HomeChronology EntriesDocumentsPeopleLogin

Chronology Entry

Year

1986

Text

[Canetti, Elias]. Mi wang. [Die Blendung] [ID D14049].

Li Shixun : Für die grosse Rezeption der Die Blendung nach der ersten Übersetzung in China, gibt es folgende Gründe : Das Buch ist die Tragödie eines Intellektuellen und beschreibt den Konflikt zwischen Geist und Materie, Zivilisation und Barbarei, der die chinesischen Intellektuellen an die Kulturrevolution erinnert. Durch die Politik der Öffnung kommt grosses Interesse für die Schulen der Moderne des Westens auf. Das Werk fasziniert durch die künstleriche Kraft und den Ideenreichtum selbst und ist geprägt von der chinesischen Kultur.

Qian Wencai schreibt im Vorwort : Die Blendung ist ein empfehlenswerter Roman. Der Sinn der Empfehlung liegt zuerst darin, dass sie tiefgreifende sozialkritische Bedeutung hat. Sie stellt die geistige Situation des Intellektuellen in Europa vor der faschistischen Machtübernahme Hitlers dar. Die tiefe Bedeutung des Romans liegt darin, den geistigen Hintergrund und die Unvermeidbarkeit des durch Borniertheit und Barbarei gekennzeichneten Faschismus in Europa darzustellen. Zweitens gehört die Schreibtechnik des Romans zu den Neuerungen der Moderne und wird als Ergebnis scharfer Widersprüche in der westlichen Gesellschaft und Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen… Das Geld, nach dem jeder in der kapitalistischen Gesellschaft und in Die Blendung strebt, hat alles ungültig gemacht, was der Mensch als das Schöne und Gute betrachtet, wie zum Beispiel die selbstlose Liebe, die Tugend und die Moral. Der Geist ist zerstört worden. Der Mensch ohne Geist ist Repräsentant einer kopflosen Welt.

Zhang Guofeng und Li Shixun schreiben im Vorwort : In den 20er und 30er Jahren erlebte Europa eine schwere Wirtschaftskrise. Die gesamte kapitalistische Gesellschaft geriet in Bestürzung und Chaos. Die Klassen- und Gesellschaftswidersprüche spitzten sich so sehr zu wie noch nie. Der Kampf zwischen verschiedenen politischen Kräften erreichte den Siedepunkt. Die Macht des Faschismus expandierte rapide. Obwohl ein republikanischer Staat nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches und der Auflösung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gegründet wurde, war der Einfluss der feudalistischen Autokratie noch sehr stark. Eine solche Gesellschaft hatte einerseits sämtliche Eigenschaften einer Feudalgesellschaft, verfügte aber andererseits auch über verschiedene Scheusslichkeiten des Kapitalismus : Das wahnsinnige Streben nach Geld und Macht erreichte in jener Zeit seinen Höhepunkt. Die traditionellen Werte waren schon längst verfallen. Unverhüllter Raub und Besitz ersetzten die Freiheit, Gleichheit und die menschliche Liebe. Die Moral und die Menschlichkeit waren völlig verloren gegangen. Die Gesellschaft war wie ein riesiger Schlachthof, in dem man sich gegenseitig um der eigenen Interessen willen betrog und untereinander ein Blutbad anrichtete…
Zhang und Li kommentieren, dass die verschiedenartigen verrückten Haltungen und die monströsen Personen entsetzlich seien. Durch die feine Figurengestaltung treibe er jede abscheuliche Eigenschaft in der kapitalistischen Gesellschaft in einem erbarmungslosen Stil auf die Spitze. Daher werde das verfaulte Wesen der unheilbaren westlichen Welt in den 20er und 30er Jahren tiefgreifend blossgestellt… In dieser verdorbenen Gesellschaft hat sich die Sexualität, der menschliche Naturinstinkt ausgedehnt, und ist in die physiologische und psychische Metamorphose gesunken. Sie ist eine schmutzige Begierde geworden und zeigt sich sogar in einer schamlosen Form… Der Sinologe Peter Kien hat alle Kontakte mit der Gesellschaft abgebrochen, weil er diese unmoralische vulgäre Welt hasst. Er versucht, in der alten asiatischen Kultur seine seelische Stütze zu finden. Aber das isolierte einsame Leben macht aus ihm allmählich einen Bücherwurm ohne Lebenserfahrung. Als er in die Wirklichkeit eintritt, ist seine geistige Verteidigungslinie, die von der Doktrin des Konfuzius und Menzius aufgebaut wurde, total zusammengebrochen. Er wird betrogen, beleidigt und ausgeraubt.

Chen Yun : Qian Wencai gibt als Grund für seine Übersetzung der Die Blendung an, er habe ihn aus reiner Neugier übersetzt, er interessiere sich sehr für Canettis aussergewöhnliche Erlebnisse, besonders der Romanheld, der als ein Sinologe dargestellt werde, habe sein Interesse geweckt. Er wollte erfahren, wie ein von einem Europäer dargestellter Sinologe China sehe und wie das Schicksal der Intellektuellen Europas jener Zeit gewesen sei.
Der soziale Charakter der Blendung entspricht genau den chinesischen Vorstellungen von guter Literatur. Sie stellt die gesellschaftlichen Probleme der damaligen Zeit dar und liefert damit den ersten Ansatz zur Lösung der Probleme. Was zu jener Zeit in Europa passierte, ist in China bekannt. Viele Chinesen, die in Europa studierten, berichteten über die damalige Gesellschaft.

Canetti schreibt : Ich hatte es mir, um mich gegen die Geldgesinnten in meiner Familie zu behaupten zur etwas billigen Tugend gemacht, Geld zu verachten. Ich hielt es für etwas Langweiliges, Immergleiches, dem nichts Geistiges abzugewinnen war, an dem die Menschen, die sich ihm ergaben, allmählich vertrockneten und steril wurden.

Chen Yun : Diese Einstellung Canettis entspricht dem Kern der chinesischen Kultur. Die chinesischen Philosophen betonen das Geistige. Die Befriedigung der Habgier des Individuums zählt nicht dazu. Was dazu zählt, was zum Nutzen der Menschheit ist, ist die Moral, die Tugend, Treue und Zuverlässigkeit. Besonders wenn man als Dichter arbeitet, ein Intellektueller ist, soll man dem Konfuzianismus zufolge das Gewissen der Gesellschaft sein… Was für Canetti zählt, sind Gerechtigkeit, Moral und Verantworung. Als 1979 die freie Marktwirtschaft in China eingeführt worden ist, änderte sich allmählich die Einstellung in China zum Geld.

Mentioned People (1)

Canetti, Elias  (Rustschuk = Russe, Bulgarien 1905-1994 Zürich) : Deutschsprachiger Schriftsteller, Dramatiker, britischer Staatsbürger, Nobelpreisträger

Subjects

Literature : Occident : Austria / Literature : Occident : Switzerland

Documents (2)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1992 Neue Forschungen chinesischer Germanisten in Deutschland. Na Ding (Hrsg.). (Frankfurt a.M. : P. Lang, 1992). (Europäische Hochschulschriften ; Reihe 1. Deutsche Sprache und Literatur ; Bd. 1346). S. 58-61. Publication / Din11
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
2 2003 Chen, Yun. Canetti und die chinesische Kultur. (Düsseldorf : Universität Düsseldorf, 2003). Diss. Univ. Düsseldorf, 2003. S. 31, 40-42, 45, 51-55, 58, 60, 62-63. Publication / ChenY1
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
  • Person: Canetti, Elias
  • Person: Chen, Yun (1)