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1957.4

Text

Jaspers, Karl. Die grossen Philosophen [ID D17060].
Laotse [Laozi] (2)
4. Das Tao und die Staatsregierung (die Praxis der Lenkung menschlicher Gemeinschaft)
Im Herrscher, in der Verwaltung, in der Wirtschaft und noch im Krieg ist das Wahre: die Gleichförmigkeit mit dem Tao. Daher wird beim Regieren wiederum das Nichthandeln, das Freilassen, das Wirken in der Unmerklichkeit, das heißt in der Gestalt der Schwäche, das Wahre sein. Der Herrscher ist ein einzelner Mensch. Wie dieser ist und handelt, das macht das Leben des gesamten Staatswesens aus. Das Ganze der menschlichen Zustände ist dasselbe, was der einzelne Mensch ist.
a) Der Staatslenker: Die Stufenfolge im Wert der Staatslenker wird charakterisiert durch die Weise, wie das Volk sie sieht.
»Herrscht ein Großer, so weiß das Volk nur eben, daß er da ist. Mindere werden geliebt und gelobt, noch mindere werden gefürchtet; noch mindere werden verachtet« (17). Die besten Herrscher sind unmerklich: »Die Werke werden getan... und alle hundert Geschlechter sagen: wir sind frei (wir sind von selbst so)« (17); und zugleich: »Alle Welt wird von selbst das Rechte tun« (37).
Der vollkommene Herrscher »macht nicht, darum verdirbt er nichts, nimmt nicht, darum verliert er nichts« (64, 29). Er wirkt durch Nichttun. »Liebt er das Volk und regiert er das Land, kann er ohne Tun sein« (10). »Mit Ungeschäftigkeit gewinnt man das Reich« (57).
Dem entspricht es, daß der gute Herrscher sich niedrig hält, sich unscheinbar macht, nicht beansprucht. Er wird, wenn er als Herrscher über dem Volk stehen will, mit seinem Sprechen sich unter das Volk stellen; er wird, wenn er dem Volk voranzugehen wünscht, sich persönlich ihm nachsetzen; »so bleibt er oben, und das Volk fühlt keine Bürde; so geht er voran, und das Volk fühlt sich nicht zurückgesetzt« (66). Ein solcher Herrscher, der, während er seine Hoheit kennt, sich doch in der Erniedrigung hält (daher auch sich »verwaist«, »Wenigkeit«, »unwürdig« nennt) (39), »ist des Reiches Strombett« (28).
Regierung durch Nichttun kann nur dem gelingen, der das Regieren nicht begehrt. Hat er Sorge, die Macht zu gewinnen, und Angst, sie zu verlieren, so vermag er nicht, wahrhaft zu regieren.
Anders die schlechten Staatslenker. Das Entscheidende ist: »Schwierigkeit, die Leute zu lenken, kommt daher, daß die Herrschenden zu vielgeschäftig sind« (75). Schlimmer noch: »Sind die Paläste sehr prächtig, dann sind die Felder sehr wüst, die Speicher sehr leer. Bunte Kleider anziehen, scharfe Schwerter umgürten, sich füllen mit Trank und Speisen, kostbare Kleinodien haben in Überfluß, das heißt mit Diebstahl prahlen« (53).
b) Das Wirken des Nichttuns: Die Wirkung durch Nichthandeln (wu wei) des Herrschers ist schwer begreiflich. Dieses Nichthandeln ist von der Art, daß es Selbstentfaltung aller Wesen, aber nicht die willkürliche, sondern die wahre erwirkt: »Wenn Könige und Fürsten das Nichthandeln des Tao zu wahren vermöchten, so würden alle Wesen von selbst sich gestalten« (37).
In der universistischen Weltanschauung der Chinesen ist diese Wirkung eine magische: Einstimmung des Herrschers mit dem Tao lenkt den Gang nicht nur des Reiches, sondern auch der Natur und aller Dinge auf die rechte Bahn. Das Tao-gemäße Verhalten des Herrschers ist Ursprung guter Ernten und verhindert Überschwemmungen, Dürre, Seuchen und Kriege. Diese magische Vorstellung kommt auch bei Laotse vor (wenn dieses Stück echt und nicht spätere Zutat ist): »Wenn man mit Tao das Reich regiert, so gehen die Abgeschiedenen nicht als Geister (kuei) um. Nicht daß die Abgeschiedenen keine Geisteskräfte hätten, aber ihre geistigen Kräfte schaden den Menschen nicht« (60). Diese magische Vorstellung tritt bei Laotse zurück, wenn sie auch nicht ausdrücklich bekämpft wird.
Oft dagegen betont er die Vorbildlichkeit. »Wenn einer das große Bild - das urbildliche Tao - anderen vorhält, läuft alle Welt ihm zu« (35). »Tiefe Tugend ist abgründig, ist wie fernwirkend. Sie ist dem, was in der Welt gilt, entgegengesetzt; sie bringt es aber hernach zu großer Nachfolge« (65). Anziehungskraft des hohen Menschen und infolgedessen Nachfolge des Tao bringt das Volk und das Reich in Ordnung. Der Mensch ist durch sein inneres Sein Träger des Vorbildes. »Gilt es die Reichsbevölkerung für sich einzunehmen, so tut es keine äußere Veranstaltung« (57).
Entscheidend ist die Spontaneität im Handeln des Nichthandelns. Es wäre absurd, zu meinen, durch Nichtstun geschehe eine Wirkung. Vielmehr ist das Nichttun, das nicht Nichtstun ist, gemeint als das alle Pläne umgreifende, jedem bestimmten Tun vorhergehende Tun im ganzen, das weder Passivität noch planloses Tun ist. Es ist das Handeln, das kein gewaltsames Eingreifen nach nur endlichen Zwecken, sondern Eingreifen aus dem Ursprung des Tao selbst ist. Möchte man die Art der Ursächlichkeit dieses Nichttuns näher bestimmt wissen, so ist solche Forderung unangemessen für das, worum es sich hier handelt. Ebenso wie die in das Tao eindringende Spekulation und wie die Erhellung des ursprünglichen Nichttuns des Einzelnen, so ist auch die politische Erörterung auf dem Weg, der hinausführt in das Unnennbare, Un-unterscheidbare.
