Buber, Martin. China und wir [ID D19334].
Es geschieht von Zeit zu Zeit, daß vom Osten aus der Ruf zu Europa kommt, gemeinsame Sache mit Asien zu machen. Ich erinnere mich an ein Wort Tagores. Er sagte ungefähr: »Ja, wozu macht ihr das alles hier in Europa? Wozu habt ihr all dieses Getriebe, all diese Industrialisierung, all diesen Ballast? Das alles ist doch eigentlich gar nicht nötig. Werft das alles ab und laßt uns gemeinsam, Westen und Osten, das Wesenhafte erkennen!« Das war in herzeinnehmender Weise gesagt. Aber es schien mir der Wirklichkeit der Stunde, die wir leben, abgerückt. Ich stellte mir einen Mann vor, der sich vorgenommen hätte, auf einem noch nicht betretenen Berggipfel ein großes Symbol aufzurichten, und der mit diesem beladen den Berg hinaufklimmt. Wenn ihm nun jemand zuriefe: »Wozu die Mühe? Wirf doch das schwere Zeug ab, dann wirst du viel leichter hinaufkommen!«, würde der Mann berechtigterweise antworten: »Ich habe vor, entweder mit dem da hinaufzukommen oder mit ihm abzustürzen.« Diese Last des Abendlandes ist das, was ihm zu bewältigen obliegt. Von ihrer wirklichen Bewältigung hängt es ab, ob diese Epoche ihren Sinn erfüllt oder nicht. Diese Last abstreifend, hinter alle diese Industrialisierung und Technisierung und Mechanisierung zurücktretend, würden wir den Weg überhaupt nicht mehr gehen, hätten wir überhaupt keinen Weg. Es ist also nicht so, als ob wir uns all dessen begeben könnten, um nun mit dem Orientalen zusammen das Gemeinsame zu suchen und zu betrachten. Sondern zusammenkommen können wir nur so, daß wir mit dieser unserer Aufgabe gehen, mit dieser Problematik, mit dieser Auflösung, die wir heute erfahren und von der wir nichts reduzieren können; so wie sie ist, müssen wir sie auf uns nehmen, sie austragen, sie überwinden. Kommen wir so hindurch, dann dürfen wir hoffen, einem uns entgegenkommenden Asien zu begegnen. Möchte ihm unser Weg erspart bleiben ! Aber, wenn ich die Entwicklung Japans, ja sogar die Entwicklung Indiens erwäge, zweifle ich daran, ob er ihm erspart bleiben kann. Kann uns aber in diese Problematik hinein dennoch die Berührung mit Asien etwas bedeuten? Haben wir etwas davon anzunehmen, aufzunehmen? Aber, verstehen Sie mich recht: nicht in intellektueller Weise, nicht so, wie es etwa im 18. Jahrhundert üblich war, daß man irgendwelche äußeren Ergebnisse chinesischer Kunst oder Weisheit flächenhaft aufnahm; indem man etwa das Geheimnis chinesischer Linienkunst in zum Teil sehr reizvollen Chinoiserien verarbeitete; oder indem man konfuzianische Weisheit ergriff, aber nicht ihrem konkreten Urgehalt nach, sondern nur eben als etwas universalistisch Edles und Wertvolles; ohne zu ahnen, daß solche Aufnahme Sünde am Geist ist, daß wirkliche Aufnahme nur als die Aufnahme eines Lebendigen mit den Kräften des eigenen Lebens geschehen kann. So ist es nicht gemeint. Sondern die Frage ist: Können wir von der chinesischen Lebendigkeit, von den wirklichen Lebensmächten dieser Sitte, dieser Bildung, dieser Kultur, etwas aufnehmen und etwa was? Es scheint mir nun nicht, daß wir in diesem Sinn hier von den großen Kräften des Zusammenhangs, also von der chinesischen Kultur im eigentlichen Sinn, von der konfuzianischen Kultur, etwas zu übernehmen haben.
