Renfer, Christian. Tabula rasa oder Rückbesinnung ? : Chinas gefährdetes Bauerbe und die Denkmalpflege. In : Neue Zürcher Zeitung ; 17. Aug. 2013. [Ein Schweizer als Denkmalpfleger in China 2002-].
China hat ähnlich lautende Kulturgütergesetze wie westliche Staaten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ist hier jedoch weit grösser als bei uns. An technischen Hochschulen ist Denkmalpflege Lehrstoff für Planer und Architekten. Doch Chinas Baubehörden setzten die Auflagen in der Praxis kaum um.
Wenn man den Umgang der Chinesen mit ihrem Bauerbe mit westlichen Augen betrachtet und all den Medienberichten glaubt, kommt man zum voreiligen Schluss, sie hätten überhaupt kein Interesse an dessen Erhaltung und sie opferten gegenwärtig alles dem Wirtschafts- und Bauboom: Häuser, Dörfer, Stadtquartiere und ganze Landschaften. Man vergisst dabei, dass China auf 9,6 Millionen Quadratkilometern mit der geografischen, ge-schichtlichen und kulturellen Vielfalt eines Kontinents aufwartet. China war und ist geprägt vom ständig wechselnden Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen der Hauptstadt und den Provinzen. Wir Europäer haben deshalb kaum eine Ahnung, wie es sich mit dem immobilen Kulturgüterbestand in diesem Land verhält. Wenn wir von den Baudenkmälern in China sprechen, meinen wir fast immer die nationalen Kulturgüter. Eine Liste von 180 historischen Stätten und Kulturgütern von nationaler Bedeutung wurde erstmals 1961 vom Staatsrat der Volksrepublik China festgesetzt. Im Jahre 2006 umfasste diese Liste bereits 2351 nationale Baudenkmäler. In ganz China sind - so schätzt man - über 400 000 historische Bauten rechtlich geschützt. Als geschützte Ortsbilder gelten101 Städte auf nationaler und 80 auf provinziel¬ler Ebene, dazu kommen 44 geschützte Kleinstädte und 36 Dörfer von nationaler Bedeutung.
Zerstörung und Wiederaufbau.
Es gibt ein probates Hilfsmittel, die Verteilung der zivilisatorischen Schwerpunkte Chinas sichtbar zu machen. Wenn wir nämlich mittels einer virtuellen Linie das chinesische Festland in zwei ungefähr gleiche Hälften teilen (Aihui-Tengchong-Linie), dann stellen wir fest, dass 95 Prozent der Bevölkerung in der stark urbanisierten Osthälfte leben und bloss 5 Prozent in der wirtschaftlich eher rückständigen westlichen Hälfte. Das Verhältnis der urbanen Zentren mit über 2 Millionen Einwohnern beträgt bei dieser Aufteilung etwa 33 zu 4 (wobei China gegenwärtig über 140 Millionenstädte aufweist). Das heisst aber auch, dass beim Entwicklungsboom der letzten zwanzig Jahre gerade diese bevölkerungsreiche Osthälfte Chinas grundlegend "umgepflügt" worden ist. Der bauliche Aderlass ist immens und der kulturelle Verlust irreparabel. Doch für die Asiaten hat die "Aura" oder der geistige Erinnerungswert eines Ortes einen höheren Stellenwert als seine materielle geschichtliche Bausubstanz. Die Rekonstruktion eines Baudenkmals ist gleichwertig mit dem Original. Es besteht darin ein grundsätzlicher Unterschied zur modernen Auffassung von Baudenkmälern in den europäischen Ländern, der in Verbindung mit anderen Faktoren in China zu einem verhängnisvollen Trend geführt hat: Abbruch und Wiederaufbau als Möglichkeit der "Denkmalpflege".
