Weber, Max. Schriften zur Religionssoziologie : Hinduismus und Buddhismus
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität.
Auszüge (2)
In Tibet entstand, im schroffen Gegensatz gegen die Organisationslosigkeit jener Gebiete, eine Hierarchie von solcher Einheitlichkeit, daß man die Religion ihrer Träger: der Lama-Mönche, geradezu als ein gesondertes Religionssystem: Lamaismus, zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Hinduistische und wohl auch buddhistische Wandermönche müssen als Nothelfer schon früh nach Inner- und Nordasien gelangt sein: der magische Ausdruck 'Schamane' für die magisch-ekstatischen Exorzisten ist eine ostturkestanische Abwandlung des indischen Sramana (Pali: Samana). Die eigentlich buddhistische Mission in diesen Gebieten hat etwa mit dem 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung begonnen, und wurde im 8. Jahrhundert offiziell begründet. Wie üblich derart, daß ein König im Verwaltungsinteresse (zum Import der Schriftkunde) und zur Domestikation der Untertanen einen Heiligen aus dem benachbarten indischen Gebiet (in diesem Fall aus Udayana, welches Kaschmir benachbart ist) als Guru importierte. Der Missionar war ein Vertreter der rein tantristischen (magischen) Mahayana-Richtung: Alchemie, Zaubertränke und die übliche mahayanistische Formel-Magie scheinen bei ihm nebeneinander herzugehen. Die Mission hat nach ihm, mit zahlreichen Rückschlägen und Kämpfen der konkurrierenden Sekten, nicht mehr geruht, und es sind zeitweise das östliche Persien und große Teile von Turkestan vom mahayanistischen Buddhismus gewonnen worden, bis die islamische Reaktion der westlichen Mongolen-Khane diese Missionen wieder vernichtete. Das Mongolenweltreich war es aber andererseits, dem die Konstituierung der heiligen Kirche Tibets, der Trägerin des 'Lamaismus', verdankt wurde.
'Lama', der 'Erhabene', 'Heilige', hieß zunächst der Superior (Khan po) eines Klosters, später, höflichkeitshalber, jeder voll ordinierte Mönch. Die buddhistische Klostergründung ging anfangs ganz den üblichen Weg. Die Machtstellung einiger der Klostersuperioren steigerte sich aber im Gebiet von Tibet dadurch, daß die größeren politischen Gebilde – dem Charakter des Landes als Weidegebiet entsprechend – wieder in kleine Stammesfürstentümer zerfielen, und nun, wie im Occident in der Völkerwanderungszeit die Bischöfe, so hier die Klostersuperioren die einzig rational organisierte Macht in der Hand hielten. Die Erziehung der Superioren war demgemäß geistlich sowohl wie weltlich. Die Klöster waren längst reine Pfründnerstätten geworden, die 'Mönche' beweibt und also eine erbliche Kaste. Wie in Indien, war auch in Tibet wenigstens in einigen Klöstern, vor allem auch im Kloster Saskya, nahe den höchsten Höhen des Himalaya, die Superioratswürde selbst gentilcharismatisch erblich. Die Lamas von Saskya knüpften zuerst im 12. Jahrhundert Beziehungen zu der Dynastie Djingiz Khans an und im 13. Jahrhundert gelang ihnen die Bekehrung des Mongolenkaisers Kublai Khan, des Eroberers Chinas, welcher nun der weltliche Patron (tschakravati) der Kirche wurde. Wiederum war das Bedürfnis nach Erfindung einer Schrift für die Mongolen, also ein politisches Verwaltungsinteresse, offenbar entscheidend.
Daneben das Interesse an der Domestikation der schwer zu regierenden innerasiatischen Bevölkerung. Den Lamas des Saskya-Klosters wurde zu diesem Behuf (und weil sie Träger der Schriftkunde, also für die Verwaltung unentbehrlich waren) theokratische politische Macht eingeräumt. Diese Domestikation der bis dahin ausschließlich von Krieg und Raub lebenden Mongolenstämme gelang tatsächlich und hat welthistorisch wichtige Folgen gehabt. Denn die nun beginnende Bekehrung der Mongolen zum lamaistischen Buddhismus hat den bis dahin unausgesetzt nach Ost und West vorstoßenden Kriegszügen der Steppe ein Ziel gesetzt, sie pazifiziert und damit die uralte Quelle aller 'Völkerwanderungen' – deren letzte Timurs Vorstoß im 14. Jahrhundert war – endgültig verstopft. Mit dem Zusammenbruch der Mongolenherrschaft in China im 14. Jahrhundert verfiel zunächst auch die Theokratie der tibetanischen Lamas. Die chinesische nationale Ming-Dynastie trug Bedenken, einem Einzelkloster die Alleinherrschaft zu lassen und spielte konsequent mehrere charismatische Lamas gegeneinander aus. Ein Zeitalter blutiger Klosterfehden brach an, die orgiastisch-ekstatische (Sakti-) Seite des magischen Mahayanismus trat wieder in den Vordergrund, bis in dem neuen Propheten Tson-ka-pa, dem größten Heiligen des lamaistischen Buddhismus, ein Kirchenreformator großen Stils entstand, der im Einverständnis mit dem chinesischen Kaiser die Klosterdisziplin wieder herstellte, und, nachdem ihm im Religionsgespräch der Lama des Saskya-Klosters unterlegen war, der mit der gelben Mütze ausgezeichneten und daher meist sogenannten 'gelben' Kirche, der 'Tugendsekte' (DGe-lugs-pa) die Suprematie sicherte. Disziplinär bedeutete die neue Lehre Herstellung des Cölibats und Entwertung der tantristischen ekstatischen Magie, deren Ausübung den Mönchen der Tugendsekte verboten wurde. Sie blieb, durch ein Abkommen, den mit roten Mützen versehenen und – ähnlich wie der Taoismus vom Konfuzianismus – als Mönche niederen Rangs geduldeten Anhängern der alten Lehre überlassen. Es verschob sich der Schwerpunkt der Mönchsfrömmigkeit auf Meditation und Gebetsformel, ihrer Tätigkeit auf Predigt und Mission durch Disputation, für welche sie in Klosterschulen ausgebildet wurden: eine Quelle der Neuerweckung wissenschaftlicher Studien in den Klöstern. – Für die charakteristisch lamaistische Hierarchie der Klosterorganisation aber war die Verbindung einer besonderen Form der universell hinduistischen und insbesondere auch mahayanistischen Inkarnationslehre, in ihrer lamaistischen Fassung, mit dem Charisma gewisser berühmter Klöster der gelben Kirche wichtig, welche sich in der Generation nach Tsong-ka-pa deshalb vollzog, weil an Stelle der Erblichkeit der Superioren nun eine andere Art der Nachfolgerbestimmung treten mußte.
