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1920.5

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Weber, Max. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen : Konfuzianismus und Taoismus
VI. Die konfuzianische Lebensorientierung.

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Wie von der Macht des zunehmend expropriierten Feudalismus und des nie entwickelten Bürgertums, so ist die Patrimonialbureaukratie auch von der Konkurrenz einer selbständigen Hierokratie verschont geblieben. Von einer sozial machtvollen Prophetie – sei es vorderasiatischen, iranischen oder indischen Gepräges – ist nicht das Geringste bekannt. Niemals sind im Namen eines überweltlichen Gottes ethische 'Forderungen' durch Propheten gestellt worden. Der ungebrochen gebliebene Charakter der Religiosität schließt ihre Existenz geradezu aus: die pontifikale, cäsaropapistische, Gewalt hat nur mit Feudalen, nicht mit Propheten, ernstlich zu kämpfen gehabt. Sie schaltete jede an solche auch nur erinnernde Bewegung als heterodoxe Häresie gewaltsam und systematisch aus. Nie ist die chinesische 'Seele' durch einen Propheten revolutioniert worden. 'Gebete' der Privaten gab es nicht: der rituelle, literarische, Amtsträger und vor allem: der Kaiser sorgten für alles. Nur sie konnten das.
Ein machtvolles Priestertum hat es, soweit geschichtliche Kunde reicht – mit den für den Taoismus zu machenden Vorbehalten – nicht gegeben. Vor allem keine eigene Erlösungslehre, keine eigene Ethik und: keine eigene Erziehung durch autonome religiöse Mächte. Es lebte sich also der intellektualistische Rationalismus einer Beamtenschicht frei aus, der hier wie überall im Innersten die Religionen verachtete, wo er ihrer nicht zur Domestikation benötigte, ihren berufsmäßigen Trägern aber nur dasjenige Maß von offizieller Geltung beließ, welches für jene Domestikationszwecke unerläßlich, und der starken traditionsgebundenen Macht der lokalen Sippenverbände gegenüber unausrottbar war. Jede weitere äußere und innere Entwicklung aber wurde radikal abgeschnitten. Staatsangelegenheit waren die Kulte der großen Gottheiten des Himmels und der Erde, verbunden mit einigen vergötterten Heroen und Spezialgeistern. Sie wurden nicht durch Priester, sondern durch die Träger der politischen Gewalt selbst, gepflegt. Staatlich vorgeschriebene 'Laienreligion' war allein der Glaube an die Macht der Ahnengeister und ihr Kult. Alle sonstige Volksreligiosität blieb – wie wir sehen werden – im Prinzip ein ganz systemloses Nebeneinander magischer und heroistischer Spezialkulte. Weit entfernt, daß der Rationalismus der Patrimonialbureaukratie diesen von ihm innerlich verachteten chaotischen Zustand systematisch umzuformen getrachtet hätte, akzeptierte er ihn vielmehr schlechthin. Denn einerseits mußte auch vom Standpunkt der konfuzianischen Staatsraison aus 'dem Volke die Religion erhalten' werden: ohne Glauben konnte, nach einem Wort des Meisters, die Welt nicht in Ordnung gehalten werden und seine Erhaltung war daher politisch sogar noch wichtiger als die Fürsorge für die Nahrung. Andererseits aber war die kaiserliche Gewalt ihrerseits das höchste religiös geweihte Gebilde. Sie stand in gewissem Sinne über dem Gewimmel der Volksgottheiten. Zwar ruhte die persönliche Stellung des Kaisers, wie wir sahen, ausschließlich auf seinem Charisma als Vollmachtträger ('Sohn') des Himmels, in dem seine Ahnen weilten. Aber – wie wir gleichfalls schon sahen – auch die Ehrung und Bedeutung der einzelnen Gottheiten war, ganz ebenso wie etwa diejenige des Heiligen eines neapolitanischen Kutschers oder Bootführers, noch gänzlich dem charismatischen Prinzip der Bewährung unterworfen. Gerade dieser charisma tische Charakter der Religiosität nun entsprach dem Selbsterhaltungsinteresse des Beamtentums. Denn alles Unheil, welches das Land betraf, desavouierte nun nicht die Beamtenschaft als solche, sondern nur allenfalls den einzelnen Beamten und den einzelnen Kaiser, dessen göttliche Legitimation dann verwirkt erschien. Oder: den Spezialgott. Es war also durch diese besondere Art von irrationaler Verankerung der irdischen Ordnungen das Optimum der Vereinigung von Legitimität der Beamtenmacht mit dem absoluten Minimum von selbständiger, mit dem Beamtentum denkbarerweise konkurrierender Gewalt überweltlicher Mächte und ihrer irdischen Vertretung erzielt. Jede Rationalisierung des Volksglaubens zu einer selbständigen, überweltlich orientierten Religion würde dagegen unentrinnbar eine selbständige Gewalt gegenüber der Beamtenmacht konstituiert haben. Dies 'Pragma' machte sich immer wieder, bei jedem Ansatz, einen Stein aus diesem geschichtlich verwachsenen Gebäude zu lösen, in Gestalt entschlossenen Widerstandes der Beamten geltend. Ein besonderes Wort für »Religion« kennt die Sprache nicht. Es gab: 1. 'Lehre' (einer Literatenschule), 2. »Riten«, ohne Unterschied: ob sie religiösen oder konventionellen Charakters waren. Der offizielle chinesische Namen für den Konfuzianismus war: 'Lehre der Literaten' (ju kiao).
Die Beziehung zum Religiösen, einerlei ob magischen oder kultischen Charakters, blieb dabei ihrem Sinn nach diesseitig gewendet, weit stärker und prinzipieller als dies auch sonst überall und immer die Regel ist. Gerade in den Kulten, welche neben dem eigentlichen Staatskult der großen Geister am meisten begünstigt wurden, spielte die Hoffnung auf Verlängerung des Lebens eine Hauptrolle und es ist möglich, daß der ursprüngliche Sinn aller eigentlichen 'Gottes'-Vorstellungen in China geradezu auf dem Glauben ruhte, daß es Menschen von höchster Vollkommenheit gelungen sei, sich dem Tode zu entziehen und in einem seligen Reich ewig zu leben. Jedenfalls gilt allgemein der Satz: Um des eigenen diesseitigen Schicksals willen: für langes Leben, Kinder und Reichtum, in sehr geringem Maße um des Wohlergehens der Ahnen selbst, gar nicht aber um der eigenen »jenseitigen« Schicksale willen verrichtete – in starkem Gegensatz gegen die ägyptische, ganz und gar auf das eigene Jenseitsschicksal abgestellten Totenpflege – der orthodoxe konfuzianische Chinese (anders: der Buddhist) seine Riten. Die, zwar nicht offizielle, aber tatsächlich überwiegende, Ansicht der aufgeklärten Konfuzianer ließ schon seit langem die Seele nach dem Tode überhaupt sich verflüchtigen, in die Luft zerstieben oder sonst untergehen. Diese Lehre wurde durch Wang Tschung's Autorität ge stützt, dessen Gottesbegriff, wie gesagt, widerspruchsvoll war: Gott ist nicht anthropomorph vorzustellen, aber doch 'Leib' (ein formloses Fluidum), in welches der ihm wesensähnliche Menschengeist beim Tode, der für das Individuum ein 'Verlöschen' ist, wieder aufgeht. Das endgültige Schwinden der persönlichen Gottes- und der Unsterblichkeitsidee – durch den Materialisten und Atheisten Tschu Fu Tse im 12. Jahrhundert erreicht –, hinderte nicht, daß nachher orthodoxe Philosophen, die an einen persönlichen Gott glaubten, sich fanden. Aber der offizielle Konfuzianismus, wie er im heiligen Edikt Kaiser Kang Hi's (17. Jahrh.) redet, steht seitdem, wie früher schon erwähnt, auf jenem Standpunkt.
Zum mindesten herrschte bei ihm seit langem allen Jenseitshoffnungen gegenüber eine absolut agnostische, wesentlich negative, Stimmung. Aber auch wo diese Stellungnahme nicht durchgedrungen oder durch die später zu besprechenden taoistischen und buddhistischen Einflüsse überwogen war, blieb doch das Interesse am eigenen Jenseitsschicksal gänzlich untergeordnet dem Interesse an dem möglichen Einfluß der Geister auf das diesseitige Leben.
Es findet sich zwar in China – wie fast überall in patrimonialen Verbänden – die 'messianische' Hoffnung auf einen diesseitigen Heiland-Kaiser. Aber nicht: als Hoffnung auf eine absolute Utopie, – wie in Israel.
