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Chronology Entry

Year

1947

Text

Frisch, Max. Die chinesische Mauer [ID D14787].
Frisch schreibt im Vorspiel : Sie werden fragen, meine Damen und Herren, was mit alledem gemeint sei. Wo liegt (heute) dieses Nanking ? Und wer ist (heute) Hwang Ti [Qin Shi Huangdi], der Himmelssohn, der immer im Recht ist ? Und dieser arme Stumme, der nicht einmal Heil sagen kann, und Wu Tsiang, der General mit den blutigen Stiefeln, und wie sie alle heissen : Wer ist gemeint ? Hoffentlich werden Sie nicht ungehalten, meine Damen und Herren, wenn Sie darauf keine Anwort bekommen. Gemeint (Ehrenwort !) ist nur die Wahrheit, die es nun einmal liebt, zweischneidig zu sein...
Die heutige Chinesische Mauer (oder wie die Chinesen sagen : Die Grosse Mauer), gedacht als Schutzwall gegen die barbarischen Völker der Steppe, ist einer der immer wiederholten Versuche, die Zeit aufzuhalten, und hat sich, wie wir heute wissen, nicht bewährt.

Wu Jianguang : Das Hauptziel von Frisch ist die Wahrheit überhaupt, oder, den heutigen menschlichen Zustand angesichts der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges darzustellen. Um das Ziel zu erreichen, bedient er sich der Brechtschen Verfremdung und erzählt eine fiktive chinesische Geschichte. Mit einer Serie von chinesischen, in Europa exotisch wirkenden Bildern versucht er, sein europäisches Publikum diesem Verfremdungseffekt zu unterwerfen, um neue Denkansätze möglich zu machen.
Chinesische Figuren treten in den Hauptrollen auf, und im 18. Bild wird sogar einmal aus dem Liji vor Gericht vorgelesen. Dadurch wird das europäische Publikum in die chinesische Geschichte eingeführt, die zum grössten Teil von Frisch erfunden ist.
Was Max Frisch ausdrücken will, befindet sich zwischen Exotik und dem Heimischen, zwischen China und Eruopa. Dort, wo der Europäer Exotik vorfand, ist sie für den chinesischen Leser verschwunden. Erstens kann das Stück, wegen der Fiktion, den chinesischen Leser nicht an eine konkrete Geschichte erinnern, sondern vielmehr stellt es ihm eine neue Perspektive seiner Alltagssituation dar. Es erscheint für ihn nun eine neue Exotik, eine europäische Exotik in der chinesischen Bildwelt. Zweitens wird die Rede, sowohl des Kaisers als auch der anderen Personen, oft mit europäischem Verständnis ausgedrückt. Die europäische Exotik trägt ein chinesisches Gewand.
Ein chinesischer Leser hat mehr oder weniger Vorurteile gegenüber Qin Shi Huangdi, d.h. er besitzt schon ein Bild vom Kaiser, bevor er das Bild anderer Art vorgestellt bekommt. Chinesische Leser können diesen Kaiser nicht als chinesischen Kaiser akzeptieren. Der Verfremdungseffekt und die exotischen Bilder funktionieren nur, wenn dem Leser Qin Shi Huangdi und China noch fremd sind.
Max Frisch hat ein sehr passendes politisches Theaterstück geschrieben. Es ist die Wirkung der Exotik, die den Leser oft über seine Kultur nachdenken lässt. Und gerade aus diesem Grunde habe ich es für wichtig gehlaten, Die chinesische Mauer ins Chinesische zu übersetzen.

Adrian Hsia : Diese Farce erinnert an das China-Bild von Heine. Die grosse Mauer ist erbaut worden, um die orientalische Despotie vom Schlage Qinshi Huangdi, die schlimmste dieser Art, für alle Ewigkeit zu beschützen. In diesem chinesischen Raritätenkabinett sind nicht nur despotische Raritäten verzeichnet, sondern auch kulinarische.

Mentioned People (1)

Frisch, Max  (Zürich 1911-1991 Zürich) : Schriftsteller, Dramatiker

Subjects

Literature : Occident : Switzerland

Documents (2)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 1989 Wu, Jianguang. Die chinesische Bildwelt als Exotik für den chinesischen Leser : am Beispiel der Chinesischen Mauer von Max Frisch. In : Orientierungen ; 2 (1989). Publication / WuJ1
  • Cited by: Asien-Orient-Institut Universität Zürich (AOI, Organisation)
2 1990 Hsia, Adrian. Chinesien - Zur Typologie des anderen China in der deutschen Literatur mit besonderer Berücksichtigung des 20. Jahrhunderts. In : Arcadia ; Bd. 25, H. 1 (1990). S. 53. Publication / Hsia12