Erst auf der nächstniederen Stufe ist im Unterschiedensein des Endlichen ein bestimmtes Sprechen möglich; und dann wird sogleich auch negativ gesprochen: »Je mehr es im Reiche Beschränkungen und Verbote gibt, desto ärmer wird das Volk. Je künstlicher und erfinderischer die Behandlung des Volkes ist, desto unglaublichere Schliche kommen auf. Je mehr Gesetze und Verordnungen erlassen werden, desto mehr treten Räuber und Diebe auf« (57). Oder es wird nur die unbestimmte positive Behauptung abgewandelt, daß, wenn nur das Machen, Eingreifen, Verbieten und Befehlen fortfällt, alles »von selbst« wahr und wirklich werde. »Ich mache nichts, so wird das Volk von selbst anders; ich verhalte mich am liebsten ruhig, so fügt sich das Volk von selbst der Ordnung; ich übe die Nichteinmischung in der Wirtschaft, und das Volk wird von selbst reich; ich halte mich frei von Begehrlichkeit, so wird das Volk von selbst einfach« (57); (demgegenüber ist nur eine äußere Kausalität getroffen mit dem Satz: »Das Volk hungert, weil seine Obrigkeit zu viel Abgaben verzehrt«; 75).
Wenn man in den Sätzen Laotses Anweisungen sucht, so ist sogleich der Einwand da: das ist doch alles nicht durchzuführen, die Menschen sind nun einmal anders. Aber das bei solchem Einwand vergessene Wesentliche ist, daß es sich hier nicht um Anweisungen für ein zweckhaftes Tun handelt. Wo gerade das Nichtmachen, Nichtplanen, Nichteingreifen recht ist, da kann das Gesagte, wenn es selbst als Aufforderung zum Machen und Planen verstanden wird, nur sinnlos werden. Laotse läßt die Möglichkeit erblicken, die nicht Programm ist für den Verstand, sondern, vor allem zweckhaften politischen Tun liegend, den Ursprung im Menschen ansprechen will. Als ausgedachte, mit endlichen Mitteln realisierbare Institution würde sie eine schlechte Utopie magisch wirkenden Nichtstuns sein. Als Erfühlen der Möglichkeit des Menschseins im Politischen trägt der Gedanke seine Wahrheit in sich. Es mag ungeheuerlich klingen, wenn Laotse sagt: »Wenn die Fürsten und Könige imstande wären, des Tao Hüter zu sein, so würden sich alle Wesen von selbst ihnen unterwerfen. Himmel und Erde würden sich vereinigen, erquickenden Tau herabfallen zu lassen; das Volk würde von selbst, ohne daß es ihm jemand befiehlt, sich geordnet verhalten« (32). Den Sinn dieses Philosophierens würde in der Tat verkehren, wer nun - machend, anweisend, ratend - etwa die Anarchie in der Welt einführen wollte, in der Erwartung, die Menschen würden alsbald, weil sie gut sind, von selbst Ordnung halten. Oder er würde, wenn er im durch ihn entstehenden Chaos Gewalt anwendet, durch diese Gewalt alles von ihm Gemeinte böser als je zerstören. Wäre aber der den Laotse Mißverstehende, der die Anarchie einführen will, ein »Heiliger«, und bliebe er wahrhaftig und folgerecht, so würde ihm, wenn er Beachtung fände, Vernichtung beschieden sein. Laotse dagegen spricht - keineswegs die anweisende, machende Umgestaltung der Zustände meinend - im Blick auf seine Wahrheit aus, daß niemand weiß, wie weit er kommen kann: »Wenn man Tugend häuft, so gibt es nichts, das nicht überwunden werden kann. Ist einem nichts unüberwindlich, so weiß niemand die Grenzen seiner Wirkenskraft« (59).
c) Krieg und Strafen: Wie bewährt Laotse den Sinn des Nichthandelns in dem unumgänglichen gewaltsamen Handeln des Staates: nach außen im Krieg, nach innen bei den Strafen? Wie wird hier der Grundsatz »tun, nicht streiten« (81) zur Erscheinung kommen?
Der Krieg ist in jedem Falle böse: »Die schönsten Waffen sind Unglückswerkzeuge, alle Wesen verabscheuen sie« (31). »Wo Heere lagern, gehen Disteln und Dornen auf. Großer Kriegszüge Folge sind sicherlich Notjahre« (30). Aber es gibt Situationen, in denen auch der Weise sich dem Kriege nicht entziehen kann. »Kann er nicht umhin und braucht die Waffen«, so bleiben ihm zwar »Friede und Ruhe doch das Höchste« (3l). Aber ist er entschlossen, so beschränkt er sich selbst in der Weise, wie er kämpft und siegt. Er »erkämpft den Sieg und läßt es dabei bewenden: Er brüstet sich nicht und wird durch seinen Sieg nicht übermütig. Er kämpft und siegt, weil es unerläßlich ist, kämpft und siegt, ohne den Helden zu spielen« (30).
Auch noch im Kampf gilt das Tun durch Nichttun. Da »das Zarte und Schweigsame mächtiger ist als das Starre und Starke« (36), »der Welt Zartestes der Welt Härtestes« überwindet (43), folgt für Laotse mit verwunderlicher Konsequenz: Es »werden die, die in Gewaffen stark sind, nicht siegen... Was stark und groß ist, geht abwärts; was zart und biegsam ist, aufwärts« (76). »Die indessen, die Sanftmut haben, werden in Schlachten siegen, in der Verteidigung feststehen« (67). »Wenn gleichstarke Heere sich begegnen, so siegt der, der Mitgefühl hat« (69). Der Angriffskrieg wird selbstverständlich verworfen: »Es gibt nichts Unheilvolleres als Angriffskrieg« (69). Auch im Kriege selbst ist gut ein möglichst geringes Eingreifen: »Ein Kriegserfahrener pflegte zu sagen: Ich wage nicht (in Feindesland) den Hausherrn zu spielen, ich betrage mich als Gast. Ich wage nicht einen Zoll vorwärts zu gehen; ich weiche (eher) einen Fuß zurück. Das heißt vom Platze kommen, ohne zu marschieren, drohen, ohne die Hände auszustrecken, vordringen ohne Kampf, Besitz ergreifen ohne Waffen« (69).