Da sonst jede Eschatologie und jede Erlösungslehre, überhaupt jedes Greifen nach transzendenten Werten und Schicksalen fehlte, so blieb auch die staatliche Religionspolitik sehr einfach gestaltet. Zum einen Teil war sie Verstaatlichung des Kultbetriebes, zum anderen Gewährenlassen des aus der Vergangenheit überkommenen, für den Privatmann unentbehrlichen privatberuflich ausgeübten Zauberpriestertums.
Der Staatskult war absichtsvoll nüchtern und schlicht: Opfer, rituelles Gebet, Musik und rhythmischer Tanz. Alle orgiastischen Elemente waren streng – auch aus der offiziellen, pentatonischen, Musik offenbar absichtsvoll – ausgemerzt. Fast alle Ekstase und Askese, im offiziellen Kult auch: Kontemplation, fehlten und galten als Elemente einer Unordnung und irrationalen Erregung, welche dieser Beamtenrationalismus nicht ertrug und für ebenso gefährlich halten mußte, wie etwa der römische Amtsadel den Dionysoskult. Dem offiziellen Konfuzianismus fehlte natürlich das individuelle Gebet im okzidentalen Sinne des Worts. Er kannte nur Ritualformeln. Der Meister persönlich soll in Krankheit abgelehnt haben, daß für ihn gebetet werde und bekannt haben, daß er selbst es seit langen Jahren nicht getan habe. Gebete der Fürsten und hohen Beamten für das Wohl des politischen Verbandes dagegen sind von jeher und bis in die Gegenwart als wirksam geschätzt worden.
Es fehlte dem Konfuzianismus aus diesen Gründen auch notwendig die Erfahrung von der (ihm übrigens auch ganz gleichgültigen) ungleichen (religiösen) Qualifikation der Menschen und daher jeder Gedanke religiöser Differenzierung eines 'Gnadenstandes': dieser Begriff selbst mußte schon an sich ihm notwendig unbekannt bleiben.
Dem politischen Gegensatz der Patrimonialbureaukratie gegen den Feudalismus und jede geburtsständische Gliederung entsprach daher in der klassischen konsfuzianischen Lehre auch auf ethischem Gebiet die Voraussetzung der prinzipiellen Gleichheit der Menschen. Diese Vorstellung war, wie wir sahen, nichts urwüchsiges. Die Zeit des Feudalismus ruhte auf der Vorstellung von der charismatischen Verschiedenheit der Sippen der 'Edlen' gegenüber dem Volk. Und die Literaten-Herrschaft schuf die schroffe Kluft der Gebildeten gegenüber den Ungebildeten, dem 'dummen Volk' (yun min), wie es der Gründer der Ming-Dynastie (14. Jahrh.) nannte. Indessen die offizielle Theorie hielt sich doch nunmehr daran: daß nicht Geburt, sondern die im Prinzip allgemein zugängliche Bildung entscheide. Die 'Gleichheit' bedeutete dabei natürlich auch jetzt keine unbedingte Gleichheit aller naturgegebenen Qualitäten. Der eine besaß sehr wohl etwas mehr natürliche Anlage zu dem, was der andere sich erst erarbeiten mußte. Aber wenigstens das, was die niemals nach den Sternen greifende konfuzianische bureaukratische Staatsraison und Sozialethik verlangte, war jedem zu erreichen möglich. Und jeder hatte daher, eine gute staatliche Verwaltung vorausgesetzt, im übrigen den Grund seiner äußeren und inneren Erfolge oder Mißerfolge bei sich selbst zu suchen. Der Mensch war an sich gut, das Schlechte kam von außen, durch die Sinne, in ihn hinein, und die Unterschiede der Qualität waren Unterschiede der harmonischen Entwicklung des einzelnen: die charakteristische Konsequenz des Fehlens eines überweltlichen ethischen Gottes; daneben auch: eine Widerspiegelung der ständischen Verhältnisse im Patrimonialstaat. Freilich wollte der Vornehme seinen Namen nach seinem Tode geehrt wissen. Aber: ausschließlich um eigener Tüchtigkeit willen.
Prinzipiell nur die Lebenslage differenzierte den Menschen. Gleiche ökonomische Lage und gleiche Erziehung machte sie einander auch an Charakter wesensgleich. Und zwar war, wie schon vorweg bemerkt sei, materieller Wohlstand, – im denkbar schärfsten Gegensatz gegen die einmütige Ansicht aller christlichen Konfessionen –, ethisch betrachtet, nicht etwa in erster Linie Quelle von Versuchungen (obwohl natürlich solche anerkannt wurden), sondern vielmehr: das wichtigste Mittel zur Beförderung der Moral. Dies aus Gründen, die wir noch kennen lernen werden. Andererseits fehlte jede naturrechtliche Sanktionierung irgendeiner persönlichen Freiheitssphäre des einzelnen. Selbst ein Wort für 'Freiheit' war der Sprache fremd. Das ist aus der Eigenart des Patrimonial-staates und aus historischen Reminiszenzen ohne weiteres erklärlich. Das einzige praktisch schließlich – aber nach langen Perioden leiturgischer Negierung der Privatsphäre – mit leidlich sicheren (wie wir sahen, nicht im okzidentalen Sinn garantierten) Schranken umgebene Institut war: der private Sachgüterbesitz. Sonst gab es gesetzlich garantierte Freiheitsrechte nicht. Auch dies 'Privateigentum' an Sachgütern war nur faktisch relativ gesichert und genoß nicht den Nimbus jener Heiligkeit, wie sie z.B. in Aeußerungen Cromwells gegenüber den Levellern sich findet. Zwar die patrimonialistische Theorie, daß der Kaiser Niemandes Gast, der vorgesetzte Beamte nicht Gast der Untergeordneten sein könne, weil ihm von Rechts wegen aller Besitz des Untergebenen zu eigen gehöre, war wesentlich nur noch von zeremonialer Bedeutung. Aber die gelegentlich starken, offenbar vorwiegend fiskalisch bedingten Eingriffe der Amtsgewalt in die Art der Bewirtschaftung und Verteilung des Grundbesitzes hatten unter anderem auch den Nimbus des halb legendären Tsing-tien-Systems mit seinem patrimoni al regulierten 'Recht auf Land' durch alle Jahrhunderte hindurch lebendig erhalten. Und die in solchen Idealen sich äußernde nahrungspolitische Vorliebe für möglichste Gleichheit der Eigentumsverteilung im Interesse der Erhaltung der sozialen Ruhe paarte sich mit einer staatlichen Magazinpolitik ägyptischer Art im teuerungspolitischen Interesse. Materiale Gerechtigkeit, nicht formales Recht, war auch auf diesem Gebiet das Ideal des Patrimonialismus. Daher blieben Eigentum und Erwerb Probleme einerseits praktischer Zweckmäßigkeit, andererseits sozialethischer Fürsorge für die Ernährung der Massen, nicht aber einer naturrechtlich individualistischen Sozialethik, wie sie in der Neuzeit im Okzident gerade aus der Spannung zwischen formalem Recht und materialer Gerechtigkeit entsprang. Die gebildeten und regierenden Schichten sollten nach ihrer eigenen Ansicht begreiflicherweise eigentlich auch die am meisten Besitzenden sein. Aber das letzte Ziel war doch: möglichst universell verbreiteter Besitz im Interesse der universellen Zufriedenheit.
Göttliches unwandelbares Naturrecht gab es lediglich in Gestalt des in seinen magischen Wirkungen von jeher erprobten heiligen Zeremoniells und der heiligen Pflichten gegen die Geister der Ahnen. Eine naturrechtliche Entwicklung modern okzidentalen Gepräges hätte neben so manchem anderen auch eine Rationalisierung des positiv geltenden Rechtes vorausgesetzt, wie sie der Okzident im römischen Recht besaß. Dies aber war ein Erzeugnis zuerst: autonomen städtischen Geschäftslebens, welches feste Klageschemata erzwang, dann: der Rationalisierung durch die Kunstlehre der juristischen römischen Honoratiorenschicht und schließlich: der oströmischen Bureaukratie. In China fehlte ein Juristenstand, weil die Advokatur im okzidentalen Sinn fehlte. Und diese fehlte, weil dem Patrimonialismus des chinesischen Wohlfahrtsstaates mit seiner schwachen Amtsgewalt der Sinn für die formale Entwicklung des weltlichen Rechtes abging. Dem früher Gesagten ist hinzuzufügen: nicht nur galt kraft des Satzes: 'Willkür bricht Landrecht' das örtliche Herkommen auch contra legem. Sondern vor allem entschied der chinesische Richter, als typischer Patrimonialrichter, durchaus patriarchal, d.h. soweit die geheiligte Tradition ihm dazu Raum ließ, ausdrücklich nicht nach formalen Regeln: 'ohne Ansehen der Person'. Vielmehr weitgehend gerade umgekehrt je nach deren konkreter Qualität, und je nach der konkreten Situation: nach Billigkeit und Angemessenheit des konkreten Resultats. Dieser »salomonischen« Kadi-Justiz fehlte auch ein heiliges Gesetzbuch im Sinne des Islam. Die systematische kaiserliche Gesetzsammlung galt nur soweit als unverbrüchlich, als sie zwingende magische Tradition für sich hatte. Unter solchen Umständen fehlte auch die im Okzident, im Islam und in gewissem Umfange selbst in Indien bestehende Spannung zwischen heiligem und profanem Recht vollkommen. Eine Naturrechts-Lehre im Sinne der Antike (besonders der Stoa) und des Mittelalters hätte gerade jene Spannung philosophischer oder religiöser Postulate gegenüber der 'Welt' und eine daraus entspringende 'Urstands'-Lehre vorausgesetzt, wie sie offenbar im Konfuzianismus unmöglich erstehen konnte. Denn alle ethischen Zentralbegriffe, welche dafür erforderlich gewesen wären, waren ihm fremd. Davon später.
