1862
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1 | 1862 |
Marx, Karl. Chinesisches. [Taiping]. Einige Zeit bevor die Tische zu tanzen anfingen, fing China, dieses lebende Fossil, an zu revolutionieren. An und für sich lag in diesem Phänomen nichts Außerordentliches, denn die orientalischen Reiche zeigen uns beständig Bewegungslosigkeit im sozialen Unterbau, rastlosen Wechsel in den Personen und Stämmen, die sich des politischen Überbaues bemächtigen. China ist durch eine ausländische Dynastie beherrscht. Warum sollte nach 300 Jahren eine Bewegung zum Sturz dieser Dynastie nicht eintreten? Die Bewegung besaß von vornherein einen religiösen Anstrich; aber das hatte sie mit allen orientalischen Bewegungen gemein. Die unmittelbaren Anlässe zum Eintritte der Bewegung waren handgreiflich: europäische Einmischung, Opiumkriege, dadurch Erschütterung der bestehenden Regierung, Abfluß des Silbers nach dem Auslande, Störung des ökonomischen Gleichgewichts durch Einfuhr fremder Waren usw. Paradox schien mir, daß das Opium, statt einzuschläfern, aufweckte. Originell an dieser chinesischen Revolution sind in der Tat nur ihre Träger. Sie sind sich keiner Aufgabe bewußt, den Dynastiewechsel abgerechnet. Sie haben keine Schlagworte. Sie sind ein noch größerer Greuel für die Volksmasse als für die alten Herrscher. Ihre Bestimmung scheint keine andere, als dem konservativen Marasmus gegenüber die Zerstörung in grotesk abscheulichen Formen, die Zerstörung ohne irgendeinen Keim der Neubildung geltend zu machen. Zur Charakteristik dieser "Gottesgeißeln" mögen folgende Auszüge dienen, entnommen aus einem Brief des Herrn Harvey (englischer Konsul zu Ningpo) an Herrn Bruce, dem englischen Gesandten in Peking. Seit drei Monaten, schreibt Herr Harvey, befindet sich Ningpo nun in den Händen der revolutionären Taipings. Hier, wie überall, wohin diese Räuber ihre Herrschaft ausgedehnt, war Verwüstung das einzige Resultat. Verfolgen sie noch andere Zwecke? Die Macht ungezügelter und schrankenloser Ausschweifung für sie selbst scheint ihnen in der Tat ebenso wichtig als die Zerstörung fremden Lebens. Diese Ansicht von den Taipings stimmt in der Tat nicht mit den Illusionen englischer Missionäre, die von "der Erlösung Chinas", der "Wiedergeburt des Reiches", der "Rettung des Volkes" und der "Einführung des Christentums" durch die Taipings fabelten. Nach zehn Jahren geräuschvoller Scheintätigkeit haben sie alles zerstört und nichts produziert. Allerdings, sagt Herr Harvey, zeichnen sich die Taipings im offiziellen Verkehr mit Fremden vor den Mandarinen durch gewisse Offenheit des Benehmens und energische Rauheit aus; aber das ist ihr ganzer Tugendkatalog. Wie zahlen die Taipings ihre Truppen? Sie erhalten keinen Sold, sondern leben von Beute. Sind die eroberten Stadte reich, so schwimmen sie im Überfluß. Sind sie arm, so harrt der Soldat mit exemplarischer Geduld aus. Herr Harvey frug einen wohlgekleideten Taiping-Soldaten, wie er sein Handwerk leide. "Warum sollte ich es nicht leiden?" antwortete er. "Ich lege Hand auf das, was mir gefällt; finde ich Widerstand, so -", und er machte mit seiner Hand die Bewegung des Kopfabschneidens. Und dies ist seine Redensart. Ein Menschenkopf gilt einem Taiping nicht mehr als ein Kohlkopf. Die revolutionäre Armee zählt einen Kern regulärer Truppen, alte, vieljährige und wohlerprobte