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Year

1957.2

Text

Jaspers, Karl. Die grossen Philosophen [ID D17060].
Konfuzius (2)
4. Das Grundwissen: Unsere bisherige Darstellung sammelte, was in der Form der Spruchweisheit in den auf Konfuzius bezogenen Schriften als das sittlich-politische Ethos mitgeteilt wurde. Diese Weisheit ist aber durchdrungen von Grundgedanken, die einen begrifflichen Charakter gewinnen.
a) Die große Alternative: Konfuzius weiß sich vor der großen Alternative: sich von der Welt zurückzuziehen in die Einsamkeit oder mit den Menschen zusammen in der Welt zu leben und diese zu gestalten. Seine Entscheidung ist eindeutig. »Mit den Vögeln und Tieren des Feldes kann man doch nicht zusammen hausen. Wenn ich nicht mit Menschen zusammen sein will, mit wem soll ich dann Zusammensein?« Der Ausspruch ist: »Wer nur darauf bedacht ist, sein eigenes Leben rein zu halten, der bringt die großen menschlichen Beziehungen in Unordnung.« In schlimmen Zeiten mag es scheinen, daß nichts übrig bleibt, als in die Verborgenheit zu gehen und für sein persönliches Heil zu sorgen. Von zwei solchen Einsiedlern sagt Konfuzius: »In ihrem persönlichen Wandel trafen sie die Reinheit, in ihrem Rückzug trafen sie das den Umständen Entsprechende. Ich bin verschieden davon. Für mich gibt es nichts, das unter allen Umständen möglich oder unmöglich wäre.« Seine Toleranz gegenüber den Einsiedlern bringt für Konfuzius selber nur die Entschiedenheit: »Wenn der Erdkreis in Ordnung wäre, so wäre ich nicht nötig, ihn zu ändern.«
In der Hinwendung zum Menschen und seiner Welt entwickelt Konfuzius Gedanken, die als sein Grundwissen herauszuheben sind. Diese Gedanken gehen auf die Natur des Menschen, - dann auf die Notwendigkeit der Ordnung der Gemeinschaft, - dann auf die Frage, wie Wahrheit in der Sprache da ist, - dann auf die Grundform unseres Denkens, daß Wahrheit in ihrer Wurzel und in ihren Verzweigungen ist, im Unbedingten des Ursprungs und im Relativen der Erscheinung, - schließlich auf das Eine, das alles zusammenhält und auf das alles Bezug hat. Jedesmal sind der Mensch und seine Gemeinschaft das wesentliche Anliegen des Konfuzius.
b) Die Natur des Menschen: Die Natur des Menschen heißt Yen. Yen ist Menschlichkeit und ineins Sittlichkeit. Das Schriftzeichen bedeutet Mensch und zwei, das heißt: Menschsein ist in Kommunikation sein. Die Frage nach der Natur des Menschen findet Antworten erstens in der Erhellung des Wesens, das er ist und zugleich sein soll, zweitens in der Darstellung der Mannigfaltigkeit seines Daseins.
Erstens: Der Mensch soll zum Menschen werden. Denn der Mensch ist nicht wie die Tiere, die sind, wie sie sind, so daß die Instinkte ihr Dasein ohne denkendes Bewußtsein ordnen. Der Mensch vielmehr ist noch sich selbst Aufgabe. Darum kann er im Zusammenleben mit Tieren seinen Sinn nicht finden. Tiere kommen zusammen, sind aneinander gedankenlos gebunden oder laufen auseinander. Menschen gestalten ihr Zusammensein und binden es über alle Instinkte hinaus daran, daß sie Menschen sein sollen.
Das Menschsein ist Bedingung alles bestimmten Guten. Nur wer im Yen ist, kann wahrhaft lieben und hassen. Yen ist allumfassend, nicht eine Tugend unter anderen, sondern Seele aller Tugenden.
Da Yen das "Wesen des Menschen ist, ist es immer ganz nah. Wem es ernsthaft darum zu tun ist, dem ist es immer gegenwärtig.
Yen wird daher in allen besonderen Erscheinungen beschrieben: in der Pietät, in Weisheit und Lernen, in der Gerechtigkeit. Für einen Fürsten werden fünf Eigenschaften der Menschlichkeit angegeben: Würde, und er wird nicht mißachtet; Weitherzigkeit, und so gewinnt er die Menge; Wahrhaftigkeit, und so hat er Vertrauen; Eifer, so hat er Erfolg; Gütigkeit, so ist er fähig, die Menschen zu verwenden. Eine Ableitung der Tugenden kennt Konfuzius nicht. Yen ist der umfassende Ursprung. Von dort her wird alle Tüchtigkeit, Regelhaftigkeit, Richtigkeit erst zur Wahrheit. Von dort her kommt das zweckfreie Unbedingte: »Der Sittliche setzt die Schwierigkeit voraus und den Lohn hintan.«
Dem Yen gemäß handeln, das ist nicht Handeln nach einem bestimmten Gesetz, sondern nach dem, wodurch alle bestimmten Gesetze erst Wert haben und zugleich ihrer Absolutheit beraubt sind. Der Charakter des Yen, obgleich undefinierbar, wird aber doch von Konfuzius umschrieben: Er sieht ihn in dem, was er Maß und Mitte nennt. »Maß und Mitte sind der Höhepunkt menschlicher Natur.« Sie wirken von innen nach außen: »Der Zustand, da Hoffnung und Zorn, Trauer und Freude sich noch nicht regen, heißt die Mitte. Der Zustand, da sie sich äußern, aber in allem den rechten Rhythmus treffen, heißt Harmonie.« Weil dann das Innerste sich zeigt, hier im Ursprung aber alles entschieden wird, ist in bezug auf Maß und Mitte die größte Gewissenhaftigkeit gefordert: »Es gibt nichts Offenbareres als das Geheime, es gibt nichts Deutlicheres als das Allerverborgenste; darum ist der Edle vorsichtig in dem, was er allein für sich ist.«
Diese geheimnisvolle Mitte nun zu umschreiben, das gelingt Konfuzius nur durch den Gedanken des Mittleren zwischen den Extremen, z.B. Schun »faßte die beiden Enden einer Sache an und handelte den Menschen gegenüber der Mitte entsprechend«. Ein anderes Beispiel: »Weitherzig sein und mild im Lehren und nicht vergelten denen, die häßlich handeln: das ist die Stärke des Südens. In Stall und Leder schlafen und sterben, ohne zu müssen: das ist die Stärke des Nordens. Aber der Edle steht in der Mitte und beugt sich nach keiner Seite.«
Das Außerordentliche von Maß und Mitte wird so ausgesprochen: »Es kann einer ein Reich ins Gleiche bringen, es kann einer auf Amt und Würden verzichten, es kann einer auf bloße Messer treten - und Maß und Mitte doch noch nicht beherrschen.«
Zweitens: Was der Mensch sei, zeigt sich in der Mannigfaltigkeit des Menschseins. Durch das was ihr Wesen - Yen - ist, stehen die Menschen sich nahe. Sie gehen aber auseinander »durch die Gewöhnung«, weiter durch das, was sie als einzelne Menschen in ihrer Besonderheit, ihrem Alter, den Stufen ihrer Artung und ihres Wissens sind.