Diese war aber nur ein Sonderfall einer allgemeingültigen Vorstellungsweise. Wesen und Bedeutung der lamaistischen Inkarnationslehre sind an sich einfach. Sie setzt allerdings, darin in striktestem Gegensatz gegen alle altbuddhistische Philosophie, voraus, daß die charismatischen Qualitäten eines Heiligen bei ihrer Wiedergeburt auf den Träger derselben verstärkt übergehen, zieht damit aber letztlich nur die Konsequenz aus dem Umstand, daß die mahayanistische Theorie vom Wesen des Buddha dessen frühere Geburten bis zur vorletzten, der Bodhisattva-Geburt, als an Heiligkeit ansteigende Vorstufen seiner letzten Geburt (als Buddha) behandelte. Die früher erwähnte Heilsstufen-Lehre des Mahayanismus, welche ganz allgemein den Grad der Heiligkeit nach der Zahl der Tode bestimmte, die der Heilige vor der Erreichung der Arhat-Würde noch vor sich hatte, war lediglich eine Konsequenz daraus. Dies wurde nun konsequent durchgeführt: für jeden Lama, der als Asket, Zauberer, Lehrer, Ansehen und Beliebtheit genossen hatte, wurde nach seinem Tode die Wiedergeburt: der 'Khubilgan', gesucht und in irgendeinem Kinde gefunden und auferzogen. Jede folgende Khubilgan-Geburt des ursprünglichen Heiligen aber hatte und hat, normalerweise, steigendes Heiligkeitsprestige. Also wird andererseits auch nach rückwärts erforscht, wessen Wiedergeburt denn der ursprüngliche Träger des Charisma gewesen sei: stets irgendein Missionar, Zauberer oder Weiser der altbuddhistischen Zeit. Jeder Khubilgan ist Nothelfer kraft magischen Charisma. Ein Kloster, welches einen anerkannten Khubilgan in seinen Mauern besitzt oder gar mehrere darin zu versammeln verstanden hat, ist gewaltiger Einnahmen sicher, und die Lamas sind daher stets auf der Jagd nach der Entdeckung neuer Khubilgane. Diese Heiligkeitstheorie nun liegt auch der lamaistischen Hierarchie zugrunde.
Die Superioren, der charismatisch hochqualifizierten Klöster sind Inkarnationen großer Bodhisattvas, die nach dem Tode des jeweiligen Trägers sich neu in einem Kinde nach 7 mal 7 Tagen inkarnieren und also – etwa nach Art der Suche nach dem Apis-Stier – nun nach bestimmten Orakeln und Merkmalen aufgefunden werden müssen. Die beiden höchsten derartigen Inkarnationen waren und sind der Superior des jetzt größten Lama-Klosters, der Potala bei Lhasa, der Gryal ba, später gemäß dem ihm vom Mongolen khan nach der Neueinrichtung der lamaistischen Kirche in der Mongolei im 16. Jahrhundert verliehenen Titel meist 'Dalai-Lama' genannt, und der Superior des gewöhnlich als Teeshoo loombo bezeichneten Klosters, der Pan-c'en rin-po-ce, zuweilen nach seinem Kloster als 'Taschi Lama' bezeichnet, der erstere eine Inkarnation des Bodhisattva Pad-mapani, also Buddhas selbst, der letztere des Amithaba.
Der Theorie nach liegt in den Händen des Dalai-Lama mehr die Disziplin, in denjenigen des Taschi-Lama – entsprechend der spezifischen Bedeutung Amithabas als Gegenstand inbrünstiger mystischer Glaubensandacht – mehr die exemplarische Leitung des religiösen Lebens. Die politische Bedeutung des Dalai-Lama ist die weitaus größere, aber dem Taschi-Lama ist geweissagt, daß er nach dem Untergang der Machtstellung des ersteren die Religion wiederherstellen werde. Die Inkarnation des Dalai Lama wird in Klausur erzogen, mit 7 Jahren als Mönch aufgenommen und in strenger Askese bis zur Volljährigkeit weitergebildet. Gegenüber der göttlichen Würde namentlich des Dalai Lama, aber auch der anderen in ähnlicher Art inkarnierten höchsten lamaistischen Charisma-Träger, gaben der chinesischen Regierung die erforderlichen politischen Garantien: 1. die Mehrheit der untereinander zwar ungleichwertigen, aber doch konkurrierenden inkarnationen, vor allem des Dalai-Lama und Taschi-Lama, 2. die Residenzpflicht einer Anzahl der höchsten Lamas (jetzt nur noch eines) in Peking, 3. die bei Inkarnationen übliche hieratische Klausur des Dalai Lama, verbunden mit der Führung der weltlichen Verwaltung durch einen Hausmaier, den sie einsetzte, 4. die Pflicht gewisser hoher Inkarnationen, beim Hofe in Peking zu erscheinen und aller: das Exequatur von dort zu empfangen. Die Neubekehrung und lamaistische Organisation der Mongolen erfolgte im 16. Jahrhundert und es residieren seitdem dort als Stellvertreter das Dalai-Lama mehrerer Inkarnationen großer Heiliger, von denen die bedeutendste der Mai-dari Hutuktu, jetzt in Urga, ist. Bei der größeren Schwierigkeit, die Mongolei in Botmäßigkeit zu halten, ist jedoch seit der Niederwerfung der Dsungaren durch China von der chinesischen Regierung für die Inkarnationen dieses Hierarchen vorgeschrieben worden, daß sie nur in Tibet, nicht in der Mongolei selbst, stattfinden und gesucht werden dürfen. Die endgültige Einteilung der Rangklassen der Lamas, entsprechend den Rangklassen des mongolischen Adels, geschah ebenfalls bei der Neubekehrung des Mongolenkhans durch diesen.