Unsere moderne okzidentale Rechtsrationalisierung war das Erzeugnis zweier nebeneinander wirkender Mächte. Einmal des kapitalistischen Interesses an streng formalem und daher – in seinem Funktionieren – möglichst wie eine Maschinerie kalkulierbarem Recht und, vor allem, Rechtsgang. Dann: des Beamtenrationalismus der absolutistischen Staatsgewalten mit seinem Interesse an kodifizierter Systematik und Gleichförmigkeit des, von einer rational geschulten und nach interlokal gleichmäßigen Avancementschancen strebenden Bureaukratie zu handhabenden, Rechtes. Wo auch nur eine der beiden Mächte fehlte, entstand kein modernes Rechtssystem. Denn der moderne Kapitalismus konnte, wie das angelsächsische Common Law zeigt, recht gut auf dem Boden eines unsystematischen, einer streng rechtslogischen Gliederung entbehrenden, aber: formalen, in der Art des Rechtsdenkens am römischen und kanonischen Recht geschulten und dabei – als Schöpfung einer Anwaltsklasse – die Autonomie der ökonomisch Mächtigen garantierenden, Rechtes leben. Der rationalistischen Bureaukratie andererseits lag formal die kompendiöse Zusammenfassung und, schon im Interesse der Ubiquität der Verwendbarkeit des Beamten, die Rechtsgleichmäßigkeit, vor allem die Ueberlegenheit der obrigkeitlichen Satzung gegenüber der Unverbrüchlichkeit des Herkommens: der Willkür der Autonomie der lokalen und sozialen Differenzierung des Rechtes, am Herzen. Inhaltlich aber, überall da wo sie allein zu schalten vermochte, nicht sowohl die formale juristische Vollendung der Rechtsnormen, als deren materiale 'Gerechtigkeit', die ja ihrem immanenten Ethos allein entsprechen konnte. Wo ihr nicht ökonomisch mächtige kapitalistische Interessen oder ein sozial mächtiger Juristenstand das Gegengewicht hielten, hat sie das Recht material rationalisiert und systematisiert, die formale, gegen die materiale 'Gerechtigkeit' gleichgültige, juristische Technik aber zerstört. Der chinesische Patrimonialismus hatte nun seit der Einheit des Reiches weder mit mächtigen und für ihn nicht zu bändigenden kapitalistischen Interessen, noch mit einem selbständigen Juristenstand zu rechnen. Wohl aber mit der Heiligkeit der Tradition, die allein seine eigene Legitimität verbürgte. Und ebenso mit den Intensitätsgrenzen seiner Verwaltungsorganisation. Daher fehlte nicht nur die Entwicklung einer formalen, Jurisprudenz, sondern ist auch eine systematische materiale Durchrationalisierung des Rechtes nie versucht worden. Die Rechtspflege behielt also im allgemeinen denjenigen Charakter, welcher der theokratischen Wohlfahrtsjustiz zu eignen pflegt.
So fehlte neben der philosophischen und theologischen auch die Entwicklung einer juristischen 'Logik'. Auch eine Entfaltung systematischen naturalistischen Denkens blieb aus. Die Naturwissenschaft des Okzidents mit ihrem mathematischen Unterbau ist eine Kombination rationaler, auf dem Boden der antiken Philosophie gewachsener, Denkformen mit dem auf dem Boden der Renaissance, und zwar zuerst nicht auf dem Gebiet der Wissenschaft, sondern auf demjenigen der Kunst, entstandenen technischen 'Experiment': dem spezifisch modernen Element aller naturalistischen Disziplinen. Die 'experimentierende' hohe Kunst der Renaissance war ein Kind einer einzigartigen Vermählung von zwei Elementen: des auf handwerksmäßiger Grundlage erwachsenen empirischen Könnens der okzidentalen Künstler und ihres, kulturhistorisch und sozial bedingten, durchaus rationalistischen Ehrgeizes: ihrer Kunst Ewigkeitsbedeu tung und sich selbst soziale Geltung dadurch zu gewinnen, daß sie sie zum gleichen Rang wie eine 'Wissenschaft' erhöben. Dies letzte gerade war das dem Okzident Spezifische. Hier steckte auch die stärkste Triebfeder der »Rückkehr« zur Antike, so, wie man diese verstand. Neben dem durch Lionardo repräsentierten Typus war namentlich die Musik, vor allem im 16. Jahrhundert mit seinen Experimentier-Klaviaturen (Zarlino), ein Mittelpunkt dieses mit dem charakteristischen künstlerischen »Natur«-Begriff der Renaissance operierenden gewaltigen Ringens. Besondere soziale Bedingungen für die hochgradig agonale Ausgestaltung der Kunstübung waren dabei, ebenso wie im Altertum, mitwirksam. Oekonomische und technische Interessen der nordeuropäischen Wirtschaft, vor allem: Bedürfnisse des Bergbaues, halfen dann den geistesgeschichtlichen Gewalten dabei, das Experiment in die Naturwissenschaft hinüberzutragen. Das Nähere gehört nicht hierher. Der virtuosenhaft verfeinerten chinesischen Kunst fehlte jeder dieser Antriebe zum rationalistischen Ehrgeiz (im Sinne der okzidentalen Renaissance), und der Agon der Herrenschicht mündete innerhalb der Verhältnisse der Patrimonialbureaukratie gänzlich in die Pfründner- und literarische Graduierten-Konkurrenz aus, die alles andere erstickte. Die relativ sehr geringe Entwicklung des gewerblichen Kapitalismus ließ überdies auch die für einen Uebergang von der empirischen zur rationalen Technik nötigen ökonomischen Prämien in China nicht entstehen). So blieb alles sublimierte Empirie.
Im Ergebnis konnte sich also hier die immanente Stellungnahme einer Beamtenschaft zum Leben, der nichts, keine rationale Wissenschaft, keine rationale Kunstübung, keine rationale Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Naturwissenschaft und Technik, keine göttliche und keine ebenbürtige menschliche Autorität Konkurrenz machte, in dem ihr eigentümlichen praktischen Rationalismus ausleben und eine ihr kongruente Ethik schaffen, begrenzt nur durch die Rücksicht auf die Mächte der Tradition in den Sippen und im Geisterglauben. Es trat ihr keines der anderen Elemente spezifisch modernen Rationalismus, welche für die Kultur des Westens konstitutiv waren, zur Seite, weder konkurrierend noch unterstützend. Sie blieb aufgepfropft auf eine Unterlage, welche im Westen schon mit der Entwicklung der antiken Polis im wesentlichen überwunden war. Es kann also die von ihr getragene Kultur annähernd als ein Experiment gelten: welche Wirkung rein von sich aus der praktische Rationalismus der Herrschaft einer Amtspfründnerschaft hat. Das Resultat dieser Lage war: der orthodoxe Konfuzianismus. Die Herrschaft der Orthodoxie war ein Produkt der Einheit des theokratischen Weltreiches mit seiner obrigkeitlichen Reglementierung der Lehre. In der Zeit der wilden Kämpfe der Teilstaaten haben wir, ganz ebenso wie in der Polis-Kultur der okzidentalen Antike, den Kampf und die Beweglichkeit der geistigen Richtungen. Die chinesische Philosophie in allen ihren Gegensätzen ist in etwa dem gleichen Zeitraum wie die der Antike entwickelt worden. Seit der Konsolidierung der Einheit, etwa mit dem Beginn unsrer Zeitrechnung, ist ein ganz selbständiger Denker nicht mehr aufgetreten. Und nur die Kämpfe der Konfuzianer, Taoisten und Buddhisten und, innerhalb der anerkannten oder zugelassenen konfuzianischen Lehre, die Kämpfe philosophischer und – damit zusammenhängend – verwaltungspolitischer Schulen blieben bestehen, bis die Mandschuherrschaft die konfuzianische Orthodoxie endgültig kanonisierte.