Die Lebensalter: »In der Jugend, wenn die Lebenskräfte noch nicht gefestigt sind, muß man sich vor der Sinnlichkeit hüten, im Mannesalter, wenn die Lebenskräfte in voller Stärke sind, vor Streitsucht, und im Greisenalter, wenn die Kräfte schwinden, vor Geiz.« - Vor der Jugend soll man Scheu haben. »Wenn einer aber vierzig, fünfzig Jahre alt geworden ist, und man hat noch nichts von ihm gehört, dann freilich braucht man ihn nicht mehr mit Scheu zu betrachten.« »Wer mit vierzig Jahren verhaßt ist, der bleibt so bis an sein Ende.«
Menschentypen: Konfuzius unterscheidet vier Stufen der menschlichen Artung. Die höchste umfaßt die Heiligen, die von Geburt an im Besitz des Wissens sind. Konfuzius hat keinen solchen Heiligen gesehen, aber er zweifelt nicht an ihrer Existenz in der Vorzeit. Die zweite Stufe sind die, die durch Lernen sich erst in den Besitz des Wissens setzen müssen; sie können »Edle« werden. Den Menschen der dritten Stufe fällt es schwer zu lernen, doch lassen sie es sich nicht verdrießen. Der vierten Stufe fällt es schwer und sie macht auch keine Anstrengung. Die beiden mittleren Stufen sind auf dem Wege, sie schreiten fort, und sie können versagen. »Nur die höchststehenden Weisen und tiefstehenden Narren sind unveränderlich.«
Konfuzius beobachtet auch Kennzeichen der Menschenartung. Zum Beispiel: »Die Überschreitungen eines Menschen entsprechen seiner Wesensartung.« Der Wissende freut sich am Wasser, denn der Wissende ist bewegt. Der Fromme (Sittliche) freut sich am Gebirge, denn der Fromme ist ruhig.
c) Unbedingtheit im Ursprung und Relativität in der Erscheinung: Wahrheit und Wirklichkeit sind eins. Der bloße Gedanke ist wie nichts. Die Wurzel des menschlichen Heils liegt in der »Erkenntnis, die die Wirklichkeit beeinflußt«, d.h. in der Wahrheit der Gedanken, die sich als inneres, verwandelndes Handeln vollziehen. Was im Innern wahr ist, das gestaltet sich im Äußeren.
Denkformen und Seinsformen bewegen sich in dem Grundverhältnis: »Die Dinge haben Wurzeln und Verzweigungen.« Die Unbedingtheit des Ursprungs tritt in die Relativität der Erscheinungen. Daher kommt es auf den ehrlichen Ernst im Ursprünglichen und auf die Liberalität in bezug auf die Erscheinungen an.
»Mit Wahrmachen der Gedanken ist gemeint, daß man sich nicht selbst betrügt.« Der Edle achtet stets auf sich, was er für sich allein tut. »Es ist, als ob zehn Augen auf dich blickten, wie ernst und furchtbar ist das doch!« Innere Würde wird erlangt durch Selbstachtung vermöge Selbstbildung. »Wenn einer sich innerlich prüft und kein Übles da ist, was sollte er da traurig sein, was sollte er fürchten?« Aber Konfuzius sieht auch, wie schwer, wie unerreichbar das ist.
Ist die Wurzel gut, d.h. ist sie die Erkenntnis, die Wirklichkeit ist, dann werden die Gedanken wahr, dann wird das Bewußtsein recht, wird der Mensch gebildet. Die weitere Folge ist, daß das Haus geregelt, der Staat geordnet, die Welt in Frieden ist. Vom Himmelssohn bis zum gewöhnlichen Mann, für alle ist die Bildung des Menschen die Wurzel. Wer seinen Hausgenossen nicht erziehen kann, kann auch andere Menschen nicht erziehen. Wenn aber »im Haus des ernsten Mannes die Menschlichkeit herrscht, so blüht im ganzen Staat die Menschlichkeit«.
In bezug auf die Erscheinungen: Weil aus der Wurzel oder dem Ursprung, aus einer Tiefe und Weite, die der endgültigen Formulierung sich entziehen, die Maßstäbe und Impulse kommen, darum genügen nie die Regeln, mit denen sich errechnen läßt, was zu tun sei. Wahrheit und Wirklichkeit können nicht in einem Sosein und in dogmatischen Aussagen endgültig fest werden. Daher ist die Fixierung verwehrt. Konfuzius »hatte keine Meinungen, keine Voreingenommenheit, keinen Starrsinn«. »Der Edle ist weder für noch gegen irgend etwas in der Welt unbedingt eingenommen. Einzig dem, was recht ist, tritt er bei.« Er ist »für alle da und nicht parteiisch«. Er bewahrt die Offenheit. Denn »er ist zurückhaltend, wenn er etwas nicht versteht«. Er bleibt biegsam. Denn er ist »charakterfest, aber nicht starrsinnig«, »verträglich, ohne sich gemein zu machen«, »selbstbewußt, aber nicht rechthaberisch«. Das Unbedingte erscheint im Relativen, zu dem alles Errechenbare herabgesetzt wird, nicht um es zu tilgen in der Willkür, sondern um es zu führen durch das Übergeordnete.
d) Notwendigkeit der Ordnung: Ordnung ist notwendig, weil das Wesen des Menschen nur in menschlicher Gemeinschaft wirklich ist. Sie beruht auf einem ersten Prinzip, »nach dem man das ganze Leben handeln kann«: »Was du selbst nicht liebst, wenn es dir angetan würde, das tu niemand anderem an.« Das Bewußtsein der Gleichheit (schu) verbindet die Menschen in dem Handeln nach dieser Regel. »Was du an deinen Oberen hassest, das biete nicht deinen Unteren. Was du an deinen Nachbarn zur Rechten hassest, das bringe nicht deinen Nachbarn zur Linken entgegen.«
Eine dieser negativen Formulierung entsprechende positive findet sich bei Konfuzianern: »Der Menschenliebende festigt die Menschen, da er selbst wünscht, gefestigt zu werden; er hilft den Menschen zum Erfolg, da er es selbst wünscht, Erfolg zu haben.«
Wenn jedoch Laotse lehrte, Feindschaft mit Wohltun zu vergelten, so antwortet Konfuzius: »Mit was dann Wohltun vergelten? Nein, Feindschaft vergelten mit Gerechtigkeit, und Wohltun vergelten mit Wohltun.« -
Ein zweites Prinzip der Ordnung ist: Weil die Menschen so verschieden sind, ist gute Regierung nur möglich in Stufen der Macht. Je höher die Macht, desto vorbildlicher, wissender, menschlicher muß der sein, der an ihrem Orte steht. Er muß »dem Volke vorangehen und es ermutigen. Er darf nicht müde werden.«
Immer wird es eine geringe Zahl derer sein, die als Befähigte in der Selbstüberwindung gelernt haben, zu tun, was gut ist, und zu wissen, was sie tun. Dagegen »das Volk kann man dazu bringen, etwas zu befolgen, man kann es nicht dazu bringen, es auch zu verstehen«. Das Grundverhältnis des vorbildlichen Mannes zum Volk ist dieses: »Des Fürsten Wesen ist wie der Wind, das Wesen der Masse wie das Gras. Streicht der Wind darüber hin, so muß das Gras sich beugen.« Nur durch Autorität ist Ordnung.
Auf die Koinzidenz von Amtsstellung und menschlicher Würdigkeit kommt alles an. Daher ist es notwendig, die Ordnung nicht zu verkehren. »Wer nicht in Amtsstellung ist, soll sich nicht mit Regierungsprojekten befassen.« Es ist notwendig, »die Guten zu erheben, die Schlechten zurückzusetzen, - die Ungeschickten zu unterweisen«.