Die Rekrutierung der Lama Klöster – deren jedes normalerweise zwischen 200 und 1500 Lamas enthält, die größten mehr – erfolgt in starkem Maße (wie übrigens diejenige auch vieler buddhistischer Klöster in China) durch Hingabe von Kindern, teilweise durch deren Verkauf, an das Kloster. In Tibet sorgt die feste Begrenzung des Nahrungsspielraums dafür, daß hinlängliche Nachfrage nach Klosterunterkunft besteht. Immerhin ist bei der hohen Machtstellung der Lamaklöster der Zufluß auch aus besitzenden Schichten nicht unbeträchtlich und Mönche dieser Provenienz bringen oft ein erhebliches Privatvermögen mit. Es ist selbstverständlich, aber anscheinend in den Lamaklöstern besonders stark ausgebildet, daß der Tatsache nach eine stark plutokratische Gliederung der Lama's besteht: die mittellosen Mönche arbeiten für die besitzenden und bedienen sie, im übrigen pflegen sie Korbflechterei und ähnliche Gewerbe, sammeln Pferdemist zur Düngung und treiben Handel. Keuschheit als Pflicht verlangt nur die orthodox-gelbe Kirche, Fleisch- und Alkoholgenuß gestattet auch sie. Der Unterricht wird auch in kleineren Klöstern noch jetzt gepflegt und zwar in 4 Fakultäten: 1. der theologischen Fakultät, der wichtigsten, die zugleich die Leitung des Klosters hat, weil sie die Weihen erteilt, 2. der medizinischen (empirische Kräuterkunde für den mönchischen Hausarzt), 3. Tsing Ko (Ritual), die altklassische Lehre, hier im wesentlichen in die Beibringung der Kenntnis der Regeln für Totenmessen abgewandelt, 4. Tsu pa (Mystik), Schulung in der Tantra-Askese für schamanistische Zwecke. Im Unterricht spielen, ganz dem alten Charakter aller indischen Erziehung entsprechend, noch heut Preisdisputationen (um eine Monatspfründe) eine Rolle. Die Weihen bringen den Studenten (dapa) vom Novizen (getsul) zum Gelong (Vollmönch) und durch weitere Stufen (zusammen 5) bis zum Khan po hinauf, der in der alten literarischen Hierarchie die höchste Stufe des niederen Klerus darstellte und als Klostersuperior die Disziplin (Macht über Tod und Leben) hatte. Der Rang des höheren Klerus, vom Khubilgan angefangen (darüber die Hutuktus, schließlich der Dalailama und Pon c'en) sind nicht durch Weihen zu erlangen, sondern nur durch Wiedergeburt. Die Mönche haben gegen den Islam als Glaubenskämpfer mit Bravour gefochten und sind vielfach auch heute – im Gegensatz zu den Laien – wehrhaft. Im Uebrigen ist die Zeit der Lama's weit stärker als in irgend welchen anderen buddhistischen Klöstern durch gemeinsamen Kult ausgefüllt.
Eine Darstellung des lamaistischen Pantheon hätte für unsere speziellen Zusammenhänge keinen Wert. Es ist ein modifiziertes Mahayana-Pantheon unter noch stärkerer Anreicherung durch nichtbuddhistische, vedische, hinduistische (namentlich çivaitische) und durch lokale tibetanische Götter und Dämonen und insbesondere auch unter Heranziehung der altindischen volkstümlichen weiblichen (Sakti-)Gott heiten, wie sie der später kurz zu besprechende magische Tantrismus geformt hatte: auch den Buddhas werden hier göttliche Gattinnen beigeordnet, – teilweise die gleichen, welche im späteren Hinduismus dem Vischnu beigegeben wurden. Der intellektualistische Mönchscharakter aller buddhistischen Religiosität hat immerhin auch hier die orgiastisch-ekstatischen, namentlich sexualorgiastischen, Züge des Tantrismus stark temperiert, wie wir das im Hinduismus schon sahen und noch weiter sehen werden. Dagegen ist die praktische Religiosität, vor allem die Laienreligiosität, reine Hagiolatrie, vor allem Anbetung der Lamas selbst, magische Therapeutik und Divination ohne alle ethische Rationalisierung der Lebensführung der Laien. Neben ihren Fronleistungen und Abgaben für die Klöster kommen die Laien nur als Wallfahrer und Spender von Gaben in Betracht.
Die Heilssuche der Lamas selbst trägt buddhistische und also hinduistische Züge insofern, als der höchste Heilsweg auch hier in methodisch geregelter Meditation besteht. Praktisch ist sie fast reiner Ritualismus, speziell Tantrismus und Mantrismus geworden und die Mechanisierung des Gebetsformelkults durch Gebetsmühlen und Gebetslappen, daneben durch Rosenkränze und ähnliche Mittel ist erst im Lamaismus zu ihrer vollen Konsequenz entwickelt worden. Der jeweilige Grad der ethischen Klosterdiszi plin hängt sehr wesentlich von der Ordnung der politischen Verhältnisse ab und ist meist sehr gering. Die Bauten, wie das Berg-Kloster Potala bei Lhasa, die Existenz der – heute verfallenen – Wissenschaft selbst in Klöstern zweiten Ranges und die Entstehung einer immerhin umfangreichen religiösen Literatur, sowie noch mehr einer Aufspeicherung von Kunstwerken zum Teil ersten Ranges in diesen Weide- und Wüstengebieten, in meist 5000 Meter Höhe über dem Meer auf einem 8 Monate des Jahres gefrorenen Boden und mit einer reinen Nomaden-Bevölkerung ist unter allen Umständen eine eindrucksvolle Leistung, die nur der hierarchisch straff organisierte lamaistische Kloster-Buddhismus mit seiner schrankenlosen Macht über die Laien vollbringen konnte. Die alte chinesische militärische Fronorganisation einerseits, die lamaistische mönchische Asketen–Organisation mit ihren frondenden, steuernden und spendenden Untertanen andererseits erzeugten hier Kultur auf Gebieten, welche vom kapitalistischen Rentabilitätsstandpunkt aus teils zur allerextensivsten ewigen Weide, teils geradezu zur Wüste, jedenfalls aber nicht zum Standort von großen Bauten und künstlerischer Produktion bestimmt sein würden, und die mit dem Verfall jener Organisationen auch vermutlich dem von jeher über ihnen schwebenden Schicksal ewiger Versandung entgegengehen werden...
