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1922

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Klabund. China : Laotse und das magische Denken [ID D12628].
Er schreibt : China wird von dem Gegensatz Kongfutse [Konfuzius] – "ordnende Vernunft" und Laotse [Laozi] – "sinnende Seele" im Gleichgewicht erhalten. Kongfutse (551 bis 479 v.Chr.) ist der Moralist, der praktische Politiker, dem China sein patriarchalisches Staats- und Familienleben verdankt. (Man muß abwarten, wie weit die von einigen in Amerika groß gewordenen chinesischen Intellektuellen angestiftete, gänzlich unchinesische Revolution von 1905 dauernden Erfolg zeigt.) Laotse ist der Mystiker, in sich selbst Versunkene, der nur ein sittliches Beispiel geben will, jeder aktivistischen zwangsmäßigen Verwirklichung ethischer Postulate aber aus dem Wege geht. Er ist der erste, der der stark pazifistischen Neigung der Chinesen Ausdruck gibt. "Wer in Weisheit dem Herren der Welt hilft, unterjocht nicht mit Waffen die Welt. Die Welt könnte ihre Waffen gegen ihn wenden." Laotse wurde 604 v.Chr. geboren. Er verwaltete das Reichsarchiv der Dynastie Choú und schrieb den Taoteking [Dao de jing]. Dessen Sinn: der Mensch soll nicht nach außen, sondern nach innen leben. Wenngleich das Klimatische bei der Entstehung des taoistischen Menschen eine Rolle gespielt haben mag, so scheint mir der Trennungsstrich zwischen östlichen und westlichen Menschen quer durch die Seele der Menschheit zu gehen, die nur durch das himmlische Gesetz der Waage, der Polaritäten, des Gegensatzes zwischen Tag und Nacht, Tod und Leben, Gott und Teufel, Mann und Weib, Gut und Böse sich in der Schwebe hält. Der Typ des östlichen und des westlichen Menschen, man kann ihn auch den Menschen des (Sonnen-) Aufgangs und des (Sonnen-) Untergangs bezeichnen, ereignet sich überall: in allen Zeiten und Völkern und Klimaten. Der faustische und der apollinische, der sentimentalische und der naive Mensch sind parallele Polaritäten. Das östliche Denken, wie Laotse es denkt, ist ein mythisches, ein magisches Denken, ein Denken an sich. Das westliche Denken ist ein rationalistisches, empiristisches Denken, ein Denken um sich, ein Denken zum Zweck. Der östliche Mensch beruht in sich und hat seinen Sinn nur in sich. Seine Welt ist eine Innenwelt. Der westliche Mensch ist 'außer sich'. Seine Welt ist die Außenwelt. Der östliche Mensch schafft die Welt, der westliche definiert sie. Der westliche ist der Wissenschaftler, der östliche der Weise, der Helle, der Heilige, der Wesentliche, der 'sein Geschmeide unter einem ärmlichen Gewande verborgen trägt'. Die großen chinesischen Dichter sind sämtlich von Laotse beeinflußt, der in seinen Sprüchen einer der großen Dichterphilosophen ist wie Plato oder Nietzsche. Seine Schüler Liä-dsi und Dschuang-dsi haben die Kunst des Gleichnisses, die die Kunst ist, gleichzeitig und gleichräumlich mit den gleichen Worten zu den Menschen vieler Ebenen zu sprechen, auf das höchste entwickelt. Das wahre Buch vom quellenden Urgrund trägt den Namen des Liä-dsi, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland den des Dschuang-dsi. Viele dieser Gleichnisse gehören zu dem Schönsten und Tiefsten, was in menschlicher Sprache gedacht und gesagt wurde. Man lese, man träume den 'Schmetterlingstraum' des Dschuang-dsi: "Einst träumte Dschuang-dschu, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Dschuang-dschu. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang-dschu. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang-dschu geträumt hat, daß er Dschuang-dschu sei, obwohl doch zwischen Dschuang-dschu und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge."