Daher ist aber dem zur Regierung fähigen Manne auch eigen die innere Unabhängigkeit von der Meinung einer Öffentlichkeit. »Wo alle hassen, da muß man prüfen; wo alle lieben, da muß man prüfen.« Auf die Frage: »Wen seine Landsleute lieben, wie ist der?« antwortete Konfuzius: »Das sagt noch nichts«, und auf die Frage: »Wen seine Landsleute alle hassen, wie ist der?« wiederum: »Auch das sagt noch nichts. Besser ist es, wenn einen die Guten unter den Landsleuten lieben und einen die Nichtguten hassen.«
Ein drittes Prinzip der Ordnung ist: Unmittelbarer Eingriff in die schon in Entfaltung begriffenen Zustände kann nicht mehr entscheidend wirken. Er kommt zu spät. Man kann zwar durch Gewalt, durch Gesetze und Strafen wirken, aber zugleich unheilvoll, denn die Vergewaltigten weichen aus, die Heuchelei wird allgemein. Nur mittelbar sind die großen Wirkungen zu erzielen. Was erst im Keim da ist, kann noch in andere Richtung gelenkt oder gefördert werden. An ihm ist die entscheidende Wirkung möglich. Die menschlichen Ursprünge, die alles andere zur Folge haben, müssen gedeihen.
e) Richtigstellung der Worte: Auf die Frage, was bei Neuordnung in unheilvollen Zuständen zuerst zu tun sei, hat Konfuzius die merkwürdige Antwort gegeben: die Richtigstellung der Worte. Was in den Worten liegt, soll herausgeholt werden. Der Fürst sei Fürst, der Vater sei Vater, der Mensch Mensch. Die Sprache aber wird ständig mißbraucht, die Worte gelten für das, was ihnen nicht entspricht. Sein und Sprache trennen sich. »Wer das innere Sein hat, hat auch die Worte; wer Worte hat, hat nicht immer auch das innere Sein.«
Ist die Sprache in Unordnung, so wird alles unheilvoll. »Sind die Worte (Bezeichnungen, Begriffe) nicht richtig, so sind die Urteile nicht klar, dann gedeihen die Werke nicht, treffen die Strafen nicht das rechte, und das Volk weiß nicht, wo Hand und Fuß hinsetzen.«
»Darum wählt der Edle seine Worte, daß sie ohne Zweifel in der Rede angewandt werden können, und formt seine Urteile so, daß sie ohne Zweifel in Handlungen umgesetzt werden können. Der Edle duldet in seiner Rede nichts Ungenaues.«
f) Das Eine, worauf alles ankommt: Wenn von so vielen Dingen die Rede ist, von so vielen Tugenden, von all dem, was zu lernen sei, was zu tun sei, so sagt Konfuzius: »Du denkst, ich habe viel gelernt und wisse es nun? Nein, ich habe Eines, um alles zu durchdringen.« Also nicht vielerlei, sondern das Eine. Was ist das? Darauf gibt Konfuzius keine gleichbleibende Antwort. Er richtet seinen Blick dorthin, er erinnert an dies, woran alles andere hängt, aber wenn er antwortet, so das, was in unserer Darstellung schon vorkam. »Meine ganze Lehre ist in einem befaßt«: Tschung (Mitte), - oder allenfalls in dem einen Wort shu (Gleichheit, Gegenseitigkeit, Nächstenliebe). Oder er faßt die Lehre bloß zusammen: »Nicht kann als Edler gelten, wer nicht die Bestimmung des Himmels kennt; nicht kann gefestigt sein, wer nicht die Gesetze der Schicklichkeit (li) kennt; nicht kann die Menschen kennen, wer sich nicht auf ihre Worte versteht.« Oder die Zusammenfassung lautet: Sittlichkeit ist Menschenliebe, Weisheit ist Menschenkenntnis. Das alles aber ist nicht mehr das Eine.
Indirekt wird auf das Eine gewiesen in der ironischen Replik auf den Vorwurf, Konfuzius sei gewiß ein großer Mann, aber habe nichts Besonderes getan, das seinen Namen berühmt machen würde. Er antwortete: »Was könnte ich denn als Beruf ergreifen? Wagenlenken oder Bogenschießen? Ich denke, ich muß wohl das Wagenlenken ergreifen.«
Das Eine spüren wir bei Konfuzius eher dort, wo der Hintergrund, oder wo eine letzte Instanz fühlbar wird: Diese kann er in Verwandtschaft zur Idee des wuwei (Nichthandeln) des Laotse in einem heiligen Herrscher der Vergangenheit wahrnehmen (wobei er jedoch sagt, daß es heute so etwas nicht gibt): »Wer, ohne etwas zu tun, das Reich in Ordnung hielt, das war Schun. Denn wahrlich: was tat er? Er wachte ehrfürchtig über sich selbst und wandte ernst das Gesicht nach Süden, nichts weiter.« — Das Eine ist weiter fühlbar in der Weise, wie Konfuzius der Grenzen sich bewußt wird.
5. Das Grenzbewußtsein des Konfuzius: Unsere bisherige Darstellung scheint die Philosophie des Konfuzius als ein sich für vollendet haltendes Wissen zu zeigen und eine Grundstimmung, es könne und werde alles in Ordnung kommen. Ein solches Bild des Konfuzius wäre unzutreffend.
a) Nie hat Konfuzius das vollendete Wissen zu haben gemeint oder es auch nur für möglich gehalten. »Was man weiß als Wissen gelten lassen, was man nicht weiß als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.«
b) Das Unheil in der Welt steht Konfuzius vor Augen. Es hat seinen Grund im Versagen der Menschen. Er klagt: »Daß gute Anlagen nicht gepflegt werden, daß Gelerntes nicht wirksam wird, daß man seine Pflicht kennt und nicht davon angezogen wird, daß man Ungutes an sich hat und nicht imstande ist, es zu bessern: das sind Dinge, die mir Schmerz machen.« Zuweilen meint er, überhaupt keinen einzigen rechten Menschen mehr zu sehen. »Es ist vorbei. Mir ist noch keiner begegnet, der es vermocht hätte, seine eigenen Fehler zu sehen und in sich gehend sich selber anzuklagen.« Nirgends ist Verlaß auf Liebe zur Humanität und auf Abscheu gegen das Inhumane. »Ich habe noch keinen gesehen, der moralischen Wert ebenso liebte, wie er Frauenschönheit liebt.« Wenn er sich umsieht nach einem Manne, der Herrscher sein könnte, findet er keinen. Einen Gottmenschen zu sehen, ist ihm nicht vergönnt; einen Edlen zu sehen, das wäre schon gut, aber auch dieser ist nicht da, nicht einmal ein Beharrlicher.
Doch keineswegs will Konfuzius die Welt für schlecht halten. Nur dieses Zeitalter ist verfallen, wie es schon früher geschehen ist. Daher: »Daß die Wahrheit heutzutage nicht durchdringt, das weiß er.«
c) Die letzten Dinge werden nie zum Hauptthema für Konfuzius. An den Grenzen hat er eine Scheu zu reden. Selten redete der Meister vom Glück, vom Schicksal, von der reinen Güte. Wenn er vom Tode, von Natur und Weltordnung sprechen sollte, gab er Antworten, die offen ließen. Nicht aber, weil er zur Geheimnistuerei neigte (»Es gibt kein Ding, das ich euch vorenthielte«), sondern weil es in der Natur der Sache liegt. Es gibt nicht nur die falschen Motive zu den letzten Fragen, denen der Denker nicht entgegenkommen will (die Neugierde, das Umgehenwollen des gegenwärtig Notwendigen, das Sichdrücken um den Weg in das Leben selbst). Entscheidend ist vielmehr die Unmöglichkeit, gegenständlich von dem zu sprechen, was nie auf angemessene Weise Gegenstand wird. Daher, wenn von metaphysischen Fragen die Rede ist, die Abwehr des Konfuzius gegen Worte und Sätze und gegen alle Direktheit. Will man diese Haltung Agnostizismus nennen, so ist sie nicht Gleichgültigkeit gegen das Nichtwißbare, sondern vielmehr Betroffenheit, die das Berührte nicht in ein Scheinwissen verkehren, es nicht im Gesagten verlieren will. Man muß anerkennen: in Konfuzius ist kaum der Impuls ins Grenzenlose, in das Unerkennbare hinein, die verzehrende Frage der großen Metaphysiker fühlbar, wohl aber die Gegenwart der letzten Dinge in der frommen Ausübung der Gebräuche und in Repliken, die in bedrängenden Situationen hinweisen, ohne ausdrücklich viel zu sagen.