Blicken wir nach diesem, gegenüber dem unerhörten Reichtum der Gestaltungen, überaus oberflächlichen Rundgang durch die asiatische Kulturwelt zurück, so wird sich etwa Folgendes sagen lassen:
Für Asien als Ganzes hat China etwa die Rolle Frankreichs im modernen Occident gespielt. Aller weltmännische 'Schliff' stammt von dort, von Tibet bis Japan und Hinterindien. Dagegen ist Indien etwa die Bedeutung des antiken Hellenentums zugefallen. Es gibt wenig über praktische Interessen hinausgehendes Denken in Asien, dessen Quelle nicht letztlich dort zu suchen wäre. Vor allem haben für ganz Asien die indischen, orthodoxen und heterodoxen, Erlösungsreligionen annähernd die Rolle des Christentums in Anspruch genommen. Mit dem einen großen Unterschied: daß abgesehen von lokalen und meist auch vorübergehenden Ausnahmen keine von ihnen dauernd zur alleinherrschenden Konfession in dem Sinn erhoben worden ist, wie dies bei uns im Mittelalter und bis nach dem westfälischen Frieden der Fall war. Asien war und blieb, im Prinzip, das Land der freien Konkurrenz der Religionen, der 'Toleranz' im Sinne etwa der Spätantike. Das heißt also: unter Vorbehalt der Schranken der Staatsräson, – die schließlich ja, nicht zu vergessen, auch bei uns heute als Grenzen aller religiösen Duldung fortbestehen, nur mit anderer Wirkungsrichtung. Wo diese politischen Interessen irgendwie in Frage kamen, hat es auch in Asien an Religionsverfolgungen größten Stiles nicht gefehlt. Am stärksten in China, aber auch in Japan und Teilen von Indien. Wie in Athen in der Zeit des Sokrates, so konnte ferner auch in Asien jederzeit die Deisidaimonie ein Opfer fordern. Und endlich haben Religionskriege der Sekten und militarisierten Mönchsorden auch in Asien, bis in das 19. Jahrhundert, ihre Rolle gespielt. Aber im ganzen bemerken wir sonst jenes Nebeneinander von Kulten, Schulen, Sekten, Orden aller Art, welches auch der occidentalen Antike eignete. Dabei waren freilich jene konkurrierenden Richtungen in den Augen der jeweiligen Mehrheit der herrschenden Schichten und oft auch der politischen Mächte keineswegs gleichwertig. Es gab orthodoxe und heterodoxe und unter den orthodoxen mehr oder minder klassische Schulen, Orden und Sekten. Vor allem – und das ist für uns besonders wichtig – schieden sie sich auch sozial voneinander. Einerseits (und zum kleineren Teil) je nach den Schichten, in denen sie heimisch waren. Andererseits aber (und hauptsächlich) je nach Art des Heils, das sie den verschiedenen Schichten ihrer Anhänger spendeten. Die erste Erscheinung fand sich teils so, daß einer, jede Erlösungsreligiosität schroff ablehnenden, sozialen Oberschicht volkstümliche Soteriologien in den Massen gegenüberstanden: den Typus dafür gab China ab. Teils so, daß verschiedene soziale Schichten verschiedene Formen der Soteriologie pflegten. Diese Erscheinung ist dann in den meisten Fällen, nämlich in allen denen, wo sie nicht zu sozial geschichteten Sekten führte, mit der zweiten identisch: Die gleiche Religion spendet verschiedene Arten von Heilsgütern und nach diesen ist die Nachfrage in den verschiedenen sozialen Schichten verschieden stark. Mit ganz wenigen Ausnahmen kannten die asiatischen Soteriologien Verheißungen, die nur den exemplarisch, meist: mönchisch, Lebenden zugänglich waren, und andre, die für die Laien galten. Fast ausnahmslos alle Soteriologien indischen Ursprungs haben diesen Typus. Die Gründe beider Erscheinungen waren gleichartige. Vor allem zwei untereinander eng verknüpfte. Einmal die Kluft, welche den literarisch 'Gebildeten' von der aliterarischen Masse der Banausen abhob. Dann die damit zusammenhängende, allen Philosophien und Soteriologien Asiens schließlich gemeinsame Voraussetzung: daß Wissen, sei es literarisches Wissen oder mystische Gnosis, letztlich der eine absolute Weg zum höchsten Heil im Diesseits und Jenseits sei. Ein Wissen, wohlgemerkt, nicht von den Dingen dieser Welt, vom Alltag der Natur und des sozialen Lebens und den Gesetzen, die beide beherrschen. Sondern ein philosophisches Wissen vom 'Sinn' der Welt und des Lebens. Ein solches Wissen kann mit den Mitteln empirischer occidentaler Wissenschaft selbstverständlich nie ersetzt werden und soll auch von ihr, ihrem eigensten Zweck nach, gar nicht erstrebt werden. Es liegt jenseits ihrer. Asien, und das heißt wiederum: Indien, ist das typische Land des intellektuellen Ringens einzig und allein nach 'Weltanschauung' in diesem eigentlichen Sinn des Worts: nach einem 'Sinn' des Lebens in der Welt. Es kann hier versichert werden – und angesichts der Unvollständigkeit der Darstellung muß es bei dieser nicht voll bewiesenen Versicherung freilich sein Bewenden haben: daß es auf dem Gebiet des Denkens über den 'Sinn' der Welt und des Lebens durchaus nichts gibt, was nicht, in irgendeiner Form, in Asien schon gedacht worden wäre. Jenes, nach der Natur seines eigenen Sinnes unvermeidlich und in aller Regel auch tatsächlich den Charakter der Gnosis an sich tragende Wissen, welches das asiatische Denken erstrebte, galt, aller genuin asiatischen und das heißt: indischen, Soteriologie als der einzige Weg zum höchsten Heil, zugleich aber als der einzige Weg zum richtigen Handeln. Nirgends