Ich will von den Gründen meines Zweifeins nur zwei anführen. Der eine betrifft die wichtigste Grundlage dieser Kultur: den Ahnenkult. Unter diesem Begriff werden sehr verschiedenartige Dinge zusammengefaßt. Es gibt einen Ahnenkult bei den sogenannten Primitiven, aus Furcht vor der dauernden, grauenhaften, verhängnisvollen Präsenz des Toten, den man versöhnen muß. Es gibt einen anderen Ahnenkult, wo die Ahnen in eine gehobene Sphäre des Daseins überwandern, zu Dämonen, Heroen, Göttern werden, von den Wechselfällen irdischen Lebens abgehoben und unberührbar, aber eben damit für die nachlebenden Menschengeschlechter nur noch ein Gegenstand der Verehrung, nicht der lebendigen Verbindung. Der chinesische Ahnenkult ist von ganz anderer Art. Er bedeutet ja das empfangende Prinzip, er bedeutet, daß das nachlebende Geschlecht von den Toten empfängt. Es ist also dieser Ahnenkult nur in einer Kultur möglich, wo Vertrautheit mit den Toten herrscht. Ich meine Vertrautheit, also nicht Grauen und nicht abgerückte Ehrfurcht, sondern natürlicher Verkehr, wie ihn das chinesische Märchen immer wieder zu erzählen weiß, ohne alle Unheimlichkeit, am deutlichsten in den Geschichten von Liebesbeziehungen mit den Toten. Hier ist nichts von dem Grauen des mittelalterlichen Incubus, sondern wie auf einer Ebene verkehrt man mit den Geistern der Toten, die in unser Leben eintreten. Diese Unbefangenheit des Verkehrs mit den Toten hängt mit der chinesischen Art des Ahnenkults zusammen. Das nachlebende Geschlecht empfängt von den Geschlechtern, die wir die gewesenen nennen. Und darum senkt sich immer wieder der Same der Sitte, der Gestaltung, in die nachwachsenden Geschlechter ein, nicht als etwas, was nur festgehalten, nur fortgesetzt, nur erhalten wird, sondern als etwas, was zeugt und dessen Gezeugtes vom neuen Geschlecht neu geboren wird, scheinbar dieselbe Sitte und doch neu gebildet, neu gewachsen. Das ist etwas, was dem Abendland wohl fremd bleiben muß. Die Grundlagen dieses Ahnenkults sind im Abendland nicht gegeben. Ich weiß, es gibt in der Antike, es gibt auch in der germanischen Vorzeit sagenhaft aufzeigbare Spuren verwandter Elemente. Ich erinnere etwa an die ferventia numina der Tanaquil-Sage; es gibt auch in den Sagen von Thors Fahrten eine merkwürdige Geschichte ähnlicher Art. Aber das sind versprengte Motive. Eine organische Beziehung zwischen Toten und Lebenden wie in der chinesischen Kultur ist im Abendland nicht da und, wie mir scheint, nicht möglich. Und das ist der eine Grund, weshalb ich daran zweifle, daß ein solcher Zusammenhang der Geschlechter, ein solcher Glaube des Neuen an das Alte, das ihm eben nicht das Alte ist, hier wachsen könnte. Es möchte uns wohl not tun, denn wir sind in eine Krisis nicht bloß einzelner Institutionen, sondern des Institutionellen überhaupt eingetreten; aber ich sehe nicht, wie wir das, was sich hier darbietet, aufzunehmen vermögen.
Der zweite Grund ist der, daß Bildung immer zusammenhängt mit einem Bilde, und zwar mit einem allgemeingültigen Bilde. Es gibt nämlich nicht bloß, wie die Philosophie lehrt, allgemeingültige Begriffe, sondern auch allgemeingültige Bilder. Die Zeiten, die Bildung haben, sind Zeiten, wo ein allgemeingültiges Menschenbild über den Köpfen der Menschen steht. Das Aufschauen zu diesen unsichtbaren und doch in der Einbildung aller Einzelnen lebendigen Bildern macht das Leben der Bildung aus; ihr Nachbilden aus der Materie der Person ist das Bilden, das Menschen-bilden. Nun aber unterscheidet sich das ostasiatische Bild von dem abendländischen gattungsmäßig. Das allgemeingültige Menschenbild in China ist der ursprüngliche Mensch, der »reine Mensch des Altertums«. Vom Ahnenkult Chinas aufgerichtet, ist dieses Bild ein Denkmal des Vertrauens zum Urzustand, zu dem, was eben nur immer wieder neu geboren, neu gebildet werden muß. Dieses Vertrauen zum Ursein geht dem abendländischen Menschen ab und ist von ihm wohl nicht zu gewonnen. Auch das Christentum, das ja die orientalische Lehre vom paradiesischen Urzustand der Menschheit dem Abendland übermittelt hat, hat daran nichts zu ändern vermocht. Von der biblischen Geschichte der ersten Menschen ist in der Wirklichkeit des persönlichen Lebens des christlichen abendländischen Menschen nur der Sündenfall, nicht das Leben vor dem Sündenfall, lebensmäßig gegenwärtig. Das Vertrauen zum ursprünglichen Sein der menschlichen Substanz fehlt, und ich glaube nicht, daß es auf den Wegen der historischen, von uns übersehbaren Kultur zu erringen ist. (Sie verstehen, daß ich von anderen Wegen nicht spreche. Wir reden von den Beziehungen der Kulturen zueinander; wir reden von dem Historischen, nicht von dem, was das Historische je und je zu sprengen und umzuwandeln vermag.) Dies sind zwei der Gründe, die mich zweifeln machen, ob wir von dem großen Zusammenhang Chinas, seiner Kontinuität, von der Verbürgung des Institutionellen, das die chinesische Kultur darstellt, etwas in unser Leben aufzunehmen vermögen.
