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1983.2

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1983
Helwig Schmidt-Glintzer : Unsere Untersuchung geht von der Fragestellung aus, welchen Bedingungen das, was Max Weber als Heterodoxie in China bezeichnete, genügte, und warum solche Erscheinungen von Heterodoxie nicht zum Ausgangspunkt einer 'abweichend orientierten Lebensmethodik' hatten werden können. Wir werden die Ausdrücke 'orthodox' und 'heterodox' in Ermangelung besserer hin und wieder verwenden. Die Verständigung darüber, was als korrekt anzusehen sei, konnte nur innerhalb einer Lehre geschehen, die entsprechend legitimiert war. Nun hatte solche Legitimation zunächst nur der konfuzianische Kult, doch beobachten wir im Verlaufe des chinesischen Mittelalters eine Emanzipation des Taoismus und eine Ausweitung des Buddhismus auf breitere Gesellschaftsschichten, wobei beide beanspruchten, eine Lehre zu sein.
Die Durchsetzung der Orthopraxie musste immer wieder neu gelingen. Da das, was als korrekt galt, nur von der Zentralgewalt und deren Vertretern gewährleistet werden konnte, weil nämlich der Staatskult gerade darauf beruhte, die Vielfalt der Götter und Geister jedenfalls bis zu einem gewissen Grade erfolgreich zurückgedrängt bzw. domestiziert zu haben, sind den daraus resultierenden Spannungsverhältnissen einige Ausführungen gewidmet worden. Volksaufstände, die Weber besonders interessierten, sind begründet durch und bezogen auf Zeiten einer prekären Lage der Zentralgewalt. Die dabei zu wirksamen Ausdruck kommenden zentrifugalen Kräfte sind aus der Sicht der Zentrale stets heterodox und abwegig gewesen. Doch sie selbst haben sich nicht nur als orthodox verstanden, sondern in all den Fällen, in denen sie das 'Mandat des Himmels' erlangten, schlüpften sie gewissermassen in den Mantel der alten Orthopraxie. Sie hatten eben auch nicht die Institution der Herrschers als des Himmelssohnes angegriffen, sondern die Missstände bekämpft, um die ideale Ordnung wiederherzustellen.

Weber, den seine Untersuchungen über das konfuzianische Literaten-Beamtentum zu der Erkenntnis geführt hatten, dass in China die Intellektuellenschicht, womit er die konfuzianisch Gebildeten meinte, als Trägerschicht für eine rationalistische Entwicklung ausgefallen sei, suchte andernorts Ansätze zu solcher Veränderung. "Uns soll vielmehr der Zwiespalt zwischen der Stellungnahme der Amtskirche und der unklassischen Volksreligion unter dem Gesichtspunkt interessieren : ob die letzte etwa Quelle einer abweichend orientierten Lebensmethodix werden konnte und geworden ist. Dies könnte so scheinen". Der Vergleich zwischen konfuzianischer 'Amtskirche' und der 'unklassischen Volksreligion' einerseits und der 'Beziehung der hellenischen, schulmässig philosophischen Sozialethik zu den alten hellenischen Volksgöttern' andererseits, den Weber in diesem Zusammenhang zieht, sei nur erwähnt, ohne dass er einer näheren Betrachtung unterzogen worden soll. Immerhin ist es aber bemerkenswert, dass Webers Ansicht durch neuere Untersuchungen bestätigt wird. Die Unterdrückung bzw. Umdeutung nämlich der alten Heldenepen durch die konfuzianische Historiographie seit der Han-Zeit zerstörte eine wesentliche Voraussetzung für alternative Weltbilder, und in dem Masse, in dem die Bildungselite identisch wurde mit der Herrschaftselite, fehlte es an sozialen Trägern für alternative Entwürfe.