Der Konfuzianismus war, ebenso wie der Buddhismus, nur Ethik ('Tao', darin entsprechend dem indischen 'Dhamma'). Aber er war, im schärfsten Gegensatz zum Buddhismus ausschließlich innerweltliche Laiensittlichkeit. Und in noch schärferem Kontrast zu ihm war er: Anpassung an die Welt, ihre Ordnungen und Konventionen, ja, letztlich eigentlich nur ein ungeheurer Kodex von politischen Maximen und gesellschaftlichen Anstandsregeln für gebildete Weltmänner. Die kosmischen Ordnungen der Welt waren ja fest und unverbrüchlich, und nur ein Sonderfall von ihnen waren die Ordnungen der Gesellschaft. Die kosmischen Ordnungen der großen Geister wollten offensichtlich das Glück der Welt und insbesondere der Menschen. Die Ordnungen der Gesellschaft ebenso. Die 'glückliche' Ruhe des Reiches und das Gleichgewicht der Seele sollte und konnte also nur durch Einordnung in jenen in sich harmonischen Kosmos erreicht werden. Gelang diese im Einzelfalle nicht, so war menschlicher Unverstand, und zwar vor allem: ordnungswidrige Leitung des Staats und der Gesellschaft, daran schuld So wurde etwa in einem Edikt (im 19. Jahrhundert) das Vorherrschen schlechter Winde in einer Provinz darauf zurückgeführt, daß die Bevölkerung gewisse polizeiliche Pflichten (Auslieferung Verdächtiger) versäumt und dadurch die Geister in Unruhe versetzt habe, oder: daß Prozesse verschleppt werden. Die charismatische Auffassung von der Kaisergewalt und der Identität von Ordnung im Kosmos und in der Gesellschaft bedingte diese Grundvoraussetzung. Auf das Verhalten der Menschen, welche für die Leitung der als eine große patrimonial regierte Gemeinschaft gedachten Gesellschaft verantwortlich waren: der Beamten, kam daher alles an. Die bildungslose Masse des Volkes sollte der Monarch als Kinder behandeln. Materielle und ideelle Fürsorge für die Beamtenschaft dagegen und eine gute und achtungsvolle Beziehung zu ihr gehörte zu seinen ersten Pflichten. Der einzelne Privatmann aber diente dem Himmel am besten durch Entwicklung seiner eigenen wahren Natur, die unfehlbar das in jedem Menschen verborgene Gute zum Vorschein bringen werde. Alles war also ein Erziehungsproblem mit dem Ziel der Selbstentwicklung aus der eigenen Anlage heraus. Es gab das 'radikal Böse' nicht, – man muß bis in das 3. Jahrhundert vor Chr. zurückgehen, um Philosophen zu finden, welche die heterodoxe Lehre von der ursprünglichen Verderbtheit des Menschen vertraten –, sondern nur: Fehler, und diese als Folge ungenügender Bildung. Die Welt, insbesondere die soziale Welt, war, so wie sie ist, gewiß ebensowenig vollkommen wie die Menschen: – es gab eben die bösen Dämonen neben den guten Geistern, – aber sie war so gut wie sie es eben nach dem jeweiligen Bildungsstande der Menschen und nach der charismatischen Qualität der Herrscher sein konnte. Ihre Ordnungen waren ein Produkt rein natürlicher Entwicklung der Kulturbedürfnisse, der unvermeidlichen Arbeitsteilung und der daraus folgenden Interessenkollisionen. Oekonomische und sexuelle Interessen waren nach der realistischen Auffassung des Meisters die grundlegenden Triebfedern des menschlichen Handelns. Daher waren nicht kreatürliche Verderbtheit und kein »Sündenstand« der Grund auch der als schlechthin gegeben hingenommenen Notwendigkeit von Zwangsgewalt und sozialer Unterordnung. Sondern – in sehr realistischer Art – ein schlichter ökonomischer Sachverhalt: die Knappheit der gegebenen Subsistenzmittel im Verhältnis zu den immer weiter vermehrbaren Bedürfnissen, woraus ohne die Zwangsgewalt der Krieg aller gegen alle folgen würde. Die Zwangsordnung als solche, die Besitzdifferenzierung und die ökonomischen Interessenkämpfe waren daher prinzipiell gar keine Probleme.
Der Konfuzianismus war – obwohl die Schule auch eine Kosmogonie entwickelt hat – an sich von jedem metaphysischen Interesse in sehr hohem Grade frei. Nicht minder bescheiden waren die wissenschaftlichen Ansprüche der Schule. Die Entwicklung der Mathematik, einst bis zu trigonometrischen Erkenntnissen vorgeschritten, verfiel früh, weil sie nicht gepflegt wurde. Konfuzius selbst hat offenbar von der Präzession der Aequinoktien, die in Vorderasien längst bekannt war, nichts gewußt. Das Amt des Hofastronomen (d.h. des Kalenderordners, wohl zu scheiden von dem Hofastrologen, der zugleich Annalist und einflußreicher Berater war) ging, als Träger von Geheimwissen, im Erbgang über; aber irgend erhebliche Kenntnisse können kaum entwickelt worden sein, wie der große Erfolg der Jesuiten mit ihren europäischen Instrumenten beweist. Die Naturwissenschaften im ganzen blieben rein empirisch. Von dem alten botanischen (= pharmakologischen) Werk, angeblich eines Kaisers, scheinen nur Zitate erhalten. Den historischen Disziplinen kam die Bedeutung der alten Zeit zugute. Die archäologischen Leistungen scheinen im 10. und 12. Jahrhundert auf der Höhe gestanden zu haben, ebenso wie, bald nachher, die Kunst der Annalistik. Einen Fachjuristenstand zur Besetzung der Aemter zu schaffen, hat Wang-An-Schi vergebens versucht. Für andere als rein antiquarische oder rein praktische Gegenstände interessierte sich jedenfalls gerade der orthodoxe Konfuzianismus nicht. (Die Einschränkung dieser Behauptung ergibt sich aus dem unter Nr. VII Gesagten.)
Seine grundsätzliche Stellung zur Magie war also die: daß er, sowenig wie die Juden, Christen und Puritaner die Realität der Magie bezweifelte (man hat auch in Neu-England Hexen verbrannt). Aber die Magie hatte keine Heilsbedeutung: Das war das Entscheidende. Wie bei den Rabbinen der Satz galt: 'für Israel gelten keine Planeten', d.h. die astrologische Determiniertheit ist machtlos gegen Jahwes Willen für den Frommen, so im Konfuzianismus der entsprechende: die Magie ist machtlos gegen die Tugend: Der klassisch Lebende hat die Geister nicht zu fürchten, nur Untugend (Hochstehender) gibt ihnen Macht.
Vollends die Kontemplation des buddhistischen Heiligen und seiner taoistischen Nachahmer lag ihm gänzlich fern. Nicht ohne polemische Spitze gegen den mystischen Taoismus Laotse's läßt die Tradition den Meister es ablehnen, 'im Verborgenen zu leben und Wunder zu tun, um dann bei späteren Geschlechtern Nachruhm zu ernten'. Die Stellungnahme zu einigen der großen Weisen der Vergangenheit, welche sich nach der Tradition in die Einsamkeit zurückzogen, mußte dabei freilich etwas gewunden werden: nur aus dem schlecht regierten Staat dürfe man sich zurückziehen. Im übrigen verheißt – die einzige scheinbar auf mystische Grundlagen deutende Wendung – der Meister gelegentlich als Lohn der vollendeten Tugend die Gabe der Kenntnis der Zukunft. Sieht man näher zu, so handelt es sich aber nur um die Fähigkeit, Omina richtig zu deuten, also: nicht hinter den berufsmäßigen Divinationspriestern zurückzubleiben. Die schon erwähnte, in der ganzen Welt verbreitete einzige 'messianische' Hoffnung auf einen künftigen Musterkaiser (dem, nach Rezeption dieser Märchenfigur, der Phönix vorangehen sollte), war volkstümlichen Ursprungs und wurde vom Konfuzianismus weder verworfen noch angetastet. Denn diesen interessierten lediglich die Dinge dieser Welt, wie sie einmal war.