ist daher der allem Intellektualismus naheliegende Satz so selbstverständlich gewesen: daß die Tugend 'lehrbar' sei, und daß das richtige Erkennen richtiges Handeln zur ganz unfehlbaren Folge habe. Selbst in den volkstümlichen Legenden z.B. des Mahayanismus, welche für die bildende Kunst etwa die Rolle unserer biblischen Geschichten spielten, ist es überall die ganz selbstverständliche Voraussetzung. Nur Wissen gibt – je nachdem – ethische oder magische Macht über sich selbst oder über andere. Durchweg ist jene 'Lehre' und dies 'Erkennen' des zu Wissenden nicht ein rationales Darbieten und Erlernen empirisch-wissenschaftlicher Kenntnisse, welche die rationale Beherrschung der Natur und der Menschen ermöglichen, wie im Occident. Sondern es ist das Mittel mystischer und magischer Herrschaft über sich und die Welt: Gnosis. Sie will durch ein intensivstes Training des Körpers und Geistes: entweder durch die Askese, oder, und zwar regelmäßig, durch angestrengte methodisch geregelte Meditation errungen werden. Daß das Wissen, der Sache nach, mystischen Charakters blieb, hatte zwei wichtige Folgen. Einmal den Heilsaristokratismus der Soteriologie. Denn die Fähigkeit mystischer Gnosis ist ein Charisma und bei weitem nicht jedem zugänglich. Dann aber und damit zusammenhängend den asozialen und apolitischen Charakter. Die mystische Erkenntnis ist nicht, mindestens nicht adäquat und rational, kommunikabel. Die asiatische Soteriologie führt den das höchste Heil Suchenden stets in ein hinterweltliches Reich rational ungeformten und eben wegen dieser Ungeformtheit göttlichen Schauens, Habens, Besitzens, Besessenseins von einer Seligkeit, die nicht von dieser Welt ist und doch in diesem Leben durch die Gnosis errungen werden kann und soll. Sie wird bei allen höchsten Formen des asiatischen mystischen Schauens als 'Leere': – von der Welt und dem was sie bewegt nämlich – erlebt. Dies entspricht ja dem normalen Sinncharakter der Mystik durchaus, ist nur in Asien in seine letzten Konsequenzen gesteigert. Die Entwertung der Welt und ihres Treibens ist schon rein psychologisch die unvermeidliche Folge dieses, an sich rational nicht weiter deutbaren, Sinngehalts des mystischen Heilsbesitzes. Rational ausgedeutet wird dieser mystisch erlebte Heilszustand als: der Gegensatz der Ruhe zur Unrast. Die erste ist das Göttliche, die letzte das spezifisch Kreatürliche, daher letztlich entweder geradezu Scheinhafte, oder doch soteriologisch Wertlose, zeitlich-räumlich Gebundene und Vergängliche. Ihre rationalste und deshalb in Asien fast universell zur Herrschaft gelangte Ausdeutung erfuhr diese erlebnismäßig bedingte innere Stellungnahme zur Welt durch die indische Samsara- und Karman-Lehre. Dadurch gewann die soteriologisch entwertete Welt des realen Lebens einen relativen rationalen Sinn. In ihr herrscht – nach den rational höchstentwickelten Vorstellungen – das Gesetz des Determinismus. In der äußeren Natur, nach der namentlich in Japan entwickelten mahayanistischen Lehre, die strenge Kausalität in unserem Sinn. In den Schicksalen der Seele der ethische Vergeltungsdeterminismus des Karman. Aus ihnen gibt es kein Entrinnen außer in der Flucht, durch die Mittel der Gnosis, in jenes hinterweltliche Reich, mag das Schicksal der Seele dabei nun einfach als ein 'Verwehen' oder als ein Zustand ewiger individueller Ruhe nach Art des traumlosen Schlafes, oder als ein Zustand ewiger ruhiger Gefühlsseligkeit im Anschauen des Göttlichen, oder als ein Aufgehen im göttlichen Alleinen gefaßt werden. Die Vorstellung jedenfalls, daß vergängliche Taten eines vergänglichen Wesens auf dieser Erde 'ewige' Strafen oder Belohnungen im 'Jenseits' zur Folge haben könnten, und zwar kraft Verfügung eines zugleich allmächtigen und gütigen Gottes, ist allem genuin asiatischen Denken absurd und geistig subaltern erschienen und wird ihm immer so erscheinen. Damit fiel aber der gewaltige Akzent, welchen, wie schon einmal gesagt, die occidentale Jenseitslehre soteriologisch auf die kurze Spanne dieses Lebens setzte, hinweg. Die Weltindifferenz war die gegebene Haltung, mochte sie nun die Form der äußerlichen Weltflucht annehmen oder die des zwar innerweltlichen, aber dabei weltindifferenten Handelns: einer Bewährung also gegen die Welt und das eigene Tun, nicht in und durch beides. Ob das höchste Göttliche persönlich oder, wie naturgemäß in der Regel, unpersönlich vorgestellt war, machte – und dies ist für uns nicht ohne Wichtigkeit – einen graduellen, nicht einen prinzipiellen Unterschied und selbst die selten, aber doch gelegentlich, vorkommende Ueberweltlichkeit eines persönlichen Gottes war nicht durchschlagend. Entscheidend war die Natur des erstrebten Heilsguts. Diese aber wurde letztlich determiniert dadurch, daß eine dem Denken über den Sinn der Welt um seiner selbst willen nachgehende Literatenschicht der Träger der Soteriologie war…