Die städtischen Territorien der Megacitys im Osten Chinas sind heute hauptsächlich urbane, futuristisch anmutende Planungslaboratorien ohne irgendwelchen (wenn nicht herbeigeredeten) historischen Bezug. Denkmalpflegerische Aspekte kommen darin kaum zum Zug, es sei denn, man lasse die Reste einer Altstadt wie in Fuzhou (Fujian) oder Yangzhou (Jiangsu) als romantische Shopping-Meile wiedererstehen, statt sie neu zu überbauen. Die grossen zusammenhängenden Altstadtgebiete, wie man sie von Schanghai oder Peking her kannte, sind längst verschwunden. Meistens werden in einer Grossstadt nur die historischen Landmarks gepflegt, Stadttore, Tempel, Pagoden - sofern sie noch erhalten sind. Es gibt aber auch hier lobenswerte Ausnahmen wie das denkmalpflegerisch restaurierte Residenzviertel der Ming-Zeit (17. Jahrhundert) in Taining City (Fujian). Auch die denkmalpflegerischen Bemühungen der Stadtbehörden von Schanghai sind für eine chinesische Grossstadt vorbildlich. Nicht nur hat die Stadt seit langem ein Denkmalamt und eine Liste der geschützten Baudenkmäler, sie realisiert auch bemerkenswerte Revitalisierungsprojekte - etwa für den sogenannten Rock Bund oder die Quartiere in der Französischen Konzession - und fördert Projekte wie die Umnutzung des historischen Werftgeländes auf dem ehemaligen Expo-Areal, der Textil Factory Shanghai oder des alten städtischen Schlachthofes von 1933.
Verlagert man seinen Blick auf die Ebene der regionalen und lokalen Baukultur (der sogenann- ten Vernacular Architecture), so fallen vor allem die regionalen Besonderheiten der "rückständigen" ländlichen Provinzen im Süden ins Auge. Die 56 Minderheitenvölker Chinas, die hauptsächlich in der Südwesthälfte des Landes leben, sind heute noch stark in ihrer ethnischen Tradition und lokalen Kultur verhaftet. Dazu gehören die Besonderheiten einer eigenen Baukultur - etwa die Trommeltürme und die Wind-und-Regen-Brücken der Dong-Minorität in den südchinesischen Provinzen Guizhou und Guangxi. Leider weisen gerade die noch intakten Gebiete dernationalen Minoritäten aufgrund eines enormen Nachholbedarfs eine hohe Zerstörungsrate in ihren traditionellen Siedlungen auf. Diese Zerstörung wird nicht durch Grossbauten verursacht, sondern durch all die kleinen Ausbauten der Häuser oder durch Neubauten, die ohne Rücksichtnahme in die Siedlungen gesetzt werden. In einem grossen Land wie China, in dem die Landwirtschaft noch immer eine wichtige wirtschaftliche Stellung einnimmt, lohnt es sich, diesen Sektor mit geeigneten Mitteln der Raumplanung fortzuentwickeln. Anders als in den boomenden Städten Chinas, in denen die Entwicklung innert kürzester Zeit aus den Fugen zu geraten droht, könnte hier noch eine planerische Basis gelegt werden, die nachhaltig über die nächsten Generationen hinaus wirksam sein könnte und eine geregelte und sinnvoll angelegte Erhaltung der Ortsbilder mit einschliesst.
Das Ziel müsste die Etablierung einer umfassenden Kulturlandschaftspflege sein, welche die sozioökonomische Weiterentwicklung einer Region in sinnvolle Bahnen zu lenken vermag. Allerdings ist zu bemerken, dass diese traditionellen Siedlungen nur so lange authentisch bleiben, wie die bestehenden traditionellen Infrastrukturen und Landschaftselemente intakt erhalten werden: beispielsweise die Reisterrassen und ihre Bewirtschaftung, die Wegsysteme und ihre aus Steinplatten bestehende Textur, die Gemüsegärten und ihre Holzgeflecht-Einfriedungen, die Bäche und Teiche und ihr freier Verlauf. Noch sind diese Dörfer weit abgelegen von den grossen Bevölkerungszentren und deshalb meist ohne grosse Veränderungen geblieben. Doch bereits erscheinen die ersten Beeinträchtigungen durch willkürliche und rücksichtslose Modernisierungen.
Chinesische Fachleute haben Probleme und Chancen der umfassenden Erhaltung der Kulturlandschaft erkannt. So hat im Frühjahr 2011 eine Gruppe von Wissenschaftern unter dem Vorsitz von Professor Zhu Guanya von der Southeast University in Nanjing (SEU) ein Papier mit dem Titel "Research report on the protection and develop plan of the minorities' villages" verabschiedet, in welchem die Probleme analysiert und Lösungsansätze vorgestellt werden. Man spricht von 3000 schützenswerten Dörfern in den Gebieten der nationalen Minderheiten, welche in den nächsten fünf Jahren erfasst werden sollen. Auch das 1997 beschlossene sino-norwegische Gemeinschaftsprojekt in Suoga, Provinz Guizhou, und das 2001 von der ETH initiierte schweizerisch-chinesische Shaxi-Rehabilitation-Projekt in Yunnan sind nützliche Testprojekte für die Entwicklung traditioneller Kulturlandschaften im ländlichen China.
