geschichte und will zeigen, dass Fichtes Erkenntnisse auf das zeitgenössische China übertragbar seien.

Liang Zhixue ; Shen Zhen : Liang Qichao übte scharfe Kritik an der Doktrin 'Zurück zum Alten' und veröffentlichte seine Schrift um die Volksmassen im Kampf gegen jene Richtung zu ermutigen. Liang zollte Fichte als Patrioten in seinem heldenhaften Kampf Hochachtung und stellte fest, dass die Reden an die deutsche Nation ein hervorragendes Dokument jener entscheidungsvollen Zeit seien, deren ‚heilige Kraft allen Deutschen tief ins Herz gedrungen war und sogar von Kindern verstanden wurde’. Er richtete einen Appell an das chinesische Volk : "Lassen Sie Ihren Mut nicht sinken. Sie sollen nicht tatenlos auf den Tod warten, sondern Fichtes Belehrungen annehmen !" Liang betonte im Hinblick auf die damalige üble Lage : 1. Fichtes Bemühungen laufen darauf hinaus, die Einheit von Wissen und Gewissen herzustellen und den Übergang von der Spekulation über das absolute Ich zum handelnden Ich zu finden ; dieses Ich soll sich in der Welt der Erscheinungen entfalten und bewähren ; es soll Echtes vom Unechtem durch das Wissen unterscheiden und seine Handlungen durch sein Gewissen bestimmen, um die Verlockung und Beherrschung durch das Nicht-Ich abzustreifen. Im Gegensatz zur konfuzianischen Schule ist Fichtes Lebensanschauung nicht zurückweichend, sondern vorwärtsstrebend. 2. Das höchste Ideal der Menschheit ist die vollkommene Verwirklichung der Vernunft. Jedes Individuum hat seine besonderen Ideale vom Menschen, die sich zwar nicht wesentlich, aber doch in Nuancen und Graden unterscheiden. Jeder prüft nach seinem eigenen Ideal denjenigen, den er für einen Menschen anerkennt. Wen er darunter findet, den sucht er dazu emporzuheben. Der Staat ist ein machtvolles Mittel zur Verwirklichung dieser Ideale. Jeder Mensch soll also wissen, dass seine Regierung verpflichtet ist, das Ideal zu ralisieren, und dass sie ihre Kraft für diese Aufgabe einsetzen soll.

Mentioned People (2)

Fichte, Johann Gottlieb  (Rammenau 1762-1814 Berlin) : Philosoph

Liang, Qichao  (Xinhui, Guangdong 1873-1929 Beijing) : Politiker, Reformer, Jurist, Schriftsteller

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Documents (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1997 Kurtz, Joachim. J.G. Fichte in China : Materialien zu den Anfängen der chinesischen Rezeption eines deutschen Philosophen. (Berlin : Kurtz, 1997). M.A. Freie Univ. Berlin, 1997. S. 61-65, 96-124. Publication / Kur1
  • Source: [Anonym]. De yi zhi liu da zhe xue zhe lie zhuan. In : Da lu ; vol. 1, no 1 (1902). [Biographien von sechs grossen deutschen Philosophen]. (Fich1, Publication)
  • Source: Du, Shizhen. Deguo zhe xue si xiang zhi bian qian. In : Xin shi jie xue bao ; vol. 1, no 3 (1902). [Die Wandlung des philosophischen Denkens in Deutschland]. (Fich2, Publication)
  • Source: [Anonym]. Zhe xue gai lun. Housheng yi. Teil 1-7. In : Jiangsu ; no 3-7 (Nov.-Dez. 1903). [Einführung in die Philosophie ; betr. Johann Gottlieb Fichte ; Übersetzung aus dem Japanischen]. (Fich47, Publication)
  • Source: [Bliss, William]. She hui zhu yi shi da gang. Yuan Shi [Liao Zhongkai] yi. In : Min bao ; vol. 7 (Sept. 1906). Übersetzung von Bliss, William. A handbook of socialism. (London : S. Sonnenschein, 1895). [Auszug ; Grundriss der Geschichte des Sozialismus]. (Fich48, Publication)
  • Source: Wuwo. Deguo you guo zhi jiao yu jia Feixituo zhuan. In : Jiao yu za zhi ; vol. 6, no 1 (April 1914). [Biographie des um sein Land besorgten deutschen Pädagogen Johann Gottlieb Fichte].
    德國懮國之教育家菲希脫傳 (Fich50, Publication)
  • Source: Liang, Qichao. Feisidi ren sheng tian zhi lun shu ping. In : Da Zhonghua ; no 1-5 (April-Mai 1915). [Kritische Bemerkungen zu Fichtes Lehre von der Bestimmung des menschlichen Lebens].
    菲斯的 人生天職論述評 (Fich51, Publication)
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Fichte, Johann Gottlieb
  • Person: Kurtz, Joachim