Konfuzius nahm teil an den überlieferten religiösen Vorstellungen. Geister, Omina bezweifelte er nicht. Ahnenkult und Opfer waren ihm eine wesentliche Wirklichkeit. Aber es geht durch die Weise, wie er mit all dem umgeht, eine Tendenz gegen Aberglauben und eine merkwürdige Distanz. »Der Meister sprach niemals über Zauberkräfte und widernatürliche Dämonen.« »Anderen Geistern als den eigenen Ahnen zu dienen, ist Schmeichelei.« Nach dem Dienst der Geister gefragt: »Wenn man noch nicht den Menschen dienen kann, wie sollte man den Geistern dienen können!« Nach der Weisheit gefragt, meint er: »Seiner Pflicht gegen die Menschen sich weihen, Dämonen und Götter ehren und ihnen fernbleiben, das mag man Weisheit nennen.« Zweideutig bleibt es, ob er damit ehrfurchtsvoll fernbleiben oder sie möglichst ignorieren will. Kein Zweifel aber ist über seinen Ernst im Kultus: Das Opfer hat eine große Bedeutung, aber er kennt sie nicht. »Wer die Bedeutung des großen Opfers (für den Ahn der Dynastie) wüßte, der wäre imstande, die Welt zu regieren so leicht wie hierher zu sehen«, und er wies auf seine flache Hand. Entscheidend ist ihm das innere Dabeisein. »Wenn das Herz in Unruhe ist, dann opfert man den Gebräuchen gemäß. Daher ist nur der Weise imstande, den Sinn des Opfers zu erschöpfen.« Es wird berichtet: »Wenn er auch nur einfachen Reis und Gurken hatte, so brachte er doch ehrfurchtsvoll ein Speiseopfer dar.«
Konfuzius spricht vom Himmel: »Nur der Himmel ist groß.« »Die Jahreszeiten gehen ihren Gang, und die Dinge allesamt entstehen. Aber redet dabei etwa der Himmel? « Reichtum und Ansehen stehen beim Himmel. Der Himmel kann vernichten. Unpersönlich ist dieser Himmel. Er heißt tien, nur einmal wird er shang-ti (Herr) genannt. Unpersönlich ist das von ihm gesandte Schicksal, die Bestimmung (ming oder tien-ming). »Das ist Bestimmung« ist des Konfuzius oft wiederholte Wendung: Als ein Jünger schwer krank ist, sagt er: »Es geht ihm ans Leben. Das ist nun Bestimmung. Daß solch ein Mann solch eine Krankheit haben muß!« »Wenn die Wahrheit sich ausbreiten soll, wenn sie untergehen soll, das ist Bestimmung.«
Von Gebet ist selten die Rede. Einmal heißt es: »Wer an dem Himmel sich versündigt, der hat niemand, zu dem er beten könnte«, ein andermal: »Daß ich gebetet, ist lange« (Wilhelm allerdings übersetzt: »Ich habe lange schon gebetet«) als Abweisung des Wunsches eines Jüngers, für den erkrankten Meister zu Göttern und Erdgeistern zu beten. Denn Bittgebet und gar zauberisches Gebet lag Konfuzius fern. Sein ganzes Leben, will er sagen (wenn Wilhelms Übersetzung zutrifft), war schon Gebet. Im Sinne des Konfuzius schrieb ein japanischer Konfuzianer des 9. Jahrhunderts: »Wenn nur das Herz der Wahrheit Pfad gemäß sich hält, so braucht ihr nicht zu beten, die Götter schützen dennoch« (Haas).
»Tod und Leben ist Bestimmung«, »Von alters her müssen alle sterben«, solche Sätze sprechen die Unbefangenheit des Konfuzius dem Tode gegenüber aus. Der Tod wird ohne Erschütterung hingenommen, er liegt nicht im Felde eines wesentlichen Bedeutens. Wohl kann er klagen über Vorzeitigkeit: »Daß manches keimt, das nicht zum Blühen kommt, - daß manches blüht, das nicht zum Reifen kommt, — ach, das kommt vor.« Aber: »Des Abends sterben, das ist nicht schlimm.« Als Schüler, wie er schwer krank ist, Vorbereitungen für ein prächtiges Begräbnis erwägen, bei dem sie zum Schein als Minister fungieren, wehrt er ab: »Wollen wir etwa den Himmel betrügen. - Und wenn ich auch kein fürstliches Begräbnis bekomme, so sterbe ich ja doch nicht auf der Landstraße.« Der Tod ist ohne Schrecken: »Wenn der Vogel am Sterben ist, so ist sein Gesang klagend; wenn der Mensch am Sterben ist, so sind seine Reden gut.« Es hat keinen Sinn, nach dem Tode zu fragen: »Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen?«
Auf die Frage, ob die Toten um die ihnen dargebrachten Opfer wissen, antwortet er: »Das Wissen darüber geht uns hier nicht an.« Die Antwort betrachtet er rein praktisch nach ihren Wirkungen und schließt, daß keine Antwort die beste ist: »Wenn ich ja sage, muß ich fürchten, daß pietätvolle Söhne ihr Hab und Gut durchbringen für die Abgeschiedenen, - wenn ich nein sage, so muß ich fürchten, daß pietätlose Söhne ihre Pflichten gegen die Abgeschiedenen versäumen.«
6. Über die Persönlichkeit des Konfuzius: Es sind Sätze überliefert, die Konfuzius über sich selbst sagte, und solche, die die Jünger ihrem Meister zumuteten.
Er hatte ein Bewußtsein seiner Berufung. In einer Situation tödlicher Bedrohung sagte er: »Da König Wen nicht mehr ist, ist doch die Kultur mir anvertraut? Wenn der Himmel diese Kultur vernichten wollte, so hatte ein Spätgeborener sie nicht überkommen. Wenn aber der Himmel diese Kultur nicht vernichten will, was können dann die Leute von Kuang mir anhaben?« In seinen Träumen verkehrte er mit dem Herzog von Tschou, seinem Vorbild. Vergeblich wartet er auf Zeichen seiner Berufung: »Der Vogel Fong kommt nicht, aus dem Fluß kommt kein Zeichen: es ist aus mit mir.« Ein Kilin (das herrlichste Zeichen) erscheint, aber es wird auf der Jagd getötet, Konfuzius weint.
Trotz seines Berufungsbewußtseins ist er bescheiden. An Bildung, meint er, könne er es wohl mit anderen aufnehmen, aber die Stufe des Edlen, der sein Wissen in Handeln umsetzt, habe er noch nicht erreicht. »Ich kann bloß von mir sagen, daß ich mich unersättlich bemüht, so zu werden, und daß ich andere lehre ohne Ermüden.«
Wiederholt machen Jünger ihm Vorwürfe. Seinen Besuch bei der Dame Nan-tse rechtfertigt er: »Was ich unrecht getan habe, dazu hat der Himmel mich gezwungen.« Einen Eidbruch rechtfertigt er, weil der Eid ihm durch Bedrohung erpreßt war.