Die Lage des aliterarischen 'Mittelstandes' in Asien, der Kaufleute und der zu den Mittelstandsschichten gehörigen Teile des Handwerks, war infolge der Eigenart der asiatischen Soteriologie eine eigentümlich von occidentalen Verhältnissen abweichende. Ihre obersten Schichten haben die rationale Durchbildung der Intellektuellen-Soteriologien teilweise mitgetragen, namentlich soweit diese negativ die Ablehnung des Ritualismus und Buchwissens, positiv die alleinige Bedeutung des persönlichen Erlösungsstrebens propagierten. Allein der doch schließlich gnostische und mystische Charakter dieser Soteriologien bot keine Grundlage für eine Entwicklung der ihnen adäquaten methodisch rationalen innerweltlichen Lebensführung dar. Sie sind daher, soweit ihre Religiosität unter dem Einfluß der Erlösungslehren sublimiert wurde, Träger der Heilandsreligiosität in ihren verschiedenen Formen geworden. Auch hier wirkte aber der penetrant gnostische und mystische Charakter aller asiatischen Intellektuellensoteriologie und die innere Verwandtschaft von Gottinnigkeit, Gottesbesitz und Gottesbesessenheit, von Mystiker und Magier entscheidend ein. Ueberall in Asien, wo sie nicht, wie in China und Japan, gewaltsam niedergehalten wurde, nahm die Heilandsreligiosität die Form der Hagiolatrie an und zwar der Hagiolatrie lebender Heilande: der Gurus und der ihnen gleichartigen, sei es mehr mystagogischen, sei es mehr magischen Gnadenspender. Dies gab der Religiosität des aliterarischen Mittelstandes das entscheidende Gepräge. Die oft absolut schrankenlose Gewalt dieser, meist erblichen, Charismaträger ist nur in China und Japan, aus politischen Gründen und mit Gewalt, ziemlich weitgehend gebrochen worden, in China zugunsten der Obedienz gegenüber der politischen Literatenschicht, in Japan zugunsten einer Schwächung des Prestiges aller klerikalen und magischen Mächte überhaupt. Sonst ist es in Asien überall jene charismatische Schicht gewesen, welche die praktische Lebensführung der Massen bestimmte und ihnen magisches Heil spendete: die Hingabe an den 'lebenden Heiland' war der charakteristische Typus der asiatischen Frömmigkeit. Neben der Ungebrochenheit der Magie überhaupt und der Gewalt der Sippe war diese Ungebrochenheit des Charisma in seiner ältesten Auffassung: als einer rein magischen Gewalt, der typische Zug der asiatischen sozialen Ordnung. Es ist den vornehmen politischen oder hierokratischen Literatenschichten zwar im allgemeinen gelungen, die massive Orgiastik zur Heilandsminne, Andacht oder zur hagiolatrischen Formalistik und Ritualistik zu sublimieren oder zu denaturieren, – übrigens mit verschieden vollständigem Erfolg, am meisten in China, Japan, Tibet, dem buddhistischen Hinterindien, am wenigsten in Vorderindien. Aber die Herrschaft der Magie zu brechen hat sie nur gelegentlich und nur mit kurzfristigem Erfolg überhaupt beabsichtigt und versucht. Nicht das 'Wunder', sondern der 'Zauber' blieb daher die Kernsubstanz der Massenreligiosität, vor allem der Bauern und der Arbeiterschaft, aber auch des Mittelstands. Beides – Wunder und Zauber – ist dem Sinn nach zweierlei. Man kann sich davon leicht beim Vergleich etwa occidentaler und asiatischer Legenden überzeugen. Beide können einander sehr ähnlich sehen und namentlich die altbuddhistischen und die chinesisch überarbeiteten Legenden stehen den occidentalen zuweilen auch innerlich nahe. Aber der beiderseitige Durchschnitt zeigt den Gegensatz. Das 'Wunder' wird seinem Sinn nach stets als Akt einer irgendwie rationalen Weltlenkung, einer göttlichen Gnadenspendung, angesehen werden und pflegt daher innerlich motivierter zu sein als der 'Zauber', der sei nem Sinn nach dadurch entsteht, daß die ganze Welt von magischen Potenzen irrationaler Wirkungsart erfüllt ist und daß diese in charismatisch qualifizierten, aber nach ihrer eigenen freien Willkür handelnden Wesen, Menschen oder Uebermenschen, durch asketische oder kontemplative Leistungen aufgespeichert sind. Das Rosenwunder der heiligen Elisabeth erscheint uns sinnvoll. Die Universalität des Zaubers dagegen durchbricht jeden Sinnzusammenhang der Geschehnisse. Man kann gerade in den typischen durchschnittlichen asiatischen Legenden, etwa der Mahayanisten, diesen innerweltlichen Deus ex machina in der scheinbar unverständlichsten Art mit dem ganz entgegengesetzten, ebenso tief unkünstlerischen, weil rationalistischen Bedürfnis, irgendwelche ganz gleichgültigen Einzelheiten des legendenhaften Geschehnisses möglichst nüchtern historisch zu motivieren, ineinandergreifen sehen. So ist denn der alte Schatz der indischen Märchen, Fabeln und Legenden, die geschichtliche Quelle der Fabelliteratur der ganzen Welt, durch diese Religiosität der zaubernden Heilande später in eine Art von Kunstliteratur absolut unkünstlerischen Charakters umgestaltet worden, deren Bedeutung für ihr Lesepublikum etwa der Emotion durch die populären Ritterromane, gegen welche Cervantes zu Felde zog, entspricht…
Im Occident ist das Entstehen der rationalen innerweltlichen Ethik an das Auftreten von Denkern und Propheten geknüpft, die, wie wir sehen werden, auf dem Boden politischer Probleme eines sozialen Gebildes erwuchsen, welches der asiatischen Kultur fremd war: des politischen Bürgerstandes der Stadt, ohne die weder das Judentum noch das Christentum noch die Entwicklung des hellenischen Denkens vorstellbar sind. Die Entstehung der 'Stadt' in diesem Sinn aber war in Asien teils durch die erhaltene Ungebrochenheit der Sippenmacht, teils durch die Kastenfremdheit gehemmt.
