Dressler, Bernhard. Zur 'Sinisierung' des Marxismus [ID D19697].
Das theoretisch-programmatische Problem, eine Revolution in einem vorkapitalistischen, von der dörflichen Lebenswelt dominierten Land anzuführen und sich dabei den Zielen des Marxismus verpflichtet zu halten, dessen Grundmuster nicht getrennt von seinem Entstehungsmilieu in den bürgerlich-industriellen Ländern Westeuropas zu verstehen sind, stellte sich der Kommunistischen Partei Chinas nicht unvermittelt. Theoretisch und praktisch sah sie sich in die Kontinuität des Leninismus gestellt, der sich in der Verarbeitung der grundsätzlich ähnlichen – von kolonialer Abhängigkeit abegesehen – Probleme Russlands herausgebildet hatte. Der Marxismus in China wäre ohne die Oktoberrevolution undenkbar. Bereits auch in der schrittweisen Entwicklung der revolutionstheoretischen Überlegungen von Marx und Engels ist die, wenn auch zögernde, Auflösung eines geschichtsphilosophisch-linearen reduktionistischen Revolutionsmodells zu verfolgen, das ursprünglich die Umwälzung des Kapitalismus unmittelbar an die ökonomischen Konjunkturen der bürgerlichen Gesellschaft gebunden sah und das die Fähigkeit, als Subjekt dieser Umwälzung zu agieren, ausschliesslich dem industriellen Proletariat in seiner Konfrontation mit den Bourgeoisien des Westens zurechnete.
Dass Marx und Engels das bäuerliche Bewusstsein als durch die Zersplitterung der dörflichen Arbeits- und Lebenszusammenhänge und durch die Bindung an Kleineigentumsideologien beschränkt sahen und die Bauern jedenfalls nicht für fähig hielten, initiativ und eigenständig dem auf ihnen lastenden Druck des grossen Kapitals erfolgreich zu begegnen. Diese Beschränkungen galten ihnen freilich nicht als überhistorische Charakteristika der Bauern schlechthin. Sie betrachteten die Bauern immer nur in historischen Milieus, in denen sie sie der politischen, kulturellen und ökonomischen Hegemonie der städtischen Klassen unterworfen sahen.
Das Problem der Revolution in vorkapitalistischen Ländern ist die praktische Frage, wie die Reproduktion des Privateigentums im Kampf um die Verteilung des Mangels zu verhindern ist und ob der Aufschwung auf das dem Sozialismus vorausgesetzte Niveau materiellen Reichtums ohne Entfaltung kapitalistischen Privateigentums den Völkern geringere Leiden abverlangt als ihnen die Nachahmung des europäischen Entwicklungsweges aufbürdet.
Die Kommunistische Internationale – deren programmatische Konzeptionen und praktische Interventionen die chinesische Revolution unmittelbar und schwerwiegend beeinflussst haben – bewegte sich zum Teil in den von Marx und Engels geöffneten revolutionstheoretischen Reflektionsspielräumen ; zum Teil aber fiel sie mit der Produktion starrer, doktrinärer Schemata dahinter zurück. Stets charakteristisch blieb für die Guomindang-Debatten das Missverhältnis zwischen dem Anspruch auf organisatorische 'Machbarkeit' der Weltrevolution und einer programmatisch-theoretischen Unreife.
Differenzierter und intensiver beschäftigte sich der II. Weltkongress der Guomindang 1920 mit den inneren Bedingungen und Perspektiven der Revolution in kolonialen und halbkolonialen Ländern. Auf der Grundlage eines Leninschen Thesenentwurfs wurden Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage beschlossen, deren Linie später den Abschnitt über die Kolonialrevolution im vom XI. Weltkongress 1928 verabschiedeten Guomindangprogramm zugrundegelegt wurde. Ausgehend von der Analogie zur russischen Revolution von 1905 wurde die Losung der 'revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft' aufgegriffen, mit der entscheidenden Modifikation, dass die Rolle der nationalen Bourgeoisien in den unterdrückten Ländern ganz anders als in Russland würde eingeschätzt werden müssen.
Als wesentlicher Inhalt der kommunistischen Politik galt die Unterstützung der Bauernbewegung in den rückständigen Ländern gegen die Grundbesitzer und alle Formen und Überreste des Feudalismus.
Communism / Marxism / Leninism