Den rechten Krieger schildert Laotse: »Wer tüchtig ist, Anführer zu sein, ist nicht kriegslustig. Wer tüchtig ist, zu kämpfen, wird nicht zornig. Wer tüchtig ist, Gegner zu überwinden, streitet nicht« (68). »Siegt er, gibt er sich nicht der Freude hin. Freude am Siege haben, heißt Freude haben am Menschenmord. Hat einer massenhaft Menschen umgebracht, so soll er sie mitleidsvoll leidtragend beweinen: der Sieger im Kriege gehört dahin, wo nach der Sitte die Trauernden stehen« (31).
Die Gewalt des Staates nach innen äußert sich in den Strafen., besonders in der Todesstrafe (72-74). Tao-Gemäßheit zeigt sich in der Zurückhaltung des Richters. Gestraft soll nur das werden, »was der Himmel haßt«. Aber des Himmels Richter ist verborgen. Daher ist es eine Beruhigung für den menschlichen Richter, der ungerechte Bestrafung vermeiden will, daß, falls er unrediterweise begnadigte, der Verbrecher auch dann seiner Strafe nicht entgehen wird: »Des Himmels Netz faßt weite Weiten, klafft offen und läßt nichts entfliehen« (73).
d) Das Handeln im Wechsel und Werden der Dinge: Zum ewigen Tao findet Entfernung und Rückkehr statt. Diese Rückkehr täglich neu zu finden, ist die Aufgabe, nicht aber die Verwandlung der Welt zu einem gänzlich neuen Zustand. Es gibt für Laotse und die Chinesen nicht den Gang einer einmaligen Geschichte, nicht eine unentschiedene Zukunft, sondern den ewigen Bestand unendlich bewegten Lebens des Tao. In diesem geschieht das Schwanken zwischen Gemäßheit und Abweichen gegenüber dem Tao. Nichthandeln erwirkt die vollendete Angemessenheit.
Dies Nichthandeln ist, statt Ruhe des Zusehens, der beherrschende Grund des Handelns. Politisch ist ständig die faktische Unruhe da: Gegner der Regierung, Keime neuer Gegnerschaften, Veränderungen der Zustände. Der nichthandelnde Staatslenker vollzieht daher das Nichthandeln in einer ständigen Anspannung. Während die Betriebsamkeit nichts eigentlich vollendet und mit ihrem Zweck doch alles zu haben meint, ist dem Tun aus dem Grunde des Nichttuns das Ganze unveränderlich gegenwärtig, jede Handlung vorweg fühlbar in ihren unmittelbaren und fernen Folgen: »Die Leute in ihren Geschäften sind immer nahe am Vollenden, und es mißrät ihnen. Sorgt man für das Ende, wie für den Anfang, dann mißrät kein Geschäft« (64).
Daher lebt der weise Staatslenker im Zusammenhang aller Dinge. Er erblickt, was anfängt und nur erst Keim ist, und folgt der Forderung: »Unternimm das Schwere, solange es noch leicht ist; tue das Große, solange es noch klein ist« (63). Zur rechten Zeit bedarf es des unmerklichen Eingriffs. »Was ruht, kann leicht stillgehalten werden; was noch nicht hervorgetreten ist, mag leicht beeinflußt werden; was schwach ist, ist leicht zu zerbrechen; was spärlich ist, ist leicht zu zerstreuen. Man begegne darum den Dingen, ehe sie hervortreten, man nehme sie in Behandlung, ehe sie in Verwirrung geraten. Ein Baum, der nur mit zwei Armen zu umfassen ist, wächst aus feinster Wurzelfaser. Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt« (64).
Jederzeit diese unmerklichen Eingriffe zu finden, ist das Schwere, nämlich das Halten des Zusammenhangs mit dem Grund der Dinge und allem Geschehen. Daher ist das allordnende Nichttun so fern dem Leichtsinn. Der nichthandelnde Staatslenker bindet sich an das Schwere. »Das Schwere ist des Leichten Wurzel. Der heilige Mensch wandert den ganzen Tag, ohne sich vom schweren Gepäck zu trennen. Wie viel weniger erst darf der Herr des Reichs in seinem Selbst den Erdkreis leichtnehmen! Durch Leichtnehmen verliert man die Wurzel« (26).
e) Der wünschenswerte politische Gesamtzustand: Laotse erblickt entsprechend dem chinesischen Universismus das Dasein des Menschen in einem einzigen Reich, gegliedert von der Spitze des Einen Herrschers über Länder, Gemeinden, Familien bis zu den einzelnen Menschen (54). Dieses Reich ist nicht eine geplante Institution, nicht eine Organisation durch Funktionäre (Beamte), wie sie erst Jahrhunderte später Schi Huang Ti einrichtete, sondern »ein lebendiger Organismus. Das Reich kann nicht gemacht werden; der Macher zerstört es« (29). Laotse hat um sich das verfallende Feudalregiment, dessen ursprünglichen Zustand er für das Tao-Gemäße hält.
Der politische Zustand im Ganzen ist die durch das Eine Reich verbundene Vielheit kleiner Staaten. Das Beste: »Klein sei der Staat, mit wenig Bevölkerung« (80). Damit in diesem kleinen Staat ein glückliches Leben sei (»daß zehn Älteste da sind, und sie ihre Gewalt nicht brauchen; daß man Streitwagen habe, aber ohne Anlaß, sie zu besteigen; daß man Rüstungen und Waffen habe, aber ohne Anlaß, mit ihnen vorzurücken«; 80), muß das Verhalten der Staaten zu einander, der großen zu den kleinen und umgekehrt, das rechte sein: »Ein großes Land, das sich herabläßt, ist des Reiches Band. Darum ein großes Land, ist es Untertan dem kleinen Lande, dann gewinnt es das kleine Land; ein kleines Land, ist es Untertan dem großen Lande, dann gewinnt es das große Land« (61). Die Länder, die glücklich sind, leben nebeneinander, ohne daß die Menschen der verschiedenen Länder, unruhig werdend, in Verkehr miteinander treten: »Nachbarländer mögen in Sehweite liegen, daß man den Ruf der Hähne und Hunde gegenseitig hören kann: und doch sollten die Leute im höchsten Alter sterben, ohne hin und her gereist zu sein« (80).
f) Die Wahrheit des Ursprünglichen: Zustandschilderungen, die an das Idyllische grenzen, Forderungen einer Primitivität, die vor die Erwerbungen der Kultur zurück möchte (»man lasse die Leute zurückkehren zum Gebrauch geknoteter Schnüre«, das heißt also vor die Erfindung der Schrift; 80), sie können bei Laotse anmuten, als sei diese »Rückkehr zur Natur« eine solche zur Roheit. Nur ein Schritt, und es ist in der Tat so.