Partisanen. Der Rest besteht aus jüngeren Rekruten oder Bauern, die auf den Streifzügen in den Dienst gepreßt wurden. Die Führer verschicken systematisch die in einer eroberten Provinz gepreßten Truppen in eine andere entfernte Provinz. So werden in diesem Augenblicke vierzig verschiedene Dialekte unter den Rebellen in Ningpo gesprochen, während der Ningpo-Dialekt jetzt zum ersten Male in entfernten Distrikten erschallt. Alle Lumpen, Vagabunden und schlechten Charaktere eines Distrikts schließen sich freiwillig an. Die Disziplin erstreckt sich nur auf Gehorsam im Dienste. Die Ehe wie das Opiumrauchen sind den Taipings unter Todesstrafe verboten. Geheiratet soll erst werden, "sobald das Reich hergestellt ist". Zur Entschädigung erhalten die Taipings während der drei ersten Tage nach der Einnahme einer Stadt, deren Bewohner nicht rechtzeitig geflüchtet, die Befugnis, carte blanche |unbeschränkt| jede nur erdenkbare Schandtat an Frauen und Mädchen zu verüben. Nach Verfluß der drei Tage werden alle weiblichen Personen gewaltsam aus den Städten vertrieben. Schrecken einzuflößen ist die ganze Taktik der Taipings. Ihr Erfolg beruht einzig auf der Wirkung dieser Springfeder. Mittel zur Produktion des Schreckens sind: Zunächst die Übermasse, worin sie auf einem gegebenen Punkte erscheinen. Erst werden Emissäre ausgeschickt, um heimlich den Weg zu fühlen, beunruhigende Gerüchte auszustreuen, einzelne Brandstiftungen zu veranlassen. Werden diese Emissäre von den Mandarinen ergriffen und hingerichtet, so folgen ihnen sofort neue auf dem Fuße nach, bis entweder die Mandarinen mit der Stadtbevölkerung fliehen, oder, wie es mit Ningpo der Fall war, die eingerissene Demoralisation den Insurgenten den Sieg sehr erleichtert. Ein Hauptschreckmittel ist die bunte Hanswursttracht der Taipings. Auf Europäer würde sie einen lächerlichen Eindruck machen. Auf den Chinesen wirkt sie wie ein Talisman. Diese Hanswursttracht gibt daher den Rebellen größere Vorteile im Kampfe, als ihnen gezogene Kanonen geben würden. Kommt hiezu ihr langes, struppiges, schwarzes oder schwarz angestrichenes Haar, die Wildheit ihrer Blicke, ihr melancholisches Geheul und eine Affektation von Wut und Raserei, genug, um den formellen, zahmen, geometrisch abgezirkelten Alltagschinesen zu Tode zu erschrecken. Haben die Emissäre Panik ausgestreut, dann folgen ihnen absichtlich gehetzte flüchtige Dorfbewohner, welche die Zahl und Macht und Furchtbarkeit des heranrückenden Heeres übertreiben. Während die Flammen inmitten der Städte aufsteigen und etwa ihre Mannschaft ins Feld rückt unter dem Eindrucke dieser Schreckensszenen, zeigen sich von weitem, sinnverwirrend, einzelne der bunten Höllenhunde, deren Erscheinung magnetisch wirkt. Im geeigneten Augenblicke dann stürzen hunderttausend Taipings, mit Messern, Speeren und Vogelflinten bewaffnet, wild auf den halbentseelten Gegner los und werfen alles über den Haufen, wenn sie nicht, wie kürzlich bei Schanghai der Fall, auf Widerstand stoßen. "Das Taipingwesen", sagt Herr Harvey, "ist eine ungeheure Masse von nothingness" (Nichtsheit). Der Taiping stellt offenbar den Teufel in persona vor, wie ihn die chinesische Phantasie sich vorstellen muß. Aber auch nur in China war diese Sorte Teufel möglich. Sie ist der Absprung eines fossilen Gesellschaftslebens. |
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