Die chinesische Literatur ist so umfangreich wie die Ausdehnung des chinesischen Reiches. Das älteste Literaturdokument ist eine Inschrift des Kaisers Yao von etwa 2400 v. Chr., die das Sintflutmotiv anschlägt. Schon damals zeigte die chinesische Literatur einen festen Umriß, der auf eine jahrtausendalte Tradition zurückweist. Im 18. Jahrhundert plante ein Kaiser die Drucklegung einer Auswahl der klassischen Literatur. Diese Auswahl war auf 163 000 Bände berechnet, von denen bis 1818 ungefähr 80 000 erschienen. Wir kennen nur einen geringen Bruchteil dieser Literatur. Vermutlich stehen dem Europäer noch große Entdeckungen darin bevor, vielleicht nicht unwichtiger als die Entdeckung Amerikas. Man denke, daß sich in der Münchener Staatsbibliothek eine Sammlung von etwa 10 000 chinesischen Büchern befindet, die noch nicht einmal katalogisiert ist.

Die chinesische Sprache besteht aus lauter einsilbigen Worten, die kurz und prägnant ohne Bindung aneinandergereiht werden. Die Substantiva werden nicht dekliniert, die Verba nicht konjugiert. Mond steht Berg. Glanz über Wald. Ferne Flöte. Helle Seide. Mädchen tanzt. Dies (etwa) ist die Fiktion eines chinesischen Gedichts. Nur: daß der Reim fehlt. Die chinesischen Gedichte reimen sich. Der Vokal, je nachdem er getönt ist, gibt dem chinesischen Wort den Sinn. Ein Wort kann zwanzigfach gedeutet werden. Wird es geschrieben, entfaltet es sich wie eine Blüte noch reicher. Es gibt kein Alphabet. Die Schrift ist eine Sinogrammschrift. Die Schriftzeichen zaubern ohne klangliche Überleitung im chinesischen Bewußtsein farbige Begriffe hervor: Man sieht ein Zeichen – und denkt: Trauer, Armut, Helligkeit. Man setzt Zeichen zusammen. Spielerisch.Baut Mosaik: Auge...Wasser, gleich Träne. Unendliche Möglichkeiten für den Dichter, der sein Gedicht zugleich denkt, malt, formt und singt. Alle Gedichte werden auch gesungen. Nach durch Tradition vorgeschriebenen Melodien. Für den Chinesen ist nur der lyrische Dichter der wahre Dichter. Roman, Novelle und Drama gehören wohl zur Literatur, aber nicht zur Dichtung. Deshalb verzichtet auch der Schriftsteller von Romanen und Dramen meistens auf seine Signatur und bleibt anonym. Die Redaktion der alten chinesischen Volksliedersammlung des Schi-king [Shi jing] (500 v.Chr.) stammt von Kongfutse, der auch der Dichter eines herrlichen „Epitaph auf einen Krieger“ ist. Die bedeutendsten Vorläufer der klassischen chinesischen Epoche sind Kiü-yüan (Qu Yuan] (300 n.Chr.) und Mei-scheng [Mei Sheng] (140 n.Chr.). Die Blütezeit der Dichtung fällt in die Dynastie Thang (618 bis 907), welche Litaipe [Li Bo], vielleicht den größten Lyriker aller Zeiten und Völker, hervorgebracht hat. Litaipe lebte von 702 bis 763 n.Chr. Als ewig trunkener, ewig heiliger Wanderer wandert er durch die chinesische Welt. Kunstsinnige Herrscher beriefen den erlauchten Vagabunden an ihren Hof, und oft genug erniedrigte und erhöhte sich der Kaiser zum Sekretär des Dichters, wenn Litaipe nach einem Zechgelage ihm seine Verse im Morgengrauen in den Pinsel diktierte. Der Kaiser, der den Dichter und Menschen brüderlich liebte, machte ihn zum kaiserlichen Beamten, setzte ihm eine Rente aus und gab ihm als Zeichen seiner Gnade ein kaiserliches Prunkgewand zum Geschenk – für einen Chinesen die höchste Ehrung. Litaipe schleifte das kaiserliche Gewand durch alle Gassen der Provinz und ließ sich an Abenden voll Trunkenheit als Kaiser huldigen. Oder er hielt, in des Kaisers Kleidern, rebellische Ansprachen an die Trinkkumpane und das herbeigelaufene Volk. Er starb im Rausch, indem er bei einer nächtlichen Bootsfahrt aus dem Kahne fiel. Die Legende läßt ihn von einem Delphin erretten, der ihn, während in den Lüften engelhafte Geister ihn betreuen, auf Meer hinaus und in die Weiten der Unsterblichkeit entführt. Sein Volk vergöttert ihn und errichtete ihm einen Tempel; der kunstreichste der chinesischen Lyriker wurde auch der volkstümlichste. Neben Litaipe ist der elegische Thu-fu [Du Fu] (714 bis 764 n.Chr.) zu nennen. Pe-Kiü-ys [Bo Juyi] (772 bis 846 n.Chr.) tausend Gedichte ließ Kaiser Sien tsung [Xianzong] auf Steine gravieren und die Steine auf einem heiligen Hügel aufstellen. Su-tung-po [Su Shi] (1036 bis 1101 n.Chr.) ist der bekannteste unter den späteren Lyrikern. Ende des 19. Jahrhunderts erwarb sich der bedeutende Staatsmann Li-hung-tschang [Li Hongzhang] auch als Lyriker einen Namen.

