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Widmann, Joseph Viktor

(Nennowitz = Brnenske Ivanovice bei Brünn 1842-1911 Bern) : Schweizerischer Schriftsteller, Journalist

Subjects

History of Media / Index of Names : Occident / Literature : Occident : Switzerland

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1 1895 Fontane, Theodor. Effi Briest [ID D15085].
Fontane schreibt : Entweder... war es eine unglückliche Liebe..., oder es kann auch eine glückliche gewesen sein, und der Chinese konnte es bloss nicht aushalten, dass es alles mit einemmal so wieder vorbei sein sollte. Denn die Chinesen sind doch auch Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein wie mit uns.
Ingrid Schuster : Fontane hat die komplexe Rolle, die der Chinese im Roman spielt, in einem Brief an Joseph Viktor Widmann selbst bezeugt : "Sie sind der erste, der auf das Spukhaus und den Chinesen hinweist ; ich begreife nicht, wie man daran vorbeisehen kann, denn erstlich ist dieser Spuk, so bilde ich mir wenigstens ein, an und für sich interessant, und zweitens, wie Sie hervorgehoben haben, steht die Sache nicht zum Spass da, sondern ist ein Drehpunkt für die ganze Geschichte."
Der Leser merkt sehr bald, dass der Chinese ein äusserst schillerndes Phänomen ist. Effi wünscht ihn zur Unterhaltung herbei, dann fürchtet sie ihn als "Spuk". Innstetten spricht von ihm als einem Toten, Crampas vezeichnet ihn als ein Instrument Innstettens, mit dem dieser Effi manipulieren wolle. Fontane führt dem Leser nichte eine fiktive Wirklichkeit vor Augen, sondern er fasst die verschiedenen "Wirklichkeiten" seiner handelnden Personen in dem Chinesen zu einem Sinnbild zusammen...
Auf den ersten Blick scheint das Motiv vom Chinesen nebensächlich zu sein : ein exotischer Schnörkel, der in den Plaudereien auftaucht und vielleicht etwas mysteriöse Stimmung schafft. Doch der Chinese hat für jede Person, die mit ihm in Berührung kommt, Bedeutung ; jede Äusserung über ihn gibt Aufschluss über den Sprechenden selbst. Darüber hinaus spiegelt sich in der wechselnden Einstellung der Personen zum Chinesen der Gang der Handlung. Für Effi ist er Sinnbild für junge, leidenschaftliche, unkonventionelle Liebe, die unerfüllt oder unvolkommen bleiben muss. Die Skala reicht von erwartungsvoller Aufregung bis zu Angst, von nostalgischer Erinnerung bis zum materiell ausgerichteten Kalkül, von ironischer Distanz bis zur gesellschaftlichen Ächtung. Einerseits wird das, was die Gesellschaft nicht toleriert, verschwiegen oder verschleiert. Andrerseits ermöglichen es die Gespräche über Spuk und den Chinesen, dem Gesprächspartner Dinge mitzuteilen, die unverhüllt schwer zu sagen wären. In dieser Hinsicht zeigen die Gespräche, inwieweit der Sprecher intime menschliche Kommunikation wünscht und bis zu welchem Grade er verstanden wird.
Die junge ungestüme Effi ist die erste, die von einem Chinesen spricht. Und es ist bedeutsam, dass sie von ihm nicht eigentlich als von einer Person spricht, sondern von einer exotischen Konzeption, die ihre eigenen Wünsche und Hoffnungen ausdrückt...Innstetten möchte Effi den Chinesenspuk ausreden, und als das nicht geht, empfiehlt er ihr "einen adligen Spukstolz", d.h. vornehme Haltung und Verzicht auf die Realisierung ihrer erotischen Wünsche. Von nun an taucht Effis Chinese, das Sinnbild ihrer leidenschaftlichen Sehnsucht, nicht mehr auf, obwohl sie sich den "Spuk" gelegentlich mit vollem Bewusstsein zurückwünscht. Innstetten fürchtet die Lächerlichkeit einer zu zärtlichen Liebesverbindung und auch dafür ist der Chinese Sinnbild. Auch mit Major Crampas ist das Motiv des Chinesen eng verbunden. Er möchte Effis sehnsüchtig-ängstliche Vision vom Chinesen in die Wirklichkeit transponieren. Er wird Effis Hunger nach Zärtlichkeiten stillen, aber auch ihr Leben zerstören und schliesslich von Innstetten erschossen werden. In der Affäre mit Crampas ist der Chinese "missbraucht" worden ; die leidenschaftliche Liebe hat unschöne Züge erhalten, das "Aparte" ist ins Lächerliche und Unmoralische abgerutscht.
Alle in das Dreiecksverhältnis Verwickelten werden zu gesellschaftlichen Aussenseitern. Wie der Chinese stellen sie Verkörperungen des "Aparten" dar, weichen von der allgemeinen Verhaltensnorm ab. Für Effi ar der Chinese "Spuk" - heimliches und unheimliches Zeichen für ihre emotionalen und sexuellen Bedürfnisse. Für Innstetten stellte er die schmerzliche Erinnerung an die Erfahrungen seiner Jugend dar. Crampas dagegen hat die Gelegenheit benützt, "unterm chinesischen Drachen" auf ein neues Liebesabenteuer auszugegen. Sie alle werden von der Gesellschaft als Bedrohung empfunden und verfolgt, denn die Haltung der Öffentlichkeit zum Chinesen ist kompromisslos.
  • Document: Schuster, Ingrid. Faszination Ostasien : zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China : Aufsätze aus drei Jahrzehnten. (Bern : Lang, 2007). (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; Bd. 51). S. 163-177. (Schu5, Publication)
  • Person: Fontane, Theodor