Nun hatte aber Weber auch erkannt, dass in China die Grenzen zwischen Heterodoxie und Orthodoxie stets unscharf waren. Er stellte fest : "Letztlich waren, material, die Scheidungen orthodoxer und heterodoxer Lehren und Praktiken ebenso wie allen entscheidenden Eigentümlichkeiten des Konfuzianismus durch seinen Charakter als einer ständischen Ethik der literarische geschulten Bureaukratie einerseits, andererseits aber durch die Festhaltung der Pietät und speziell der Ahnenverehrung als der politisch unentberhlichen Grundlage des Patrimonialismus bedingt." Dabei sei es 'der konfuzianischen Literatenbureaucratie weitgehend gelungen, durch Gewalt und Appell an den Geisterglauben die Sektenbildung auf ein gelegentliches Aufflammen zu beschränken.' Nie aber sei rationale Askese das Merkmal jener Sekten gewesen wie im Okzident.

Insgesamt kommt Weber zu dem Ergebnis, dass es in China nicht zu der epochalen Verbindung einer Sekte mit der Staatsgewalt gekommen sei. Obwohl er gänzlich auf seine sinologischen Gewährsmänner angewiesen war und daher solche nach heutigen Erkenntnissen unhaltbaren Sätze schreiben konnte wie 'die Heterodoxie wird gern als Taoismus bezeichnet', sprach er doch auch von dem 'von Orthodoxen und Heterodoxen gemeinsam geschaffenen spezifisch chinesischen Weltbild', eine Aussage, die der Sache sehr nahe kommt. Die Formulierungsweise Webers und die Inkonsistenz gerade in seiner Darstellung der Heterodoxie in China deuten darauf hin, dass er an der von ihm konsultierte Fachliteratur (vor allem J.J.M. de Groot) bereits erkannt hatte, dass der Heterodoxie-Begriff hier in einem anderen Sinne zu verwenden sei als in der abendländisch-christlichen Tradition. Weber war offenbar bewusst, dass die entscheidende Vergleichsebene zwischen Orient und Okzident die der unterschiedlichen Weltbildkonstruktionen und dabei vor allem das Gott-Mensch-Verhältnis zu sein habe. So stellt er zutreffend fest, dass bei Laozi 'jede religiös motovierte aktive Gegensätzlichkeit gegen die Welt' fehle. Es fehle 'überhaupt jene Spannung des Göttlichen gegenüber dem Kreatürlichen, wie sie nur durch die Festhaltung eines schlechthin überkreatürlichen, ausserweltlichen, persönlichen Weltschöpfers und Weltregenten garantiert worden wäre'. Es habe sowohl bei der 'chinesischen Religiosität in ihrer offiziellen staatskultischen' wie auch 'ihrer taoistischen Wendung jede Spur einer satanischen Macht des Bösen' gefehlt.
Obwohl Webers Einschätzung der Rolle, die die heterodoxen Bewegungen in China bei der Propagierung einer abweichend orientierten Lebensmethodik hätten spielen können, grundsätzlich zuzustimmen ist, hat sich das Bild von solchen Bewegungen inzwischen doch beträchtlich erweitert. Dass es immer wieder neuem Wandel unterworfen wurde und gerade auch in China selbst nach wie vor strittig ist, hat seine hier nicht näher zu verfolgenden Ursachen.

Das traditionelle China ist von manchen als in höchstem Masse intolerant und autoritär, von anderen wieder als äusserst aufgeschlossen und tolerant bezeichnet worden. Diese widersprüchlichen Auffassungen suchte Weber zu vereinigen, indem er einerseits sagte, 'die kaiserlichen Religionsedikte und selbst ein Schriftsteller wie Menzius [Mengzi] machten die Verfolgung der Ketzerei zur Pflicht', andererseits aber einräumte, dass 'die Mittel und die Intensität, auch der Begriff und das Ausmass des Ketzerischen wechselten'. Doch die Behauptung, die Verfolgung der Ketzerei sei zur Pflicht gemacht worden, mit der Weber eine Ansicht de Groots folgt, bedarf eingehender Erörterung.