Im chinesischen Drama spielen Helden, Heldenjungfrauen, Zauberer, Dämonen ihre Rolle. Je weniger der Chinese selber ein Held ist und sein will, um so lieber sieht er ihn sich auf der Bühne an. Das chinesische Theater findet im Freien oder in einem Tempelhof statt und ist ganz auf Improvisation gestellt. Es gibt keine Dekorationen. Die Kostüme sind reich und prunkvoll. Der Schauspieler zieht sich auf offener Bühne um und an. Die Szenerie wird symbolisch angedeutet. Eine Schale mit Wasser bedeutet einen Wolkenbruch. Eine kleine Flamme einen Weltbrand. Musik von Gong, Geige und Flöte begleitet die Handlung, die durch keinen Applaus unterbrochen wird. Schweigend stehen die Chinesen an Bäumen oder sitzen auf mitgebrachten Stühlen. Übrigens sind die bürgerlichen Lustspiele oft von Damen der halben Welt geschrieben, die eine ganze Welt aus ihrem Herzen heraufbeschwören.

Die Prosa zeigt als Haupthelden der Handlung fast immer die gleichen Typen: einen Studenten, der die Tochter eines Mandarinen liebt. Darum rankt sich ein ganzer Rattenkönig von Intrigen, oft über viele hundert Bände ausgesponnen. Der Autor weiß im dritten Band schon nicht mehr, was er im ersten geschrieben, und im zwanzigsten sind die Helden des ersten sämtlich verstorben und haben andern Platz gemacht. Aber es ist, wie beim Theater, nur ein Kostümwechsel. Entzückend sind die chinesischen Märchen, kleineren Novellen, die Geister und Gespenstergeschichten.

Mentioned People (1)

Klabund  (Crossen, Oder 1890-1928 Davos) : Schriftsteller

Subjects

Linguistics / Literature : China : General / Philosophy : China : General

Documents (1)

# Year Bibliographical Data Type / Abbreviation Linked Data
1 2007 Klabund. China, Laotse und das magische Denken. In : Klabund. Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde. (Leipzig : Dürr & Weber, 1922). [2. neudurchgesehene Aufl. 1923] : http://www2.digitale-schule-bayern.de/dsdaten/18/310.pdf. Web / Klab9