Als ein Jünger eine Verstimmung des Konfuzius unwillig beschreibt, antwortet er: »Die Ähnlichkeit mit einem Hund im Trauerhause, das stimmt, das stimmt.« Ein anderer sagt: »Ihr seid so ernst und in Gedanken versunken. Ihr seid so heiter, voll hoher Hoffnung und weiter Stimmung.« Zur Befragung eines Jüngers über ihn durch einen Fürsten meint Konfuzius: »Warum hast du nicht erwidert: Er ist ein Mensch, der die Wahrheit lernt, ohne zu ermüden, die Menschen belehrt, ohne überdrüssig zu werden, der so eifrig ist, daß er das Essen darüber vergißt, der so heiter ist, daß er alle Sorgen vergißt, und so nicht merkt, wie das Alter allmählich herankommt.«
Konfuzius sieht sein eigenes Scheitern. In einer Situation von Lebensgefahr fragt er seine Schüler: »Ist mein Leben etwa falsch? Warum kommen wir in diese Not?« Der erste meint, die wahre Güte habe er noch nicht erreicht, darum vertrauen die Menschen nicht, die wahre Weisheit noch nicht, darum tun die Menschen nicht, was er sage. Aber Konfuzius erwidert: Heilige und Weise der Vergangenheit haben das schrecklichste Ende gefunden. Offenbar findet weder Güte notwendig Vertrauen, noch Weisheit notwendig Gehorsam. Der zweite meint, die Lehre des Meisters sei so groß, daß niemand auf der Erde sie aushaken kann. Die Lehre müsse ein wenig niedriger gemacht werden. Dagegen sagt Konfuzius: Der gute Landmann vermag zu säen, aber nicht die Ernte zu machen. Der Edle kann seine Lehre formen, aber er kann nicht machen, daß sie angenommen wird. Danach streben, daß sie angenommen werde, bedeutet, den Sinn nicht auf die Ferne zu richten. Der dritte meint: »Eure Lehre ist ganz groß, darum kann die Welt sie nicht fassen. Dennoch macht fort, danach zu handeln. Daß sie nicht aufgefaßt wird, was tut es? Daran, daß er nicht verstanden wird, erkennt man den Edlen.« Konfuzius lächelte.
Er weiß, daß die Weisen keineswegs in der Welt immer durchdringen. Unter dem Tyrannen Dschou Sin gab es drei Männer höchster Sittlichkeit. Einer wurde hingerichtet, ein anderer zog sich in die Verborgenheit zurück, der dritte gab sich am Hofe als Narr und ließ sich als solcher behandeln.
Konfuzius hat sein Scheitern nicht immer gelassen hingenommen, sondern es durchdacht und gedeutet. Er hat nicht von vornherein und nicht immer die gleiche Haltung gehabt.
Er kann klagen: »Der Edle leidet darunter, daß er die Welt verlassen soll, ohne daß sein Name genannt wird! Mein Weg wird nicht begangen. Wodurch werde ich der Nachwelt bekannt werden?«
Wenn er klagt: »Ach, niemand kennt mich!« findet er Trost: »Ich murre nicht gegen den Himmel, ich grolle nicht den Menschen. Ich forschte hier unten und bin in Verbindung mit droben. Wer mich kennt, das ist der Himmel.«
Er bescheidet sich: »Lernen und immerzu üben, gewährt das nicht auch Befriedigung? Und geschieht es dann, daß aus weiter Ferne Genossen sich zu einem finden, hat das nicht auch sein Beglückendes? Wenn aber die Menschen einen nicht kennen, sich doch nicht verbittern lassen, ist das nicht auch edel?« »Ich will mich nicht grämen, daß man mich nicht kennt; grämen soll es mich nur, wenn ich die anderen nicht kenne.«
Er läßt sich vom Narren zurufen: »Gib auf, gib auf dein eitles Mühen! Wer heut dem Staate dienen will, der stürzt nur in Gefahren sich.« Er läßt sich von Laotse sagen: »Die Klugen und Scharfsinnigen sind dem Tode nahe, denn sie lieben es, andere Menschen zu beurteilen.« Aber er behauptet seinen Sinn in der Aufgabe, zu helfen bei der menschlichen Ordnung in der Welt. Der Erfolg entscheidet nicht. Humanität bedeutet Mitverantwortung für den Zustand der Gemeinschaft. »Ein Mann von Humanität ist nicht auf das Leben aus um den Preis der Verletzung der Humanität. Ja, es gab solche, die, um ihre Humanität zu vollenden, ihren Leib in den Tod gegeben.«
Die Grundhaltung bleibt: bereit sein, »verwenden sie einen, sich betätigen; wollen sie nichts von einem wissen, sich im Hintergrund halten«.
Entscheidend aber ist: »Das einzige, worüber der Mensch Meister ist, das ist sein eigen Herz. Glück und Unglück sind kein Maßstab für den Wert des Menschen.« Nicht immer ist das äußere Unglück ein Übel, es kann »eine Probe« sein (Sün-tse). Die Verzweiflung darf nicht radikal werden. Selbst im Äußersten bleibt Hoffnung. »Es gibt Fälle, daß Menschen aus verzweifelten Umständen zu höchster Bestimmung aufsteigen.«
Moderne Urteile über Konfuzius sind erstaunlich. Er ist als Rationalist gering geachtet. »Weder die Persönlichkeit noch das Werk trägt die Züge wirklicher Größe. Er war ein braver Moralist«, meint Franke, »er glaubte mit seinem Tugendgesäusel die zerrüttete Ordnung wieder zurechtrücken zu können, wozu, wie die Ereignisse bewiesen, nur der Sturmwind der Macht imstande war.«
In der Tat ist Konfuzius nicht auf die Weise wirksam geworden, wie er sie sich in den Augenblicken seiner größten Hoffnung dachte. Wie zu seinen Lebzeiten ist auch nach seinem Tode der Sinn seines Tuns gescheitert. Denn nur eine Verwandlung machte sein Werk wirksam. Um so mehr ist es die Aufgabe, das Ursprüngliche, in der Verwandlung nie ganz Verlorene zu sehen und als einen Maßstab zu bewahren. Auf Grund der vorliegenden Sätze, sie auswählend durch Orientierung an den gehaltvollsten, eigentümlichsten, darf man es wagen, dies Bild zu gewinnen. Es muß verschwinden, wenn man die erstarrten und platten Formulierungen, die wahrscheinlich aus späteren Zeiten stammen, hervorhebt. Es ergibt sich, allein durch sachlich geführte Wahl und Anordnung der Sätze und Berichte, ein unersetzliches Bild, dessen Kern Wirklichkeit haben muß, denn sonst hätte es unmöglich entstehen können.
Konfuzius hat nicht die weitflüchtige Sorge des Einzelnen um sich selbst. Er entwirft auch keine wirtschaftstechnischen Einrichtungen, keine Gesetzgebung und keine formelle Staatsordnung, sondern er ist leidenschaftlich bemüht um das nicht direkt zu Wollende, nur indirekt zu Fördernde, an dem alles andere hängt: um den Geist des Ganzen in dem sittlich-politischen Zustand und um die innere Verfassung jedes einzelnen Menschen als Glied des Ganzen. Er hat keine religiöse Urerfahrung, kennt keine Offenbarung, vollzieht keine Wiedergeburt seines Wesens, ist kein Mystiker. Er ist aber auch nicht ein Rationalist, sondern in seinem Denken gelenkt von dem Umgreifenden der Gemeinschaft, durch die der Mensch erst Mensch wird. Seine Leidenschaft ist die Schönheit, Ordnung, Wahrhaftigkeit und das Glück in der Welt. Und dies alles steht auf dem Grunde von etwas, das durch Scheitern und Tod nicht sinnlos wird.
Die Beschränkung auf die Möglichkeiten in der Welt erwirkt bei Konfuzius seine Nüchternheit. Er ist vorsichtig und zurückhaltend, aber nicht aus Furcht, sondern aus Verantwortungsbewußtsein. Das Zweifelhafte und Gefährliche möchte er nach Möglichkeit meiden. Er will Erfahrung, hört darum überall zu. Er ist unersättlich für Nachrichten aus dem Altertum. Verbote sind viel seltener bei ihm als die Hinweise, dies und das zu tun, wenn man ein Mensch werden wolle. Maßhalten und Bereitbleiben, nicht Drang zur Macht als solcher, sondern Wille zu wahrer Herrschaft bewegt ihn.