Max Webers Feststellung, dass im chinesischen Kaiserreich 'fast jede Rebellion mit einer Häresie verknüpft' gewesen sei, beruht vor allem auf den zumeist durch die konfuzianische Berichterstattung gefärbten Nachrichten über die sozialen Unruhen im späten Kaiserreich. Nun ist es aber durchaus strittig, ob Aufstandsbewegungen im traditionellen China wirklich die Herrschafts- und Gesellschaftsorganisation transzendierende Ziele verfolgten. Diejenige Aufstandsbewegung, von der Weber genauere Kenntnis besass, war die Taiping-Rebellion, deren Merkmale sich nur sehr begrenzt verallgemeinern lassen. Nun ist das Phänomen von Aufständen im traditionellen China so vielschichtig, dass hier nur auf einen Aspekt, nämlich den der Verbindung von ketzerischen Lehren und solchen Volksbewegungen, eingegangen werden kann, die sich auf solche beriefen oder mit ihnen in Zusammenhang gebracht wurden.
Dass die Herausforderung ganz offenbar weniger in den Ideologien als vielmehr in der Organisiertheit lag, hatte übrigens Weber bereits erkannt, der drei Punkte als entscheidend herausstellt : Die Ketzer tun sich, angeblich zur Pflege tugendhaften Lebens, zu nichtkonzessionierten Gesellschaften zusammen, welche Kollekten veranstalten. Sie haben Leiter, teils Inkarnationen, teils Patriarchen, welche ihnen jenseitige Vergeltung predigen und das jenseitige Seelenheil versprechen. Sie beseitigen die Ahnentafeln in ihren Häusern und trennen sich zu mönchischem oder sonst unklassischem Lebenswandel von der Familie ihrer Eltern.

Viele Rebellenführer haben nun tatsächlich behauptet, sie seien Inkarnationen Maitreyas, des Buddhas des letzten Weltzeitalters. Maitreya-Anhänger verbanden sich mit Anhängern der Weissen-Lotus-Schule des Reinen-Land-Buddhismus, die zeitweise einen 'Lichtherrscher' erwarteten, eine Vorstellung, die zweifellos unter manichäischem Einfluss zustande kam. Nun war es aber keineswegs so, wie de Groot behauptete und Weber übernahm, dass der orthodoxe Konfuzianismus erst durch seine despotische Unterdrückung die Rebllion herausgefordert habe. Vielmehr wurde zumeist sehr wohl zwischen harmosen Anhängern verschiedenster Kulte und Lehren einerseits und gefährlich erscheinenden Bewegungen andererseits unterschieden.
Solange einzelne Schulen sich noch im Sinne von Familien oder Klanverbänden definierten, war ihr Anspruch gedeckt durch die herrschenden Sozialnormen. Eine Vereinigung jedoch, die ganz ausdrücklich auf Blutsbande als das konstituitive Element verzichtete, musste der imperialen Ordnungsvorstellung zuwiderlaufen. Die Gefahr, die bereits Laiengemeinschaften darstellten, wurde hierdurch noch gesteigert. Diesen Aspekt hatte Weber sehr deutlich erkannt, wenn er schreibt : "Wert und Würde der 'Persönlichkeit' wurden garantiert und legitimiert durch die Zugehörigkeit und Selbstbehauptung innerhalb eines Kreises spezifisch qualifizierter Genossen, nicht durch Blutsbande, Stand oder obrigkeitliches Diplom".