Der konventionell Gebildete wird die alten Zeremonien mit gebührendem und erbaulichem Anstand mit machen, ebenso wie er alle seine Handlungen, einschließlich der physischen Gesten und Bewegungen, nach den ständischen Sitten und den Geboten der »Schicklichkeit« – ein konfuzianischer Grundbegriff! – in Höflichkeit und Anmut regelt. Die Quellen verweilen gern bei der Schilderung, wie der Meister, in den vom Standpunkt der Etikette kompliziertesten Situationen, alle Beteiligten dem Range gemäß weltmännisch zu begrüßen und sich dabei in vollendeter Eleganz zu bewegen wußte. Der in sich und in bezug auf die Gesellschaft harmonisch abgestimmte und ausgeglichene 'höhere ('fürstliche', 'vornehme') Mensch' – jener in vielen überlieferten Aeußerungen des Meisters wiederkehrender Zentralbegriff–benimmt sich in jeder gesellschaftlichen Lage, sei sie hoch oder niedrig, dieser entsprechend und ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Ihm eignet beherrschte Gelassenheit und korrekte Contenance, Anmut und Würde im Sinne eines zeremoniell geordneten höfischen Salons. Also, im Gegensatz zu der Leidenschaft und Ostentation des feudalen Kriegers im alten Islam: wache Selbstbeherrschung, Selbstbeobachtung und Reserve, vor allem: Unterdrückung der Leidenschaft, die in jeder Form, auch der der Freude, das Gleichgewicht der Seele und ihre Harmonie, die Wurzel alles Guten, stört. Also die Loslösung nicht, wie im Buddhismus, von allem, aber von allem irrationalen Begehren, nicht, wie im Buddhismus, um der Erlösung von der Welt, sondern um der Einfügung in die Welt willen. Der Gedanke einer Erlösung fehlte der konfuzianischen Ethik natürlich völlig. Weder von der Seelenwanderung noch von jenseitigen Strafen (die beide der Konfuzianismus nicht kannte), noch vom Leben (das er bejahte), noch von der gegebenen sozialen Welt (deren Chancen er durch Selbstbeherrschung klug zu meistern gedachte), noch vom Bösen oder einer Erbsünde (von der er nichts wußte), noch von irgend etwas sonst, außer: von der würdelosen Barbarei der gesellschaftlichen Ungeschliffenheit, begehrte der Konfuzianer »erlöst« zu werden. Und als 'Sünde' konnte ihm nur die Verletzung der einen sozialen Grundpflicht gelten: der Pietät.Denn wie der Feudalismus auf der Ehre, so ruhte der Patrimonialismus auf der Pietät als Kardinaltugend. Auf der ersten ruhte die Verläßlichkeit der Vasallentreue des Lehensmannes, auf der letzteren die Unterordnung des herrschaftlichen Dieners und Beamten. Der Unterschied war freilich kein Gegensatz, sondern mehr eine Akzentverschiebung. Auch der Vasall des Okzidents 'kommendierte' sich und hatte, ebenso wie der japanische Lehensmann, Pietätspflichten. Auch der freie Beamte hat Standesehre, auf welche als Motiv seines Handelns gerechnet wird, in China wie im Okzident und im Gegensatz zum vorderasiatischen und ägyptischen Orient, dessen Beamte aus dem Sklavenstande aufstiegen. Die Beziehung des Offiziers und Beamten zum Monarchen behält eben überall gewisse feudale Züge. Auch heute ist schon der ihm persönlich geleistete Eid ihr Merkmal. Gerade diese Elemente in der Amtsbeziehung pflegen die Monarchen aus dynastischem, die Beamten aus ständischem Interesse zu betonen. Der chinesischen Standesethik haftete die Erinnerung an den Feudalismus noch ziemlich stark an. Die Pietät (hiao) gegen den Lehensherrn wurde neben derjenigen gegen Eltern, Lehrer, Vorgesetzte in der Amtshierarchie und Amtsträger überhaupt aufgezählt, – denn ihnen allen gegenüber war das hiao prinzipiell gleichen Charakters. Der Sache nach war die Lehenstreue auf die Patronagebeziehung innerhalb der Beamtenschaft übertragen. Und der grundlegende Charakter der Treue war patriarchal, nicht feudal. Die schrankenlose Kindespietät gegen die Eltern war, wie immer wieder eingeschärft wurde, die absolut primäre aller Tugenden. Sie ging im Konfliktsfalle andern vor. Es wird in einem Ausspruch des Meisters lobend erwähnt, daß ein hoher Beamter die unzweifelhaften Mißbräuche, die sein Vater in der gleichen Stellung geduldet hatte, aus Pietät, um ihn nicht zu desavouieren, weiter duldete, im Gegensatz allerdings zu einer Stelle des Schu-king, wo der Kaiser einem Sohn das Amt des Vaters beläßt, auf daß er dessen Verfehlungen wieder gut machen könne. Keines Mannes Tun galt dem Meister als erprobt, ehe man gesehen hat, in welcher Art er um seine Eltern trauert. Es ist sehr begreiflich, daß in einem patrimonialen Staat einem Beamten – Konfuzius war zeitweise Minister – die Kindespietät, da sie auf alle Unterordnungsverhältnisse übertragen wird, als diejenige Tugend galt, aus der alle anderen folgen und deren Besitz die Probe und Garantie abgibt für die Erfüllung der wichtigsten Standespflicht der Bureaukratie: der unbedingten Disziplin. Die soziologisch grundlegende Wandlung des Heeres vom Heldenkampf zur disziplinierten Truppe liegt in China vor der historischen Zeit. Der Glaube an die Allmacht der Disziplin auf allen Gebieten findet sich in sehr alten Anekdoten und stand schon bei den Zeitgenossen des Konfuzius völlig fest. 'Insubordination ist schlimmer als niedrige Gesinnung': deshalb ist 'Extravaganz' – gemeint ist: prahlerischer Aufwand – schlimmer als Sparsamkeit. Aber – lautet die Kehrseite – Sparsamkeit ihrerseits führt zur 'niedrigen', d.h. plebejischen, im Sinne des Gebildeten unstandesgemäßen, Gesinnung, deshalb ist auch sie nicht positiv zu werten. Man sieht: die Stellung zum Oekonomischen ist hier, wie bei jeder ständischen Ethik, ein Problem des Konsums, nicht: der Arbeit. Das Wirtschaften zu erlernen lohnt sich für den »höheren« Menschen nicht. Ja es schickt sich eigentlich nicht für ihn. Nicht etwa aus grundsätzlicher Ablehnung des Reichtums als solchen. Im Gegenteil: ein gut verwalteter Staat ist der, in welchem man sich seiner Armut schämt (in einem schlecht verwalteten seines – im Zweifel im Amt unehrlich erworbenen – Reichtums). Die Vorbehalte galten nur der Sorge um Reichtums- Erwerb. Die ökonomische Literatur war Mandarinen-Literatur. Wie jede Beamtenmoral so lehnte natürlich auch diejenige des Konfuzianismus die eigene Teilnahme des Beamten am Erwerb, direkt wie indirekt, als ethisch bedenklich und standeswidrig ab. Um so eindringlicher, je mehr tatsächlich der Beamte, dessen Bezüge an sich nicht hoch waren, und überdies, wie in der Antike, vorwiegend in Naturalien-Deputaten bestanden, auf Ausbeutung seiner Amtsstellung als solcher angewiesen blieb. Irgendwelche prinzipiell antichrematistische Theorien aber hat diese utilitarische, weder feudal noch asketisch gestimmte, Ethik nicht entwickelt. Im Gegenteil. Der Konfuzianismus hat sehr modern klingende Theorien von Angebot und Nachfrage, Spekulation und Profit hervorgebracht. Die Rentabilität des Geldes (der Zins heißt chinesisch wie griechisch 'Kind' des Kapitals) versteht sich im Gegensatz zum Okzident von selbst und auch von Zinsschranken weiß die Theorie anscheinend nichts (während allerdings kaiserliche Statuten gewisse Arten von »Wucher« verwarfen). Nur sollte der Kapitalist als privater Interessent nicht Beamter werden. Der literarisch Gebildete persönlich bleibe dem Chrematismus fern. Wo soziale Bedenken gegen das Gewinnstreben als solches auftraten, waren sie wesentlich politischer Natur.