Chinas wissenschaftliche Beschäftigung mit dem überlieferten Kulturgut zeigt eine ähnliche Entwicklungsgeschichte wie diejenige Europas. Die Suche nach den Wurzeln einer chinesischen Zivilisation hat ihren Anfang im 19. Jahrhundert, als sich in der geistigen Kultur des ausgehenden Kaiserreichs nationalistische Tendenzen bemerk-barmachten. Sie setzte sich fort an den Universitäten der neu gegründeten Republik (1911) und gipfelte an den bedeutenden Architekturschulen wie jener der Tsinghua-Universität in Peking und der SEU in Nanjing, wo in den 1920er Jahren bedeutende akademische Erneuerer der traditionellen chinesischen Baukunst wie Liang Sicheng (1901 bis 1972) lehrten. Ihr Ruf nach einer nationalen Architektur, die nicht historische Stile kopieren, sondern ihren Formenkanon aus der intensiven Beschäftigung mit der traditionellen chinesischen (d. h. kaiserlichen) Architekturtradition schöpfen sollte, trug Früchte. Das führte dazu, dass bedeutende Architekturlehrer mit ihren Schülern intensive Forschungen an historischen Baumonumenten betrieben, zu denen vornehmlich die exakte Bauaufnahme und Beschreibung des Objekts gehörten. Diese Ausbildungstradition hat sich an den chinesischen Architekturschulen bis heute erhalten.
So haben zwei unterschiedliche Phänomene ihren gemeinsamen Ursprung in den 1920er Jahren. Zum einen die Ausbildung eines Nationalstils im Architekturentwurf ähnlich dem europäischen Heimatstil (z. B. das aus einem Wettbewerb hervor-gegangene Sun-Yat-sen-Mausoleum in Nanjing von 1926/29). Zum andern die wissenschaftliche und methodische Auseinandersetzung mit dem historischen Bauerbe und seiner Erhaltung (Denkmalpflege). In China gibt es erst ein einziges Masterstudium in Denkmalpflege, nämlich an der Tongji-Universität in Schanghai (seit Herbst 2012). Doch die anderen wichtigen Universitäten im Osten Chinas (SEU, Tsinghua University) bieten ebenfalls Ausbildungskurse in Architekturgeschichte und denkmalpflegerischer Methodik an. So hat die SEU ein Forschungsinstitut, das sich "Architectural Heritage Conservation Department" nennt, das seit 2012 das denkmalpflegerische Fachjournal "Frontiers of Architectural Research" in englischer Sprache herausgibt. Die Tongji-Universität in Schanghai bereitet zurzeit ein ähnliches Periodikum mit dem Titel "Heritage - Architecture" in Englisch und Chinesisch vor. Damit soll ein internationales Fachpublikum mit chinesischen Forschungsergebnissen in Architekturgeschichte und Kulturgütererhaltung bedient werden.
Dilemma der Kulturgütererhaltung.
Es ist nicht zu verkennen, dass in China gegenwärtig der unheimliche Drang nach Geld und Gewinn alles dominiert, auch die Kulturpflege. Jedes der fachlich durchdachten Denkmalpflegeprojekte droht deshalb gegenwärtig in der praktischen Umsetzung dem Gewinndenken von Investoren und Politikern zum Opfer zu fallen. Unsere chinesischen Kollegen stehen entsprechend täglich vor einem Dilemma: Drängen sie auf Realisierung ihrer Lösungen, steht die Erhaltungsidee jedes Mal auf der Kippe. Warten sie zu, geht der Kulturverlust rasant weiter; und vielleicht fehlt in einigen Jahren wegen einer Rezession gerade das Geld für die Denkmalpflege. Es ist unmöglich, die Entwick-lung vorauszusehen; und es ist China überlassen, für die Erhaltung seines Kulturerbes zu sorgen.
Art : Architecture and Landscape Architecture
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Art : Cultural heritage preservation