1983
Nathan Sivin : Max Webers Behauptungen über die chinesische Wissenschaft spiegeln den Forschungsstand, wie er 1910 erreicht war, so unzulänglich wider, dass er sich mit einer oberflächlichen Lektüre zu diesem Thema begnügt haben muss.
Benjamin Nelson (1911-1977 Deutschland) : Professor of Sociology and History, New School for Social Research, New York
Benjamin Nelson sagt, Weber ging nicht davon aus, dass ökonomische und technologische Veränderungen zwangsläufig grössere gesellschaftliche Wandlungsprozesse auslösen würden. Die Moderne ist nicht das Ergebnis eines linearen Zuwachses an Rationalisierung, sondern von suikzessiven 'charismatischen' Durchbrüchen zu neuen Formen der Rationalisierung. Wissenschaftliches Wissen kann unter beliebigen gesellschaftlichen Umständen entstehen ; in China war es sicherlich vorhanden, aber es entbehrte einer metaphysischen Grundlage – jedenfalls war dies die Schlussfolgerung Webers. Was den Wandel auslöst, ist die ‚technische Verwertung’ des Wissens, die durch den Kapitalismus zwar begünstigt werden mag, aber nur dann, wenn ‚universalisierende und unversalistische Weisen des Denkens und der Sensibilität’ existieren. Weber stellt allerdings nicht die Frag, wann diese auftreten und welche Prozesse zu ihnen führen.
Für Weber waren vergleichende Untersuchungen unentbehrlich, um die Einzigartigkeit abendländischer Institutionen zu erklären. Sie ermöglichten eine Typologie der wechselseitigen Beziehungen von Ideen und Sozialstruktur. Noch elementarer : Man muss zunächst einmal wissen, was anderswo nicht vorhanden ist, wenn man – wie Weber in den Kriktischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik – die historische Einzigartigkeit der europäischen Kulturentwicklung durch vergleichende Untersuchung in den Blick bekommen will. Es ist keineswegs so, dass Europa die einzige Entwicklung aufwiese, die einer Untersuchung um ihrer selbst willen wert wäre ; aber Weber geht es um die Schaffung einer 'Wirklichkeitswissenschaft', deren Ziel das Verständnis der charakteristischen Einzigartigkeit der Wirklichkeit ist, in der wir uns bewegen. Das ist weder kulturelle Voreingenommenheit noch erheuchelte Unparteilichkeit. Aber es verleiht den geschichtlichen Realitäten Europas doch eine Schärfe, mit der verglichen die chinesische Zivilisation als exotisch erscheinen muss.
Webers Tendenz, das Wort 'Konfuzianismus' zum handelnden Subjekt zu machen und als Kürzel für den Begriff 'herrschende gesellschaftliche und politische Kräfte' zu gebrauchen, was für den sinologischen Sprachgebrauch seiner Zeit kennzeichnend war. Sätze wie : 'Dem offiziellen Konfuzianismus fehlte natürlich das individuelle Gebet im okzidentalen Sinne des Wortes. Er kannte nur Ritualformeln' sind typische Fehlinformationen, die mit Trugschlüssen behaftet sind.
Es gab im traditionalen China keine Wissenschaft, sondern nur Wissenschaften. Im Gegensatz zu dem Bild, das Weber sich anhand seiner Quellen machte, waren diese Wissenschaften genügend hoch entwickelt, um bis zum 17. Jahrhundert auf die gleiche Ebene mit ihren europäischen Pendants gestellt zu werden.
Sobald Webers Blick sich auf China heftet, bleibt er rasch an der Elite und ihrem literarischem Erbe hängen – sowohl dem, das sie von Konfuzius, als auch dem, das sie von Laozi übernahm. Gelegentlich schweift sein Blick auch zu den äusseren Zonen der Gesellschaft – mit der Tendenz, die letzten zweitausend Jahre in eins zusammenfliessen zu lassen -, doch kehrt er schnell wieder fasziniert zum Irrationalismus und unerlösten Traditionalismus des Zentrums zurück, die nur der Schock der Verwestlichung zu durchbrechen vermochte. Hier sehen wir wieder Webers gesunde Instinkte verschüttet durch die Begrenztheit seiner Quellen. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang seine Bemerkung, dass 'der Soziologe im wesentlichen auf die sicherlich sehr verschiedenwertige, aber schliesslich doch die relativ sichersten Erfahrungen in sich bergend Missionarliteratur angewiesen' sei.

