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2001

Text

Blume, Georg. Gefährliche Fragen. In : Zeit online ; 26. April (2001).
Der Philosoph Jürgen Habermas besucht China und trifft auf Studenten, die Menschenrechte fordern, aber den Kapitalismus ablehnen.
Es ist sensationell."Wann spricht ein Philosophieprofessor der prestigebewussten Peking-Universität so banale Worte ? Ganz einfach : Wenn der deutsche Philosoph Jürgen Habermas China entdeckt.
Für Professor Jin Xiping, einer der führenden Hegelianer und Heidegger-Kritiker seines Landes, ist der Besuch schon heute ein Stück chinesischer Philosophiegeschichte. Der Hörsaal der Peking-Universität hat 2000 Plätze, und alle sind besetzt. Jin rechnet nach : John Dewey kam 1919 nach China Bertrand Russell, der englische Philosoph, ein Jahr später. Im vergangenen Jahr sprach Paul Ricoeur in Peking. Doch sonst sei ihm kein bedeutender westlicher Philosoph bekannt, der den Weg ins Reich der Mitte gefunden habe. "Nur von Habermas gibt es ein Dutzend Übersetzungen seiner Bücher", berichtet Jin. Weder Habermas' Lehrer Adorno und Horkheimer noch Heidegger und Derrida seien dem chinesischen Leser in ähnlich ausführlichen Behandlungen zugänglich. Das liege an der herausragenden Rolle, die Habermas als radikaler Kritiker des linken Parteidogmatismus einnähme. "Fast alle kennen Habermas als letzten großen Sozialkritiker", meint Jin. Auch die Unterstützung der Studentenbewegung 1989 - damals sagte Habermas demonstrativ eine Reise nach China ab - sei in guter Erinnerung geblieben. Rückbesinnung ist populärer als vages Fortschrittsdenken Die Peking-Universität ist die Geburtsstätte aller demokratischen und revolutionären Gedanken in China. Hier begann 1919 die 4.-Mai-Bewegung, die in die kommunistische Revolution führte. Hier tobte die Kulturrevolution, bevor man sich vom Dogmatismus abwandte und 1989 die demokratische Studentenrevolte anzettelte. Diesen Ruf will die Universität nicht verlieren. Sie hat Habermas geladen, über "Modelle der Demokratie" zu sprechen. "Was sonst interessiert die Studenten ?", fragt Professor Jin. Zunächst dachte die Leitung der Peking-Universität an eine unspektakuläre Vorlesung in einer mittelgroßen Aula. Erst als man bemerkt, dass Habermas' Vorlesung am Vortag in der Qinghua-Universität fast zur Peinlichkeit geraten wäre, weil der Saal aus allen Nähten platzte, öffnet man das riesige Auditorium maximum, das einen ganzen Parteitag fassen könnte. "Ich habe mit Gesprächen unter Akademikern gerechnet. Nun spreche ich plötzlich vor offenen Sälen. Es ist alles viel politischer, als ich dachte", staunt der Philosoph.
Habermas liest, was man von ihm kennt : er spricht über liberales und republikanisches Demokratieverständnis. Kein Wort über die chinesischen Zustände. Anschließend hadert er mit sich selbst: "Hätte ich deutlicher werden sollen ?" Es ist der überwältigende Applaus im Audimax der Peking-Universität, der ihm diese Frage beantwortet. Ein Student will von Habermas wissen, ob der Mensch nur eine Übergangsexistenz sei, und erhält die prompte Antwort : "Wenn die Philosophie glaubt, allgemeine Antworten zu geben, muss sie hier schweigen." Das gefällt dem jungen Publikum. Habermas ist keiner, der vorgibt, alles besser zu wissen, im Gegenteil: Schon kurz nach der Ankunft in Peking zeiht sich Habermas, "mit dem Gefühl eines Barbaren hierher zu kommen", der nur wenig über China weiß. Keinesfalls wolle er "die Chinesen belehren". Umso unbefangener können die Pekinger Studenten Habermas zuhören. Sie wollen seine Kritik der modernen westlichen Gesellschaften erst einmal begreifen, bevor sie seine Massstäbe - Menschenrechte, Öffentlichkeit - mit den chinesischen Verhältnissen konfrontieren. Das aber wollen sie selber tun und verbitten es sich von einem westlichen Denker, der ihr Land zum ersten Mal besucht.