In der gleichen Richtung scheint die Forderung zu liegen, dem Volk Wissen und Aufklärung vorzuenthalten. Der weise Herrscher »sorgt, daß die Menschen nicht wissend werden, und daß diejenigen, die ein Wissen haben, sich scheuen, zu >machen<« (3). »Die in alten Zeiten recht im Tao wandelten, klärten damit das Volk nicht auf; sie wollten es einfach erhalten. Das Volk ist schwer zu lenken, wenn es allerlei weiß. Mit Aufklärung das Land regieren, ist des Landes Verderben« (65). Ein Schritt, und es handelt sich um eine raffinierte Erleichterung der Menschenbeherrschung durch Dummhalten der Menschen.
Die hohen Werte der menschlichen Kultur und Sittlichkeit scheint Laotse zu verwerfen: »Laßt fahren die Weisheit, gebt auf die Klugheit: des Volkes Wohlfahrt wird sich verhundertfachen. Laßt fahren die Menschenliebe, gebt auf eure Gerechtigkeit: das Volk wird zurückkehren zu kindlicher Ehrfurcht. Laßt fahren die Geschicktheit und verzichtet auf eure Verbesserungen: Diebe und Räuber wird es nicht geben« (19). Ein Schritt, und man ist bei einer Passivität des Gehenlassens, die nur zuschaut und, weltfremd gegen allen Augenschein, an imaginären Vorstellungen festhält.
Um diese Sätze in ihrem möglichen besten Sinn aus dem Ganzen des Laotse zu verstehen, muß man die Zweideutigkeit des »Ursprünglichen« sehen. Ursprünglich heißt erstens das dem Tao Entsprechende, und dieses meint Laotse. Doch es ist so fern, so verborgen, so verwechselbar, daß es wohl gespürt, aber nicht als verwirklichte Menschenwelt behauptet werden kann. Ursprünglich heißt zweitens, was am Anfang war, das Primitive, und dieses wird, weil es als Gleichnis für das eigentlich Ursprüngliche gebraucht wird, mit ihm verwechselt. Die Kraft des philosophischen Gedankens, weicher die Quelle der höchsten menschlichen Möglichkeiten erspürt, kann nicht verhindern, daß Laotses Sätze alsbald — in gelegentlichen Entgleisungen vielleicht schon beim Denker selbst — sich verschleiernd vor das zuerst Gesehene schieben und es verkehren.

II. Charakteristik und Kritik
1. Der Sinn Laotses
a) Der Widerstreit: daß vom Unsagbaren überhaupt geredet wird: »Wer weiß, der redet nicht; wer redet, der weiß nicht« (andere Übersetzung: »Wer Kenner [des Tao] ist, macht nicht Worte; wer Worte macht, der ist nicht Kenner«) (56). Diese Grundeinsicht spricht Laotse wiederholt aus: »Der vollendete Weise übt Belehrung ohne Reden« (andere Übersetzung: »Er bewerkstelligt ein Leben ohne Worte«, anders: »Wandel, nicht Rede ist seine Lehre«) (2).
So hat Laotse sein Unternehmen, die tiefste Erkenntnis mitzuteilen durch das, was gesagt werden kann, auch wieder verworfen. In der Tat: Jeder Satz der Aussage lenkt ab. Wer ihn als solchen nimmt,

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hängt am Gegenstand fest. Er muß Satz und Gegenstand überschreiten, das heißt ins Unsagbare gelangen, um der Wahrheit inne zu werden. Also muß jeder Satz als Aussage im Nichtsagbaren verschwinden, um wahr zu werden.
Warum schreibt dann Laotse ein Buch? Er begründet es nicht. Nur die Legende sagt, daß er nicht wollte, vielmehr der Grenzwächter ihm eine Niederschrift abverlangte, die Laotse gutwillig-widerwillig vollzog. Wir dürfen antworten: weil diese niedergeschriebenen Aussagen durch sich selbst dazu bringen sollen, sie zu überschreiten, an ihrem Leitfaden durch Besinnung auf das Unsagbare hinzuleiten. Dieses Werk Laotses ist die erste große indirekte Mitteilung, auf die der eigentlich philosophische Gedanke immer angewiesen ist.
Nur durch Mitteilung gelangt der Gedanke vom Menschen zum Menschen. Das totale Schweigen wäre zugleich Unhörbarkeit des Schweigens und in der Tat wie nichts. Wir sind auf Sprechen und Hören angewiesen. Einsicht, die sich mitteilt, muß im Selbstverstehen wie im Verstehen seitens des anderen eintreten in das verstandesmäßige, nennende, bestimmende, unterscheidende und beziehende Denken. Die philosophische, unsagbare Einsicht gerät durch ihr Sprechen mit sich selbst in Widerstreit. Aber von ihr selber ist für den Menschen wieder nur im Sprechen (zuerst des Denkenden mit sich) überhaupt zu wissen.
b) Woran in uns wendet sich das philosophische Sprechen? Wir haben gehört: nicht an den Verstand, der ein Wissen von Gegenständen ist, -nicht an den Willen, der auf Zwecke gerichtet nach Plänen handelt. Laotse wendet sich vielmehr an den Ursprung in uns, der durch Verstand und Zwecke verdeckt ist. Daher geht er nicht auf Selbstbezwin-gung durch die Macht des Willens, sondern auf eine tiefere Prüfung unserer Antriebe selber.
In uns ruht oder schläft, was so erweckt werden kann, oder es ist in uns eine Leere, in der nichts zu erwecken ist. Aber dieses Letztere sagt Laotse nicht. Er hat das Vertrauen zum Erweckbaren, die Gewißheit des Tao im Grunde. Es gibt Widerstand, Verschleierung, Erschöpfung, Vergessen. Daher ist die Geduld notwendig.