Sein Wesen wirkt hell, offen, natürlich. Jede Vergötterung seiner Person wehrt er ab. Er lebt gleichsam auf der Straße, als ein Mensch mit seiner Schwäche.
Was hat Konfuzius getan? Er trat im Unterschied von Laotse in die Welthändel ein, getrieben von dem Gedanken der Berufung, die menschlichen Zustände zum Besseren lenken zu wollen. Er begründete eine Schule für künftige Staatsmänner. Er gab die klassischen Bücher heraus. Aber mehr noch bedeutet dies: Konfuzius ist in China das erste sichtbare großartige Aufleuchten der Vernunft in ihrer ganzen Weite und Möglichkeit, und zwar in einem Mann aus dem Volke.
7. Konfuzius und seine Gegner: Konfuzius bekämpfte und wurde bekämpft. Es sind zunächst die vordergründigen Kämpfe gegen das Nichtige und die Eifersucht der Konkurrenten. Dann aber kommt die tiefe, in der Sache liegende Polarität zwischen Konfuzius und Laotse zum Ausdruck.
a) Die Gegner, die Konfuzius bekämpfte, sind die Leute, die die Welt für ohnehin verdorben halten und geschickt darin mitmachen, die Sophisten, die für und gegen jede Sache ihre Gründe finden, die die Maßstäbe von Recht und Unrecht, von Wahr und Falsch in Verwirrung bringen.
Als Konfuzius einmal im Amt war, ließ er einen staatsgefährlichen Aristokraten hinrichten. Er begründete es: Schlimmer als Diebstahl und Raub sind: Unbotmäßigkeit der Gesinnung verbunden mit Arglist, Verlogenheit verbunden mit Zungenfertigkeit, Gedächtnis für Skandal verbunden mit ausgebreiteter Bekanntschaft, Billigung des Unrechts verbunden mit dessen Beschönigung. Dieser Mann hat alle diese Verbrechen in sich vereinigt. »Wo er verweilte, bildete er eine Partei; er betörte die Menge durch sein Geschwätz mit gleisnerischen Vorstellungen; durch seinen hartnäckigen Widerstand verkehrte er das Recht und setzte sich allein durch. Wenn die Gemeinen sich zu Horden zusammentun, das ist Grund zum Kummer.«
Dem Konfuzius wurde vorgeworfen: Seine Lehre könne man in einem langen Leben nicht bewältigen. Die Formen zu studieren, reichten Jahre nicht aus. Beides nütze dem Volke nichts. Zu vernünftiger Verwaltung und praktischer Arbeit sei er unfähig. Durch die prunkvollen Begräbnisfeierlichkeiten würde er den Staat verarmen lassen. Er reise wie alle Literaten als Ratgeber umher, um sich zu bereichern, führe ein Schmarotzerleben. Er habe ein hochfahrendes Wesen, suche durch auffallende Tracht und geziertes Wesen der Menge zu imponieren.
b) Die Legende berichtet von dem Besuch des jungen Konfuzius beim alten Laotse (Tschuang-tse, Übersetzungen bei von Strauß und Waley). Laotse belehrt ihn.
Das Planen und Raten und Studieren des Konfuzius billigt er nicht. Bücher sind fragwürdig, sie sind nur die Fußstapfen der großen Alten. Jene traten die Fußstapfen, die heutigen reden. Aber: »Deine Lehren beschäftigen sich mit Dingen, die nicht mehr bedeuten als Fußstapfen im Sande.« »Was du liesest, ist nur der Schall und Rauch längst vergangener Menschen. Was wert gewesen wäre, überliefert zu werden, sank mit ihnen ins Grab; der Rest geriet in die Bücher.«
Das Wesentliche dagegen ist das Grundwissen. Laotse wirft dem Konfuzius vor, das tao nicht zu kennen. Konfuzius verdirbt es durch die Absolutheit seiner sittlichen Forderungen. Denn Menschenliebe und Gerechtigkeit sind für den, der das tao liebt, nur eine Folge, selber sind sie nichts. Wenn Konfuzius fordert, unparteiisch jeden Menschen zu lieben, antwortet Laotse scharf: »Von jedem. Menschen zu sprechen, ist eine törichte Übertreibung, und der Entschluß, stets unparteiisch zu sein, bedeutet selbst schon eine Art Parteilichkeit. Du betrachtest am besten, wie es kommt, daß Himmel und Erde ihren ewigen Lauf beibehalten, daß die Vögel ihrem Zuge und die Tiere ihrer Herde folgen, und daß Bäume und Büsche ihren Standort behalten. Dann wirst du lernen, deine Schritte von des Inneren Kraft lenken zu lassen und dem Gange der Natur zu folgen; und bald wirst du einen Punkt erreichen, wo du es nicht mehr nötig hast, mühselig Menschenliebe und Gerechtigkeit anzupreisen.« »All dies Gerede über Menschenliebe und Gerechtigkeit, diese ständigen Nadelstiche, reizen. Der Schwan braucht nicht täglich zu baden, um weiß zu bleiben.«
Allein durch Nichttun (Nichthandeln, wu wei) zeigt sich tao. Alles andere ist äußerlich. Durch Spreu geblendete Augen sehen den Himmel nicht; wenn Mücken stechen, schläft man die Nacht nicht: so quälen Menschenliebe und Gerechtigkeit. Als solche machen sie eine erbitterte Stimmung und lassen das tao verlieren. Bloße Moral ohne den Grund im tao widerstrebt der Menschennatur. Wenn aber die Welt im tao, d.h. die Natureinfalt, nicht verloren ist, dann werden sich von selber die Sitten herstellen, wird die Tugend in Gang kommen.
Erst »als die Beachtung des großen tao verfiel, traten Wohlwollen und Gerechtigkeit auf; als Wissen und Klugheit erschienen, entstand die große Künstlichkeit«. Versiegt die Quelle des tao, dann brauchen die Menschen vergeblich die Notbehelfe von Menschenliebe und Gerechtigkeit. Es ist wie mit den Fischen: versiegt die Quelle und sinkt das Wasser im Teich, dann erst verhalten sich die Fische zueinander, sie bespritzen einander, um sich anzufeuchten, sie drängen einander, um besprudelt zu werden. Aber besser ist es: sie vergessen einander in Fluß und Seen. Daher ist das Rechte, daß die Menschen ohne Künstlichkeit und Zwang, ohne Denken und Wissen von Gut und Böse einfach im tao leben. »Im Altertum benutzte man das Halten am tao nicht dazu, das Volk zu erleuchten, sondern es in Unwissenheit zu lassen.«
Laotse gilt als der eigentliche, einzige Gegner des Konfuzius. Jedoch hat die spätere Polemik zwischen Taoisten und Konfuzianern ihre Schatten in jene legendarischen Gespräche geworfen. Die späteren gegnerischen Parteien waren beide dem Ursprung fern. Die späteren Taoisten flohen die Welt, waren Asketen, wurden Beschwörer, Alchimisten, Lebensverlängerer, Zauberer und Gaukler. Die späteren Konfuzianer waren Menschen der Welt, ordneten sie, sich anpassend und das Wirksame aufgreifend, ihre eigenen Interessen wahrnehmend, waren Literaten und Beamte, die zu trockenen und eigensüchtigen und machtgierigen Reglementierern und zu Genießern des Daseins wurden.