Gewinnsucht galt dem Meister als Quelle sozialer Unruhen. Gemeint ist hier ersichtlich die Entstehung des typischen vorkapitalistischen Klassenkonflikts zwischen den Interessen der Aufkäufer und Monopolisten und den Konsumenteninteressen. Der Konfuzianismus war dabei naturgemäß vorwiegend konsumentenpolitisch orientiert. Aber Feindschaft gegen ökonomischen Gewinn lag ganz fern. Dies ist auch in der volkstümlichen Vorstellung nicht anders gewesen. Erpresserische und ungerechte Beamte, besonders Steuer- und andere Subalternbeamte, wurden bitter im Drama gegeißelt. Aber von Anklagen oder Verhöhnungen gegen Kaufleute und Wucherer scheint (relativ) sehr wenig die Rede zu sein. Die zornige Feindschaft des Konfuzianismus gegen das buddhistische Klosterwesen, welche zu dem Vernichtungsfeldzug des Kaisers Wu-Tsung im Jahre 844 führte, wurde in erster Linie damit begründet, daß die Klöster das Volk von nützlicher Arbeit ablenkten (tatsächlich spielte, sahen wir, 'Währungspolitik' dabei eine Rolle). In der gesamten orthodoxen Literatur tritt die Schätzung ökonomischer Aktivität stark hervor. Auch Konfuzius würde nach Reichtum streben, 'selbst als Diener mit der Peitsche in der Hand', – wenn nur der Erfolg dieses Strebens einigermaßen verbürgt wäre. Aber das ist eben nicht der Fall und daraus folgt der einzige, in der Tat sehr wesentliche Vorbehalt gegen Wirtschaftserwerb: Das Gleichgewicht und die Harmonie der Seele wird durch die Risiken des Erwerbs erschüttert. Der Standpunkt des Amtspfründners tritt so in ethischer Verklärung auf. Die amtliche Stellung ist vor allem auch deshalb die einzige eines höheren Menschen würdige, weil sie allein die Vollendung der Persönlichkeit gestattet. Ohne beständiges Einkommen, meint Mencius, vermöge der Gebildete nur schwer, das Volk aber gar nicht eine beständige Gesinnung zu haben. Wirtschaftlicher, ärztlicher, priesterlicher Erwerb ist der 'kleine Weg'. Denn – ein mit dem vorigen eng zusammenhängender höchst wichtiger Punkt: – er führt zur fachlichen Spezialisierung. Der vornehme Mensch aber strebt nach Allseitigkeit, die nur die Bildung (im konfuzianischen Sinne) gibt und die gerade das Amt – charakteristisch für das Fehlen der rationalen Fachspezialisierung im Patrimonialstaat, – vom Manne verlangt. Allerdings finden sich, wie politisch in Wang An Schi's Reformversuch, so auch in der Literatur, Andeutungen, welche die Schaffung von Fachkompetenzen der Beamten nach Art einer modernen Bureaukratie empfehlen, statt der traditionellen, unmöglich von einem einzelnen zu beherrschenden Allseitigkeit der Amtsgeschäfte. Aber eben diesen sachlichen Anforderungen und damit auch der Durchführung einer rationalen Versachlichung der Verwaltung nach Art unserer europäischen Mechanismen stand das alte Bildungsideal der Chinesen schroff gegenüber. Es mußte dem konfuzianisch gebildeten Amtsanwärter, der aus der alten Tradition herkam, fast unmöglich sein, in einer Fachbildung europäischen Gepräges etwas anderes als Abrichtung zum schmutzigsten Banausentum zu sehen. Hier lag unzweifelhaft ein Teil der wichtigsten Widerstände gegen alle »Reform« im okzidentalen Sinne. Der grundlegende Satz: 'Ein Vornehmer ist kein Werkzeug', bedeutete: er war Selbstzweck, und nicht, wie das Werkzeug, nur Mittel zu einem spezifizierten nützlichen Gebrauch. Im geraden Gegensatz gegen das sozial orientierte platonische Ideal, welches, auf dem Boden der Polis geschaffen, von der Ueberzeugung ausging: daß der Mensch nur, indem er in einer Sache Tüchtiges leiste, zu seiner Bestimmung gelangen könne, und in noch weit stärkerer Spannung zum Berufsbegriff des asketischen Protestantismus stand hier das ständische Vornehmheitsideal des allseitig gebildeten konfuzianischen 'Gentleman' (wie schon Dvorak den Ausdruck Kiün tse, 'fürstlicher Mann', übersetzt hat). Diese, auf Allseitigkeit ruhende 'Tugend', d.h. die Selbstvollendung, war mehr als der nur durch Vereinseitigung zu gewinnende Reichtum. Man konnte in der Welt nichts ausrichten, auch in der einflußreichsten Stellung nicht, ohne die aus Bildung entspringende Tugend. Aber freilich auch umgekehrt nichts mit noch so viel Tugend ohne einflußreiche Stellung. Diese, und nicht Erwerb, suchte daher der 'höhere' Mensch.
Dies sind in kurzer, meist dem Meister selbst zugeschriebener, Fassung die Grundthesen der Stellung zu Berufsleben und Besitz: der feudalen Freude am Aufwand, wie sie im alten Islam schon in Aeußerungen des Propheten selbst hervortritt, ebenso entgegengesetzt wie der buddhistischen Verwerfung alles Hängens an den Weltgütern, der hinduistischen streng traditionalistischen Berufsethik und der puritanischen Verklärung der innerweltlichen asketischen Erwerbsarbeit im rational spezialisierten Beruf. Mit deren nüchternem Rationalismus besteht, wenn man von diesem Grundgegensatz einmal absieht, im einzelnen mancherlei Verwandtschaft. Die Versuchungen der Schönheit meidet der 'fürstliche' Mensch. Denn, sagt der Meister richtig: 'Niemand liebt die Tugend wie man ein schönes Weib liebt'. Nach der Ueberlieferung hatte den Meister aus seiner Stellung beim Fürsten von Lu der eifersüchtige Nachbarfürst da durch verdrängt, daß er dessen Herrn eine Kollektion schöner Mädchen zum Präsent machte, – an welcher der moralisch übel beratene Fürst mehr Gefallen fand als an den Lehren seines politischen Beichtvaters. Jedenfalls fand dieser persönlich das Weib, als ein durch und durch irrationales Wesen, ebenso schwierig zu behandeln wie die Dienstboten. Herablassung zu ihnen lasse beide die Distanz verlieren, Strenge wiederum mache sie übel gelaunt. Die durch Weltflucht bedingte Frauenscheu des Buddhismus fand daher in der durch rationale Nüchternheit bedingten Nichtachtung der Frau im Konfuzianismus ihr Gegenbild. Die neben der einen legitimen Frau schon im Interesse der Nachkommenerzeugung notwendig zugelassenen Konkubinen grundsätzlich zu verpönen ist selbstverständlich für den Konfuzianismus nie in Frage gekommen: das schon mehrfach erwähnte Kartell der Feudalfürsten wendete sich nur gegen die Gleichstellung der Konkubinensöhne als Erben, und der Kampf gegen die illegitimen Einflüsse des Harems kleidete sich in das Gewand des Kampfes gegen die drohende Uebermacht der Yin- (weiblichen) Substanz über die Yang (männliche). Treue in der Freundschaft wird hoch gepriesen. Man bedarf der Freunde. Aber man suche sie sich unter Gleichgestellten aus. Für die niedriger Gestellten habe man freundliches Wohlwollen. Im übrigen aber ging auch hier alle Ethik auf das urwüchsige Austauschprinzip des bäuerlichen Nachbarverbandes zurück: wie Du mir, so ich Dir, – die 'Reziprozität', welche vom Meister gelegentlich einer Anfrage geradezu als Fundament aller Sozialethik hingestellt wird. Die Feindesliebe der radikalen Mystiker (Laotse, Mo Ti) aber wurde, als der gerechten Vergeltung: einem Prinzip der Staatsräson, zuwiderlaufend entschieden abgelehnt: Gerechtigkeit gegen Feinde, Liebe für Freunde – was solle man diesen noch bieten, wenn man den Feinden Liebe böte? Der vornehme Gentleman des Konfuzianismus war alles in allem ein Mann, der 'Wohlwollen' mit 'Energie', und 'Wissen' mit 'Aufrichtigkeit' verband. Alles aber innerhalb der Grenzen der »Vorsicht«, deren Fehlendem gemeinen Mann den Weg zur 'richtigen Mitte' versperrte. Und vor allem – dies gab dieser Ethik erst ihr spezifisches Gepräge: – innerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Schicklichen. Denn erst der Sinn für Schicklichkeit ist es, der den »fürstlichen« Mann zur 'Persönlichkeit' im konfuzianischen Sinne formt. An den Geboten der Schicklichkeit hat daher auch die Kardinaltugend der Aufrichtigkeit ihre Schranke. Nicht nur also gingen dieser die Pietätspflichten unbedingt vor (Notlüge aus Pietät), sondern auch die gesellschaftlichen Anstandspflichten, nach des Meisters eigener, durch die Tradition geschilderter Praxis. 'Wo wir zu Dritt sind, finde ich meinen Meister', soll Konfuzius gesagt haben: das hieß: ich füge mich der Mehrheit. Nach dieser 'Schicklichkeit' sind auch die klassischen Schriften von ihm ausgelesen. Se Ma Tsien weiß angeblich von 3000 (?) Schi-King-Oden, aus denen Konfuzius 306 ausgewählt habe. –
Keinerlei Vollkommenheit aber konnte anders erreicht werden als durch nie aufhörendes Lernen, und das hieß: durch literarisches Studium. Der 'fürstliche' Mensch reflektiert und 'studiert' über alle Dinge unausgesetzt und immer erneut. Und in der Tat waren angeblich neunzigjährige Kandidaten bei den offiziellen Staatsprüfungen durchaus keine Seltenheit. Aber dies unausgesetzte Studium war lediglich Aneignung vorhandener Gedanken. Aus der eigenen Brust zu schöpfen und durch bloßes Denken vorwärts zu kommen versuchte der Meister nach einer ihm zugeschriebenen Mitteilung noch im Alter vergebens und warf sich daher wieder auf das Lesen, ohne welches nach seiner Ansicht der Geist sozusagen »im Leergang« arbeitete. An Stelle des Satzes: 'Begriffe ohne Anschauung sind leer', stand also hier der Satz: 'Denken ohne Lesefrüchte ist steril'. Denn ohne Studium, wird gesagt, vergeudet der Wissensdurst den Geist, macht uns das Wohlwollen dumm, Aufrichtigkeit unvorbedacht, Energie roh, führt Kühnheit zu Insubordination und Charakterfestigkeit zu Extravaganzen. Es wurde dann eben die 'rechte Mitte' verfehlt, welche das höchste Gut dieser Ethik der gesellschaftlichen Anpassung war, innerhalb deren es nur eine wirklich absolute Pflicht gab: die Pietät als Mutter der Disziplin, und nur ein universelles Mittel der Vervollkommnung: die literarische Bildung. Als Regierungsweisheit des Fürsten aber galt: die Auswahl der (im klassischen Sinn) 'richtigen' Minister, wie Konfuzius dem Herzog von Ngai gesagt haben soll.