1983
Shmuel N. Eisenstadt : In Konfuzianismus und Taoismus wird ein Rationalisierungsprozess für den Bereich der chinesischen Zivilisation untersucht. Das Werk ist zugleich eine eindrucksvolle Interpretation chinesischer Kultur und Geschichte. Hervorgehoben werden vor allem deren grosse institutionelle Komplexität, ihre nahezu einzigartige geschichtliche Kontinuität sowie ihre geringe innere Transformationsfähigkeit, d.h. der relativ geringe Umfang grundsätzlicher institutioneller Veränderungen in ihr. Diese Kombination von Komplexität, Kontinuität und mangelnder Transformationsfähigkeit wird von Weber auf zweierlei Weise erklärt : zum einen durch die Analyse der strukturellen Besonderheiten der traditionalen chinesischen Gesellschaft, wie etwa durch den patrimonialen Charakter von Staat und Bürokratie, durch das Fehlen städtischer Autonomie und durch die beherrschende Stellung des realtiv geschlossenen Verwandtschaftssystems ; zum anderen durch die Analyse der wichtigsten kulturellen Orientierungen in China – der konfuzianischen Orthodoxie und der taoistischen und – in geringerem Umfang – buddhistischen Heterodoxie – sowie ihrer hauptsächlichen Träger, der konfuzianischen Literaten und der verschiedenen Sekten. Das entscheidende Bindeglied zwischen der kulturellen Analyse und der Strukturanalyse bildet die grundlegende chinesische (oder jedenfalls konfuzianische) Weltorientierung sowie die soziale und Status-Orientierung der hauptsächlichen Träger dieser Weltorientierung. Sie war nicht – wie dies nach Weber für das Christentum im allgemeinen und den Protestantismus im besonderen zutraf – durch Weltverneinung und der mit dieser dialektisch eng verknüpften Weltkonstruktion geprägt, sondern vielmehr durch Weltanpassung. Die Wurzeln dieser anpassungswilligan Haltung scheinen nach Webers Interpretation in dem Umstand zu liegen, dass der Konfuzianismus als kulturelle Orientierung grundsätzlich keine transzendente Verankerung hat und deshalb nicht in Spannung mit und in Distanz zur Welt steht ; dass er vielmehr eine 'rücksichtslose Kanonisierung der Tradition’ ist ; oder, wie de Bary sagt, ‚eine völlig säkularisierte Tradition ohne prophetischen Eifer und moralische Dynamik'. Eben weil dem Konfuzianismus jegliche Konzeption einer höheren transzendenten Ordnung fehlte, war er, Weber zufolge, unfähig, jene komplexen religiösen Einstellungen und sozialen Handlungen – wie etwa Askese – aus sich zu erzeugen, die Weltverneinung und damit eine Neustrukturierung des Weltverhältnisses oder eine 'Eroberung' der Welt hätten entstehen lassen können. Dies wiederum hing mit Webers Auffassung vom relativen Immobilismus der chinesischen Geschichte zusammen – eine Auffassung, die seiner oft kritisierten Tendenz entsprach, unterschiedliche Perioden dieser Geschichte in einen Topf zu werfen - , aber auch mit dem weitgehenden Fehlen transformativer Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft, die es zu keinen institutionellen Neuerungen gebracht und insbesondere keine kapitalistische Zivilisation entwickelt hat.