Die Interessen des asiatischen Intellektuellentums, soweit sie über den Alltag hinausgingen, lagen meist in anderer als in politischer Richtung. Selbst der politische Intellektuelle: der Konfuzianer, war mehr ästhetisch kultivierter Schriftgelehrter und allenfalls Konversations-(also in diesem Sinn: Salon-)Mensch als Politiker. Politik und Verwaltung war nur seine Pfründnernahrung, die er im übrigen praktisch durch subalterne Helfer besorgen ließ. Der orthodoxe oder heterodoxe, hinduistische und buddhistische Gebildete dagegen fand seine wahre Interessensphäre ganz außerhalb der Dinge dieser Welt: in der Suche nach dem mystischen, zeitlosen Heil der Seele und dem Entrinnen aus dem sinnlosen Mechanismus des 'Rades' des Daseins. Um darin ungestört zu sein, mied der hinduistische, um die Feinheit der ästhetischen Geste sich nicht vergröbern zu lassen, mied der konfuzianische Gentleman die nähere Gemeinschaft mit dem westländischen Barbaren. Es schied ihn von diesem die nach seinem Eindruck strotzende, aber ungebändigte und unsublimierte Ungehemmtheit der Leidenschaften und der Mangel an Scheu, mit welchem ihm gestattet wurde, sich in Lebensführung, Geste, Ausdruck zu entblößen: die in diesem Sinne fehlende Herrschaft über sich selbst. Nur hatte die spezifisch asiatische 'Beherrschung' seiner selbst wiederum ihr eigentümliche Züge, welche vom Occidentalen im ganzen als rein 'negativ' gewertet werden mußten. Denn auf welchen Mittelpunkt war jene stets wache Selbstbeherrschung, welche alle asiatischen Lebensmethodiken ohne alle Ausnahme dem Intellektuellen, Gebildeten, Heilssucher vorschrieben, letztlich gerichtet? Was war der letzte Inhalt jener konzentriert angespannten 'Meditation' oder jenes lebenslangen literarischen Studiums, welche sie, wenigstens wo sie den Charakter des Vollendungs-Strebens annahmen, als höchstes Gut gegen jene Störungen von außen gewahrt wissen wollten? Das taoistische Wu wei, die hinduistische 'Entleerung' von Weltbeziehungen und Weltsorgen, und die konfuzianische 'Distanz' von den Geistern und der Befassung mit fruchtlosen Problemen lagen darin auf der gleichen Linie. Das occidentale Ideal der aktiv handelnden, dabei aber auf ein, sei es jenseitig religiöses, sei es innerweltliches, Zentrum bezogenen 'Persönlichkeit' würden alle asiatischen höchstentwickelten Intellektu ellensoteriologien entweder als in sich letztlich widerspruchsvoll oder als banausisch fachmäßig vereinseitigt, oder als barbarische Lebensgier ablehnen. Wo es nicht die Schönheit der traditionellen und durch das Raffinement des Salons sublimierten Geste rein als solche ist, wie im Konfuzianismus, da ist es das hinterweltliche Reich der Erlösung vom Vergänglichen, wohin alle höchsten Interessen weisen und von wo aus die 'Persönlichkeit' ihre Würde empfängt. In den höchsten, nicht nur den orthodox buddhistischen, Konzeptionen heißt dies 'Nirwana'. Zwar nicht sprachlich, wohl aber sachlich, wäre es ganz unbedenklich, dies, wie es populär oft geschah, mit 'Nichts' zu übersetzen. Denn unter dem Aspekt der 'Welt' und von ihr aus gesehen, wollte es ja in der Tat nichts anderes sein. Freilich: vom Standpunkt der Heilslehre aus ist der Heilszustand meist anders und sehr positiv zu prädizieren. Aber es darf schließlich doch nicht vergessen werden: daß das Streben des typisch asiatischen Heiligen auf »Entleerung« ging, und daß jener positive Heilszustand der unaussagbaren todentronnenen diesseitigen Seligkeit als positives Komplement des Gelingens zunächst nur erwartet wurde. Aber nicht immer auch erreicht. Im Gegenteil: ihn wirklich, als Besitz des Göttlichen, haben zu können, war das hohe Charisma der Begnadeten. Wie stand es aber mit dem großen Haufen, der ihn nicht erreichte? Nun, bei ihnen war eben in einem eigentümlichen Sinn 'das Ziel Nichts, die Bewegung Alles': – eine Bewegung in der Richtung der 'Entleerung'.