Diese Bildung aber wurde allein vermittelt durch das Studium der alten Klassiker, deren schlechthin kanonische Geltung in der von der Orthodoxie purifizierten Form selbstverständlich wurde. Zwar findet sich gelegentlich eine Aeußerung referiert, wonach ein Mann, der für die Probleme der Gegenwart das Altertum befrage, leicht Unheil anrichten könne, – allein dies ist wohl als Ablehnung der alten Feudalzustände zu deuten, schwerlich aber, wie Legge annimmt, im antitraditionalistischen Sinn. Denn der ganze Konfuzianismus wurde rücksichtslose Kanonisierung des Traditionellen. Wirklich antitraditionalistisch war die berühmte, direkt gegen den Konfuzianismus gerichtete, ministerielle Relation Li-Se's, welche die große Katastrophe der Bücherverbrennung nach der Schaffung des bureaukratischen Einheitsstaates herbeiführte (213 v. Chr.). Die Literatenzunft, hieß es darin, lobe das Altertum auf Kosten der Gegenwart, sie leite also zur Verachtung der Gesetze des Kaisers an, die sie am Maßstab ihrer Buchautoritäten kritisiere. Nützlich seien – in charakteristischer Umkehrung der konfuzianischen Werte – nur die Bücher über Wirtschaft, Medizin und Divination. Man sieht: dieser restlos utilitarische Rationalismus des Vernichters des Feudalsystems streifte zugunsten der eigenen Machtstellung die Traditionsgebundenheit ab, welche überall die Schranke des konfuzianischen Rationalismus war. Aber er brachte damit jenen klugen Kompromiß zwischen einerseits den Machtinteressen und andererseits dem Legitimitätsinteresse der herrschenden Schicht ins Schwanken, auf welchem die Staatsräson dieses Systems beruhte. Und es waren daher zweifellos Gründe der eigenen Sicherheit, welche bald darauf die Han-Dynastie veranlaßten, in aller Form auf den Konfuzianismus zurückzugreifen. In der Tat konnte ein in absoluter Machtstellung befindliches und dabei zugleich die offizielle Priesterfunktion monopolisierendes Patrimonialbeamtentum nicht anders als traditionalistisch gesonnen sein in bezug auf eine Literatur, deren Heiligkeit allein die Legitimität der seine eigene Stellung tragenden Ordnung verbürgte. Es mußte seinem Rationalismus an diesem Punkte ebenso Schranken ziehen wie gegenüber dem religiösen Volksglauben, dessen Bestand die Domestikation der Massen und, wie wir sahen, die Grenzen der Kritik am Regierungssystem garantierte. Der einzelne Regent konnte schlecht, also vom Charisma entblößt, sein. Dann war er nicht gottgewollt und ebenso abzusetzen wie der untaugliche Beamte. Das System als solches aber mußte auf der Grundlage der Pietät ruhen, welche mit jeder Erschütterung der Tradition in Gefahr geriet.
Der Konfuzianismus hat aus diesen uns schon bekannten Gründen auch nicht den geringsten Versuch gemacht, den bestehenden religiösen Glauben ethisch zu rationalisieren. Den offiziellen Kultus, der durch den Kaiser und die Beamten erfolgte, und den Ahnenkult des Hausvaters setzte er als Bestandteil der gegebenen weltlichen Ordnung voraus. Der Monarch des Schu-King faßt seine Entschlüsse nach Konsultierung nicht nur der Großen des Reiches und des 'Volkes', d.h. damals zweifellos: des Heeres, sondern auch zweier überkommener Divinationsmittel, und es wird lediglich kasuistisch erörtert, wie man sich beim Widerspruch dieser Erkenntnisquellen untereinander zu verhalten habe. Die Bedürfnisse des Privatlebens nach seelsorgerischer Beratung und religiöser Orientierung aber verharrten, vornehmlich infolge jener Haltung der Bildungsschicht, auf der Stufe des magischen Animismus und der Funktionsgötterverehrung, ganz wie überall sonst vor dem Eingreifen von Prophetien, die in China nicht aufkamen.
Dieser magische Animismus nun ist vom chinesischen Denken in ein System gebracht, welches de Groot mit dem Namen 'Universismus' bezeichnet hat. An seiner Schaffung ist aber nicht der Konfuzianismus allein beteiligt gewesen und wir müssen die, von ihm aus gesehen, heterodoxen Mächte betrachten, die dabei mitwirkten. Zunächst aber machen wir uns kurz deutlich, daß der Konfuzianismus auch von den Literatenlehren zwar die schließlich allein rezipierte, aber nicht die immer allein rezipiert gewesene Lehre war.
Der Konfuzianismus ist durchaus nicht immer die staatlich allein approbierte Philosophie – hung fan (= großer Plan) ist der technische Ausdruck dafür – Chinas gewesen. Auch war Literatentum mit konfuzianischer Orthodoxie, je weiter man zurückgeht, desto weniger identisch. Die Zeit der Teilstaaten kannte die Konkurrenz der Philosophenschulen, die aber auch im Einheitsreich keineswegs verschwand: er war jeweils auf dem Tiefstand der Kaisermacht besonders scharf. Der Sieg des Konfuzianismus entschied sich erst etwa im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Es liegt hier nun fern, die Geschichte der chinesischen Philosophie zu rekapitulieren. Immerhin sei die Entwicklung zur Orthodoxie in folgenden Daten veranschaulicht:
Die Stellung Lao tse's und seiner Schule bleibt, als ganz abseits stehend, vorerst beiseite (s. Nr. VII). Noch nach Konfuzius finden sich Philosophen wie Yang tschu: ein epikuräischer Fatalist, der im Gegensatz zu den Konfuzianern die Bedeutung der Erziehung ausschaltete, weil die Eigenart eines Menschen sein unabwendbares 'Schicksal' sei, und Mo Ti, der weitgehend traditionsfrei war. Vor und in Mencius' Zeit (4. Jahrh. vor Chr.: Tiefstand der Kaisermacht) stand Sun Kung, aktiver Beamter in einem Teilstaat, auf dem antikonfuzianischen Boden der Verderbtheit der Menschennatur, standen die Dialektiker, die Asketen (Tschöu Tschang), die reinen Physiokraten (Hu Hing) mit wirtschaftspolitisch sehr verschiedenen Programmen gegeneinander und noch im 2. Jahrh. nach Chr. stand das Tschung Lun des Tsui Schi auf strikt antipazifistischem Standpunkt: die Sitten verschlechtern sich in langen Friedenszeiten, führen zu Ausschweifungen und Sinnenlust.