Als Beispiel diene Laotses politische Erörterung: Seine Sätze kommen Anweisungen so nahe, daß ein Durchdenken als möglicher Anweisungen nahegelegt ist. Dann aber ergibt sich, daß alle solche Anweisungen bei Laotse nur Gleichnisse sind. Sie haben nie den eigentlichen Charakter von Vorschriften oder Gesetzen. Sie werden als Anweisungen falsch, wo sie zur Passivität führen, statt daß sie als Ausdruck für den umfassenden Grund der Aktivität verstanden werden. Sie erwecken den Impuls des Ansichhaltens, die Besonnenheit aus dem tiefsten Umgreifenden heraus. Sie wirken gegen blinde Wut, gegen gedankenlose Aktivität, gegen Gewalt, welche das im weitesten Horizont zu erblickende Ende vergißt.
Sie können wirken als einschränkende Impulse gegenüber der Tendenz, alles durch Anweisungen und Gesetze ordnen zu wollen. Sie können das Maximum des Freilassens zum Bewußtsein bringen. Sie können alle Anweisungen und Gesetze unter die Bedingung stellen, die selber nicht die Form der Anweisung gewinnen, aber in der Mitteilung von Mensch zu Mensch fühlbar werden kann.
Sie gehören zu jenen Vergegenwärtigungen, die wir vollziehen müssen, um nicht ins Endlose der Betriebsamkeit zu geraten, in der trotz herrschender Zweckhaftigkeit am Ende alles falsch, weil zweckwidrig wird.
Es ist merkwürdig, daß die vielen Entscheidungen innerhalb der Bürokratie, die allen größeren politischen Gebilden von jeher zugehört, meistens von Leuten getroffen werden, die ohne den Fonds, der aus der Gegenwärtigkeit des Ganzen kommt, mit der Zweckhaftigkeit zum größten Unsinn gelangen. Die Selbsterziehung des handelnden Menschen und des öffentlichen Geistes fordert die Besinnlichkeit und die Verantwortlichkeit unter Maßstäben, die über den Mechanismus der Gesetze und Anordnungen weit hinausgehen. Diese Verantwortung soll jede Regelung im Ganzen des Lebens und soll sie in ihrem Zusammen mit anderen Regelungen sehen. Sie muß mit der größten Einfachheit nicht nur die je bestimmte Ordnung, sondern auch die Befreiung des Alltagslebens aller und die Offenhaltung unberechenbarer Chancen finden.
Laotses Gedanken wenden sich an den umgreifenden Grund in uns und außer uns. Sie erinnern an das, was in der Luft zweckhaften "Willens und endlichen Verstandes ständig vergessen wird. Laotse spricht beschwörend zu uns im Augenblick, in dem wir, ob im Alltag oder im Beruf oder im politischen Wirken, unsere Absichtlichkeit loslösen von dem, wodurch sie geführt bleiben muß, wenn sie nicht in die Endlosigkeit der Funktion, in die Öde des Nichtigen, in die durch den Betrieb nur gesteigerte Zerstörung und in die Ratlosigkeit der Frage: wozu? geraten soll. Laotse erinnert an das, wovon der Mensch sich nicht trennen darf, wenn er nicht ins Nichts versinken will.
c) Denkformen Laotses: Laotse sucht nicht mehr, er »weiß« im Sinne solchen Wissens. Des Grundes des Seins innegeworden, redet er aus ihm. Weil er erfüllt ist, teilt er mit. Er gibt Antworten ohne Fragen.
Er reflektiert nicht auf die Methoden, die er mit seinen Gedanken verwirklicht. Lenken wir unser Augenmerk auf das Denken, das in der sprachlichen Mitteilung Laotses erscheint, so fallen charakteristische Züge auf.
Erstens: Wir werden von Laotse im Denken weitergetrieben, weil jeder ausgesprochene Gedanke auch verfehlend und jede Besserung des Satzes doch wieder unangemessen ist. Zum Beispiel: »Bemüht, ihm einen Namen zu geben, nenne ich’s groß. Als groß nenne ich’s überschwenglich; als überschwenglich nenne ich’s entfernt; als entfernt nenne ich’s zurückkehrend« (25). Strauß interpretiert: »Zwinge ich mich, ihm einen Namen zu geben, nenne ich es groß. Das absolut Große ist eben damit auch das absolut Ferne. Aber dieses Ferne ist das, das durch alles hindurchgeht, das eben jetzt auch in meinem Denken ist, und deshalb muß ich es als das Wiedergekehrte bezeichnen.«
Zweitens: Die Gedanken, die auf das Tao treffen wollen, geraten in Gegensätzlichkeiten., Widersprüche, Paraäoxien.
Gegensätze sind auf vielfache Weise aneinander gebunden: sie erzeugen sich, ergänzen sich, erhellen sich gegenseitig, sie entfernen sich voneinander, fügen sich ineinander, folgen einander. Zum Beispiel: »Sein und Nichtsein erzeugen einander. Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz formen sich aneinander. Hoch und Niedrig entfernen sich voneinander. Ton und Stimme fügen sich ineinander. Vorher und Nachher folgen einander« (2). Ein anderes Beispiel: »Das Schwere ist des Leichten Wurzel, die Ruhe ist Herr der Unruhe« (26).
Diese mannigfachen Gestalten der Gegensätze benutzt nun Laotse, um im Widerschein das Unsagbare sagbar zu machen, das Sein im Nichtsein, das Wissen im Nichtwissen, das Tun im Nichttun. Es kann für den schnellen Leser, der sich nicht, sich besinnend, in die Sätze mit ihnen vertieft, bei der Wiederholung der gleichen Form wie eine Manier wirken, die ermüdet. In diesem Spiel verstecken sich die Gegensätze ineinander, - oder löschen sich aus, als ob nichts bliebe, - oder kehren sich ineinander um: »Wahre Worte sind wie umgekehrt (ungereimt)« (78). Man findet in der Tat die ihrer selbst noch nicht methodisch bewußte dialektische Denkform, das Umschlagen der Gegensätze ineinander, das Erscheinen des Einen im Gegensatz seines Anderen, die Paradoxie der Einheit der Gegensätze. Sie ist bei Laotse die Form eines Sprechens aus ursprünglicher Tiefe, das auffordert zur Meditation.