Zunächst wollen die Studenten wissen, ob Habermas' Diskurstheorie auch über Kulturgrenzen hinweg Gültigkeit besitzt. Und: "Gibt es in der Demokratie Platz für kollektive Lebensformen ?" Nun ist der Weg zum Dialog frei, Habermas befindet sich ganz in seinem Element. "Die Idee des Sozialismus" wollte die "soziale Verwurzelung von Solidarität, die in der bürgerlichen Demokratie gefehlt hat" - das ist aber auch alles, was er den wenigen im Saal zugesteht, die an der Idee des Sozialismus festhalten wollen. Schon im nächsten Satz distanziert sich der "linke Sozialdemokrat", als der er sich bezeichnet, von jenen "einfachen Formen der Kollektivität", von jener "kämpferischen Solidarität", wie sie den Maoismus prägten. Habermas geht es um die Institutionalisierung von Solidarität. "Ungekränkt miteinander zu leben ist schon viel." Schwacher Applaus. Für chinesische Ohren klingt auch das wie eine Stimme aus dem Paradies: Ohne Kränkungen leben in einem Land, dessen Reformen die meisten Familien zerbrechen, die einen arbeitslos und die anderen zu Wanderarbeitern machen, ist unvorstellbar - das wissen sogar Elitestudenten. Dann antwortet Habermas auf Fragen nach den Massstäben für Demokratie. Er spricht von einer politischen Kultur, "die uns daran gewöhnt, auch diejenigen anzunehmen, die uns zunächst fremd erscheinen". Wieder nur schwacher Applaus. "Jede Stimme muss gehört werden", fordert Habermas. Doch die Studenten wollen nicht jede Stimme von 1,3 Milliarden Chinesen hören. Dafür fehlen sogar ihnen im gesellschaftlichen Umbruch Zeit und Geduld. Demokratie stellen sie sich als Erlösung von der Partei vor und nicht als Dienst am Nächsten. Endlich spricht Habermas als Bürger einer Weltgesellschaft, wie er sie versteht : "Kulturelle Differenzen sind etwas Schmerzhaftes, aber auch etwas Schönes. Doch die Differenzen sind nicht so tief, als dass man sagen müsste, die Vernunft mache an der Grenze einer Kultur Halt. Gerade mit der chinesischen Tradition ist eine vernünftige Verständigung über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg möglich. Wir erleben das in der Fortsetzung des Diskurses über Menschenrechte. Zunächst bestehen Differenzen. Doch wir reden weiter in der Erwartung, dass wir am Ende zu einer gemeinsamen Interpretation der Menschenrechte gelangen können." Großer Applaus. Menschenrechte und chinesische Tradition: Beides stillt den Durst nach Moral in Zeiten eines wildwüchsigen Kapitalismus.
Drei von ihnen - die Juristin Yang Xu, der Soziologe Tian Geng und der Philosoph Li Jun - sind mit ihrer Englischdozentin Dai Yan nach der Vorlesung zum Teegespräch verabredet. Alle sind fasziniert von der Klarheit, mit der Habermas die Demokratie interpretiert. Sie sind sich einig, dass die von Kant, Hegel und Marx beeinflusste deutsche Denkschule in China weit größeren Einfluss besitzt als die angelsächsische Philosophie. "China wird in Zukunft auf Grundlage der Marktwirtschaft ein demokratisches System aufbauen müssen, und Habermas liefert dafür viele konstruktive Gedanken", sagt Li Jun, ein leiser, hoch intelligenter Denker aus Shanghai. Und doch klingt es ein wenig gelangweilt. Yang Xu, eine konservativ gekleidete junge Frau aus armem Elternhaus, ahnt, warum Li die rechte Begeisterung fehlt. "Wie Habermas glaube ich an die Vernunft. Aber das ändert nichts daran, dass der Alltag in China irrational ist und die Ideen von Habermas kaum Einfluss auf die Wirklichkeit haben." Einmal fehle in China traditionell das Bewusstsein für eine Form gesellschaftlicher Vernunft. Zum anderen sei es das Tempo der Globalisierung: Alles gehe zu schnell. Die Gesellschaft löse sich auf, ohne eine neue Ordnung zu finden. Korruption und Eigennutz regierten das Land. "Wichtiger als die