Alles das waren unklassische Ketzereien, – Mencius bekämpfte die seiner eigenen Zeit. Aber sein Zeitgenosse Hsün Tse der die Güte des Menschen (konfuzianisch) als Kunstprodukt ansah, aber nicht Gottes, sondern des Menschen selbst: – politisch gewendet: 'Gott ist der Ausdruck der Herzen des Volkes' – und der absolute Pessimist Yang Tschu, der das Ertragen des Lebens und die Abschüttelung der Todesfurcht für der Weisheit letzten Schluß hielt, standen ihm gegenüber abseits. Daß Gottes Wille »unstet« sei, wurde oft als Grund des Leidens der Frommen hingestellt. Eine Systematik der antagonistischen Literatenschulen seiner Zeit findet sich bei Se Ma Tsien, dessen Vater Taoist gewesen zu sein scheint. Sechs Schulen werden unterschieden: 1. Metaphysiker: die Yin- und Yang-Spekulation, gegründet auf Astronomie, – 2. Mi Tse (Micius und seine Schule): mystisch beeinflußt, für absolute Einfachheit der Lebensführung, auch des Kaisers, auch für die Beerdigungen, – 3. die Schule der Philologen mit Wortinterpretation und Begriffsrealismus (relativ unpolitisch, aus der Sophisten-Zeit überkommen), – 4. die Schule der Gesetze: Vertreter der Abschreckungstheorie (später durch Tsui Schui vertreten, s.o.) – 5. die Taoisten (von ihnen später), – 6. die 'Literatenschule': Konfuzianer, zu denen sich Se Ma Tsien selbst bekennt. Immerhin vertritt auch er den konfuzianischen Standpunkt noch in einer später in mehrfacher Hinsicht unklassisch erscheinenden Art. Er schätzte den bekannten zum Anachoreten gewordenen Kaiser Hoang Ti (taoistische Reminiszenzen. Seine Kosmogonie (5-Elementen-Lehre) ist offenbar astrologischen Ursprungs. Seine Schätzung des Reichtums würden die orthodoxen Konfuzianer wohl mitmachen, auch die Motivierung: daß nur der Reiche die Riten richtig befolge. Aber die Empfehlung auch des Handels als Mittel des Erwerbes war ihnen anstößig. Den Zweifel an der absolut determinierenden 'Vorsehung' würden manche von ihnen nicht beanstandet haben: daß tugendhafte Leute vor Hunger starben, war bekannt. Auch die Monumente der Han-Zeit sagen ähnliches. Immerhin war dies nicht unbedenklich. Daß Heroismus 'unnütz' sei, entsprach der späteren, auf den Meister zurückgeführte Lehre. Aber daß der gefeierte Name alles sei – wie der Kastrat Se Ma Tsien lehrte –, daß die Tugend als »Selbstzweck« dargestellt wurde, daß andererseits unmittelbar didaktische Wirkungen für Fürsten beabsichtigt wurden, war wieder kaum klassisch. Dagegen stimmte der von Se Ma Tsien virtuos geübte absolute Gleichmut des Tons der Annalistik vorzüglich zu Konfuzius' eigener Praxis. Am meisten orthodox konfuzianisch mutet der Brief an, den Se Ma Tsien, der als politisch verdächtig kastriert, dann aber angestellt worden war, dem in Haft befindlichen Freund Jen Ngan schrieb, der sich um seine Hilfe (vergeblich) bewarb:
Ihm real helfen kann (oder: will) er (um selbst nichts zu riskieren) nicht. Aber: die Seele dessen, 'der den langen Weg angetreten hat', könnte Zorn gegen ihn (Se Ma Tsien) behalten (also ihn schädigen), daher will er ihm die Gründe dafür auseinandersetzen. Denn: 'der wertvolle Mensch gibt sich Mühe für den, der ihn zu würdigen weiß' (echt konfuzianisch). Statt des Eingehens auf das Schicksal des Unglücklichen findet sich aber lediglich eine Darlegung des eigenen Unglücks: der Kastration. Wie hat sich der Schreiber darüber hinausgeholfen? Die wichtigsten Punkte, heißt es, seien vier: 1. nicht die eigenen Ahnen entehren, – 2. nicht sich selbst entwürdigen, – 3. nicht die Vernunft und Würde und schließlich: – 4. nicht die »für alle gültigen Regeln« verletzen. Er, der Schreiber, werde die Schande durch sein Buch abwaschen.
Wenn der ganze Brief etwas an Abaelards uns durch ihre kalte Lehrhaftigkeit so verletzenden Briefe an Héloise erinnert (aus, vermutlich, ähnlichen Gründen!), so ist doch diese kühle Temperierung der Beziehung von Mensch zu Mensch echt konfuzianisch. Und wir wollen – wenn unserem Gefühl einiges widerstreben möchte – nicht vergessen: daß auch die am Schluß des vorigen Abschnitts zitierten prachtvollen und stolzen Dokumente solche konfuzianischen Geistes sind. Die von Se Ma Tsien wiedergegebene Inschrift Schi Hoang Ti's, welche Handeln gegen die 'Vernunft' als verwerflich bezeichnet, würde von ihm (und den Konfuzianern) so interpretiert werden: daß die Anleitung dafür, wie man vernunftgemäß handeln, nur durch Studium und Wissen erlangt werde. 'Wissen' – im Sinne der durch literarische Studien erlangten Kenntnis der Tradition und der klassischen Norm – blieb im Konfuzianismus das letzte Wort und dadurch schied er sich – wie wir nun sehen müssen – von andern Systemen chinesischer Einstellung zur Welt.
Die »Vernunft« des Konfuzianismus war ein Rationalismus der Ordnung: »besser ein Hund und in Frieden als ein Mensch und in der Anarchie leben«, sagt Tscheng Ki Tong.
Und sie war, wie dieser Ausspruch zeigt, eben deshalb essentiell pazifistischen Charakters. Diese Eigenart hat sich historisch stetig gesteigert, bis Kaiser Khian Lung in der Geschichte der Ming-Dynastie den Satz schreiben konnte: 'Nur wer kein Menschenblut zu vergießen trachtet, kann das Reich zusammenhalten'. Denn 'die Wege des Himmels sind wandelbar und nur die Vernunft hilft uns'. Das war – während noch Konfuzius selbst Rache für die Tötung von Eltern, älteren Brüdern und Freunden als Mannespflicht gefordert hatte, – das Endprodukt der Entwicklung im Einheitsreich. Pazifistisch, innerweltlich und nur an der Angst vor den Geistern orientiert blieb also diese Ethik.
Es fehlte zwar nicht eine sittliche Qualifikation der Geister. Im Gegenteil: wir sahen schon, daß, wie in Aegypten, auch in China die irrationale Justiz auf dem spätestens unter der Han-Dynastie entwickelten festen, aus idealisierter Projektion der Bureaukratie und des Beschwerderechts in den Himmel erwachsenen Glauben ruhte: daß der Schrei des Bedrückten nfehlbar die Rache der Geister herbeiführe, vor allem gegen jeden, dessen Opfer an Selbstmord, Kummer, Verzweiflung gestorben sei. Auch daß die große, jeden Beamten zur Nachgiebigkeit zwingende, Macht der im Cortège heulenden Massen (Begleiter eines wirklich oder angeblich Bedrückten) – zumal bei der Gefahr, daß die hysterischen Massenemotionen Selbstmorde herbeiführen könnten – auf dem gleichen Glauben beruhte. Gegen einen Mandarinen, der seinen Küchenjungen geschlagen hatte, so daß dieser starb, wurde durch die Menge ein Todesurteil erzwungen (1882): der Geisterglaube in dieser Funktion war die einzige, aber sehr wirksame offizielle Magna Charta der Massen in China. Die Geister wachten aber auch über den Verträgen aller Art. Sie versagten dabei ihren Schutz erzwungenen oder unsittlichen Kontrakten. Die Legalität als Tugend wurde also auch in concreto, nicht nur als Gesamthabitus, animistisch garantiert. Aber was fehlte, war: die zentrale methodisch lebensorientierende Macht einer Erlösungsreligion. Die Wirkung davon, daß sie fehlte, werden wir weiterhin kennen lernen.

Mentioned People (1)

Weber, Max  (Erfurt 1864-1920 München) : Wirtschaftwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Professor fur Handelsrecht Universität Berlin, Professor für Nationalökonomie Universität Freiburg i.B. und Heidelberg, Professor für Soziologie Universität Wien, Professor für Nationalökonomie Universität München

Subjects

History : China : General / Philosophy : China : Confucianism and Neoconfucianism / Philosophy : Europe : Germany

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# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1920 Weber, Max. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen : Konfuzianismus und Taoismus. In : Weber, Max. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. (Tübingen : J.C.B. Mohr, 1920).
http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Schriften+zur+Religionssoziologie/
Die+Wirtschaftsethik+der+Weltreligionen.
http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Schriften+zur+Religionssoziologie
/Die+Wirtschaftsethik+der+Weltreligionen/Konfuzianismus+und+Taoismus
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