Das Spiel mit den Gegensätzen enttäuscht, wenn man bestimmtes Wissen sucht, aber immer nur verschwindende Paradoxien hört. Das Spiel hat seine überzeugende Kraft nur, wenn es den Widerhall des eigenen Grundes weckt. Der endliche Verstand soll sich gleichsam auf den Kopf stellen, wenn der umgreifende Grund das Nichtsein ist, aus dem das Sein ist, das Nichterkennen, mit dem wir Wahrheit ergreifen, das Nichttun, durch das wir tätig sind.
Drittens: Das Tao und was durch Tao ist, kann nur im logischen Zirkel gedacht werden. Es ist nicht aus einem Anderen abgeleitet und nicht durch Beziehung auf ein Anderes zu denken. Weil unbezogen, ist sein Sein im Grunde des Nichtseins nur dadurch auszusprechen, daß es durch sich selbst ist, sein Erkanntwerden im Nichterkennen dadurch, daß es nur durch es selbst erkannt wird, sein Handeln im Nichthandeln dadurch, daß es sich selbst bestimmt. Statt der Ableitung aus einem. Anderen ist der logische Zirkel der Ausdruck für das In-sich-Kreisen des Tao. So heißt es: »Tao ist sich selbst Gesetz« (25), ich weiß es »durch es selbst« (21), erkenne es »an ihm selbst« (54). Werden die Verschleierungen weggezogen, die Verkehrungen rückgängig gemacht, wird der Wille Tao-gemäß, dann wird freigelegt der Ursprung. Und in ihm wird nicht das Nichts erwartet, sondern »es selbst«. -
Die Denkformen des Weitertreibens, der Gegensätzlichkeiten und Umkehrungen, der Zirkel sind ein Mittel, um der Vergewisserung des Ursprungs näher zu bringen. Dieser ist Einer. Daher kennt Laotses Denken nicht die Unterschiede von Metaphysik, Ethik, Politik, die wir zur Darstellung seines Denkens in einem ordnenden Nacheinander benutzen. Laotse greift sie immer wieder mit wenigen Sätzen ineins. Daher denkt er jeweils ganz: ganz politisch, ganz ethisch, ganz metaphysisch, das heißt: er hat in dem, was uns gesondert als Metaphysik, Ethik, Politik sich darstellt, jeweils dieses Besondere in seinem Grunde, damit immer das Gleiche im Auge. Im Tao gebunden, ist nichts getrennt. Vom Tao verlassen, trennt sich eines vom anderen, macht sich fälschlich zum Ganzen, verabsolutiert sich in den Gegensätzen, in der Absichtlichkeit, in der Moralität.
2. Laotse nachfolgende Gestalten
Laotse spricht aus dem Vollendeten oder der Ewigkeit. Er spricht aus dem Umgreifenden an das Umgreifende. Wird der gegenständliche Inhalt seiner Sätze unmittelbar als das, was man wissen und wonach man handeln kann, genommen, so ist sein Sinn verloren. Wie dieses Mißverständnis entsteht, ist aus den Denkformen in Laotses Mitteilung zu begreifen. Was Gleichnis war, wurde als Realität genommen; was als Leitfaden der Gedankenbewegung diente, wurde als Gegenstand zur Sache selbst; was Hinweis auf den Grund der Praxis bedeutete, wurde als Anweisung für absichtliches Verhalten aufgefaßt. So wurde der von Laotse durchschaute, aber unüberwindliche Widersinn des Sagens von Unsagbarem, statt die Bewegung in diese Unsagbarkeit zu veranlassen, vielmehr mißverstanden als gegenständliche Erkenntnis dessen, was ist, oder als Vorschrift für sittliches Handeln oder als Plan für die rechte Staatseinrichtung.
Der Eremit: Laotse transzendierte mit dem Denken des Tao die Welt, aber er verließ nicht die Welt, auch nicht, als er aus der Heimat ging. Er lebte kraft des Tao-Ursprungs in der Welt selbst. Sein Erdenken des Tao geht nicht den Weg zur Ekstase, sucht nicht den Zugang zum Grunde durch eine Veränderung des Bewußtseins in Zuständen der Abwesenheit von Ich und Welt. Laotse ist in diesem Sinne nicht Mystiker. Sein Denken ist eine Vergewisserung durch eine Denkbewegung, welche das Sein in allem Seienden erblicken läßt, bestätigt und wieder ermöglicht. Laotse spürte und vollzog das Tao in der Welt. Daher sind Weltbegreifen, Ethos und Staatsdenken Gestalten seiner Philosophie.
Die tiefe Ruhe des Tao ist in jedem Gedanken Laotses gegenwärtig. Diese Ruhe ist jenseits aller Zwecke und Ziele, ist aller Wesen Zuflucht und Hort, ist Abgrund und Geborgenheit, ist Ende und Vollendung. Aber diese Ruhe ist keine passive Ruhe der Gleichgültigkeit, nicht vitale Beschaulichkeit vegetativen Daseins, sondern die Ruhe in der Unruhe des Leidens unter der Tao-fremden Welt. Sie ist noch in dem Leid der Einsamkeit, dem Zwang, wie ein Narr in der Welt zu leben, die dem Tao fremd geworden ist.
Das Denken Laotses wird sinnverkehrt in folgendem Mißverstehen: Die Begierdelosigkeit, sagt Laotse, ist Bedingung für das Erblicken des Tao. In der Verkehrung dessen wird gefolgert, der Mensch ohne Leidenschaften käme dem Ursprung näher, der Mensch ohne Tat sei dem Grunde verwandter. Laotse erleidet, aber will nicht die Weltabsonderung. Er kommt nicht zur Weltverneinung und gerät nicht in Weltabkehr. In der Verkehrung aber von Laotses Haltung wurde die Welt wegen ihrer Verdorbenheit als Welt schlechthin verworfen. So konnte sein Denken, unter Verkümmerung seines Sinns, im Dienste der Eremiten und Mönche genutzt werden. Als Einsiedler leben, in die Berge gehen, in Höhlen wohnen, alle Weisen der Weltabsonderung waren in China eine uralte Lebensform im Gegenpol zur Ordnung des Lebens in Familie, Gemeinde und Staat. Schon in den alten Liedern des Schi king [Shi jing] findet sich der Preis der Einsamkeit: »Einsamkeit am Bach im Tal ist des Hohen heitre Wahl. Einsam schläft er, wacht und spricht... Einsamkeit am Bergeshang ... Einsamkeit auf Gipfelhöh'...« Durch alle Zeiten geht das Mönchswesen. Es ist taoistisch und beruft sich auf Laotse (soweit es nicht später in China buddhistisch wurde).