Demokratiefrage ist für uns eine Antwort auf die Globalisierung. Was müssen wir gegen den Ansturm verteidigen ?" Yang will retten, was von der chinesischen Tradition noch zu retten ist. "Ich werfe mir inzwischen vor, dass ich Habermas besser als Konfuzius kenne." Der Soziologiestudent Tian Geng erkennt hier einen Trend. Rückbesinnung sei bei seinen Kommilitonen populärer als Fortschrittsdenken. Angesichts der Wirklichkeit versage eine linke Kritik der Modernisierung, die immer noch an die Dialektik des Fortschritts glaube. "Wir haben keine Tradition des Widerstands, sondern nur eine Tradition des Gehorchens. Gehorchen wir also von nun an dem Weltmarkt ?", fragt Tian. Folglich lesen die Studenten wieder Konfuzius und Heidegger statt Habermas. Auch der Traum von der Urgesellschaft tauche wieder auf. Kürzlich habe das Seminar eines zurückgezogen lebenden Daoisten an der Peking-Universität große Aufmerksamkeit erregt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Habermas' Vorlesung über den "ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft" auf ein ebenso großes Interesse stößt wie seine politischen Vorträge. Philosophische Fragen nach dem guten Leben "sind für uns interessanter als politische", meint Dai Yan, die Englischdozentin. Sie studierte, arbeitete dann vier Jahre in einer Schuhfabrik und kam wieder zurück an ihre alte Universität. "Was soll ich tun ? Diese Frage stellt sich mir jeden Tag. In der Fabrik habe ich darauf keine Antwort gefunden. Dort dreht sich alles ums Geld. Für ehrliche Menschen ist dieses Leben unerträglich und für mich ein Grund, keine Kinder zu bekommen. Denn Kindern muss man sagen, wie die Welt wirklich ist. Das tut auch Habermas nicht. Er ist ja Optimist." Dai Yan hört zu, als Habermas einen Abend im kleinen Kreis mit chinesischen Künstlern und Intellektuellen verbringt. Sie lauscht dem Gespräch zwischen dem Philosophen und ihrem großen Idol, dem Rockpoeten Cui Jian, der einst die Hymnen der Studentenbewegung dichtete. Beide sind Optimisten, beide glauben an den Fortschritt durch die Verwirklichung der Menschenrechte. Doch irgendwann fragt Cui, Vater einer achtjährigen Tochter, Habermas, wie er denn die Welt als Vater sehen würde. Der antwortet spontan: "Eltern sind immer konservativ." Und da meint Dai Yan: "Jetzt hat sich Habermas selbst widersprochen." Ihr fällt auf, dass es der als Manager tätige Schriftsteller Qian Ning ist, der Habermas am weitesten folgt. Qian hat sechs Jahre in den USA Wirtschaft studiert und ist der Sohn des mächtigsten Aussenpolitikers der Volksrepublik, Vizepremier Qian Qichen. Auch Qian ist Mitglied jener weltläufigen Pekinger Herrschaftsklasse, die Habermas ins Land geholt und zu seinen Großauftritten verholfen hat. Noch regiert diese Elite das Land - zumindest in der alles entscheidenden Außen- und Wirtschaftspolitik. Doch einer wie Qian weiß auch um die vielen sozialen Verlierer der Reformpolitik seines Vaters. "Muss Modernisierung grausam sein ?", will Qian von Habermas wissen. Der antwortet mit einer Gegenfrage: "Könnte sich Chinas beschleunigte Modernisierung überhaupt in liberalen, demokratischen Bahnen vollziehen, ohne russische Verhältnisse entstehen zu lassen ?" Doch sogleich räumt Habermas ein: "Das ist eine gefährliche Frage. Wenn man sie stellt, kann man alles rechtfertigen."
Habermas weiss : China durchlebt gefährliche Zeiten. Kants ewiger Friede ist weit und doch - aus seiner Sicht - vielleicht näher denn je. Tatsächlich hat er Neuland betreten und ist unversehens in die Rolle eines demokratischen Kolumbus geschlüpft.

Mentioned People (1)

Habermas, Jürgen  (Düsseldorf 1929-) : Philosoph, Soziologe, Professor für Philosophie und Soziologie Universität Frankfurt, Direktor Max-Planck-Institut Starnberg

Subjects

Philosophy : Europe : Germany