Das Vorherrschen ritueller Praktiken und die Bedeutung humanistischer Gelehrsamkeit im konfuzianischen (und bis zu einem gewissen Grad auch taoistischen) Kodex sowie die Statusorientierung der Literaten, vor allem ihre Orientierung am Staatsdienst und an der humanistischen, weltlichen Persönlichkeitsbildung waren in Webers Augen die wichtigsten Ursachen für die chinesische Tendenz der Weltanpassung. So formuliert, zeigt seine Analyse aber einen grundsätzlichen Widerspruch : einerseits wird China in die Reihe jener Zivilisationen aufgenommen, bei denen der Prozess der Rationalisierung religiöser Orientierungen stattfand ; andererseits bestreitet Weber in den Details seiner Analyse, dass bestimmte wesentliche Manifestationen einer solchen Rationalisierung in China exisitiert hätten. Weber selbst scheint sich dieses Widerspruchs nicht bewusst gewesen zu sein, und in den konkreten Details seiner Arbeit geht er davon aus, dass eine transzendent begründete Spannung zur Welt in China entweder ganz gefehlt hat oder nur schwach ausgeprägt war.
In den meisten Stellungnahmen zu Weber findet man auf der einen Seite eine hohe Einschätzung von seiner Fähigkeit, die Grundzüge der chinesischen Geschichte und Zivilistion zu analysieren und ihre Hauptprobleme zu identifizieren, während auf der anderen Seite seine konkreten Analysen dieser Probleme kritisch beurteilt werden. Das Lob für die Webersche Analyse gründet sich vor allem auf die Erkenntnis, dass es ihm gelungen ist, diejenigen Elemente oder Komponenten der chinesischen Sozialstruktur namhaft zu machen und herauszuarbeiten, die entscheidend sind für das Verständnis der chinesischen Zivilisation als einer grossen Zivilisation, in der Rationalisierungstendenzen nachweisbar sind. Diese Elemente oder Komponenten unterscheiden sich im Prinzip natürlich nicht von jenen, die Weber bei der Interpretation anderer Zivilisationen hervorhebt und die mit seinen allgemeinen analytischen Orientierungen zusammenhängen. Es sind die in einer Zivilisation vorherrschenden kulturellen Grundorientierungen ; deren Auswirkung auf die Gestaltung des Institutionengefüges ; die Träger dieser Orientierungen (die konfuzianischen Literaten und die Bürokratie) ; die interne Zusammensetzung und die soziale Orientierung dieser Träger sowie die Kontrollmethoden, die sie ausüben ; die Art der Arbeitsteilung, etwa zwischen Stadt und Land ; die Struktur der grossen Märkte ; das Agrarsystem und anderes mehr. Es ist vor allem die Analyse dieser Aspekte der chinesischen Geschichte und Zivilisation, die Weber grosses Lob eingetragen haben.