Der Lebenskünstler: Die Ruhe des Tao konnte umgekehrt in der Welt gefunden werden, aber als raffinierte Kunst, unter allen Bedingungen und durch besondere Veranstaltungen das Leben geistig zu genießen. Das reale Dasein wird nicht als Aufgabe zur Erfüllung von Pflichten in Familie, Beruf und Staat erfaßt, sondern als Situation, in der durch Anpassung und Beweglichkeit in allen an sich nicht ernstzunehmenden Realitäten die Selbstbehauptung gewonnen wird. Diese bedarf der hohen Kunst der Ruhe in der Schönheit des Lebens. Die alte Geschichte von den drei Essigtrinkern erläutert es: Essig ist das Symbol des Lebens. Konfuzius findet die Flüssigkeit sauer, Buddha bitter, Laotse aber süß. Daher wird durch alle Jahrhunderte Laotse von Konfuzianern angegriffen, mit dem sie dies in die kunstvolle Lebensdisziplin abgleitende Dasein meinen, so etwa Tschu Hsi [Zhu Xi] (1131-1200): Laotse denke, ob er nun von Leere, Reinheit, Nichthandeln und Zurückweichen rede, doch immer an seinen Vorteil, streite mit niemandem und sei immer vergnügt lächelnd.
Der Literat: Tschuangtse ist der berühmteste Nachfolger des Laotse. Er ist auch in den Übersetzungen - im Unterschied vom Tao te king -leicht zu lesen, geistreich, spannend, anschaulich, ebenso geneigt zu flüssigen Ausführungen wie zu zugespitzten Sätzen, reich an Abwandlungen der Gedanken wie der Darstellungsformen. Seine Erfindungsgabe und anschauliche Phantasie fesseln durch Anekdoten, Gespräche, Situationen.
Aber der Unterschied von Laotse ist groß. Laotse fesselt durch die Ursprünglichkeit, den Ernst, das Uneitle, die Wahrheit des tiefen Leidens wie der Ruhe. Tschuangtse dagegen erregt durch die Überraschung, verblüfft den Leser, gibt sich als Ironiker und Skeptiker, hat die Gedanken Laotses wie ein Material seiner literarischen Erfindungen zur Verfügung. Er läßt die Absichtlichkeit der Formung von Literatur spüren. Damit wird jedes Wort Laotses in seinem Sinne verwandelt.
Was schmerzvolle Paradoxie, unerläßlicher Umweg im Versuchen des Unmöglichen war und dadurch so unerhört eindringlich anzusprechen vermochte, wird nun literarische Methode und artistisches Leben des Weisen. Daher ist Laotse nur durch anhaltende Besinnung zugänglich und unerschöpflich. Tschuangtse dagegen läßt im Schein der natürlichen Verstehbarkeit das, wovon in der Nachfolge Laotses die Rede sein sollte, sich faktisch verlieren.
Die Stimmung Laotses ist friedlich, die des Tschuangtse polemisch, voll Hochmut und spottender Verachtung. Tschuangtse scheint nichts zu wissen von dem, was Laotse als die Stärke der Schwachheit, als die sanfte Gewalt des Niedrigen, als die Kraft des immer nach unten, an die verachtetsten Orte fließenden Wassers zeigt und als die ihm eigene Stimmung überall bewährt. Laotse trägt das unermeßliche Leiden der Tao-Ferne in der Welt. Tschuangtse spricht nur die natürliche Trauer des Menschen um Vergänglichkeit und Tod aus und um die Klage in der vergeblichen Frage: woher und wohin und wozu?
Die bewunderungswürdige Erfindungsgabe Tschuangtses, seine eindringenden Gedanken über Welt und Wirklichkeit, über Sprache, über die mannigfachen psychologischen Zustände, sein Reichtum machen ihn zu einem der interessantesten chinesischen Autoren. Aber man darf ihn nicht mit Laotse verwechseln und ihn nicht als einen zureichenden Kommentator Laotses verstehen.
Der Magier: Auf Laotse beriefen sich die Taoisten, welche durch Atemtechnik (wie Mystiker in aller Welt) Zustände tiefster Offenbarung erzwingen wollten; auf ihn beriefen sich die Leute, welche das Lebenselixier, den Unsterblichkeitstrank herstellen oder finden wollten, auf ihn die Zauberer, die auf Wolken zu wandeln, im Raum an jedem beliebigen Ort gegenwärtig zu sein meinten.
Der Politiker der Gewalt: Die Sätze vom Tao und dem hohen Menschen jenseits von Gut und Böse wurden ihres Sinnes beraubt durch die Verdrehung in die Grundsätze eines norm- und moralfreien Umgangs mit Menschen. Aufrührer konnten die Idee des ewig wahren Zustands friedlich anarchischer Ruhe eines Tao-gemäßen Lebens verkehren in das Ziel ihrer Absicht, ihn mit Gewalt herbeizuführen. Ein Konfuzianer sagte kritisch: Laotse betrachte die Menschen wie Tonfiguren. Sein Herz bleibe eiskalt. Auch wenn ein Mensch getötet würde, fühlte er kein Mitleid. Daher ließen sich seine Anhänger viel zu Rebellionen und Betrug verleiten.
Der größte chinesische Gewaltherrscher, Tsin-schi-huang-ti, der im
dritten Jahrhundert v. Chr. mit einer vor ihm nicht dagewesenen totalen Planung und gesteigerter Absichtlichkeit das chinesische Reich umformte, der das Leben technisierte, der die Konfuzianischen Schriften verbrennen ließ, bewahrte außer den militärischen, ackerbaulichen und anderen nützlichen Schriften die Taoistischen Werke. Er wollte die Unsterblichkeit seines Individuums und sandte eine Expedition in das östliche Meer zu den Inseln, wo der Unsterblichkeitstrank zu holen sei. Daß dieser Herrscher Taoist war, ist eine denkwürdige Tatsache. Der tiefste Denker kann auch am radikalsten verkehrt werden.
