Hermann Hesse schreibt anlässlich des Erscheinen des ersten Bandes der Übersetzung des Bi-yän-lu von Wilhelm Gundert eine Rezension [ID D835] : Das chinesische Zen, jene ganz auf Praxis, auf Seelendisziplin gerichtete Form, die der aus Indien nach China gelangte Buddhismus dort angenommen hat, ist seinem Wesen nach, sehr im Gegensatz zum indischen, eigentlich der Literatur, der Spekulation, der Dogmatik und Scholastik durchaus abhold. Man könnte sagen, indischer und chinesischer Buddhismus verhalten sich zueinander wie Sanskrit zu Chinesisch. Dort eine Sprache der indogermanischen Art, Werkzeug eines differenzierenden, gelehrten, abstrakten Denkens, auch einer blühenden Scholastik, hier im Osten aber eine bildkräftige, lockere, auf die meisten der uns geläufigen grammatischen Feinheiten und Knifflichkeiten verzichtende Sprache, eine weitherzige, keineswegs eindeutige, deren Worte eher Bilder oder Gebärden als Worte in unsrem Sinne sind. Nun, trotzdem hat auch das Zen eine Art von Literatur entwickelt, und in diesem Jahr 1960 hat es sich ereignet, dass eins ihrer ehrwürdigsten Bücher (vielmehr vorerst nur ein Drittel des Ganzen) in einer Verdeutschung erschienen ist, die ihren Verfasser, Wilhelm Gundert, mehr als ein Dutzend Jahre gekostet hat. Das Buch Bi-yän-lu, Meister Yüan-Wu's Niederschrift von der smaragdenen Felswand, ist zu Anfang des 12. Jahrhunderts entstanden und ist eine Sammlung von hundert Anekdoten und Aussprüchen bedeutender Zen-Meister samt auf sie gedichteten Hymnen und über sie verfassten Erläuterungen. Von den 100 Beispielen gibt Gunderts Übersetzung die ersten 33.
Dies höchst merkwürdige Werk ist etwas wie eine zen-buddhistische Summa, nicht aber im Sinn einer Dogmatik, sondern in dem eines geistlichen Übungsbuches. Anhand von Aussprüchen berühmter Lehrer und Patriarchen wird den Novizen und Mönchen vorgeführt, auf welche Art dieser oder jener ihrer Vorgänger das Ziel erreicht hat, nämlich die Erleuchtung, das Innewerden der Wirklichkeit, die nicht als etwas Statisches, sondern etwa wie das Zucken eines Funkens zwischen zwei Polen vorzustellen ist, dem Pol Samsara, der vollen bunten Erscheinungswelt, und dem Pol Nirwana, der absoluten Leerheit und Erlöstheit. In den meisten dieser Beispiele aus der Praxis der Meister stellt ein Schüler eine Präge, die der abendländische Leser nicht selten verstehen kann, während die Antwort des Lehrers uns vor lauter Rätsel stellt, übrigens des öftern nicht aus Worten, sondern aus einer Gebärde oder Handlung besteht, und gar nicht selten ist diese Handlung eine Ohrfeige oder ein Stockhieb. Diese Beispiele, um 1100 aus der Überlieferung mehrerer Jahrhunderte aufgezeichnet, sind noch heute, 800 Jahre später, ein klassisches Lehrmittel der Zen-Lehrer. Dass wir sie jetzt deutsch lesen können ist schon viel, denn jedes Beispiel enthält die Anregung zu staunender Versenkung.
Es ist kein Buch, das man schlechthin 'lesen' könnte; man muss sich in seinem Dickicht Zoll um Zoll vortasten, oft wieder umkehren, und bei mancher Umkehr zeigt uns auf einmal der Text ein ganz andres Gesicht. Es ist ein sehr fremdartiges, kompliziertes und schwer zugängliches Werk. Es ist eine Nuss mit drei- und vierfacher, recht harter Schale. Der normale, durchschnittliche Zeitgenosse wird nun vielleicht sagen, das alte Indien, das alte China, das Nirwana und das Zen seien erledigte Dinge, und der Rückgriff auf sie, also auch das Übersetzen und das Studieren dieses Werkes aus dem fernöstlichen Mittelalter sei unnütz, sei historische Schatzgräberei oder romantische Spielerei.
Darauf ließe sich zunächst antworten, dass ja das Zen noch heute in Japan ebenso existiert und praktiziert wird wie bei uns das Christentum, dass ferner die Lehre des Shakyamuni in ihren verschiedenen östlichen Ausformungen nicht nur Schopenhauer und seine Jünger fasziniert, sondern auch das intensive Interesse des heutigen Abendlandes gewonnen hat, dass die Vorträge und Bücher heutiger Zen-Buddhisten, obenan die von Suzuki, in Europa und Amerika größte Aufmerksamkeit finden, ja dass es leider schon so etwas wie eine Zen-Mode gibt.
Literature : Occident : Germany
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Religion : Buddhism