Aber es gibt doch etwas, was wir aufzunehmen vermögen, und zwar vom Gang unserer Geschichte, von unseren Erfahrungen dieser Weltstunde aus. Das ist freilich nicht etwas von der großen Struktur der konfuzianischen Kultur; sondern es ist etwas Revolutionäres, Protesthaftes, freilich im Grunde Uraltes. Ich glaube, daß wir von China lebensmäßig etwas annehmen können von der taoistischen Lehre des Nichttuns, von der Lehre des Laotse. Und zwar deshalb, weil wir mit unserer Last, auf unserem Weg, nur eben negativ, sozusagen auf der umgekehrten Seite, etwas Analoges gelernt haben. Wir haben nämlich begonnen zu erfahren, daß es mit dem Erfolg nichts auf sich hat. Wir haben begonnen, an der Bedeutung des geschichtlichen Erfolges zu zweifeln, d.h. an der Gültigkeit des Menschen, der sich Zwecke setzt, diese Zwecke durchsetzt, der Machtmittel ansammelt und diese Machtmittel auswirkt - des typischen modernen abendländischen Menschen. Ich sage: wir beginnen an dem Existenzgehalt dieses Menschen zu zweifeln. Und da berühren wir uns mit etwas echt und tief Chinesischem, das freilich nicht konfuzianisch ist: mit der Lehre, daß das echte Wirken nicht das Eingreifen ist, nicht das Auspuffen der Macht, sondern das Insichverhalten, das mächtige Dasein, das nicht den geschichtlichen Erfolg einbringt, d.h. den in dieser Epoche und in ihrer Sprache auswertbaren, registrierbaren Erfolg, sondern nur die zunächst unscheinbare, ja unsichtbare Wirkung, die in die Geschlechter hinüberdauert und dort jeweils, nicht etwa als solche wahrnehmbar wird, sondern selbstverständlicher Bestandteil des Lebens der Menschheit geworden ist, so selbstverständlich, daß man nach ihren historischen Ursachen kaum noch fragt. Wenn da, um ein Beispiel aus Asien zu nennen, etwa ein Mann, der heute das Prinzip des Nichttuns in die politische Sphäre übernommen hat, wenn Gandhi keinen »Erfolg« hat, so hängt das unlösbar damit zusammen, daß er das Werk am indischen Menschen tut, welches einmal so dasein wird, daß man gar nicht mehr wissen wird, wie es entstanden ist. Denn aller geschichtliche Erfolg ist Scheinerfolg, aller geschichtliche Erfolg bedeutet Verzicht auf die Verwirklichung. Im Kern jedes geschichtlichen Erfolgs steckt die Abkehr von dem, was dieser Täter eigentlich gemeint hat. Nicht die Realisierung, sondern die verkappte, die eben durch den Erfolg verhüllte oder maskierte Nichtrealisierung, das ist das Wesen des geschichtlichen Erfolgs. Dem steht gegenüber die Änderung des Menschen im Nichterfolg, die Änderung des Menschen dadurch, daß man wirkt, ohne einzugreifen. Dieses Tun ohne zu tun, Tun durch Nichttun, diese Mächtigkeit des Daseins, das ist, glaube ich, etwas, in dessen anhebender Erkenntnis wir uns mit der großen Weisheit Chinas berühren. Bei uns entsteht das nicht als Weisheit, sondern eher als Narrheit. Wir bekommen es auf die bitterste Weise zu schmecken, ja, auf eine geradezu närrische Weise. Aber da, wo wir stehen, oder da, wo wir bald stehen werden, da werden wir unmittelbar an die Wirklichkeit rühren, die Laotse vertritt.
Irene Eber : Buber briefly returned to thoughts on Tao and non-acting. The 'mystic phase', as he had called it, was behind him, and his preoccupation with the Bible, his concerns with God, the life of dialogue, and the world, led him to locate spiritual endeavors in the 'living reality of every-day'. Tao, he wrote, 'affirms the whole reality of the world'. In the world's separateness is embodied the working of Tao. Defining Chinese culture as Confucian culture, Buber doubted that the West would find in it much that was congenial. For one, said Buber, Chinese people have a fundamentally different relationship to their dead, neither abhoring nor dreading them. A Chinese continues to maintain contact with his ancestors through ancestor worship and, therefore, Chinese culture conceives of generational continuity in entirely different terms than the West. Secondly, Chinese have a profound trust in a person’s fundamental 'being'. This trust does not exist in the West.
For this reason, Taoism, stated Buber, and specifically Taoist non-acting as non-interference, striving for success by non-aggressive means, has something to offer to the West. In a radical departure from his views of sixteen years earlier, Buber's comments did not relate non-acting to either cognition or a special person ; anyone can practice ist, he implied, as long as the person realizes that short term success in the historic here and now is illusory. Non-acting is genuine acting, it has imperceptible effects, is long lasting, becoming 'a part of the life of manking'. Non-acting in this sense is concrete and takes place in the world's arena. Wei wu-wei, act by non-acting, which Buber apparently had in mind here, occurs twice in the Dao de jing in chapters three and sixty-three. The latter especially recommends to the sage a way of life in this world where goals must be achieved, but where the means for achieving them are supremely important and must be carefully chosen. Buber's intellectual concerns had changed and, perhaps as a result, he had reached a more profound understanding of some of the Dao de jing's ideas.
History : China - Occident : General
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Philosophy : Europe : Germany