Als Kontrapunkt zu diesem Lob, entzündete sich aber viel Kritik, nicht nur an den Einzelheiten der Weberschen Analyse – Kritik, die durch den einfachen Fortgang der historischen Forschung unvermeidlich ist -, sondern auch an manchen seiner Interpretationen der zentralen Elemente der chinesischen Sozialstruktur. Weber irrte, wenn er die entscheidenden Komponenten der chinesischen Gesellschaft und Zivilisation sowie ihre wechselseitigen Beziehungen in einer Weise interpretierte, die auf Gebilde wie etwa das alte Ägypten oder auf südostasiatische Königreiche, nicht aber auf China passt.
Wir müssen uns mit Webers Grundproblem auseinandersetzen, obgleich unser heutiges Bild von China von dem seinen erheblich abweicht. Die Lösung dieses Rätsels oder Widerspruchs hängt aufs engste mit dem Widerspruch in seiner Analyse Chinas zusammen. Webers Hauptirrtum lag in seiner Interpretation der Grundimplikationen der konfuzianischen (taoistischen) kulturellen Orientierung, vor allem aber darin, dass er das Vorhandensein eines wie immer gearteten Spannungsverhältnisses zur Welt in diesen Orientierungen bestritt.
Dass Weber den Unterschied zwischen dem Fehlen eines transzendent begründeten Spannungsverhältnisses und einer innerweltlichen Lösung dieser Spannung nicht erkannt hat, gibt uns einen Hinweis darauf, wie wir sein Werk bewerten, seine Irrtümer wie seine Einsichten verstehen sollten. Die innerweltliche Lösung war für die chinesische Zivilisation kennzeichnend, und sie bietet den Schlüssel zur Neuinterpretation sowohl der Gesamtgestalt der chinesischen Gesellschaft und Zivilisation als auch der Eigenart ihrer wesentlichen Komponenten. Erst die volle Explikation dieser Perspektive führt zu einer Interpretation der chinesischen Zivilisation und Geschichte, die zwar Webers Methode, seiner Vision und seinen analystischen Einsichten treu bleibt, die aber zugleich die entscheidende Kritik an den konkreten Einzelheiten seiner Interpretation in sich aufnimmt und die darüber hinaus erkilärt, warum in China – im Unterschied zu den rein buddhistischen Zivilisationen – die Begegnung mit der Moderne, die von aussen kam, eine revolutionäre Transformation erzeugte – eine Tatsache, die ebenfalls jenseits des Horizonts der Weberschen Analyse zu liegen scheint.
Weber wusste um die Bedeutung der Sekten in China. Er sah jedoch nicht klar genug, dass diese Bewegungen durchaus eine starke Wirkung auf das Zentrum haben konnten und oft mit einem erheblichen Veränderungspotential ausgestattet waren – ein Umstand, der dem Zentrum durchaus nicht entging. Zwar trifft es in Übereinstimmung mit der Hauptrichtung der Weberschen Analyse zu, dass es keiner dieser Bewegungen im kaiserlichen China gelang, die fundamentalen ideologischen und institutionellen Prämissen der konfuzianisch-legalistischen Zivilisation und politischen Ordnung zu unterminieren. Aber der Grund hierfür liegt nicht in ihrem mangelhaften Veränderungspotential oder in der vermeintlichen 'Traditionalität' des Zentrums, sondern in den sehr ausgeklügelten und komplexen Kontrollmechanismen, die von den herrschenden Koalitionen angewandt wurden und die von dem hohen Mass an Nicht-Traditionalität und Reflexivität in der chinesischen Zivilisation und politischen Ordnung zeugen, von Zügen also, die auf mancherlei Weise dem Bild Chinas als einer patrimonialen Gesellschaft, das aus Webers Analyse abzuleiten ist, zuwiderlaufen.

Mentioned People (1)

Weber, Max  (Erfurt 1864-1920 München) : Wirtschaftwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Professor fur Handelsrecht Universität Berlin, Professor für Nationalökonomie Universität Freiburg i.B. und Heidelberg, Professor für Soziologie Universität Wien, Professor für Nationalökonomie Universität München

Subjects

Philosophy : Europe : Germany

Documents (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1983 Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus : Interpretation und Kritik. Hrsg. von Wolfgang Schluchter. (Frankfurt a.M. : Suhrkamp, 1983).
[Enthält] :
Schluchter, Wolfgang. Einleitung : Max Webers Konfuzianismusstudie - Versuch einer Einordnung.
Eberhard, Wolfram. Die institutionelle Analyse des vormodernen China : eine Einschätzung von Max Webers Ansatz.
Sprenkel, Sybille van der. Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene : Dörfer und Städte.
Elvin, Mark. Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt ? : eine Auseinandersetzung mit Max Webers Ansatz.
Bünger, Karl. Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.
Zingerle, Arnold. Max Webers Analyse des chinesischen Präbendalismus : zu einigen Problemen der Verständigung zwischen Soziologie und Sinologie.
Weber-Schäfer, Peter. Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus.
Metzger, Thomas. Max Webers Analyse der konfuzianischen Tradition : eine Kritik.
Tu, Wei-ming. Die neokonfuzianische Ontologie.
Schmidt-Glintzer, Helwig. Viele Pfade oder ein Weg ? : Betrachtungen zur Durchsetzung der konfuzianischen Orthopraxie.
Sivin, Nathan. Chinesische Wissenschaft : ein Vergleich der Ansätze von Max Weber und Joseph Needham.
Eisenstadt, Shmuel N. Innerweltliche Transzendenz und die Strukturierung der Welt : Max Webers Studie über China und die Gestalt der chinesischen Zivilisation. S. 300-306, 318-319, 325, 343, 348, 350, 342-354, 356, 364-369, 394-395.
Publication / Schlu1
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)