Aus der Anschauung der Sache und angesichts der inneren Haltung der beiden großen Philosophen darf man sagen: Laotse und Konfuzius sind wohl Gegenpole, aber solche, die zusammengehören und sich gegenseitig fordern. Es ist falsch, dem Konfuzius jene Verengungen zuzuschreiben, die erst im Konfuzianismus wirklich wurden. Gegen die Auffassung, Laotse habe das tao jenseits von Gut und Böse gedacht, Konfuzius habe das tao moralisiert, ist vielmehr zu sagen: Konfuzius läßt dieses Jenseits von Gut und Böse unangetastet, wenn er in der Welt die Aufgabe stellt, durch Wissen von Gut und Böse zur Ordnung in der Gemeinschaft zu kommen. Denn diese ist ihm nicht das Absolute schlechthin. Das Umgreifende ist ihm Hintergrund, nicht Thema, ist ihm Grenze und Grund der Scheu, nicht unmittelbare Aufgabe. Sagt man, das einzige metaphysische Element der Lehre des Konfuzius sei, daß der Herrscher den Himmel vertrete, der durch Naturerscheinungen (Erntesegen oder Katastrophen durch Dürre oder Überschwemmung) sein Wohlgefallen oder Mißfallen kundgebe, so wäre dieses Element, das erst im Konfuzianismus herrschend wurde, bei Konfuzius allenfalls nur eine Vordergrundserscheinung jener metaphysischen Tiefe, die Konfuzius und Laotse gemeinsam ist. Der Unterschied liegt zwischen dem direkten Weg zum tao des Laotse und dem indirekten Weg über die Ordnung der Menschheit des Konfuzius, und daher in den entgegengesetzten praktischen Folgen der gemeinsamen Grundanschauung.
Was Laotse im tao vor und über alles setzt, ist das Eine des Konfuzius. Aber Laotse vertieft sich darein, Konfuzius läßt sich durch das Eine in Ehrfurcht lenken bei dem Eintritt in die Dinge der Welt. Man findet in Augenblicken Neigung zur Weltflucht auch bei Konfuzius, man findet bei ihm an der Grenze die Idee dessen, der durch Nichthandeln handelt und dadurch die Welt in Ordnung hält, wie bei Laotse. Beide mögen ihren Blick nach entgegengesetzten Seiten wenden, sie stehen doch im selben Grunde. Die Einheit beider ist in China durch große Persönlichkeiten wiederholt worden, nicht durch eine Philosophie, die systematisch beide umfaßte, sondern in der chinesischen Weisheit des sich denkend erhellenden Lebens.
8. Wirkungs geschickte: Zu seiner Zeit war Konfuzius nur einer unter vielen anderen Philosophen und keineswegs der erfolgreichste. Aber aus ihm ist der Konfuzianismus erwachsen, der zweitausend Jahre China beherrscht hat, bis zum Ende seiner politischen Macht im Jahre 1912.
Die Stufen der Entwicklung des Konfuzianismus sind im Schema folgende: Erstens: In den Jahrhunderten nach Konfuzius erhielt der Konfuzianismus seine theoretische Gestalt durch Menzius [Mengzi] (ca. 372-289) und Hsün-tse [Xunzi] (ca. 310-230), die beide eine Schulüberlieferung zu gesteigerter Wirkung brachten. Das konfuzianische Denken ist begrifflicher, unterscheidender, systematischer geworden. Die schönsten und hellsten Formulierungen aus dem Geist des Konfuzius finden sich im Da hio [Da xue] und Tschung-Yung [Zhong yong]. Die Sätze des Lun-Yü, dem Konfuzius näher, und vielleicht zum Teil wörtlich von ihm, sind kurz, abgerissen, reich an Möglichkeiten der Interpretation. Sie sind die Gedanken in statu nascendi, wie die mandier Vorsokratiker, schon vollendet, aber mit unendlichen Entfaltungsmöglichkeiten ihres Gehalts. Die Ausarbeitung zu systematischer Form muß mit der Bereicherung der Begrifflichkeit verarmen lassen, was an der Quelle noch erfüllt ist. Daher wird Konfuzius bei seinen nächsten Nachfolgern wohl heller, aber zugleich schon begrenzter. Dieser Konfuzianismus war eine geistige Bewegung, getragen von Literaten, aber mit dem Anspruch auf Staatslenkung. Gegen ihn machte der Kaiser Tsin-schi-huang-ti (221-210) den Versuch der Vernichtung. Die konfuzianischen Bücher wurden verbrannt, ihrer Überlieferung sollte ein Ende gesetzt werden. Die Regierung des großen Despoten wurde nach seinem Tode in einem wilden Bürgerkriege gestürzt. Aber sein Werk blieb: Die Verwandlung des alten Lehensstaates in einen Beamtenstaat. - Zweitens: Nun geschah das Erstaunliche. Der neue von jenem Despoten geschaffene bürokratische Staat schloß den Bund mit dem Konfuzianismus unter der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.). Der verworfene Konfuzianismus wurde wiederhergestellt. Das neue Gebilde der Staatsmacht, die ihre Autorität durch den konfuzianischen Geist gewann, ist also zum Teil aus Motiven und Situationen erwachsen, die Konfuzius selbst fremd waren. Er hatte nichts anderes als den Lehensstaat gekannt. Jetzt gewann der Konf uzianimus seine neue Denkgestalt mit seiner faktischen Herrschaftsmacht. Die Literaten wurden zu Funktionären der Bürokratie. Sie entwickelten eine Orthodoxie bis zum Fanatismus, zugleich im Interesse der Geltung ihres Standes. Der Konfuzianismus wurde zugerichtet auf die Ausbildung der Beamten. Das Schulsystem wurde als staatliches Erziehungssystem eingerichtet, die Lehre ausgebaut zwecks Ordnung und Heiligung des Staatswesens. - Drittens: Der Ausbau nach allen Seiten, besonders nach der metaphysischen und naturphilosophischen, erfolgte in der Sung-Zeit (960-1276). Zugleich wurde die Orthodoxie auf der Grundlage des Menzius fixiert. Die Steigerung dieser ausschließenden Orthodoxie und die endgültige Verfestigung geschah in der Mandschu-Zeit (1644-1912). Mit diesem Gesicht einer geistigen Erstarrung zeigt sich China dem Abendland. Seine eigene Lehre, China sei immer so gewesen, wurde von Europa zunächst übernommen, bis die Sinologen die großartige wirkliche Geschichte Chinas enthüllten.
Der Konfuzianismus hat also eine lange ihn verwandelnde Geschichte wie das Christentum und wie der Buddhismus. Die lange Dauer seiner Aneignung in China entfernte ihn weit vom Ursprung in Konfuzius selber. Es war ein Kampf, geistig um die rechte Lehre, politisch um die Selbstbehauptung der Literatenschicht. Die Geistesgeschichte Chinas hat ihre großen künstlerischen, dichterischen, philosophischen Aufschwünge zum großen Teil im faktischen Durchbruch durch diesen Konfuzianismus oder in bewußter Opposition gegen ihn. In Ebbezeiten des geistigen Lebens ist der Konfuzianismus in China wie der Katholizismus im Abendland immer wieder da. Aber er hat auch selber seine geistigen Gipfel, wie der Katholizismus in Thomas, so der Konfuzianismus in Tschu-Hsi [Zhu Xi] (1130-1200).
