Brecht, Bertolt. Chinesische Gedichte [ID D12807]
Brecht, Bertolt schreibt in einer Anmerkung : Sämtliche Gedichte sind ohne Zuhilfenahme der chinesischen Originale übertragen, die ersten sieben aus der wörtlichen englischen Nachdichtung Arthur Waleys, die beiden letzten nach wörtlichen Übersetzung von Wu-an und Fritz Jensen [ID D12809]. Die Originale sind auf chinesische Art gereimt, das heisst auf Vokale. Die deutsche Übertragung benutzt die unregelmässigen Rhythmen der Deutschen Kriegsfibel. Ein Teil der dichterischen Schönheit der Originale besteht im Schriftbild, der Auswahl und Zusammenstellung der symbolischen Schriftcharaktere ; er kann natürlich nicht gerettet werden.
Antony Tatlow : Brecht hat eigentlich nicht Bo Juyi, sondern die Übersetzungen von Arthur Waley übersetzt. Wenn Brechts Vorlage sich vom Original recht weit entfernt hat, so führt uns seine Bearbeitung der Vorlage zu dem von ihm unbekannten Original zurück. Er macht daraus ein eigenes Gedicht.
Arthur Waley fühlte sich zu Bo Juyi nicht aufgrund besonderer Sympathie oder eines besonderen Verständnisses für dessen Ansichten über das Wesen der Lyrik hingezogen, sondern der Einfachheit seiner Diktion wegen, die ihm das Erreichen seines selbstgesteckten Zieles erheblich erleichtert : Wörtliche Übersetzung nicht Umschreibung ; Die auffallendste Eigenart von Bo Juyis Dichtung ist ihre einfache Sprache. Wie Konfuzius, sah auch er Kunst nur als eine Methode der Belehrung. Er ist nicht der einzige grosse Künstler, der diese unhaltbare Theorie geäussert hat. Dementsprechend bewertete er seine didaktischen Gedichte weit höher als andere Arbeiten ; aber es besteht kein Zweifel, dass ein Grossteil seiner besten Gedichte keinerlei Moral vermittelt… Brecht sagt dazu : Dieser ausgezeichnete Sinologe kann es nicht fassen, dass für den Bo Juyi zwischen Didaktik und Amüsement kein Unterschied besteht.
Einige der kurzen Gedichte übernimmt Brecht ohne jegliche Änderung, obwohl er auch hier eindeutige Schwächen vermeidet. Dennoch findet sich in diesen scheinbar übernommenen und wörtlich übersetzten Gedicht oft eine signifikante Gewichtsverschiebung, die unnötig gewesen wäre, wenn Brecht sich das Ziel einer wörtlichen Entsprechung gesetzt hätte. In den längeren Gedichten treten jedoch ernsthafte Mängel auf, die Brecht auf dreifache Weise zu umgehen bemüht ist. Er passt die künstlichen Rhythmen Waleys seinen eigenen rhythmischen Formen an, die Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit ist bei ihm sehr viel präziser, und er verwendet eine natürlichere, der Stillage angemessenere Diktion.
Brecht hat sich von der chinesischen Lyrik angezogen gefühlt, weil sie gewisse Eigenschaften seiner eigenen Lyrik teilen, nämlich erstens die Tradition der Sorge um die Gesellschaft, zweitens den vergleichsweise direkten, umgangssprachlichen Ton, der nicht nur ein Ergebnis der Übersetzungen Waleys ist, und drittens die elliptische Präzision der Verse, die im Original viel stärker in Erscheinung tritt als in Waleys diffuseren Versionen.
Andreas Donath schreibt : In allen Fällen, in denen chinesische Gedichte uns durch deutsche Lyriker vermittelt worden sind, beruht ihre Wirkung mehr auf der Sprachkraft des Nachdichters als auf dem Geist des Originals… Wer Brecht liest, kommt den Chinesen nicht näher, denn was er sieht, ist Goethe, China betrachtend.
Hans Mayer : Die späten Gedichte sind ohne das chinesische Vorbild nicht zu denken.
Literature : China : Poetry : General
/
Literature : Occident : Germany