Barbara Ascher : Immensee von Theodor Storm widerspiegelte für die chinesischen Leser ihren Wunsch, Glück in der Liebe zu suchen. Die Helden der Novelle jedoch äussern ihr Gefühl nur zurückhaltend. Jedenfalls bemängelte der Dichter Yu Dafu, dies sei keine leidenschaftlich-mitreissende Literatur, die man „besingen und beweinen kann“, während der Übersetzer Shi Ying meinte, das konfuzianische Lob „fröhlich ohne ausgelassen zu sein, sehnsuchtsvoll ohne das Herz zu verwunden“ passe genau auf die Novelle. Die Bemerkung des Professors für Ästhetik, Zong Baihua, „Chinesen zeigen ihre Gefühle nicht äusserlich“, rückt Immensee viel näher an die traditionelle chinesische Lebensauffassung. In der Literatur vor dem 4. Mai sind persönliche Sehnsüchte, Freude oder Trauer meist nur verschlüsselt durch Symbole erkennbar.
Werther (von Goethe), Reinhard und Elisabeth (Immensee von Theodor Storm) wurden zum doppelt negativen Vorbild. Von den Verteidigern der traditionellen Ordnung wurde der Werther als Gefahr für die Jugend gesehen und konnte von dieser zum Teil nur heimlich gelesen werden, weil man in ihm die Aufforderung sah, die Geborgenheit der traditionellen Ordnung zu verlassen. Die Verfechter einer neuen Gesellschaft und Gesellschaftsmoral hingegen kritisierten ihn als passiven Träumer und verurteilten seine als Scheitern betrachtete Selbstauflösung. Sie verlangen eine aktive Verfolgung der eigenen Glücksvorstellungen und konnten im tragischen Schicksal des Idealisten Werther oder in der Entsagung von Reinhard un Elisabeth nichts positiv Heroisches sehen. Sie warnten die Jugend davor, „sich ins Netz der Liebe zu verstricken“, oder sahen, wie Liu Wuji, im „Wertherismus“ nur das Erreichen eines vorläufigen Stadiums, das überwunden werden sollte.
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