Jeder hohe Impuls hat die zu ihm gehörenden Gefahren. Daß die Abgleitungen durch die Jahrhunderte überwiegen, läßt sie fälschlich schon im Ursprung erkennen. Dann sagen die Einwände gegen Konfuzius: Sein Denken ist »reaktionär«, es verabsolutiert die Vergangenheit, es fixiert und macht tot, es ist zukunftslos. Daher lahmt es alles Schaffende, Lebendige, Vorantreibende. Sein Denken macht zum Gegenstand bewußter Absicht, was in der Vergangenheit einmal seine Wahrheit hatte, jetzt aber nicht mehr haben kann. Es bringt ein Leben der Konventionen und der Hierarchie hervor, der äußerlichen Formen ohne Gehalt. So hält auch Franke Gericht über Konfuzius: Er habe das Ideal für sein Volk in die Vergangenheit verlegt, so daß es mit rückwärts gewandtem Haupte durch die Geschichte schreite. Konfuzius halte für das wahre Leben der Völker einen wohl balancierten Dauerzustand. Er verkenne, daß die Geschichte eine niemals rastende Bewegung sei. Dazu habe er die natürlichen metaphysischen Bedürfnisse unbefriedigt gelassen durch seine Lehre, man solle die Schranken des vernunftgemäßen Diesseits in der wohlgeordneten Menschheit nie übersteigen. Diese Auffassung wird durch die überlieferten klaren Sätze, die unsere Darstellung heraushob und in einem großartigen Zusammenhang zu sehen meinte, widerlegt. Aber es ist richtig, daß die Abgleitungen in der Folge für den Konfuzianismus weitgehend dem Urteil recht geben, das auf Konfuzius und viele Konfuzianer nicht zutrifft. Diese Abgleitungen sind zu charakterisieren:
Erstens: Die Verwandlung des Gedankens des Einen und des Nichtwissens in metaphysische Gleichgültigkeit. Wenn Konfuzius Abstand hält vom Denken des Absoluten, vom Bittgebet, so aus einer vom Umgreifenden her wirkenden Gewißheit, die ihm die Zuwendung zur Gegenwart und zu den Menschen unbeirrbar macht. Wenn er in der Ruhe vor dem Tode lebt, nicht wissen will, was wir nicht wissen können, so läßt er alles offen. Sobald aber diese Kraft des Konfuzius fehlt, wird die Skepsis mächtig und zugleich der unkontrollierte Aberglaube. Der Agnostizismus wird leer und ergänzt sich im Konfuzianismus durch handgreifliche Magien und illusionäre Erwartungen.
Zweitens: Die Verwandlung des nüchternen, aber leidenschaftlichen Drangs zur Menschlichkeit in ein Nützlichkeitsdenken. Es entwickelt sich ein pedantisches Zweckdenken ohne die Kraft des unabhängigen Menschseins.
Drittens: Die Verwandlung des freien Ethos, das sich in der Polarität der li und dessen, was sie führt, versteht, zur Gesetzlichkeit der li. Die li werden ohne den Grund im Yen und im Einen zu bloßen Regeln von Äußerlichkeiten. Während sie bei Konfuzius eine milde Macht sind, werden sie nun feste Formen, gewaltsam erzwungene Gesetze. Sie werden ausgearbeitet zu einer verwickelten Ordnung, zur Vielheit der Tugenden, zu den bestimmten menschlichen Grundbeziehungen und vollendet in zählbaren Anordnungen.
Während im Ursprung die Einheit von Sitte, Recht und Sittlichkeit vermöge ihrer gemeinsamen Beseelung aus dem Yen menschliche Freiheit war, wird jetzt die Fixierung der li für die Menschlichkeit verhängnisvoll. Denn die Trennung von Sitte, Recht und sittlicher Norm wurde nicht gemacht, aber die endlose Mannigfaltigkeit der Bestimmungen zur Äußerlichkeit herabgesetzt. Diese war definierbar und in jedem Fall rational zur Entscheidung zu bringen. Sie brauchte kein Gewissen mehr, wenn die geforderte Handlung getan wurde. Die Äußerlichkeit, das Gesicht zu wahren, wurde alles.
Viertens: Die Verwandlung der Offenheit des Denkens in Dogmen theoretischer Erkenntnis. Zum Beispiel wird Sache des Streitens, ob der Mensch von Natur gut oder böse sei, ob daher die Erziehung durch die li den Menschen überhaupt erst als gutes Wesen hervorbringe, oder nur in seinem eigentlichen Wesen wiederherstelle. Während Konfuzius solche Alternative gar nicht fand, sondern gegenüber den Grenzfällen des Heiligen einerseits, des Narren andrerseits, die unveränderlich seien, den meisten ihre Chance und ihren Spielraum gab, die Praxis entscheiden ließ, wurde jetzt die Theorie leidenschaftlich erörtertes Streitfeld. Man geriet hier wie sonst in die Sackgasse von Alternativen der Theorie, die Konfuzius unwesentlich gewesen wären vor dem, was sie übergreift.
Fünftens: Die Verwandlung des Wissens, das inneres Handeln war, in ein Lernen, das abfragbar wurde. Es entstand die Klasse der Literaten, die sich nicht durch Persönlichkeit, sondern durch Gelerntes und formal Gekonntes auszeichneten und im Schulexamen bewährten. Daß das Altertum in der Weise der Aneignung Norm war, verwandelte sich dahin, daß die alten Werke studiert wurden, der Gelehrte maßgebend, daß Nachahmen des Alten, nicht das Aneignen wesentlich wurde. Die Gelehrsamkeit brachte die Orthodoxie hervor. Diese verlor ihre Einheit mit dem Leben im Ganzen.
Aber alle Abgleitungen, so sehr sie in der chinesischen Geschichte gewirkt haben, konnten den Ursprung, aus dem sie kamen, nicht völlig verlieren. Konfuzius selber blieb lebendig in Antrieben, die ihn zu erneuern, das Erstarrte zu durchbrechen vermochten. Sie bewährten das hohe Ethos und den heroischen Mut, die immer wieder im Kon-fuzianismus auftraten. Dann geriet Konfuzius in Opposition zum Konfuzianismus. Konfuzius ist mehr als vorantreibende Lebensmacht denn in den Stabilisierungsformen gegenwärtig. Eine große Erscheinung solcher Erneuerung war Wang Yang Ming (1472-1528).
In dieser ganzen Entwicklung spielt die Person des Konfuzius eine große Rolle. Stets ist der Blick auf ihn, die einzige große Autorität, gerichtet. Von der Wirkung des Konfuzius auf seine Schüler wird noch erzählt, daß sie sich viel Kritik an seinen Handlungen erlaubten, dann aber auch, daß sie zu ihm emporblickten, wie »zur Sonne und dem Mond, über die man nicht hinwegschreiten kann«. An seinem Grabe wurden Opfer dargebracht, noch im Rahmen des Ahnenkultes. Später wurde ein Tempel gebaut. Schon um die Wende des zweiten zum ersten Jahrhundert vor Chr. schreibt von seinem Besuch dort der Historiker Se-ma-tsien [Sima Qian]: »So blieb ich voll Ehrfurcht dort und konnte mich kaum losmachen. Auf Erden gab es gar viele Fürsten und Weise, berühmt während ihres Lebens, mit denen es bei ihrem Tode zu Ende war. Kung-tse war ein einfacher Mann aus dem Volk. Aber seit zehn Generationen überliefert man auch seine Lehre. Vom Himmelssohn, Königen und Fürsten an nehmen alle ihre Entscheidungen und ihr Maß am Meister. Das kann man als höchste Heiligkeit bezeichnen.« In der Folge wurden ihm Tempel im ganzen chinesischen Reiche errichtet. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Konfuzius ausdrücklich zum Gott erklärt. Es ist eine denkwürdige Entwicklung, die Konfuzius, diesen Mann, der nichts als Mensch sein wollte, der wußte, daß er nicht einmal ein Heiliger sei, schließlich zum Gotte werden ließ.

Mentioned People (1)

Jaspers, Karl  (Oldenburg 1883-1969 Basel) : Deutscher Philosoph, Psychiater, Professor für Philosophie Universität Basel, Schweizer Staatsbürger

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Philosophy : Europe : Germany / Philosophy : Europe : Switzerland

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# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1957 Jaspers, Karl. Die grossen Philosophen. Bd. 1. (München : R. Piper, 1957). [Enthält : Buddha, Confucius, Laozi]. S. 254-185. Publication / Jasp2