3. Laotses historische Stellung und Grenze
Laotse ist gegründet in einer uralten anonymen Überlieferung. Seine Leistung ist die Vertiefung der mythischen Anschauung und ihr Überschreiten durch den philosophischen Gedanken. Die Ursprünglichkeit dieses Denkens ist an seinen Namen gebunden. Ihm folgte nicht nur die Verwandlung in größere Zugänglichkeit durch eine Literatur eleganter Form, sondern auch der Aberglaube und die Verdrehung seiner Sätze in Handgreiflichkeiten. Aber er wurde auch immer wieder der Erwecker zu eigentlicher Philosophie.
Weltgeschichtlich ist die Größe Laotses gebunden an den chinesischen Geist. Grenzen Laotses sind Grenzen dieses Geistes: Laotses Stimmung bleibt heiter in allem Leid. Sie kennt weder die Drohung der buddhistischen Wiedergeburten, daher nicht den Drang hinaus aus diesem Rad der Qual, noch kennt sie das christliche Kreuz, die Angst der unausweichlichen Sünde, die Angewiesenheit auf die Gnade der Erlösung durch den stellvertretenden Opfertod des Mensch gewordenen Gottes. Es liegt in diesem Ausbleiben weltgeschichtlicher Seinsanschauungen der indischen und abendländischen Menschen mehr als das Fehlen des Unnatürlichen und Absurden, als ob etwa diese frühen chinesischen Menschen das Glück gehabt hätten, nicht Gestalten furchtbaren Wahns, als welche sie am Maße chinesischer Natürlichkeit erscheinen können, ausgeliefert gewesen zu sein. Welcher Zauber liegt über diesem chinesischen Geiste, der so unermeßlich zu klagen vermag, aber nicht zur Empörung in der Anklage gegen den Grund der Dinge und nicht zum fassungslosen Gehorsam gegen das Unbegreifliche in bestimmt offenbarter Autorität gelangt! Aber trotzdem bleibt die Grenze der Chinesen. Es ist die, die uns dem Zauber ihres Wesens auch fremd bleiben läßt, als ob sich die Abgründe des Schreckens hier nicht in ganzer Tiefe aufgetan hätten. Die Chinesen haben nicht nur keine Tragödie in der Dichtkunst geschaffen, sondern das Tragische ist ihnen unzugänglich geblieben, so groß sie auch das Unheil zu sehen und zu erleben vermochten.
Wie ist nun diese Grenze bei Laotse für uns zu fassen? Wie alle größten Philosophen der Menschheit denkt Laotse aus dem Umgreifenden, ohne in ein Gewußtes sich fesseln zu lassen. Sein in das Weiteste gespanntes Denken läßt nichts aus. Er selbst ist nicht subsumierbar als Mystiker, als Ethiker, als Politiker. Seine tiefe Ruhe des Tao ist gewonnen im Überschreiten aller Endlichkeit, aber so, daß die Endlichkeiten selber, sofern sie wahr und wirklich sind, vom Tao durchdrungen werden. Dies Philosophieren lebt in der Welt den Grund der Welt. Die Grenze solchen Philosophierens zeigt sich erst durch das, was als zu Überschreitendes vorkommt oder nicht vorkommt, durch die Zwischenglieder, die als Wirklichkeiten im zeitlichen Bewußtsein das Unumgängliche sind. Denn diese Zwischenglieder sind die Stufen des Transzendierens oder die Weisen der Gegenwärtigkeit des Wirklichen, durch das hindurch erst der Grund erfahren wird. Sie werden im Überschreiten bewahrt und geben dem ohne sie leer werdenden Transzendieren den Gehalt. Die für uns bei Laotse fühlbar werdenden Grenzen liegen nicht im Gipfel seines Philosophierens, sondern in diesen Zwischenstufen.
Die Grundanschauung, in der alle diese Zwischenstufen liegen, läßt sich vielleicht in schematischer Kürze formulieren: Dem chinesischen Geist ist die Welt natürliches Geschehen, lebendiger Kreislauf, das ruhig bewegte All. Alle Abweichungen vom Tao des Ganzen sind beiläufig, vorübergehend und immer schon auch zurückgenommen in das unverderbliche Tao selber. Uns Abendländern ist die Welt in sich nicht geschlossen, vielmehr bezogen auf das, was aus der Welt als natürliches Geschehen nicht begreiflich ist. Die Welt und unser Geist stehen in der Spannung des Ringens mit sich und dem anderen, sind ein entscheidendes Geschehen im Kampf, haben einen einmaligen geschichtlichen Gehalt. Laotse kennt nicht die Chiffer des fordernden und zornigen, des kämpf enden und Kampf wollenden Gottes.
In der Welt, in der Zeit, in der Endlichkeit - im Raum der Zwischenstufen - ist für uns unumgänglich, was bei Laotse fehlt: das Leben in Frage und Antwort und neuer Frage, das Gewicht des Entweder-Oder, der Entscheidung, des Entschlusses, dieser paradoxen Grundwirklichkeit, daß in der Zeit entschieden wird, was ewig ist. Damit fehlt Laotse auch der Ansatz zur grenzenlosen Selbstreflexion, dieser, im Unterschied von der vollendeten Ruhe im Tao, in der Zeit nicht aufhörenden Bewegung; es fehlt dieses Sicherhellen, dieser Umgang mit sich selbst, dies ständige Vertreiben der immer wieder sich aufdrängenden Selbsttäuschungen und Verschleierungen und Verkehrungen.

Mentioned People (2)

Jaspers, Karl  (Oldenburg 1883-1969 Basel) : Deutscher Philosoph, Psychiater, Professor für Philosophie Universität Basel, Schweizer Staatsbürger

Laozi  (ca. 6. Jh. v. Chr.) : Philosoph, Taoismus

Subjects

Philosophy : China : Daoism / Philosophy : Europe : Germany

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# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1957 Jaspers, Karl. Die grossen Philosophen. Bd. 1. (München : R. Piper, 1957). [Enthält : Buddha, Confucius, Laozi]. S. 898-933. Publication / Jasp2