Der Asiate, gerade der ganz- oder halbintellektuelle Asiate macht dem Occidentalen leicht den Eindruck des 'Rätselhaften' und 'Geheimnisvollen'. Man sucht dem vermuteten Geheimnis durch 'Psychologie' beizukommen. Ohne nun natürlich irgendwie zu leugnen, daß psychische und physische Unterschiede der Disposition bestehen: – übrigens sicher nicht größere, als zwischen Hindus und Mongolen, die dennoch beide der gleichen Soteriologie zugänglich gewesen sind, – muß doch betont werden, daß dies nicht der primäre Weg zum Verständnis ist. Durch Erziehung eingeprägte und durch die objektive Lage aufgezwungene Interessenrichtungen, nicht 'Gefühlsgehalte', sind das zunächst Greifbare. Das für den Occidentalen vornehmlich Irrationale am Verhalten des Asiaten war und ist durch zeremonielle und rituelle Gepflogenheiten bedingt, deren 'Sinn' er nicht versteht, – wie übrigens, bei uns ebenso wie in Asien, der ursprüngliche Sinn solcher Sitten dem, der in ihnen aufgewachsen ist, selbst oft nicht mehr klar zu sein pflegt. Darüber hinaus pflegt die reservierte würdevolle Contenance und das höchst bedeutsam erscheinende Schweigen des asiatischen Intellektuellen die occidentale Neugier zu foltern. Bezüglich dessen aber, was letztlich hinter diesem Schweigen an Inhalten steht, wird es vielleicht oft gut sein, sich eines naheliegenden Vorurteils zu entschlagen. Wir stehen vor dem Kosmos der Natur und meinen: sie müsse doch, sei es dem sie analysierenden Denker, sei es dem auf ihr Gesamtbild schauenden und von ihrer Schönheit ergriffenen Betrachter, irgendein 'letztes Wort' über ihren 'Sinn' zu sagen haben. Das Fatale ist – wie schon W. Dilthey gelegentlich bemerkt hat –, daß eben die 'Natur' ein solches 'letztes Wort' entweder nicht zu verraten hat oder dazu sich nicht in der Lage sieht. Aehnlich steht es recht oft mit dem Glauben, daß, wer geschmackvoll schweigt, wohl viel zu verschweigen haben müsse. Das ist aber nicht der Fall, beim Asiaten so wenig wie sonst, so gewiß es wahr ist, daß die soteriologischen Produkte der asiatischen Literatur die meisten auf diesem eigenartigen Gebiet auftauchenden Probleme weit rücksichtsloser durchgearbeitet haben, als dies der Occident getan hat. –
Das Ausbleiben des ökonomischen Rationalismus und der rationalen Lebensmethodik überhaupt in Asien ist, soweit dabei andere als geistesgeschichtliche Ursachen mitspielen, vorwiegend bedingt durch den kontinentalen Charakter der sozialen Gebilde, wie ihn die geographische Struktur hervorbrachte…
Die asiatischen Völker haben sich überwiegend auf den Standpunkt des Ausschlusses oder der äußersten Beschränkung des Fremdhandels gestellt. So, bis zur gewaltsamen Oeffnung, China, Japan, Korea, noch jetzt Tibet, in wesentlich minderem, aber doch fühlbarem Maße auch die meisten indischen Gebiete. Bedingt war die Einschränkung des Fremdhandels in China und Korea durch den Prozeß der Verpfründung, welche automatisch zur traditionalistischen Stabilität der Wirtschaft führte. Jede Verschiebung konnte Einnahme-Interessen eines Mandarinen gefährden. In Japan wirkte das Interesse des Feudalismus an der Stabilisierung der Wirtschaft ähnlich. Ferner – und dies galt ebenso für Tibet – wirkten dahin rituelle Gründe: das Betreten heiliger Stätten durch Fremde beunruhigte die Geister und konnte magische Uebel zur Folge haben: die Reiseschilderungen lassen (namentlich für Korea) erkennen, wie die Bevölkerung beim Erscheinen von Europäern an den heiligen Stätten von wahnsinniger Angst vor dessen Folgen ergriffen zu werden pflegte. In Indien – dem Gebiet geringster Abgeschlossenheit – haben doch die zunehmend wirksame rituelle Verdächtigkeit des Reisens, zumal im rituell unreinen Barbarengebiete, gegen den Aktivhandel, politische Bedenken für möglichste Einschränkung der Fremdenzulassung gewirkt. Politische Bedenken waren in allen übrigen, besonders aber den ostasiatischen Gebieten, auch der letzte entscheidende Grund, weshalb die politischen Gewalten der rituellen Fremdenfurcht freie Bahn ließen. Hat nun diese strenge Klausur der einheimischen Kultur so etwas wie ein 'Nationalgefühl' entstehen lassen? Die Frage muß verneint werden. Die Eigenart der asiatischen Intellektuellenschichten hat im wesentlichen verhindert, daß 'nationale' politische Gebilde auch nur von der Art entstanden, wie sie immerhin schon seit der Spätzeit des Mittelalters im Occident sich entwickelten, – wenn auch die volle Konzeption der Idee der Nation auch bei uns erst von den modernen occidentalen Intellektuellenschichten entfaltet worden ist. Den asiatischen Kulturgebieten fehlte (im wesentlichen) die Sprachgemeinschaft. Die Kultursprache war eine Sakralsprache oder eine Sprache der Literaten: Sanskrit im Gebiet des vornehmen Indertums, die chinesische Mandarinensprache in China, Korea, Japan. Teils entsprechen diese Sprachen in ihrer Stellung dem Lateinischen des Mittelalters, teils dem Hellenischen der orientalischen Spätantike oder dem Arabischen der islamischen Welt, teils dem Kirchenslavischen und Hebräischen in den betreffenden Kulturgebieten…
In China aber war die Kluft, welche die konfuzianische ästhetische Schriftkultur von allem Volkstümlichen trennte, so ungeheuer, daß hier lediglich eine bildungsständische Gemeinschaft der Literatenschicht bestand und das Bewußtsein einer Gemeinsamkeit im übrigen nur soweit reichte, wie ihr unmittelbarer, freilich nicht geringer Einfluß: Das Imperium war, sahen wir, im Grunde genommen ein Bundesstaat der Provinzen, zu einer Einheit verschmolzen nur durch den obrigkeitlichen periodischen Austausch der überall in ihren Amtsbezirken landfremden hohen Mandarinen. Immerhin war in China doch, wie in Japan, eine den rein politischen Interessen zugewendete und dabei literarische Schicht vorhanden. Eben diese fehlte aber in ganz Asien, wohin immer die spezifisch indische Soteriologie ihren Fuß setzte, – außer wo sie, wie in Tibet, als Klostergrundherrenschicht über der Masse schwebte, eben deshalb aber 'nationale' Beziehungen zu ihr nicht hatte. Die asiatischen Bildungsschichten blieben mit ihren eigensten Interessen ganz 'unter sich'…
Philosophy : Europe : Germany
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Religion : Buddhism