Noël, François. Sinensis imperii libri classici sex [ID D1801].
John Ho : Noël sieht zunächst in der Religiosität der Chinesen die Grundlage der chinesischen politischen Philosophie und ist überzeugt, dass die Chinesen den wahren Gott gefunden haben. Er ist wie Philippe Couplet der Meinung, dass die Chinesen dem wahren Glauben, dem Glauben an den Himmel (tian) folgen. Da sie den Himmel verehren, wird die Gesellschaft vom Herrscher der Natur 'tian' bestimmt und nach himmlischen Gesetzen geformt. Diese Gesetze sollen die Menschen belohnen, die ihren sozialen Verpflichtungen nachkommen, und die bestrafen, die sich der Verantwortung entziehen. Die andere Grundlage der chinesischen Gesellschaft ist das Naturprinzip. In dieser Naturordnung steht die Gesellschaft in einer Wechselbeziehung mit der Familie. Die Beziehung zwischen Herrscher und Bürgern steht in Analogie zu der zwischen Vater und Kindern. Die Bürger übernehmen die Gedanken und Tugenden des Herrschers, genau so wie die Kindier die des Vaters. Die Beziehung zum Herrscher ist getragen von Verehrung, Achtung, Liebe, Freundschaft und Dankbarkeit und darin wurzelt das gesellschaftliche Glück. Ein chinesischer Kaiser missbraucht niemals seine Macht und will zum Wohle der Gesellschaft herrschen. Nach Noëls Interpretation ist das Prinzip der chinesischen Gesetzgebung ein vernünftiges Naturrecht. Dieses Gesetz soll die menschliche Gesellschaft mit der vorgegebenen natürlichen und idealen Gesellschaftsform in Einklang bringen. Der Geist des chinesischen Gesetzes soll den Charakter des Menschen prägen und verinnerlichen. Noël erkennt zwar, dass das chinesische politische System nicht demokratisch ist, aber in sich doch einen demokratischen Geist besitzt.
Zum chinesischen Unterrichtswesen schreibt Noël, dass der Unterricht in der Schule der Kinder im Dienst der ethischen Ausbildung besteht. Die Bildung der Schule der Erwachsenen ist mehr theoretisch. Hier geht es darum, Intelligenz und Denken zu schulen. Hauptsächlich werden die moralischen Prinzipien vermittelt, um dadurch das Verständnis der praktischen Tugenden zu vertiefen. Dabei lernt man die menschliche Natur und die Moral der Gesellschaft besser verstehen, um das Wahre vom Falschen und die Guten von den Bösen besser unterscheiden zu können. Noël sagt, dass die ganze chinesische Gesellschaft nur ein Zentrum hat : Moral, Politik, Gesellschaft und Pädagogik.
Christian Wolff schreibt : Da der Übersetzer der vornehmsten Bücher des Sinesischen Reiches, ein Mann von einem sehr scharffen Verstand und grosser Beurtheilungskrafft, mehr als zwanzig Jahre mit der Durchlesung derselben zugebracht, und seinen möglichsten Fleis angewendet hatte, dass er den richtigen Verstand, welcher, wie er selbsten beknnet, an manchen Orten sehr schwer und dunkel ist, deutlich genug erkennen möchte ; so hat er endlich in der Vorrede der Übersetzung dieses Urteil gefället, dass er in denselben nicht eine verborgene und hohe Wissenschafft, sondern nur eine gemein Tugend und Sittenlehre, eine Einrichtung des Hauswesens, und eine Staatsklugheit enthalten seye, so dass ihn nicht sowol die Vortrefflichkeit des Innhatls und der Sache selbst, als die vielen Leute, welche damit beschäfftiget sind, zu dieser Übersetzung angetrieben haben, welche von so vielen unternommen, aber in mehr als hundert Jahren, seit dem die Sinesische Mission ihren Anfang genommen hatte, nicht zu Stande gebracht worden ist. Ich aber, da ich diese Bücher kauf so beyläuffig betrachtete, habe alsobald wahrgenommen, dass eine höhere Weisheit darinnen verborgen liege, ob es schon Kunst braucht, dieselbe heraus zu suchen.
Noëls Übersetzung zufolge lehre Konfuzius, und dies sei der Inbegriff seiner 'philosoophia pratica', dass der Verstand durch die Untersuchung der Gründe der Dinge den genauen Begriff des guten und Bösen erschliessen könne. Auf dieser Verstandesleistung aufbauend, könne der Wille derart gefestigt werden, dass er das Gute liebe und das Böse hasse. Das Ziel, auf das alle Handlungen auszurichten seien, sei die Vollkommenheit, und zwar die eigene und die Vollkommenheit der anderen ; die höchste Vollkommenheit sei das letzte Ziel alles Handelns.
Philosophy : China : General
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Philosophy : Europe : Germany