[Fichte, Johann Gottlieb. Reden an die Deutsche Nation].
Joachim Kurtz : Generelle Übereinstimmung herrscht unter chinesischen Fichteanern nicht nur über die anhaltende und anscheinend nahezu beliebig aktualisierbare Bedrohung des Landes und die daraus nach dem Vorbild Fichtes abgeleitete Notwendigkeit und grundsätzliche Rechtmässigkeit uneingeschränkter Selbstbehauptung. Drei weitere Aspekte, die spezifischer aus den Reden hervorgehen, erscheinen fast allen chinesischen Autoren zustimmungsfähig ; 1. Das Ethos von 'Redlichkeit, Selbsttreue und Pflichtgemässheit', das Fichte für sich in Anspruch nimmt und deshalb auch von seinen Landsleuten einfordern zu können glaubt. 2. Die Überzeugung, dass eine vollständige 'Revolution der Denkungsart' bzw. ‚moralische Erneuerung’ jedes Einzelnen erforderlich ist, um das 'Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit', dessen Eintreffen mit Fichte auch für China als tiefere Ursache der nationalen Krise festgestellt wird, zu überwinden. 3. Die rhetorischen Mittel, mit deren Hilfe Fichte für diese Erneuerung wirbt, allen voran das Pathos totaler Identifikation, das darauf abzielt, jede kritische Distanz zwischen Redner und Zuhörer aufzuheben.
Das selbstlose Ethos, das Fichte sich in seinen Reden selbst zuschreibt, wird von chinesischen Autoren fast einmütig in geradezu elegischem Tonfall gepriesen. Die Einsicht, dass der Einzelne nichts, die Gemeinschaft alles ist, als einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen Not zu befördern, ist das erklärte Ziel der Reden und auch der meisten ihrer chinesischen Rezipienten. Dem Argumentationsgang der Reden zufolge, muss sie ihren Ausgang bei einer schonungslosen Selbstkritik nehmen. Die meisten chinesischen Autoren begnügen sich in diesem Zusammenhang freilich damit, Fichte die 'Eigensucht' und 'Apathie' seiner Zeitgenossen anprangern zu lassen, und darauf zu verweisen, dass auch chinesische Leser gut beraten wären, sich diese Kritik zu Herzen zu nehmen.
Fichtes 'rednerische Erzeugung des nationalen Selbst' erschien vielen Rezipienten bewundernswert. Die zentrale rhetorische Leistung Fichtes besteht chinesischen Darstellungen zufolge darin, sein Publikum nicht nur über einen Sachverhalt zu 'belehren', sondern auch zu 'beleben' und so unmittelbar zum eigenen Handeln zu 'bewegen' oder in die unabweisbaren Notwendigkeiten zu 'zwingen'.
[Biographie von Fichte].
Viele Darstellungen lesen sich als eine eigentümliche Mischung aus biedermeierlicher Heldensage und konfuzianisch inspirierter Gelehrtenbiographie. Entscheidend für die Begeisterung, die Fichtes Biographie in China weckt, ist die ungeheure Wirkung, die seinem Engagement zugeschrieben wird. Aus vielen chinesischen Texten geht hervor, dass sich Anhänger Fichtes durchaus eine Verbesserung ihres eigenen Ansehens davon versprachen, sich in die Tradition des Philosophen einzureihen und ein ähnlich uneigennütziges Ethos für ihr Handeln zu reklamieren.
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